Ellen Norten (Hrsg.)

SCHATTENSPIEL

Des Hubert Katzmarz’ gesammelter Werke erster Teil

 

 

AndroSF 23

 


Ellen Norten (Hrsg.)

SCHATTENSPIEL

Des Hubert Katzmarz’ gesammelter Werke erster Teil

 

AndroSF 23

 

 

Die Texte in diesem Buch werden in der alten Rechtschreibung aus der Zeit vor 1996 veröffentlicht. Es wäre der Wunsch des Autors gewesen.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Januar 2013, November 2020

Ellen Norten & p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild, Umschlaggestaltung: Thomas Franke

Layout: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat: Ellen Norten, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN des Printbuchs: 978 3 942533 42 3

ISBN dieses E-Books: 978 3 942533 46 1

 

 

Vorwort

 

 

Es war die Geschichte von Franz Kafka und Max Brod, die Hubert Katzmarz gerne erzählte. Kafka hatte seinen Freund Max Brod gebeten, nach seinem Tod sämtliche Aufzeichnungen von ihm zu verbrennen. Statt dies zu tun, sichtete, veröffentlichte und verwaltete Max Brod den literarischen Nachlaß von Kafka und sicherte so den Fortbestand dieser meisterhaften Literatur. Und auch der Künstlerroman »Der Berg der Träume« von Arthur Machen wurde in diesem Zusammenhang gerne von Hubert Katzmarz zitiert und findet in der kurzen Aufzeichnung »Eine kleine Übung in Sachen gläserne Schreibfeder« in dieser Gesamtausgabe Erwähnung. Literatur sollte aus seiner Sicht unsterblich gemacht werden und nicht zuletzt damit auch den Autor vor dem Vergessen bewahren – anders als der Protagonist bei Arthur Machen, der als Person und in seinem Schaffen untergeht. Bei der Auswahl der Werke, die in der vorliegenden Gesamtausgabe zum Teil erstmals Veröffentlichung finden, war dieser Gedanke für mich ein Leitfaden. Vieles, was damit dem Leser zugänglich gemacht wird, war von Hubert Katzmarz nicht oder nicht mehr für eine Veröffentlichung geplant. Das gilt z. B. für seine Gedichte, die in einer sehr frühen Schaffensperiode um 1970 entstanden und in Originalmanuskripten, zum Teil handschriftlich aufbewahrt blieben. Andere Geschichten haben einen starken politischen Bezug, wie etwa »Der Steckbrief«, der in den siebziger Jahren unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus geschrieben wurde und heute eher als Stimmungsdokument zu sehen ist. Einen klaren Zeitbezug hat indes auch »Eine kleine menschliche Geste«, die 1992 während der Diskussion um das Erlanger Baby entstand – eine Geschichte, die den Gedanken der toten Kindsmutter als Gebärmaschine ausreizt, dabei aber bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Und dann sind da noch die Erzählungen, die fast einen Tagebuchcharakter zeigen und in denen ein unfaßbares Grauen im Zentrum steht. Hubert Katzmarz litt seit seinem vierten Lebensjahr an Epilepsie. Grund war eine zu spät behandelte gefährliche Mittelohrentzündung. Die daraus resultierende Krankheit wurde von den Eltern dem Kind gegenüber verschwiegen. Die Diagnose erhielt Hubert Katzmarz erst vierzig Jahre später im Krankenhaus, als der Epilepsieherd zu einer lebensbedrohenden Gehirnblutung geführt hatte. Mit »Im Wahnsinn« setzt Hubert Katzmarz 1973 einen schweren epileptischen Anfall literarisch um, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Literatur und das Schreiben schlechthin war die Triebfeder in seinem Leben. So entstand seine erste Geschichte bereits im Alter von fünf Jahren, nachdem er bei seiner Schwester das Schreiben abgeguckt hatte.»Die Geschichte vom fliegenden Fisch«, wie auch der »Spähtrupp aus dem All«, den er ebenfalls als Kind schrieb, wurden später lediglich von ihm überarbeitet und liebevoll als Privatdruck herausgegeben. Schon früh faszinierten ihn Science Fiction und Phantastik, was sich in den eigenen Werken widerspiegelt, aber auch zur Förderung dieser Genres mit der Gründung des eigenen Verlags führte. Teils in Zusammenarbeit mit Andreas Fieberg, über weite Strecken aber auch allein veröffentlichte Hubert Katzmarz ein breites Verlagsprogramm. Dabei hatte er gegenüber seinen Autoren den gleichen hohen Anspruch wie gegen sich selbst. Ihm ging es immer und nur allein um die Sache. Der Literaturbetrieb mit seinen selbsternannten Kritikern war für ihn ein zunehmendes Ärgernis, was sich u. a. in den humorvollen Stücken »Radio«, »Diptychon« und nicht zuletzt in »Das größte anzunehmende Arschloch« Luft macht. Und noch eines gab es, was Hubert Katzmarz geradezu verabscheute: die Rechtschreibreform von 1996. Er hat sich stets geweigert diese zu akzeptieren und dazu verfügt, daß schon aus diesem Grund in seinen Werken nichts, auch kein Punkt oder Komma geändert werden dürfe. Diese Gesamtausgabe hat sich daran gehalten.

