Umschlag

James N. Frey, erfolgreicher Autor mehrerer Romane, lehrt kreatives Schreiben an der University of California.

© 1993 Hermann-Josef Emons Verlag
© 1987 bei James N. Frey
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
How to write a damn good novel
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ellen Schlootz, Jochen Stremmel
Umschlaggestaltung: Ulrike Strunden, Köln
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-362-0

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Für meine Studenten an der University of California, Berkeley, Extension

Danksagung

Dank an meine Frau, Elisabeth, die so viel auf sich genommen hat und eine große Hilfe bei der Abfassung des Manuskripts war; an Lester Gorn, der mir das meiste beigebracht hat; an John Berger, der mir immer wieder die wichtigen Fragen stellte; an meinen Lektor bei St. Martin’s, Brian DeFiore, für seine Geduld und Klugheit; an meine Agentin Susan Zeckendorf, für ihre Zuversicht; und an den verstorbenen Kent Gould, der mich gedrängt hat, Wie man einen verdammt guten Roman schreibt zu schreiben. Er war ein verdammt guter Freund.

VORWORT

In Deutschland herrscht noch immer ein Vorurteil, das in den großen Aufbruchjahren unserer Literatur in der frühen Goethezeit wurzelt: Dichtung entsteht ohne weitere Voraussetzungen, sobald die Muse das Genie küßt. Goethes Götz und sein Werther; Schillers Räuber, alle im Schaffensrausch hingeworfen, scheinen da unwiderlegbare Beweise zu sein. Dabei wird leicht übersehen, daß Goethe, als er den Götz in wirklich erstaunlich kurzer Zeit hinschrieb, voll mit der Dramentradition vertraut war, dank der französischen Besetzung Frankfurts während des Siebenjährigen Krieges sogar mit der klassischen französischen Bühnenpraxis, daß er beim Schreiben des Werthers über die Technik der Brieferzählung bestens informiert war und daß Schiller das ungute Gefühl hatte, im abgelegenen unliterarischen Württemberg in der Isolation der Karlsschule wohl kein besonders gutes Erstlingsstück geschrieben zu haben.

Wir wollen den schwierigen Begriff des Genies hier nicht näher untersuchen – auch bei James N. Frey ist davon nicht die Rede, sondern vom Handwerk. Und da zeigt sich, daß bei allem deutschen Geniekult in den Werkstätten deutscher Autoren, wie wir sie aus Briefen, Tagebüchern und Autobiographien kennen, stets und ausführlich von eben diesem Handwerk die Rede ist. Um den Wallenstein zu schreiben, hat Schiller gemeinsam mit Goethe nicht nur die theoretische Literatur von Aristoteles bis zu dem genialen Handwerker Lessing studiert, sondern auch die gesamten Königsdramen des Praktikers Shakespeare, um von ihm zu lernen, wie man einen riesigen historischen Stoff auf die Bretter bringen kann. Und Goethe las zur selben Zeit heimlich die Trivialliteratur seiner Zeitgenossen, um ihr die handwerklichen Kniffe abzulauschen, wie er in seinem Wilhelm Meister einen Geheimbund hintergründig wirken lassen konnte. Das Ergebnis schickte er dann portionsweise an Schiller, der ihm bei der Politur behilflich war.

Komponisten, Maler, Bildhauer usw. können und müssen in Deutschland studieren; dafür gibt es Hochschulen und Akademien, und das erscheint uns selbstverständlich. Schriftsteller können das nicht und müssen es trotzdem – und tun es auch. Sie müssen es sozusagen heimlich tun, denn es gibt ja keine Institutionen dafür. Wir kommen ihnen aber auf die Schliche, sobald sie Werke von Kollegen rezensieren. Die Gattung der Autorenrezension unterscheidet sich von der üblichen Feuilletonkritik und vom germanistischen Aufsatz erheblich, indem sie große Teile des zur Verfügung stehenden Raumes auf handwerkliche Fragen verwendet. Ein Musterbeispiel hierfür sind die Rezensionen Theodor Fontanes, der gern verdammt gute Romane, d. h. spannende Romane besprach, während er Autoren von Goethe bis Zola vorwarf, »zeitweilig und aus Prinzip unsterblich langweilig zu sein«. An Gustav Freytags Soll und Haben mißfiel ihm genauso wie uns heute der widerliche Antisemitismus und die spießige »Prämisse« (was das ist, sagt Ihnen Frey): Bürgerliche Tugenden führen zu Liebe, Glück und Wohlstand. Aber er bewundert den meisterlichen Techniker und studiert das Handwerk dieses Baumeisters. Fontane führt diese Sorgfalt der Komposition darauf zurück, daß Freytag »dem Drama und seinen strengen Anforderungen und Gesetzen auch die Vorschriften für die Behandlung des Romans entnommen« habe. In der Tat hat Freytag sich intensiv mit den Gesetzen der Dramaturgie beschäftigt und aus dem Studium der dramatischen Weltliteratur »einige Handwerksregeln in anspruchsloser Form« destilliert, die er »jüngeren Kunstgenossen« »überliefern« will: Die Technik des Dramas. Ich empfehle diese Schrift seit über zwanzig Jahren meinen Studenten, nicht etwa, damit sie nun selbst kunstvolle Römer- oder Staufertragödien schreiben, sondern weil Freytag im Gefolge des Aristoteles hier Naturgesetze der dramatischen Handlung beschreibt, die in Kraft treten, sobald man eine geschlossene Handlung in eine zeitlich begrenzte Theateraktion umsetzt, sei es nun der König Ödipus oder die einhundertsiebenundsechzigste Derrick-Folge. Umso mehr Freude hat es mir bereitet, daß diese Freytagschen Gesetze im Schriftstellerstudium in den USA – denn dort gibt es das, es nennt sich creative writing – offensichtlich noch heute genau für das gebraucht werden, wofür Freytag sie einst konzipierte: zu lehren, wie man ein verdammt gutes Drama schreibt.

