„Kapitel 1

„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“ das steht am Anfang des Johannesevangeliums, aber am Anfang meiner Geschichte steht das Wort oder viel mehr die Worte: „Steh auf, du kommst zu spät!“ So, wie jede Geschichte anfangen sollte.

Meine Großmutter rief diese Worte, während sie gegen meine Tür hämmerte. Ich lebte bei ihr, seit meine Eltern und ihr Mann, mein Großvater, auf dem Rückweg von der Oper einen Autounfall hatten. Allerdings konnte ich mich nicht an meine Eltern erinnern, denn ich war zum Zeitpunkt ihres Unfalls kaum ein Jahr alt gewesen.

Meine Großmutter ist eine tolle Frau, noch gar nicht alt, wie man sich Großeltern so vorstellt, als ich zu ihr kam, war sie erst 41 und jetzt war sie mit 59 Schulleiterin meines Gymnasiums. Das soll aber nicht heißen, dass ich meinen Platz dort durch sie bekommen habe. Sie unterrichtete Chemie und Deutsch, meine Lieblingsfächer, aber natürlich hatte ich sie nie als Lehrerin.

„Mischka, meine Junge, du solltest dich jetzt wirklich dranhalten, ich fahre heute nicht zur Schule und bin erst heute Abend wieder zurück.“ „Ja Babuschka, schon unterwegs!“, rief ich zurück und begann mich in Windeseile anzuziehen.

Ich hatte es wie immer noch rechtzeitig geschafft. Da es am Morgen noch in Strömen geregnet hatte, hatte ich dem Motorrad den Bus vorgezogen und saß jetzt auf dem Rückweg alleine in einer Ecke, tief in der Lektüre für den Deutschunterricht versunken.

Der Himmel war seit dem morgendlichen Unwetter wieder aufgeklart, die Temperaturen für Ende September doch recht warm und ich schwitzte unangenehm in meinem zu großen schwarzen Hoodie. Außer mir war keine Menschenseele im Bus, wenn man mal vom Busfahrer absah. Kein Wunder, denn meine Großmutter und ich lebten in einem kleinen Ort. Mit dem Bus fuhr ich von dort zwanzig Minuten bis zur Schule. Außerdem hatte ich noch Nachmittagsunterricht gehabt und war daher zwei Stunden später unterwegs, als die wenigen anderen Leute, die in diese Richtung mussten. Doch das störte mich nicht sonderlich, viele Menschen auf einem Haufen mochte ich nie wirklich.

Über mich gibt es genau drei Dinge, die man wissen sollte: Erstens, Mischka ist eigentlich eine Kurzform vom russischen Wort für Bär, obwohl ich Michael und nicht Medved heiße, zweitens, meine Familie kommt aus Russland und drittens, ich habe unglaublich viel Pech: Automatisch öffnende Türen gehen nicht auf, wenn ich davor stehe, elektronische Geräte neigen dazu, in meiner Gegenwart auszusetzen, Busse oder Züge kommen zu spät, haben Pannen oder fallen aus, wenn ich dringend irgendwohin müsste. Das sind zwar alles nur Kleinigkeiten, aber trotzdem ärgert mich das natürlich, so auch heute.

Zum Glück hatten wir das kleine Dorf, in dem ich lebte schon fast erreicht, als der Bus unvermittelt, ganz einfach so im Wald stehen blieb. Ich konnte den Fahrer undeutlich fluchen hören und packte meine Reclamausgabe von „Der flammend rote Buchstabe“ ein, wonach ich mit meiner Tasche über der Schulter zum Busfahrer stapfte.

„Kann man ihnen irgendwie helfen?“, fragte ich.

„Wat?“

„Ob man ihnen helfen kann, habe ich gefragt!“

„Ach so, ne. Dat könnte jetzt n’ Weilchen dauern, bis ‘n Ersatzbus kommt, ich geb mein Bestes.“

Irgendwie tat er mir leid: „Ach machen sie sich keinen Stress, ich kann den Rest auch laufen, für eine Person ist ein Ersatzbus, doch nur unnötiger Aufwand!“

„Wenn dat wirklich kein Problem is‘?“

„Ja, sicher nicht!“, antwortete ich schnell, während der Fahrer mit einem Knopfdruck die Tür öffnete.

„Tschüss!“, verabschiedete ich mich und sprang aus dem Bus.

Ich war schon oft alleine im Wald gewesen, nicht selten sogar nachts, denn ich hielt mich sehr gerne dort auf, doch jetzt war mir ein wenig mulmig zumute. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, ein sehr unangenehmes Gefühl, als würde einem etwas über den Rücken krabbeln. Einige Male drehte ich mich um, konnte aber niemanden entdecken und hatte auch schon bald den Waldrand und somit unser Haus erreicht.

Großmutter war, wie angekündigt, nicht da, weshalb ich mir einige Kartoffeln und zwei Eier von unseren Hühnern in die Pfanne warf und mich dann mit meinem Essen in mein Zimmer zurückzog. Es war fast ganz schwarz, die Wände waren mit einer schwarzen backsteingemusterten Tapete tapeziert, vor den zwei Fenstern hingen schwere schwarze Vorhänge mit dunkelroten Borten, die das Tageslicht aussperrten. Ein großer schwarzer Kleiderschrank stand auf der einen, ein schwarzer Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers, das Bett war schwarz bezogen, ein schwarzer Teppich zierte den Parkettboden.

Anfangs hatte es Großmutter gar nicht gefallen, dass ich mein Zimmer so einrichtete, aber außer mir und ihr hatte es auch noch kein Mensch von innen gesehen. Ich hatte eben keine Freunde, zumindest keine menschlichen, das war auch völlig in Ordnung, ich war gerne alleine. Meine Freunde waren die Bücher, mit deren Hilfe ich tagelang die Realität ausblenden konnte. Ich lebte in fantastischen Welten, in denen Hexen, Zauberer, Zwerge, Vampire und all die anderen Fabelwesen existierten. Auch das hatte Großmutter nicht gefallen, aber ich war glücklich damit und das reichte, um sie zufriedenzustellen.

Ich startete eine CD mit Orgelstücken von Bach und ließ mich dann in den schwarzgepolsterten Sessel fallen, der in der Ecke direkt neben der Tür stand. Zu den Tönen der Toccata verspeiste ich mein „Mittag-“essen, es war 15 Uhr.

Nachdem ich alle Überreste meiner Mahlzeit beseitigt und die Spülmaschine gestartet hatte, durchsuchte ich mein riesiges Bücherregal, fand aber kein Buch, das ich noch nicht gelesen hatte. Die Deutschlektüre hatte ich auch schon fast durch, morgen würde ich mich nach der Schule in der Stadt nach ein paar neuen Schätzen umsehen müssen.