In den letzten Jahren seines Lebens war Hubert Katzmarz durch die Gehirnblutung in seiner Konzentration und Arbeitskraft angegriffen. Er schloß den Verlag und beendete 2002 auch das Projekt »Daedalos«, eine Phantastikreihe, die er mit Michael Siefener betrieben hatte. In den letzten Lebensjahren widmete sich Hubert Katzmarz ausschließlich der eigenen Literatur. Ich als seine Freundin und spätere Ehefrau durfte ihn seit 1974 auf seinem Lebens- und damit auch literarischen Weg begleiten, durfte Höhen und Tiefen mit ihm teilen und einen großartigen und nicht immer einfachen Menschen erleben und lieben. Das vorliegende Gesamtwerk will dem Leser einen Teil davon vermitteln.

 

Ellen Norten, im Sommer 2012

 

 

Erinnerung

 

 

Wenn ein Ereignis von Bedeutung ihn in der letzten Zeit aus seiner Ruhe aufzuschrecken vermochte, dann war es, daß beim zerstreuten Hinmalen eines Punkts auf das betrüblichweiße Blatt Papier die Spitze seines Bleistifts abbrach und daß mit dem Akt des nunmehr notwendigen Anspitzens die ganze Geschichte dieses einen unglückseligen unfertigen Punktes abgeschält, somit zerstört und in den Papierkorb geworfen werden mußte.

Wie soll man voran schreiten durch die Zeit, wenn ihre Verbindungsglieder nicht fertig geschmiedet sind und Brücken im Nichts enden? Wenn es nicht möglich ist, einen zweiten Punkt gleicher Art zu malen, weil die Gedanken immer noch bei ersterem verweilen, Gedanken, die eingefangen sind in seinem Kopf und niemals mehr eine Gelegenheit erhalten, gerade diesem betrüblich weißen Blatt zur Ehre zu gereichen. Und weil sie verknüpft sind, die Gedanken, mit dem Blatt und dem kränklichen Punkt darauf, wären sie andere, wollte man auf einem zweiten Blatt ein kraftvolles Imitat des Punkts malen, denn die Zerstreuung wäre niemals mehr zurück zu gewinnen.

Und so macht er sich Vorwürfe wegen seiner Nachlässigkeit und weiß, daß er in der Falle sitzt. Da dies so ist, verbirgt er sein Gesicht in den Händen und weint, ohne es zu wissen. Und lacht bitter über die Vermessenheit, sein Mißgeschick mit dem ernsten Schicksal eines andern vergleichen zu wollen.

 

 

 

Vergebliches Schauen in die Welt

 

 

Wenn du also allein in deinem Zimmer bist und denkst

daran, daß man sagt, draußen blühen Blumen, dann

willst du die Augen schließen und von Farben und Gerüchen

träumen. Indes wandert dein Blick zum Fenster und versinkt

in den Milchglasscheiben. Später löschst du das Licht auf der

Suche nach dem matten Glanz von jenseits. Den schattenhaften

Bewegungen, die du siehst, gibst du Namen aus der

Erinnerung an die Zufluchten deiner Seele. Endlich stellst du

dir vor, wie du sie einwirfst, die Milchglasscheiben, und bist

doch nur starre Angst vor den Stürmen, die manchmal ums

Haus heulen, und daß du nicht erkennen kannst, was zu erkennen

du dir immer erträumt hast. Und du entzündest wieder das

Licht, die eitlen Träume zu vertreiben, wendest dich ab von den

Milchglasscheiben, die mal Trost sind, mal Fluch.

 

 

Schattenspiel

 

 

Wenn dich zur Sommerzeit der Weg durch die Stadt führt und du in der Hitze des Tages vom Abend träumst, bleibst du unter den Arkaden, querst nicht den weiten Platz, machst einen weiten Bogen am Springbrunnen vorbei, wo nackte Kinder spielen, Diamanten im Haar und auf der Haut, stößt in den Schatten des Doms, kühler, starker Stein, wirfst dem Bettler deine letzte Münze in den Hut, Gott segne dich, auf dem kurzen Glutpfad deinem Ziel entgegen, von dem du längst nicht mehr weißt, was es ist.