James N. Frey greift wiederholt auf sie zurück; denn es geht ihm um den dramatischen Roman – um nicht mehr. Den Experimentalroman, den unsere Kritiker fast ausschließlich besprechen, schließt er ausdrücklich aus. Es geht eben nur um den gut komponierten und exzellent geschriebenen Roman, dessen Lektüre schlicht und ungebrochen Spaß macht, ohne einen schalen Nachgeschmack zu hinterlassen – und das ist, wenn wir an unsere Leseerfahrungen denken, vielleicht gar nicht so wenig. In der deutschen Literatur haben wir nicht viele davon – vielleicht, weil wir keine Schulen haben, wo man lernt, wie man einen verdammt guten Roman schreibt.

Volker Neuhaus

EINLEITUNG

Ein »verdammt guter Roman« ist eindringlich, und das kann er nur sein, wenn er spannend ist. Zu einem spannenden Roman gehören die folgenden Merkmale: im Mittelpunkt steht eine Hauptfigur, der Protagonist, der mit einem Dilemma konfrontiert wird; das Dilemma weitet sich zu einem Konflikt aus; der Konflikt verdichtet sich aufgrund einer Reihe von Komplikationen zu einem Höhepunkt; auf dem Höhepunkt wird der Konflikt gelöst. Romane wie beispielsweise Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer, John Le Carrés Der Spion der aus der Kälte kam, Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest, Vladimir Nabokovs Lolita, Mario Puzos Der Pate, Charles Dickens’ Ein Weihnachtslied in Prosa und Gustave Flauberts Madame Bovary erfüllen alle diese Merkmale für einen spannenden Roman, und es sind verdammt gute Romane.

Virginia Woolfs Mrs. Dalloway ist ein klassischer Roman, ein handwerklich ausgefeiltes Kunstwerk und sehr lesenswert. Es hat jedoch nicht die Form eines spannenden Romans. Das gilt auch für James Joyce’ Ulysses, einen Meilenstein in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wenn Sie wie James Joyce und Virginia Woolf schreiben und experimentelle, symbolische, philosophische oder psychologische Romane hervorbringen wollen, die die Form des spannenden Romans bewußt meiden, dann ist dieses Buch nicht das Richtige für Sie. Auch dann nicht, wenn Sie nach einer literaturwissenschaftlichen Abhandlung über den herkömmlichen spannenden Roman suchen. Dieses Buch ist einfach eine Anleitung, wie man einen spannenden Roman schreibt, und mehr will es auch nicht sein.

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WORAUF ALLES ANKOMMT IST »WER«

WAS BEDEUTET DAS WER?

Wenn Sie keine Figuren erschaffen können, die in der Phantasie des Lesers lebendig werden, können Sie keinen verdammt guten Roman schreiben. Figuren sind für den Romancier, was Holz für den Schreiner ist und was Ziegelsteine für den Maurer sind. Figuren sind der Stoff, aus dem ein Roman gemacht wird.

Fiktionale Figuren – homo fictus – sind jedoch nicht identisch mit Menschen aus Fleisch und Blut – homo sapiens. Ein Grund dafür ist, daß Leser lieber vom Außergewöhnlichen lesen als vom Alltäglichen. Leser verlangen, daß homo fictus schöner oder häßlicher, rüder oder vornehmer, rachsüchtiger oder barmherziger, tapferer oder feiger usw. ist als wirkliche Menschen. Seine Gefühle sind leidenschaftlicher, seine Wut ist kälter, er reist mehr, kämpft mehr, liebt mehr, zieht sich häufiger um, hat mehr Sex. Viel mehr Sex. Homo fictus hat von allem mehr. Selbst wenn er einfältig, blaß und langweilig ist, ist er in seiner Einfalt, Blässe und Langweiligkeit außergewöhnlicher als seine Kollegen im wirklichen Leben.

Wirkliche Menschen sind wankelmütig, widersprüchlich, verbohrt – erst glücklich und im nächsten Moment verzweifelt, manchmal ändern sich ihre Gefühle so oft wie sie Luft holen. Homo fictus dagegen kann kompliziert sein, flatterhaft, sogar geheimnisvoll, aber er ist immer faßbar. Wenn er das nicht ist, klappt der Leser das Buch zu, und das wär’s dann gewesen.

Ein anderer Grund dafür, daß die beiden Arten nicht identisch sind, hängt mit dem Platzmangel in einem Roman zusammen. Deshalb ist homo fictus einfacher, genauso, wie das Leben in einer Geschichte einfacher ist als draußen in der wirklichen Welt.

Wenn Sie alles aufschreiben wollten, was Ihnen, sagen wir: während des Frühstücks heute morgen widerfahren ist, könnten Sie daraus ein dickes Buch machen – wenn Sie die Millionen Sinneswahrnehmungen, Gedanken und Bilder, die Ihnen durch den Kopf gehen, mit einbeziehen. Wenn ein Schriftsteller das Leben einer Romanfigur beschreiben will, muß er darauf achten, nur die Eindrücke, Gedanken, Reflexionen, Wahrnehmungen, Gefühle, Wünsche usw. aufzunehmen, die für die Motive, die Entwicklung der Figur und für ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, von Bedeutung sind – Eigenschaften, die charakteristisch dafür sind, wie die Figur mit den Schwierigkeiten fertig wird, die die Geschichte für sie bereithält.

Das Ergebnis dieses Selektionsprozesses sind Figuren, die zwar einige Ähnlichkeit mit dem wirklichen Leben haben, aber trotzdem keine richtigen Menschen sind. Homo fictus ist eine Abstraktion, die das Wesen, aber nicht die Gesamtheit des homo sapiens wiedergeben soll.

DIE UNTERARTEN DES HOMO FICTUS

Es gibt zwei Typen des homo fictus. Der einfachere wird »flach« genannt, »schematisch« oder »eindimensional«. Figuren dieses Typs werden für kurze »Auftritte« gebraucht. Sie »treten auf«, sagen einen Satz oder zwei, und das war’s. Sie sind die Kellner, Zeitungsausträger, Portiers, Botenjungen. Sie können farbige Typen sein oder nichtssagend, völlig überdreht oder ganz ruhig. Aber sie sind immer Randfiguren, stehen nie im Mittelpunkt; der Leser hat an ihnen nur ein vorübergehendes Interesse. Sie lassen sich leicht mit einem Etikett versehen und haben anscheinend nur einen Charakterzug. Sie sind gierig oder bigott oder feige oder servil oder geil usw. Sie können den Leser für einen kurzen Moment erschrecken, belehren oder amüsieren, aber sie können sein Interesse nicht über einen längeren Zeitraum fesseln. Sie haben keine Tiefe; der Autor erläutert weder ihre Motive noch ihre inneren Konflikte – ihre Zweifel, Befürchtungen oder Schuldgefühle. Solange eindimensionale Figuren nur in den kleineren Rollen Ihres Romans zum Einsatz kommen: okay. Aber sobald sie für Hauptrollen benutzt werden, die des großen Schurken etwa, wird aus einer dramatischen Geschichte eine melodramatische.

Der andere Figurentyp wird »abgerundet« genannt, »vielschichtig« oder »dreidimensional«. Alle Hauptfiguren in Ihrem Roman sollten zu dieser Gattung gehören, auch die Schurken. Abgerundete Figuren sind schwer festzulegen. Sie haben komplexe Motive, widersprüchliche Wünsche, sind leidenschaftlich und ehrgeizig. Sie haben schwere Sünden begangen und große Qualen ertragen: sie sind voller Sorgen, Schmerzen und ungelöster seelischer Probleme. Der Leser hat das deutliche Gefühl, daß sie längst da waren, bevor der Roman begonnen hat, daß sie ein reiches und erfülltes Leben geführt haben. Leser sind an Details über das Leben solcher Figuren äußerst interessiert, weil es sich lohnt, ihre Bekanntschaft zu machen.

WUNDERBAR ABGERUNDETE FIGURENERSCHAFFEN, ODER: WIE MAN GOTT SPIELT

George Baker behauptet in seinem Buch Dramatic Technique von 1919, daß »großes Drama auf sicherem Erfassen und ebenso sicherer Präsentation komplexer Figuren beruht (…), daher lautet die alte Maxime ›Erkenne dich selbst‹ bezogen auf den Dramatiker: ›Lerne deine Figuren so genau wie möglich kennen‹.«

Wie müssen Sie also vorgehen, wenn Sie Ihre Figuren »so genau wie möglich kennenlernen« wollen?

In seinem Standardwerk The Art of Dramatic Writing (1946) beschreibt Lajos Egri eine abgerundete Figur als dreidimensional. Die erste Dimension nennt er die physiologische, die zweite die soziologische und die dritte die psychologische.

Die physiologische Dimension einer Figur umfaßt deren Größe, Gewicht, Alter, Geschlecht, Rasse, Gesundheitszustand usw. Was wäre z. B. aus Jesse Owens geworden, wenn er mit einem Klumpfuß geboren worden wäre? Oder aus einer flachbrüstigen Marilyn Monroe? Aus John McEnroe mit einem verkrüppelten Arm? Aus Barbra Streisand mit einer Piepsstimme? Offensichtlich wäre dadurch nicht nur ihre Berufswahl beeinflußt worden, auch ihr jeweiliger Charakter hätte sich ganz anders entwickelt. Ein kleiner Mann kann sein Gewicht nicht mit dem gleichen Effekt »in die Waagschale werfen« wie ein großer Mann. Hübsch oder häßlich, klein oder groß, dünn oder dick – all diese körperlichen Eigenschaften beeinflussen die mögliche Entwicklung einer Romanfigur genauso, wie es bei Menschen aus Fleisch und Blut der Fall wäre.