Neben der Treppe zum Pfarrhaus sitzt er auch heute, hält dir die Treue, die du nie verlangtest, und hättest ihn doch vermißt, den Wächter deiner Schritte, wie er den Blick zum Himmel hebt, reglos, mit dem Rücken an sein lumpiges Bündel gelehnt, Spott auf die hastenden Menschen ringsum, die nichts in ihren Gesichtern halten als ein verlorenes Lächeln – worüber, worüber?

Und so sitzt er da in der Sonne, der Wächter meiner Träume, vielleicht träumt er von dir und von mir, von Kindern mit Diamanten im Haar und auf der Haut, von unserem Lächeln, das wir nicht verloren in den Gesichtern halten, und er träumt dich, und er träumt mich, beginnt zu schaukeln, vor und zurück, vor und zurück schaukelt er den Takt deiner Zeit, schaukelt den Takt meiner Zeit. Wohin des Wegs? – Ach, wenn ich es nur wüßte. Zum Licht vielleicht. Ikarus der einsamen Sommernächte, Flügel schlagend über weiten Wellen dem Sonnenaufgang zu, die Sterne hinter geöffnetem Fenster, das Klagen liebestoller Katzen im Garten, die Kerze vor dir vom Lufthauch flackernd, tanzende Schatten an der Wand, Flügelschatten, Nachtfalter im Todestaumel, Freiheit hast du gesucht von der Insel, die dir Gefängnis war, hast die Flaschenpost ins Wasser geworfen, wieder und immer wieder kam sie zurück, ungeöffnet, ungelesen, und du trinkst das Licht, kannst nicht voll werden mit ihm, hier in der Sonne, im Staub, unter den Menschen, die dich nicht sehen und blind vorüberhasten.

Ich spüre den Schmerz um deine vergebliche Flucht, verbrennen wirst du in der Flamme, ein stiller Abschied nur, zähle die Zeit, die bleibt, an den Fingern, stumm zählt er, mit zittrigen Händen vor den Augen, die Lippen geschürzt, und wird es nicht abwenden, das Ende, Lachen in Nachbars Garten, Gläser klirren, bunter Lampionschein durch bewegte Zweige, schon berührt deine Flügelspitze die Flamme, wirft kurzes Dunkel über das Zimmer, er krümmt sich nach vorn, schenkt neue Hoffnung, zählt die Zeit, die bleibt, an den Zehen, Schritte im Garten – Kommst du zu mir? – stürzt dann hinein in die Flamme, wirst eins mit ihr, hell leuchtend für ein kurzes Glück, und seine Stirn senkt sich aufs Pflaster zu einem letzten Gruß.

Steh auf, nimm dein lumpiges Bündel und geh! Der du das Licht trinkst, bis es dich verbrennt, der du den Takt der Zeit zählst mit deinem Leben und kannst ihr doch nicht Einhalt gebieten. Du falscher Wächter meiner Träume. Du Dämon der Nacht. Spürst du nicht den Schatten, wie er herankommt? Hebe den Kopf aus dem Staub und sieh ihr zu, der scharfen Kante zwischen Hell und Dunkel. Den Fuß hat sie schon erreicht, auch wenn du ihn wegziehst, wird sie dir folgen, das Bein herauf und weiter bis in die Augen. Wirf nur trotzig den Kopf zurück, dort über den Giebeln erhebt sich der Mond, blaß und kalt und einsam im blauen Himmel steht er. Ist es der Mond, wohin mich meine Schritte führen?

 

 

Das Experiment

 

 

Irgendwann damals, noch bevor Neandertaler die Wälder durchstreiften, muß das Unglück passiert sein. Die Vertreibung aus dem Paradies. Vielleicht als zum ersten Mal ein Mensch eine Geschichte erzählte, seine Träume mitteilte, seine Hoffnungen, und die anderen begannen, das gleiche zu träumen, zu hoffen. Und schließlich rafften sie sich auf, ihre Träume und Hoffnungen in die Tat umzusetzen. So schuf die erste Geschichte, die jemals erzählt wurde, die Gesetze der Welt, wie wir sie heute kennen.

Ich stelle mir vor, wie einer unserer Urahnen in seine Welt schaute und begriff, daß er nicht nur Teil von ihr war, sondern auch derjenige, der sich Gedanken über sie machte. Er sah die Jahreszeiten kommen und gehen, sah Ebbe und Flut, sah auch die Sterne, die Sonne, den Mond, erkannte den Rhythmus, der alles im Gleichklang beherrscht, und war ratlos.