Wie die Gesellschaft unseren Charakter prägt, hängt von unserer äußeren Erscheinung ab: Größe, Geschlecht, Körperbau, Hautfarbe, Narben, Verunstaltungen, Abnormitäten, Allergien, Körperhaltung, Stimmlage, Mundgeruch, Neigung zu Schweißausbrüchen, nervöse Ticks und Gesten usw. Ein schlankes, zartes Mädchen mit großen blauen Augen wächst mit völlig anderen Erwartungen hinsichtlich dessen auf, was sie mit ihrem Leben anfangen kann, als ihre Schwester mit der spitzen Nase und den Froschaugen. Um eine Figur wirklich abrunden zu können, muß man ihre Physiologie durch und durch verstanden haben.

Die zweite von Egris drei Dimensionen ist die soziologische. Welcher sozialen Schicht gehört die Figur an? In welchem Milieu ist sie aufgewachsen? Welche Schulen hat sie besucht? Welche politischen Ansichten hat sie angenommen? Welcher Religionsgemeinschaft gehört sie an? Was hielten ihre Eltern von Sex, Geld, Karriere? Hat man ihr viel Freiheit gelassen oder keine? War ihre Erziehung streng oder locker oder irgendwo dazwischen? Hatte sie viele Freunde oder nur ein paar; und was für welche? Ein Junge von einer Farm in Missouri ist in einem anderen Land aufgewachsen als ein Kind aus Spanish Harlem in New York. Um eine Figur völlig zu verstehen, muß man die Herkunft ihrer Eigenschaften bis zum Ursprung zurückverfolgen können. Der Charakter eines Menschen wird durch das soziale Klima geformt, in dem er heranwächst, egal ob es sich um ein reales menschliches Wesen handelt oder um eine Romanfigur. Solange ein Autor nicht die Entwicklung seiner Figur von Grund auf kennt, sind deren Beweggründe nicht ganz zu verstehen. Es sind diese Beweggründe, die die Konflikte produzieren und die erzählerische Spannung erzeugen, die Ihr Roman haben muß, wenn er die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln will.

Die psychologische Dimension, Egris dritte, ist das Ergebnis der physiologischen und der soziologischen. Innerhalb der psychologischen Dimension finden wir Phobien und Manien, Komplexe, Ängste, Hemmungen, Schuldgefühle, Sehnsüchte, Phantasien usw. Die psychologische Dimension schließt Dinge ein wie Intelligenz, Begabungen, besondere Fähigkeiten, Schlüssigkeit der Argumentation, Gewohnheiten, Erregbarkeit, Empfindlichkeit, Talente und ähnliches. Um einen Roman zu schreiben, brauchen Sie kein Psychologe zu sein. Sie müssen nicht Freud oder Jung oder Frau Irene gelesen haben, und Sie müssen auch nicht in der Lage sein, den Unterschied zwischen einem Psychopathen und einem Schizophrenen zu bestimmen. Aber Sie müssen die Natur des Menschen studieren und verstehen lernen, warum Leute tun, was sie tun, und sagen, was sie sagen. Versuchen Sie die Welt zu Ihrem Laboratorium zu machen. Wenn die Sekretärin in Ihrem Büro kündigt, fragen Sie sie, warum. Eine Bekannte will sich scheiden lassen? Hören Sie zu, worüber sie sich beklagt. Warum hat sich Ihr Zahnarzt einen Beruf ausgesucht, bei dem er gezwungen ist, anderen weh zu tun und den ganzen Tag anderen Leuten im Mund herumzufummeln? Meiner hat geglaubt, er würde dabei reich werden, aber bis jetzt kann er nicht einmal die Raten für seine diversen Apparate und Maschinen pünktlich bezahlen. Es ist erstaunlich, was die Leute einem erzählen, wenn man höflich fragt und mit Anteilnahme zuhört. Viele Romanautoren führen Tagebuch oder machen Charakterskizzen von Menschen, denen sie begegnen; das ist eine gute Idee. Grace Metalious hat, wie man hört, Peyton Place (»Die Leute von Peyton Place«) mit Freunden und Nachbarn aus ihrer Heimatstadt bevölkert, und jeder, den sie kannte, hatte keine Schwierigkeiten, herauszukriegen, um wen es sich bei all den schamlosen Figuren, die von einem Bett ins andere hüpfen, in Wirklichkeit handelte. Sie verlor ein paar Freunde, bekam von ein paar Nachbarn die kalte Schulter gezeigt, aber sie hat einen verdammt guten Roman geschrieben.

DIE FIGUREN FUNKEN SPRÜHEN LASSEN

Wenn Ihr Roman nicht nur erfolgreich, sondern auch elektrisierend sein soll, müssen Sie ihn mit eher dynamischen als statischen Figuren ausstatten. Romanfiguren können gut konstruiert, aber trotzdem zu passiv sein. Figuren, die angesichts des Dilemmas, vor dem sie stehen, wie gelähmt sind, Waschlappen, die Konflikten aus dem Weg gehen, sich zurückziehen und leiden, ohne zu kämpfen, sind für Sie nicht brauchbar. Das sind statische Figuren, und die meisten von ihnen sollte ein früher Tod dahinraffen, bevor sie die Gelegenheit haben, auf den Seiten Ihres Romans aufzutauchen und alles zu verderben. Spannende Romane verlangen nach dynamischen Figuren, voll von großen Leidenschaften und starken Gefühlen: Wollust, Neid, Gier, Ehrgeiz, Liebe, Haß, Rachsucht, Bosheit usw. Machen Sie aus Ihren Figuren, wenigstens aus Ihren Hauptfiguren, emotionale Feuerstürme.

FIGURENKONSTRUKTION VON GRUND AUF: DIE FIKTIONALE BIOGRAPHIE

In Fiction is Folks (1983) gibt Robert Peck den folgenden Ratschlag:

Schreiben ist ein verdammt rauhes Geschäft, und das heißt, wenn du es nachlässig betreibst, macht es dich schneller kaputt als ein Verriß. Bevor du also Kapitel Eins oben auf eine jungfräuliche Seite tippst (und dann eine Woche davorsitzt und dich fragst, was du als nächstes tun sollst), mach deine Hausaufgaben für jede deiner Figuren.

»Seine Hausaufgaben machen« heißt, einen Hintergrund für die Hauptfiguren schaffen: praktisch ihre Biographie schreiben. Für die meisten Schriftsteller und auf jeden Fall für alle, die mit dem Schreiben erst anfangen, sind Biographien von Romanfiguren ein notwendiger vorbereitender Schritt auf dem Weg zu einem guten Roman.

Angenommen, Sie wollen einen Kriminalroman schreiben. Sie haben noch keinen Plot, nicht mal eine Vorstellung davon. Das erste, was Sie in so einem Roman brauchen, ist ein Mörder. Der Mörder wird der Böse und der Antagonist in dem Roman sein. In einem Kriminalroman hat die Geschichte ihren Ursprung in den Machenschaften des Schufen. So gesehen, ist der Schurke der »Autor« Ihrer Geschichte. Die Rollenverteilung in Ihrem Roman wird von dem Plan Ihres Schurken getragen.

Sagen wir, Ihnen schwebt eine Frau vor, die ihren Mann umbringen will, weil er den guten Namen der Familie in den Dreck gezogen hat. Er hat nämlich mit Rauschgift gedealt, um seine Wettleidenschaft finanzieren zu können. Sie haben noch keine Ahnung, wer die Frau ist oder wozu sie in der Lage ist, aber Sie wissen, daß sie eine kluge Frau ist – sonst wäre sie keine angemessene Antagonistin. Sie wissen, daß sie das Verbrechen mit viel Sorgfalt und Raffinesse planen wird. Ihre Raffiniertheit wird auch den Schwierigkeitsgrad bestimmen, mit dem es der Detektiv zu tun hat, also werden Sie dafür sorgen, daß sie so klug wie möglich ist.

Das zweite, was Sie brauchen, ist jemand, der das Verbrechen aufklärt, der Protagonist. Sie haben im Moment noch keine Idee, wer diese Rolle übernehmen könnte. Was tun Sie also?

Es gibt viele verschiedene Typen von Detektiven in solchen Romanen. Er oder sie kann ein hartgesottener Profi sein (Philip Marlowe, Sam Spade), ein intellektueller Profi (Sherlock Holmes, Hercule Poirot), ein begabter Amateur (Ellery Queen, Miss Marple) oder ein Zuschauer, der in das Verbrechen hineingezogen wird (die zweite Mrs. de Winter in Daphne du Mauriers Rebecca).

Ihre Entscheidung wird davon abhängen, welcher Romantyp Ihnen vorschwebt. Detektivromane haben eine Menge Lesevergnügen zu bieten. Z. B. das Vergnügen, einen großen Denker am Werk zu sehen. Oder das Vergnügen, die Verwirrung und den Schrecken eines Unschuldigen zu teilen, der in eine mörderische Intrige hineingezogen wird. Oder einem abgebrühten Detektiv zuzusehen, wie er durch den Schlamm und den Schmutz in den Gossen der Stadt watet und dabei Prügel verteilt und Kugeln ausweicht.

Wenn Sie von einem bestimmten Typ Roman begeistert sind, schreiben Sie so einen Roman. Schreiben Sie ein Buch, das Sie gern lesen würden. Die Ausnahme von dieser Regel ist der Detektivroman der hardboiled school, der in der ersten Person geschrieben ist. Das ist ein schwieriger Prosastil, besonders für einen Anfänger. Wenn dieser Ton nicht gut getroffen ist, wirkt er wie eine Imitation oder schlimmer, wie eine Parodie.

Welchen Typ Sie sich auch aussuchen, Sie schreiben in einer bestimmten Tradition, und es wäre sehr gut, wenn Sie viele Romane in dieser Tradition gelesen haben und mit ihren Konventionen völlig vertraut sind. Ein etablierter Schriftsteller kann von der Konvention abweichen, und seine Leser werden ihm diese Abweichung verzeihen, aber einem Anfänger wird dieses Privileg nicht zugestanden, und er tut daher gut daran, die akzeptierten Grenzen des Genres nicht zu verlassen.

Nehmen wir an, Sie haben sich dazu entschieden, über einen professionellen Detektiv zu schreiben, weil es Ihnen Spaß macht, Erle Stanley Gardner, Ed McBain, Ross MacDonald, John Dickson Carr und Robert B. Parker zu lesen. Der Profi-Detektiv ist Ihr Lieblingsdetektiv. Aber Sie haben keine Ahnung, was für ein Mensch Ihr Profi ist. Am besten fangen Sie damit an, sich einen Namen zu überlegen, der Ihnen ein bestimmtes Bild vermittelt.