Vielleicht stand er eines Tages am Strand und schaute hinaus aufs Meer bis zum Horizont. Was mochte dahinter verborgen sein? Warum entzog es sich seinem Blick? Er sah die Wogen heran rollen, beladen mit Erinnerungen aus unsichtbarer Ferne, und er sah sie wieder zurück weichen. Wohin? Nahmen sie die Erinnerung an den staunend stehenden Menschen mit auf ihre Reise? Er bückte sich, las Muscheln auf und anderes Seegetier, das die Wellen an den Strand gespült hatten, und betrachtete alles, ohne eine Antwort zu finden. Die Idee des Schiffs war noch nicht in sein Bewußtsein getreten, so konnte er den Wellen nicht folgen hinaus aufs Meer bis hinter den Horizont.

Nachdenklich mag er zu seiner Horde gegangen sein. Die Urmenschen lebten damals in kleinen Familienverbänden von zwanzig dreißig Leuten. Sie hatten eine Höhle als Wohnung, oben an der Steilküste, wo die Sturmflut sie nicht erreichen konnte. Sicherlich war sie zugig, die Höhle, und obgleich ein Feuer brannte, war es bitter kalt dort, es herrschten Siechtum und Tod. Rasselnde Lungen und Stöhnen empfingen unseren Urahnen, der nichts zu sagen wagte von seinen Gedanken über das Meer und die Welten hinter dem Horizont. Er spürte die befremdeten Blicke der anderen, und nur um ihnen zu entgehen, sammelte er Holz fürs Feuer, das zwei Tage lang reichen würde. Er spürte Leere und Sehnsucht nach den Welten hinter dem Horizont in sich, eine Unruhe, die er bis heute auf uns alle vererbt hat. Des Nachts lag er wach in der Höhle, wälzte sich herum, starrte Stunden lang in die Dunkelheit, aber auch dort fand er nicht, was er suchte. Er wußte nicht einmal genau, was überhaupt er suchte.

Die anderen wurden langsam ungeduldig mit ihm, denn daß er so reichlich Feuerholz gesammelt hatte, war bald vergessen. Er ging nicht mehr mit den Männern zur Jagd oder zum Fischen, ja nicht einmal den Frauen half er beim Sammeln von Beeren und Früchten, wie es die Alten und Kranken taten, soweit sie dazu noch in der Lage waren. In ihrer noch recht primitiven Grunzsprache machten sie ihm klar, daß er bald nichts mehr zu essen bekäme, wenn er nicht schleunigst wieder mit machte. Und da erzählte er ihnen von seinem Spaziergang zum Strand, von seiner Sehnsucht nach den Welten hinter dem Horizont, und plötzlich waren die Bilder in ihm, was hinter dem Horizont verborgen sein mochte. Er erzählte ihnen von fremden Ländern mit fremden Pflanzen und Tieren, von Menschen, die gesund und schön wären, wie niemand zuvor sie je gesehen hätte, und die sich in die Luft erhöben, mit den Vögeln zu fliegen bis hinauf zu den Sternen. Aber da die Idee des Schiffs noch immer nicht in sein Bewußtsein getreten war, konnte er natürlich nicht erklären, wie man hin gelänge.

In den nächsten Tagen sah man allerdings einige aus der Horde am Strand stehen, den sehnsuchtsvollen Blick in die Ferne gerichtet. Kehrten sie heim zur Höhle, versuchten sie sich zu erzählen, was sie geschaut hatten, und da das nicht richtig mit ihrem Gegrunze klappen wollte, erfanden sie nach und nach eine ausgefeilte und komplexe Sprache. Armut und Hunger kehrten ein in die Horde, weil sie nur noch unregelmäßig Nahrung beschafften und für den Winter nicht vorsorgten. Das Träumen am Strand war ihnen zum Lebensinhalt geworden und Jagen, Fischen und Früchtesammeln zur quälenden Mühsal. Wenn sie sich einander anschauten, sahen sie, daß sie hungerdürr und häßlich waren. So putzten sie sich mit schönen Körperbemalungen und Kleidern heraus, um die Schande zu verbergen.

Unserem Urahnen war indes schnell klar geworden, daß bloßes Träumen nur noch größere Sehnsucht und Leere erzeugte. So sann er darüber nach, wie Träume sich erfüllen ließen. Er suchte nach der Idee des Schiffs und wußte dies dennoch nicht. Wenn er mit dem Fuß gegen einen Stein stieß, rollte der davon manchmal über die Kante der Steilküste, wobei er gegen weitere Steine stieß und sie mit sich riß zu einer kleinen Lawine. Wenn er an einem Strauch schüttelte wie die Kinder und Weiber, fielen die Nüsse herab. Wenn er mit dem Faustkeil auf die harten Schalen einschlug, spalteten die sich. Wenn er ein kleineres Tier mit einem Stein bewarf, fiel es tot um. So entdeckte er das Prinzip von Ursache und Wirkung und dachte lange darüber nach. Am ganzen Körper zitterte er, als ihm die zwingende Konsequenz dieses Prinzips bewußt wurde, daß nämlich, wenn jede Ursache eine bestimmte Wirkung zur Folge hat, die ganze Welt ein Geflecht von Ursachen und Wirkungen sein mußte und es dennach eine erste, eine absolute Ursache geben müsse. Die gelte es zu finden.

Doch bis heute haben wir sie nicht herausgefunden.

Kein Ingenieur, kein Physiker. Sie arbeiten daran, entwerfen Theorien wie die der Quantenmechanik, der Quantengravitation, der höherdimensionalen Felder … Andere weisen auf das eitle Tun eines solchen Vorhabens hin, daß es nur den materiellen Aspekt des Universums zu erklären trachte, nicht aber das Wesentliche, nämlich die göttliche Spiritualität des Universums. – Doch zurück zur Geschichte.

Immer noch lag unser Urahne Nächte lang wach und grübelte sich fast zu Tode. Da geschah es, daß in einer sternklaren Nacht der aufgehende Vollmond blasse Lichttupfer gegen die Höhlenwand warf und die hektischen Bewegungen des Menschen auf der granitenen Bühne in ein grandioses Schattentheater verwandelten. Augenblicklich war er still. Der Schatten tat es nach. Was war Ursache? Was Wirkung? War er es selbst, der durch sein Verharren den Schatten in die Starre zwang? Waren es die Bewegungen des Schattens, die ihn erstarren ließen? Er probierte es hin und her, ohne der Lösung näher zu kommen. Hieß dies denn nicht, daß Schatten und Person eine Einheit bilden, obschon er bislang nicht das geringste Wissen um jenen Schattengesellen besessen hatte? Und wenn das wahr wäre, dann doch nur, wenn Person und Schatten zwar Verschiedenes, aber durch eine Klammer Verbundenes wären. Ist diese Klammer die absolute Ursache? Erkennbar nur, wenn man sie sprengte und die von ihr zuvor gehaltenen Teile jedes für sich betrachtete?

Der nächste Tag schon brachte günstige Voraussetzungen, den Gedanken experimentell zu überprüfen. Während einige der Horde sinnend am Strand standen und andere dem notwendigen Übel der Nahrungsbeschaffung nachgingen, verzogen sich die frühen Nebel schnell vor der wärmenden Kraft der Spätsommersonne. Nahe bei der Höhle gab es eine abschüssige Wiese, dort baute unser Urahne sich auf, stand in der gleißenden Helle wie eine Diva im Scheinwerferlicht, erschnupperte die Luft, dehnte und streckte die Muskeln zum herausfordernden Spiel mit dem dies nachäffenden Schatten und sprang plötzlich mit aller Kraft, die er besaß, die Wiese entlang in der Absicht, dem Schatten zu entkommen. Indes war der ein hartnäckiger Verfolger, ließ sich nicht abschütteln, ließ sich nicht einmal durch unerwartetes Hakenschlagen verblüffen, um vielleicht mit kurzer Verzögerung erst hinterher zu springen. Dem seltsamen Schauspiel sahen nur ein paar Alte, Kranke und Kinder zu, sie lachten und lärmten bei jedem Sprung, klatschten Beifall, als unser Urahne nach einem besonders gewaltigen Sprung das Gleichgewicht verlor und die Wiese ein paar Meter hinab rollte. Da blieb er heftig atmend liegen, war völlig erschöpft und konnte sich erst später, viel später an den hämischen Gesichtern vorbei zur Schlafhöhle schleppen, ein gedemütigtes Genie, wo er sich verkroch und meinte, des Lebens überdrüssig zu sein. Als man später seine Tagebuchaufzeichnungen auswertete, fand man den folgenden Satz: »Da Person und Schatten sich wie eine Einheit verhalten und da Person kein Schattenbewußtsein hat, sind sie zwei in einem, der Schatten lebt in und durch Person, wir alle sind in Wahrheit nur Spiegelungen von Schatten.«

Nach ihrer Rückkehr erfuhren die anderen durch die Alten, Kranken und Kinder von dem possierlichen Spiel unseres Urahnen, und auch sie fanden Gefallen daran, machten es nach, Tage lang, Wochen lang, viele starben an Unterernährung oder weil sie sich bei immer gewagteren Sprüngen den Hals brachen. Eigentlich sollte man meinen, daß eine solche Horde Verrückter aus der Geschichte bereits wieder abträte, bevor diese überhaupt richtig begonnen hatte. Aber man unterschätze nicht die suggestive Kraft solcher Gedanken und solchen Tuns! Zumal nur die Klügsten, Geschicktesten und Kräftigsten überlebten. Und da sie ihre Sprachfertigkeiten inzwischen äußerst verfeinert hatten, erzählten sie mitreißend anderen Horden die Geschichte dessen, was sie umtrieb. Und deshalb darf es nicht verwundern, wenn schon bald am ganzen Küstenstreifen lange und hitzig das Problem diskutiert wurde, wie der Traum von den Welten hinterm Horizont zu verwirklichen sei. Und sie wurden klüger im Laufe der Jahrtausende, ließen nun andere, weniger Kluge aus dem Hinterland für sich Nahrung herbei schaffen, ließen sich Fürsten nennen, gar Könige, manchmal Philosophen. Unseren Urahnen aber nannten alle nur den Weisen, denn er hielt sich aus allen Händeln heraus, grübelte und grübelte über sein Versagen nach, und als die Idee des Schiffs endlich in sein Bewußtsein trat und geschickte Handwerker an Hand seiner Erzählungen der Idee Form gaben, da schickte er sie hinaus, denn selbst fühlte er sich zu alt für strapaziöse Reisen ins Unbekannte, und sie fuhren hinaus aufs Meer bis zum Horizont, immer weiter bis zum Horizont, und noch weiter bis zum Horizont, bis sie endlich ferne Länder erreichten, in denen es keine schönen Menschen gab, die sich in die Lüfte erhoben und mit den Vögeln zu den Sternen flogen, sondern nur Menschen wie sie selbst, und sie fuhren weiter hinaus übers Meer bis zum Horizont, immer weiter bis zum Horizont, und noch weiter bis zum Horizont, bis sie überraschend wieder daheim waren und nun wußten, daß die Erde rund ist.

Unser Urahn nahm die Reiseberichte schweigend zur Kenntnis. Dann nickte er und schloß sich Tage lang in seinem Studierzimmer ein. Wenn, so dachte er, die bloße Kraft des menschlichen Geistes nicht ausreicht, ein Problem zu lösen, dann fällt er entweder vor Ehrfurcht auf die Knie, um jenes unfaßbare Wesen der letzten Ursache anzubeten, oder aber er benötigt Hilfsmittel, und zwar solche, die er selbst zu erdenken im Stande ist. Zerlege das, was du nicht begreifen kannst, in folgerichtig von einander abhängige Teilbereiche, wovon jeder für sich überschaubar ist, schrieb er in sein Tagebuch. Suche Lösungen für jeden einzelnen Teil, und hast du sie gefunden, füge sie zu einer Gesamtlösung zusammen. Für jeden Teilbereich denke dir eine Technik aus, die dir bei der Lösung behilflich ist. Dies ist das Verfahren, mit dem wir Schiffe bauen konnten, Häuser, Wagen. Werden wir damit auch diese verfluchte Klammer sprengen können?

Und er baute ein ganz neues Haus, das nicht dem Wohnen diente, sondern der Erkenntnis. Die Anordnung der Fenster und Wände gehorchte dem Prinzip, daß Licht und Schatten in bestimmten Winkeln auf bestimmte Flächen fielen. Er maß diese, wieder und wieder, dachte nach, entwickelte eine komplizierte Mathematik, fügte weitere Häuser hinzu, bis eine ganze Stadt entstanden war mit Häusern der Erkenntnis und Häusern für die Forschenden und Häusern für die Handwerker und Häusern für die Familien und Häusern für die Händler und so weiter. Er baute auf, veränderte, riß ein, baute neu, nahm die Berichte der Reisenden entgegen, stellte Lampen auf, um sich von den Zwängen des Sonnenlichts frei zu machen, schickte seine Forscher schließlich ins All, bis an den Rand des Universums, schwer beladen mit Wissen kehrten seine Schiffe von den Sternen zurück, und so konnte er dem Mosaik Steinchen für Steinchen hinzu fügen, das am Ende den Kosmos erfüllte, aber ein einziges, umfassendes Fragezeichen war. Und von da an hat man nie wieder etwas von ihm gehört.

Heute gibt es keine Schatten mehr. Wir haben das Universum erhellt bis in den letzten Winkel mit unseren Lichtern. Die Schatten sind uns fremd geworden. Nur manchmal, ganz selten und ganz leise, stiehlt sich ein hinterhältiger Gedanke in mein Bewußtsein: Was wohl passieren mag, wenn unsere Lichter wegen einem technischen Problem erlöschen.

 

 

Der Physiker und die magischen Steine

 

 

Zu einer Zeit, als die Erde noch eine Kugel war und um die Sonne kreiste, und hieran könnt ihr erkennen, wie lange diese Zeit schon her ist, da lebte ein Physiker, der sein ganzes Dasein der Erforschung dessen widmete, was unsere Welt im Innersten zusammenhält.

Er hatte drei Schüler, der Physiker. Einer war der klügste, der danach trachtete, seinen Meister in der Schärfe des Denkens zu übertreffen. Einer war der eifrigste, der danach trachtete, seinen Meister in Geschick und Eleganz bei Experimenten zu übertreffen. Einer aber war der Lieblingsschüler, weil er aufmerksam den Lehren seines Meisters lauschte und seinen Experimenten zusah, zu Hause in aller Stille darüber nachdachte und vieles ausprobierte und später Fragen stellte, wenn er etwas nicht verstanden hatte oder wenn etwas nicht klappte.

Eines Tages kam der Klügste zu dem Physiker und sprach: »Meister, sagt mir, woher wißt Ihr, wenn Ihr Eure Theorien entwickelt und Berechnungen anstellt, daß sie richtig sind?« Und der Physiker antwortete: »Mein kluger Schüler, du hast sehr wohl nachgedacht. Deshalb will ich dir eine Antwort geben. Ich weiß nicht, ob ich die Wahrheit über die Welt erforsche, auch weiß ich nicht, ob ich sie jemals finden werde. Aber ich gestalte meine Theorien und Berechnungen so, daß sie immer von einer bestimmten Ausgangslage, die ich mir erdacht habe, zu einem bestimmten gleichen Ergebnis führen, und das unabhängig davon, was ich sonst gerade tue oder wie ich mich fühle, ja sogar unabhängig davon, wer die Theorien wo und wann auch immer benutzt und die Berechnungen anstellt. Und das gilt überall in der Welt. Denke darüber nach, mein kluger Schüler, und ziehe die richtigen Schlüsse daraus. Dann wirst auch du dich später Physiker nennen dürfen.«

Und eines weiteren Tages kam der Eifrigste zu dem Physiker und sprach: »Meister, der Klügste sagte mir, Ihr hättet ihm gesagt, daß Eure Theorien und Berechnungen deshalb richtig seien, weil sie überall auf der Welt von einer bestimmten Ausgangslage, die Ihr Euch erdacht habt, zu einem bestimmten gleichen Ergebnis führen. Sagt mir, Meister, wäre es nicht besser, wenn unsere Wissenschaft nicht nur Experimente macht mit dem, was Ihr erdacht habt, sondern mit den Gegebenheiten der Welt?« Und der Physiker antwortete: »Mein eifriger Schüler, du hast dir sehr wohl meine Experimente angeschaut. Deshalb will ich dir eine Antwort geben. Ich weiß nicht, ob meine erdachte Ausgangslage für Experimente die Welt, wie sie ist, vollständig erfaßt, auch weiß ich nicht, ob es mir jemals gelingen wird, eine solche Ausgangslage zu erdenken. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich die Wahrheit über die Welt erforsche und ob ich sie jemals finden werde. Aber ich mache mir ein Bild von der Welt aufgrund meiner Erfahrungen, und so lange ich nichts erfahre, das diesem Bild widerspricht, darf ich es als Ausgangslage für Experimente nutzen. Gebrauche dieses Wissen, mein eifriger Schüler, bei deinen Experimenten. Dann wirst auch du dich später Physiker nennen dürfen.«