Geben Sie ihm keinen typischen Detektiv-Namen wie Rockford, Harper, Archer oder Marlowe. Sie wollen etwas anderes und Unverbrauchtes, aber nichts Abwegiges. Kein Stempski Scyzakzk, der Ihre Leser vergraulen würde. Es kommt darauf an, innerhalb der akzeptierten Form kreativ zu sein, wie ein Architekt, der die Ecken, die Säulen, die Neigung des Dachs verändert, ohne auf die Schlaf-, Badezimmer und Toiletten zu verzichten, die seine Auftraggeber erwarten vorzufinden.

Lassen wir den Namen Ihres Detektivs ein wenig undetektivisch klingen, nennen wir ihn Boyer, Boyer Mitchell, wie finden Sie das? Nicht schlecht, oder? Wenn Ihnen kein Name einfällt, das Telefonbuch ist voll davon.

Eine Menge Detektive sind im mittleren Alter, harte Burschen mit grauen Haaren und viel Erfahrung. Wir wollen Boyer der Abwechslung wegen jung und unerfahren sein lassen. Auch physisch sollte er kein typischer Detektiv sein. Detektive in Romanen sind oft groß, auf eine rauhe Weise gutaussehend und aufdringlich. Boyer soll schmächtig, zart und mittelgroß sein, intelligent aussehen, und wir wollen ihm große, dunkle, scharfsinnige Augen und runde Schultern geben. Er bewegt sich ziemlich bedächtig, kleidet sich gut, um den besten Eindruck zu machen, sieht auch sonst gepflegt aus und hat große strahlende Zähne. Er hat ein angenehmes Auftreten – ruhig und nachdenklich. Die meisten würden ihn für einen Akademiker halten. Er ist 26 und ein Single.

Woher stammt dieses Bild von Boyer Mitchell? Der Autor, dessen Buch Sie gerade lesen, hat es völlig aus der Luft gegriffen, als er dieses Buch entwarf, indem er Eigenschaften auswählte, die zu denen der meisten Detektiv-Figuren in krassem Gegensatz stehen – Eigenschaften, die zu Stereotypen geworden sind. Boyer könnte genauso gut alt, fett und Alkoholiker sein. Was die charakteristischen Eigenschaften Ihrer Figur betrifft, sollten Ihre Auswahlprinzipien so aussehen: Vermeidung von Stereotypen und gute Orchestrierung.

Gute Orchestrierung ist Lajos Egri zufolge die Kunst, kontrastierende Figuren zu schaffen, damit sie »Instrumente sind, die so zusammenspielen, daß sie eine gut orchestrierte Komposition wiedergeben können«. Mit anderen Worten: Machen Sie nicht alle Ihre Figuren gierig oder ehrgeizig. Figuren sollten einander als Folie dienen. Falls eine außergewöhnlich fleißig ist, sollte eine andere ungewöhnlich faul sein. Hamlet war unentschlossen und willensschwach, neigte eher zum Denken als zum Handeln. Er brütete vor sich hin, war depressiv und schwelgte in Selbstmitleid. Seine Kontrastfigur, Laertes, war ein Mann der Aktion.

Eine weitere Überlegung beim Erschaffen von Figuren ist, daß Sie, der Autor, eine lange Zeit die Welt mit den Augen Ihrer Figuren sehen müssen. Sie sollten sich fragen, ob Sie wirklich mit ihnen arbeiten wollen. Finden Sie diese Figuren interessant? Vielleicht wollten Sie mit Boyer Mitchell nicht arbeiten, wenn er alt, fett und Alkoholiker wäre, und das allein ist der Grund, warum Sie ihn jung, schlank und intelligent haben wollen. Das ist In Ordnung, es ist Ihr Buch. Wenn Sie von Ihren Figuren fasziniert sind und sie mögen, ist es wahrscheinlicher, daß Ihre Leser auch so empfinden.

Bis jetzt haben wir einige von Boyers physiologischen Dimensionen festgelegt und einen Hinweis auf seine soziologische Dimension. Wir sind dabei, ein Bild von ihm zu bekommen, aber es ist immer noch nebulös. Wir müssen seinen Charakter durchschauen und ihn wirklich kennenlernen, weil er der Star dieses Romans werden soll.

Weil er nicht der typische Detektiv zu sein scheint, können wir mit der Frage beginnen, warum Boyer auf diesen Beruf verfallen ist. Vielleicht ist er auf dieselbe Weise darauf gekommen wie viele andere junge Männer: indem er den Fußstapfen seines Vaters gefolgt ist. Hier können Sie Ihre Phantasie spielen lassen. Nehmen wir an, sein Vater war der berühmte »Big Jake« Mitchell, das Modell für Dashiell Hammetts Figur Sam Spade. Big Jake war hart, grausam und scharfsinnig: ihn würde nichts davon abhalten, die Interessen seines Klienten zu schützen. Mehr als einmal hat er einen Kiefer gebrochen im Dienste, wie er es nannte, der »höheren Gerechtigkeit«. Boyer sah in seinem Vater eine Art Schläger, aber er hat ihn bewundert. Er glaubt ebenso fest wie sein Vater an die Gerechtigkeit, aber er glaubt auch, daß die Zivilisation auf der Achtung vor dem Gesetz beruht.

Indem man Boyer einen solchen Vater gibt, fordert man ihn dazu heraus, sich an Big Jakes Maßstäben zu orientieren. Die Leute werden ihn immer an seinem Vater messen. Alte Feinde werden versuchen, ihre Rechnung mit dem Vater zu begleichen, indem sie es dem Sohn heimzahlen. Big Jake wird, auch nach seinem Tod, ein Kreuz sein, das Boyer zu tragen hat. Wenn man die Biographie einer Figur schreibt, muß man nach Dingen Ausschau halten, die die Emotionen der Figur und ihr Verhalten in der Geschichte beeinflussen. Abgerundete Figuren haben eine Vergangenheit, und sie werden sie, wie wirkliche Menschen, mit sich herumtragen müssen.

Wir haben bis jetzt nur eine rohe Skizze von Boyer Mitchell. Wir müssen ihm Substanz verleihen. Das können wir tun, indem wir eine vollständige Biographie von ihm schreiben, in der dritten oder in der ersten Person. Eine Biographie wie die folgende ist keine Geschichte. Sie kann, wie diese hier, ein wenig abschweifen, kurze Einblicke in Beziehungen gewähren, die nicht erläutert werden, auf nicht weiter behandelte Ereignisse anspielen usw. Solche Biographien sind nicht als umfassende Charakterstudien gedacht. Die Biographie einer Figur ist ein kurzer Abriß ihres Lebens, der es dem Autor ermöglichen soll, sie besser zu verstehen. Nur für ihn selbst. Hier ist Boyers Lebenslauf, geschrieben in der ersten Person:

Ich bin am 1. Januar als Boyer Bennington Mitchell geboren worden. Ich bin 26 Jahre alt. Ich bin nicht nur jung, ich sehe auch jung aus. Das macht es schwer für mich, in meinem Beruf respektiert zu werden, aber ich habe gelernt, damit zu leben.

Was für mich zählt, ist, meinen Job ordentlich zu machen. Das ist eine Sache, die ich von meinem Vater gelernt habe. Wenn du das Geld von jemandem nimmst, mußt du dein Bestes geben.

Mein Vater war »Big Jake« Mitchell. Das ist ein anderes Problem für mich. Es ist nicht leicht, einer Legende nachzuleben.

Meiner Mutter verdanke ich die Namen »Boyer Bennington«. Sie stammte aus einer Oberschicht-Familie – eine Bennington von den Benningtons aus Vermont. Eine sehr alte Neuengland-Familie. 1955 ist einer ihrer Onkel hier in San Francisco ermordet worden, und die Polizei konnte das Verbrechen nicht auf klären. Big Jake als Retter in der Not. Er schnappte den Mörder innerhalb von 24 Stunden und heiratete meine Mutter 24 Stunden später. Rannte sie über den Haufen. Die Frauen fraßen ihm aus der Hand. Damals flogen sie auf diesen Macho-Typ. Meine Mutter jedenfalls, sagt man. Natürlich war die Ehe meiner Eltern so glücklich wie das Leben in einem Knast in Kalkutta.

Der Hauptgrund für ihr ganzes Unglück war der Umstand, daß Big Jake darauf bestand, daß sie von seinen Einkünften lebten, obwohl sie genug Geld hatte, um das Fürstentum Monaco zu kaufen. Big Jake verdiente gar nicht schlecht, aber was heißt schon nicht schlecht verdienen, wenn man an Rolls Royces gewöhnt ist und daran, den Winter auf den Bahamas zu verbringen. Was für ein Leben hatte ich als Junge! Meine Mutter wollte, daß ich Geige spielte, obwohl ich kein Gefühl für Rhythmus und die Fingerfertigkeit eines Salzherings hatte und außerdem völlig unmusikalisch war. Ich hatte neun verschiedene Geigenlehrer. Meine Mutter gab immer ihnen die Schuld für mein Versagen. Aber ich wollte kein Musiker werden. Als ich 15 war, gab sie die Idee mit der Musik schließlich auf. Dann wollte sie, daß ich Banker würde. Aber davon wollte ich nichts hören. Nein, seit ich alt genug war, um zu wissen, wo vorne und hinten ist, wollte ich Privatdetektiv werden. Und schon damals, als ich noch ein Kind war, war ich so stur wie ein Maulesel. Wenn ich etwas haben wollte, gab ich keine Ruhe, bis ich es hatte.

Mutter sagte, ich würde es nie schaffen, natürlich nicht, weil ich nicht wie mein Vater bin. Sie kämpfte mit mir wie die Buren gegen die Engländer. Aber ob Sie es glauben oder nicht, man muß nicht wie Big Jake Mitchell sein, um ein guter Privatdetektiv zu sein. Sein Stil ist nicht mein Stil. Ich wäre schon nach einem halben Jahr völlig aufgeschmissen gewesen, wenn ich jemals so vorgegangen wäre wie er.

Meine Vorstellung vom Beruf eines Privatdetektivs war, ein geschulter Kriminologe und kein billiger Schläger zu sein. Auf dem College belegte ich eine Menge Chemie, Physik, Mathe, politische Wissenschaften, Jura und Informatik. Ich würde sagen, ich bin ein Spezialist im Aufklären von Verbrechen. Als Big Jake 1982 umgelegt wurde, machte ich gerade mein Examen. Es war eine hektische Zeit in meinem Leben. Ich hatte vor zu heiraten, war gerade an der Nasenscheidewand operiert worden, und ich wollte ein Haus kaufen, aber ich schob alles beiseite, sprang ins kalte Wasser und übernahm seinen Job …

Wir haben jetzt die ersten groben Umrisse von Boyers Leben. Bei einer so wichtigen Figur wie Boyer kann die biographische Skizze 10 bis 50 Seiten lang sein und den Mann von seiner Geburt, einschließlich der Familiengeschichte, bis zum Beginn der Romanhandlung beschreiben.