Und noch eines weiteren Tages kam der Lieblingsschüler zu dem Physiker und sprach: »Meister, der Klügste und der Eifrigste behaupten, Ihr hättet ihnen gesagt, daß die Grundlage Eurer Forschungen Eure Erfahrungen seien und daß Eure Theorien und Berechnungen deshalb richtig seien, weil sie unabhängig von Zeit und Ort und anderen Umständen immer zum gleichen Ergebnis führen, wenn nur die Ausgangslage gleich definiert ist. Wie aber könnt Ihr so was wissen, wenn Ihr nicht alle Experimente, die denkbar sind, und ihre Anzahl scheint mir unendlich zu sein, durchgeführt habt, wie könnt Ihr wissen, daß Eure Erfahrungen hinreichend sind, wo die Anzahl aller Erfahrungen doch ebenfalls unendlich ist?« Und der Physiker antwortete: »Mein Lieblingsschüler, du hast sehr wohl die Probleme meiner Forschungen erkannt. Deshalb will ich dir eine Antwort geben. So wie eins und eins immer zwei ist, egal ob du damit das Vieh auf der Weide, die Bäume im Wald hinterm Haus oder auch die Stühle in unserem Labor damit abzählst, die Beziehungen der Zahlen zueinander bleiben immer gleich, selbst dann, wenn ich die Objekte, die mit ihnen gezählt werden, niemals zuvor gesehen habe und niemals sehen werde. So kann ich keine direkten Aussagen treffen über die Dinge der Welt, ich kann aber Aussagen treffen über Beziehungen, und die Wissenschaft der Beziehungen ist die Logik. In meinen Experimenten versuche ich nun, die Beziehung der Dinge zu meinen erdachten und allgemeingültigen logischen Sachverhalten zu ermitteln. Hierdurch gewinne ich die Möglichkeit, etwas über die Beziehungen der Dinge untereinander in Erfahrung zu bringen, und das wiederum gibt mir Hinweise auf die Beschaffenheit der Dinge selbst.« Da sagte der Lieblingsschüler nach kurzem Nachdenken: »Meister, ich glaube Euch zu verstehen. Doch wie könnt Ihr sicher sein, daß es keine Beziehungen der Dinge untereinander gibt, die den von Euch gefundenen Beziehungen widersprechen, wenn Ihr gar nicht alle Dinge der Welt kennt?« Und der Physiker antwortete: »Mein Lieblingsschüler, du hast eine Gefahr sehr wohl erkannt. Doch welche Erkenntnisse sollte ich daraus ziehen, mögliche Dinge, die ich nicht kenne, in meine Forschungen mit einzubeziehen, wenn ich sie doch willkürlich konstruieren müßte? Und wie du selbst gesagt hast, ist ihre Anzahl unendlich. Welche aus der unendlichen Anzahl möglicher Dinge sollte ich konstruieren? Welche davon gibt es wirklich, und welche sind zwar möglich, aber nicht wirklich, und welche sind gar ganz unmöglich? Laß mich, mein Lieblingsschüler, ein Beispiel nennen. Es liegen viele Steine herum, und trete ich kräftig gegen einen der größeren, dann schmerzt es mich. Der Stein muß also etwas an sich haben, das in seiner Beziehung zu meinem Fuß Schmerz erzeugt. Ebenso muß mein Körper etwas an sich haben, das in seiner Beziehung zum Stein mich Schmerz spüren läßt. Und da ich beobachte, daß ein jeder, der kräftig gegen einen größeren Stein tritt, sein Gesicht vor Schmerz verzerrt, darf ich annehmen, daß dies immer der Fall ist, denn ich konnte bisher keine Ausnahme entdecken. Der Schmerz ist offenbar ausschließlich abhängig von der Größe des Steins und der Stärke des Tritts. Das gibt mir viele Informationen für weitere Forschungen. Und so lange mir keine magischen Steine begegnen, die selbst bei idealer Größe und stärkstem Tritt keinen Schmerz erzeugen, habe ich das Recht zu behaupten, daß meine Erkenntnisse allgemeingültig und richtig sind. Sollte ich mögliche magische Steine in meine Forschungen einbeziehen, hätte ich eine unendliche Fülle an möglichen Beziehungen zu erforschen und käme wohl zu dem Ergebnis: Alles ist gleich, alles ist bedeutungslos, alles ist egal, alles ist möglich – nur wissen ist unmöglich, und die armen Passanten, die sich andauernd die Füße wundstoßen, weil ja niemand die Steine mehr wegräumte, müßte man vielleicht ins Irrenhaus sperren, denn ihr Schmerz kann ja nichts anderes sein als Einbildung. Du siehst, mein Lieblingsschüler, wir beträten schwankenden Boden, ohne ein Mehr an Erkenntnissen zu erhalten.« Da sagte der Lieblingsschüler: »Meister, ich sehe, worauf das hinausläuft. Wir müßten in die Welt ziehen und all die Dinge sammeln, die uns begegnen, um ihre Beziehungen untereinander erforschen zu können. Wir würden niemals die letzte Wahrheit finden, aber wir würden uns ihr nähern können. Deshalb, Meister, schicke uns Schüler hinaus in die Welt!« Und der Physiker antwortete: »Mein Lieblingsschüler, wie wahr du sprichst. Ihr habt genug bei mir gelernt, um in die Welt hinauszuziehen und alle die Dinge zu sammeln, die euch interessant erscheinen, damit wir der Wahrheit mit unseren Forschungen ein Stückchen näher kommen. Sprich mit dem Klügsten und mit dem Eifrigsten, und ein jeder von euch soll in eine andere Richtung gehen, auf daß wir möglichst viel verschiedenes Material bekommen.«

Und die drei zogen hinaus in die Welt, wie es ihnen ihr Meister aufgetragen hatte. Der Klügste ging nach Osten, so weit ihn seine Füße trugen, der Eifrigste ging nach Westen, so weit ihn seine Füße trugen, und der Lieblingsschüler ging nach Süden, so weit ihn seine Füße trugen.