Warum haben wir nun ausgerechnet diese Momente aus Boyers Leben ausgewählt? Wie bereits gesagt, sollten Sie Aspekte hervorheben, die eine Bedeutung für die Gefühle und das Verhalten haben, die die Figur in der Geschichte an den Tag legt. Boyer sollte jung aussehen, weil das einen Grund für seine Unsicherheit abgibt: seine äußere Erscheinung kann andere Figuren dazu verleiten, ihn nicht ernst zu nehmen, und es ihm auf diese Weise schwerer machen, seinen Job zu tun. Sie sollten immer auf der Suche nach Hindernissen für Ihre Figuren sein. Boyers schwächliche Konstitution wird es ihm nicht leicht machen, dem Ruf seines Vaters gerecht zu werden. Seine Mutter, die noch lebt, wird versuchen, ihm den Beruf auszureden – noch ein Hindernis. Aber er wird stur an seinen Absichten festhalten. Um seinen Mangel an physischer Stärke zu kompensieren, ist Boyer mit anderen Fähigkeiten ausgestattet: er ist klug und fleißig. Der Tod seines Vaters hat ihn allerdings gezwungen, Privatdetektiv zu werden, bevor er dazu bereit war: dadurch sind auch seine Heiratspläne durchkreuzt worden. Noch ein Problem.

Boyer Bennington Mitchell könnte einen völlig anderen Background und sich zu einem völlig anderen Menschen entwickelt haben. Sein Vater könnte z. B. ein bestechlicher Cop gewesen sein, und Boyer könnte Vorhaben, den guten Namen der Familie wiederherzustellen. Boyers Stärken könnten intuitiver statt wissenschaftlicher Natur sein. Seine Mutter könnte arm und krank sein, und er könnte versuchen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Wie Boyer angelegt ist, hängt allein davon ab, was der Autor für ein Gefühl bei seiner Figur hat. Unendlich viele Möglichkeiten könnten den Zweck erfüllen, solange das Ergebnis eine glaubwürdige dreidimensionale Figur ist, die auf der Bühne des Romans eine gute Vorstellung gibt.

Wenn Sie Ihre Biographien gründlich ausarbeiten, werden Sie Ihre Figuren gut kennen – zumindest so gut wie Ihren Bruder, Ihre Schwester oder Ihren besten Freund –, bevor Sie mit Ihrem Roman anfangen. Es ist nicht möglich, eine Aufstellung all der Einzelheiten zu machen, die in diesen biographischen Skizzen enthalten sein sollten. Sie sollten alle Details aufführen, die die Beweggründe der jeweiligen Figur betreffen und ihre Handlungen beeinflussen. Alles hineinnehmen, was auf ihre persönlichen Beziehungen einwirkt, Gewohnheiten, Ziele, Ansichten, Aberglauben, moralische Urteile, Obsessionen usw. – alle Faktoren, die Entscheidungen und Verhalten bestimmen. Sie sollten die Meinungen Ihrer Figuren zu Politik, Religion, Freundschaft und Familie kennen, ihre Hoffnungen, Träume, Hobbies, Interessen; was sie in der Schule gelernt haben, welche Fächer sie mochten und welche sie haßten. Was für Vorurteile haben sie? Was würden sie vor ihrem Analytiker verbergen? Was vor sich selbst? Sie sollten jede vernünftige Frage beantworten können, die einem zu Ihren Figuren einfallen könnte, als ob sie Menschen wären, die Ihnen nahestehen. Sie könnten die vollständige Biographie einer Romanfigur geschrieben haben und trotzdem nicht alles wissen, was Sie gern über sie wüßten. Angenommen, Ihre Figur findet eine Brieftasche mit 10.000 Mark. Behält sie sie oder gibt sie sie zurück? Würde sie Selbstmord begehen, wenn sie eine tödliche Krankheit bekäme? Wenn sie einen Gegenstand aus ihrem brennenden Haus oder ihrer brennenden Wohnung retten könnte, was würde das sein? Wenn Sie die Antwort auf solche Fragen nicht wissen, sollten Sie die Figur genauer ergründen, bevor Sie anfangen zu schreiben.

EINE ROMANFIGUR INTERVIEWEN ODER DIE EINFACHSTE METHODE SIE KENNENZULERNEN

Wenn Sie nach Erschaffung Ihrer Figuren immer noch nicht vor Ihrem geistigen Auge sehen, wie sie gehen, sprechen, atmen oder schwitzen, könnten Sie es mit einer kleinen psychoanalytischen Sitzung versuchen. Legen Sie sie auf die Couch und stellen Sie Ihre Fragen. So etwa könnte eine solche Sitzung ablaufen:

AUTOR:   Was ich noch nicht ganz verstehe, Boyer, ist: Warum bleiben Sie eigentlich bei Ihrem Beruf? Ihre Mutter, die Ihnen sehr nahesteht, will, daß Sie damit aufhören, und Ihre Verlobte will die Hochzeit abblasen, wenn Sie damit weitermachen.

BOYER: