LICHTSCHLAG 48

© Natalia Lichtschlag Buchverlag Grevenbroich 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Printed in Germany.

ISBN: 978-3-939562-80-1

Inhalt

Vorwort

von André F. Lichtschlag

Wunder, wie die Zeit vergeht. 20 Jahre eigentümlich frei – wahrlich ein Anlass, zurückzublicken und, mehr noch, für eine Bestandsaufnahme: Wo stehen wir? Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Wir möchten diese Fragen auf drei ganz unterschiedlichen Wegen angehen. Vom 12. bis 14. Januar 2018 laden wir Freunde, Autoren und Leser zum nun schon vierten Mal nach Zinnowitz auf die Insel Usedom ein: 20 Jahre eigentümlich frei – Die Konferenz. Hier werden wir den Rück- und Ausblick sehr persönlich in Gesprächen miteinander suchen – hier stehen unsere Freunde, Abonnenten und Unterstützer im Mittelpunkt, denn sie sind unser Lebenselixier, das „Blut von eigentümlich frei“. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie, verehrter Leser dieser Zeilen, mit dabei sind! Anmeldung bitte unter ef-magazin.de/konferenz.

Ein junges Filmteam namens „the objectivists“ haben wir damit beauftragt, ein audiovisuelles Portrait zu gestalten: 20 Jahre eigentümlich frei – Der Film. Wir lieferten dafür ein paar alte Aufnahmen, teilweise längst vergessene Dokumente aus der Frühzeit der Zeitschrift, und ließen den Nachwuchs-Fil-memachern ansonsten freie Hand. Denn das war von Beginn an vor allem mein Ansinnen: Keinesfalls wollte ich selbst als Gründer und Herausgeber der Zeitschrift das eigene Tun betrachten – das sollte und musste von außen geschehen, mit einem nüchterneren, objektiveren und gerne auch kritischeren Blick von Unbeteiligten. Ich bin überrascht, wie und wo sich diese filmische Bestandsaufnahme mit dem hier vorgelegten Buch deckt, wo sich Parallelen zeigen und wo sie quer zueinander verlaufen, an welcher Stelle sich Eindrücke doppeln, ergänzen oder widersprechen. Anders als im vorliegenden Buch und bei der erwähnten Konferenz steht der Verleger und Chefredakteur, wenn Sie so wollen: als „Herz von eigentümlich frei“, im Zentrum der filmischen Betrachtung. Freuen Sie sich bitte mit mir auf diese ganz eigene, bunte Interpretation der Geschichte, des Wesens und des Wollens unseres Magazins durch die jungen Filmemacher. Mehr Informationen über das Werk finden Sie unter ef-magazin.de/film.

Auch für das Buch konnten wir die Idealbesetzung gewinnen, die einen erfahrungsgemäß oft sehr trockenen Jubiläumsband in ein spannendes libertäres Leseabenteuer verwandelt: zum einen Oliver Uschmann. Der vor allem für die „Hartmut und ich“-Reihe bekannte Bestsellerautor, Journalist und Fußballexperte („Überleben beim Fußball“ bei Heyne, „Uschmann pfeift an!“ bei Radio 21) wählte aus dem großen ef-Kader genau elf Gesprächspartner aus, die er für besonders ausdrucksstark und vielversprechend hielt. Am liebsten, so vertraute er mir an, hätte er gleich noch elf weitere auf den Rasen geschickt, die es genauso verdient hätten. So oder so trug sein Auftrag in Anlehnung an Tuvia Tenenboms Erfolgsreportage den Arbeitstitel „Allein unter Libertären“. Persönliche Wertungen, subjektive Eindrücke, übermütige Abschweifungen und innere Monologe seinerseits waren von uns ausdrücklich erwünscht.

Uschmanns „Elf“ spielt stellvertretend für eine dreistellige Zahl wichtiger Stammautoren und für in den zurückliegenden 20 Jahren mehr als 1.300 ef-Autoren und -Interviewpartner. Unsere Autorenschar als „Hirn von eigentümlich frei“ produzierte dabei für Sie in den vergangenen zwei Dekaden auf mehr als 12.000 Seiten knapp 7.000 Artikel – alleine im gedruckten Heft, dazu kommt noch die tägliche Online-Arbeit.

Uschmanns Gesprächsaufzeichnungen sind keine bloßen Redemitschnitte, sondern stets kleine literarische Juwelen. Schließlich haben wir den Tausendsassa am Schreibgerät und bekennenden „Workaholic“ nicht zufällig ausgewählt: Er ist eine Koryphäe der Interviewführung. Von 2004 bis 2016 war er Stammspieler beim preisgekrönten Interviewmagazin „Galore“, ein Jahr davon als Chefredakteur. Auf dem Sofa der gemeinsam mit seiner Frau veranstalteten Ausstellung „Ab ins Buch!“ befragte er in der auf Youtube konservierten Sendereihe „Hartmut trifft…“ seine Gäste sogar in der Rolle der Romanfigur.

Für den zweiten, ineinander verwobenen Part dieses Buches – einen vierteiligen, ebenfalls spielerisch-literarischen Rückblick auf Meilensteine und Anekdoten in 20 Jahren eigentümlich frei – suchten wir einen Autor, der ebenfalls romanerfahren ist, der die Geschichte von ef jedoch aus näherer Perspektive miterleben konnte als der eher außenstehende Uschmann. Für mich kam auch hier nur einer in Frage, mit dem wir nach seiner Zusage das Dreamteam für dieses Buch versammelt hatten: David Schah. Das libertäre Urgestein war nicht nur als Autor und Übersetzer für eigentümlich frei fast von Beginn an mit dabei – er ist auch mit einem Uschmann perfekt ergänzenden Stil gesegnet. Sein Roman „Die Säulenhalle“ über die Frühphase libertärer Umtriebe an der Universität Bonn Mitte bis Ende der 90er Jahre ist ein viel zu wenig gewürdigter popliterarischer Meilenstein. Die Begegnung mit ihm als Gesprächspartner regte Uschmann wiederum dazu an, den „Spaziergang mit dem Schah von Bonn“ gleich als Reportage zu gestalten. Treffen diese beiden zusammen, entstehen Gedankengänge, Formulierungen und Assoziationsketten, deren hakenschlagenden Übermut man in der Sprache von Uschmanns Hartmut als „murpig“ bezeichnen darf.

Da Schah und Uschmann die Macher dieser außergewöhnlichen Bestandsaufnahme nach 20 Jahren eigentümlich frei sind, hatte ich vorgeschlagen, dass sie als Autorenduo das Cover zieren. Doch ganz echte Profisportler verweisen beide darauf, dass dieses Werk definitiv eine Mannschaftsleistung sei. Schah betont die nahezu dreistellige Zahl an Stunden, die wir beide und andere Redaktionsmitglieder im Gespräch zurückblickten, so dass er überhaupt mit den aufgefrischten Erinnerungen seine Aufzeichnungen beginnen konnte. Uschmann deutet stolz zu seiner Elf auf dem Rasen und sagt (vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Begegnungen meist um Wortlaut-Interviews handelt), dass das Buch dann fairerweise mindestens elf Autoren haben müsste. Machen wir also dieses Kleinod zu einem Gemeinschaftsprojekt – von uns, für Euch: 20 Jahre eigentümlich frei – Das Buch.

Ich möchte mich an dieser Stelle von Herzen bei allen Autoren, Interviewpartnern, Freunden und Lesern bedanken – ohne Sie und Euch wären wir nicht, was wir sind! Und das wären wir auch nicht ohne die Mitstreiter Gerard Radnitzky (1921-2006), Reinhard Deutsch (1936-2007), Werner Habermehl (1949-2013), Uwe Timm (1932-2014), Edmund Radmacher (1932-2016), Susanne Kablitz (1970-2017) und vor allem Roland Baader (1940-2012), ohne dessen Wirken weder die anhaltende Erfolgsgeschichte von eigentümlich frei noch das Erstarken liberaler und libertärer Ideen in Deutschland denkbar gewesen wäre. In großer Dankbarkeit möchte ich auch an dieser Stelle an ihn und die anderen Verstorbenen erinnern.

Bleibt mir nur, Ihnen bei der Lektüre dieses Jubiläums-Lesebuchs viel Erkenntnisgewinn und vor allem Lesefreude zu wünschen. Und, weil es sonst nicht „rund“ wäre: Lassen Sie mich schließen mit der Mahnung, deren Unterlassen im Hefteditorial einst zu Protesten – oder besser: zu freundlicher Aufmunterung – aus der Leserschaft führte. Denn auch für die Zukunft gilt: Kein Fußbreit den neosozialistischen Ausbeutern aller Parteien! Mehr Freiheit!

André F. Lichtschlag im November 2017

„Ich mache gerne meine eigene Welle“

Oliver Uschmann trifft … Roland Pimpl

3. Mai 2017, Hamburg. Die Lange Reihe in St. Georg gehört zu den hipsten Straßen der Stadt. Früher war sie ein klassischer Kiez mit Spielhallen, Billigläden und schießschartenäugig dreinblickenden Jogginghosenträgern. Heute haben die wohlhabenden Alternativen das Viertel übernommen und verkaufen vegane Quinoa-Burger an einer Rucola-Zedernkern-Kombination im Erdgeschoss der pittoresken Altbauten, für deren Dachkammern man noch mehr Miete zu zahlen hat als für ganze Höfe im Münsterland. An der Kreuzung zur Kirchenallee gibt es eine Fußgängerampel mit einem schwulen und einem lesbischen Paar als Ampelmännchen. Eine Reminiszenz an den Christopher Street Day, dessen Hamburger Umzug durch dieses Viertel führt. An diesem warmen Frühlingstag gehen die Menschen gelassen ihren Tätigkeiten nach. Zwei Blocks nordwestlich der Straße joggen drahtige Rentner entlang der Alster. Ein Hund scheucht zwei Schwäne auf und legt die Ohren an, als die weißen Würdenträger ihre Flügel ausbreiten.

Oliver Uschmann

Ich treffe Roland Pimpl entlang der Langen Reihe in einem Lokal namens „Frau Möller“. Altes Mobiliar, junges Personal, ein altes Schiffsruder an der Wand, schwere Dielen, ein Kicker. Authentischer Vintage-Look und abgewetzte, schwere Tische, die aussehen, als hätten hier schon vor 25 Jahren Hafenarbeiter und Stahlbauer am Abend die Würfel im Knobelbecher auf die alte Eiche gerammt. „Meine Stammkneipe“, sagt der ef-Mitgründer, Journalist und Medienfachmann. In seinem Kapuzenpullover könnte er genauso gut zu den Linksalternativen gehören, die sich im Kultkiez treffen, um „kreative Strategien des Widerstands gegen den G20-Gipfel“ zu erörtern. Obschon kein Irish Pub, gehört bei „Frau Möller“ bei den Bieren das Guinness zu den beliebtesten Sorten. Die Speisekarte spart sich vegane Quinoa-Kreationen und bietet dem geneigten Gast vor allem rustikale Kost. Pimpl hat noch nicht gefrühstückt und bestellt sich einen Berg Rührei mit gebratenem Speck.

Uschmann: Herr Pimpl, was ist an Ihnen eigentümlich frei?

Pimpl: Ich fühle mich frei in meinen Gedanken, in dem, was ich sage, und in dem, was ich tue. Mit mittlerweile 46 Jahren wage ich zu behaupten, ein Leben zu führen, das nicht unbedingt dem Durchschnittsentwurf meiner Altersgenossen entspricht. Ich mache allerdings nicht auf jung, ich war schon immer so. Auch eher Eigenbrötler als Vereinsmeier. Meine Gedankenwelt sieht man mir aber vielleicht nicht so an, denn die Infrastruktur meiner Lebensführung ist absolut spießig – Stichworte BWL-Studium, Angestelltendasein und Bausparvertrag. Hab ich alles! Aber ich sage meine Meinung, am liebsten gegen den Strom. Wenn 99 Leute „A“ behaupten, werde ich misstrauisch und sage schon aus Prinzip „B“. Und selbst wenn „A“ richtig sein sollte, gibt es meistens gute Gründe, auch dies einmal zu hinterfragen oder einzuordnen. Ich bin nun mal der, der im Fußballstadion bei der „La Ola“ sitzenbleibt. Aber auch der, der aufspringt, wenn es gerade eigentlich gar nicht so passt. Ich mache gerne meine eigene Welle.

Uschmann: Wie der von Ihnen verehrte und in ef-Ausgabe 55 interviewte Helge Schneider, der die Erwartungen seines Publikums vor allem live ständig bricht.

Pimpl: Oh, ein viel zu großer Vergleich. Mir fehlen die Konsequenz und der Mut für ein solches Leben, ebenso wie die Lust auf Bühnenpräsenz, das Künstlerische und das Brillante. Fehlt mir alles. Aber um zu zeigen, wie ich bin und wie nicht, brauchen wir gar keine Künstler als Maßstab – da reicht schon André F. Lichtschlag. Der tickt, glaube ich, ganz ähnlich wie ich. Doch ich bewundere ihn sehr für seinen Mut, seinen damals guten und sicheren Job bei einer Tageszeitung aufgegeben zu haben, um sich mit eigentümlich frei selbständig zu machen. Ich habe da nur etwas Geld investiert – er seine berufliche Existenz. Das ist der Unterschied. Ja, ich pflege freie Gedanken, lebe aber ganz gerne in einer gewissen Ordnung. Also, im Vergleich mit Helge Schneider oder André F. Lichtschlag bin ich wohl ein Salonlibertärer.

Uschmann: Dabei sind Sie mit dem Studium der Betriebswirtschaft akademisch näher am Libertären als Herr Lichtschlag mit seiner Kombination aus Volkswirtschaft, Sozialwissenschaft und Politik.

Pimpl: Finden Sie? Würde ich noch mal studieren, wäre VWL meine erste Wahl, eben wegen der Überschneidungen mit Psychologie, Soziologie, Philosophie und Politik. Warum handeln Menschen wie? Auf welche Anreize? Was ist gerecht? Wie funktioniert Geld? Das sind die spannenden Fragen, zu denen VWL viel beitragen kann. Zum Glück haben sich damals an der Uni Mannheim die Lehrpläne beider Fächer stark überschnitten. Doch ich will auch mein Studium nicht missen: BWLliefert einen prima Handwerkskasten für den Wirtschaftsalltag.

Uschmann: In einem Gespräch bei der Hayek-Gesellschaft beschrieb Herr Lichtschlag das Gefühl, als Libertärer oder Radikalliberaler ein unverstandenes Alien zu sein. Es müsse wohl „an einem Gendefekt“ liegen. Nehmen wir mal an, ein libertäres Gen gibt es nicht. Dann formen Erfahrungen den Marktradikalen. Welcher Lebenslauf hat bei Ihnen zu dieser Minderheitenmeinung geführt?

Pimpl: Ich komme aus einem liberal-konservativen Elternhaus und war als Schüler mal kurz in der Jungen Union, auch wegen der guten Partys damals in Wuppertal (lacht). In der Stadt hingen Punks und sogenannte Autonome rum, die die Spießer auf deren Weg zur Arbeit beschimpft haben – aber auch deren Geld wollten. Das originär Autonome an diesem Konzept habe ich schon damals nicht verstanden. Und im Arbeitszimmer meines Vaters hing ein Foto von Winston Churchill mit dem Spruch: „Sozialismus ist die Philosophie des Versagens, das Credo der Ignoranz und das Glaubensbekenntnis des Neids.“ Das hat mich beeindruckt, das war für mich Punk. In der Schule, im Fach Sozialwissenschaft, wuchsen bei mir außerdem demokratietheoretische Zweifel an der damaligen Europäischen Gemeinschaft. Dort und danach in der Europäischen Union entschieden Gremien, die von niemandem gewählt worden sind. Und kleine Länder, die nur wenige Wähler repräsentieren, haben oft die gleiche Stimme wie große Länder. Das störte mich. Als ich ein paar Jahre später in der Berufsschule André kennenlernte, hat uns zu Beginn erst mal unser unter Altersgenossen ebenfalls ungewöhnliches Faible für alte Schlagermusik verbunden. Und klar, dann kam die Politik. Auch er war hier auf der Suche. Nun, nachdem wir unsere Lehre zum Verlagskaufmann abgeschlossen hatten, studierte er in Bonn und ich Mannheim. Und während ich die Suche so langsam aufgab und zum pragmatischen Alltagslibertären wurde, kniete sich André richtig in die Theorien hinein, rief eines Tages an und sagte: „Roland, jetzt weiß ich es. Ich bin Anarchokapitalist!“

Uschmann: Herr Lichtschlag hatte also seinen Überbau gefunden. Was bedeutet es, wenn Sie sagen, Sie waren damals eher „alltagslibertär“?

Pimpl: Einkommenssteuern senken die Arbeitsmotivation, ein Studium auf Kosten der Allgemeinheit setzt Fehlanreize bei der Studienwahl und -disziplin, Drogenverbote bringen nix und treiben nur Preise und Beschaffungskriminalität. Verbote von Verhaltensweisen, die keinem anderen schaden, habe ich ohnehin noch nie verstanden. Ich hatte einfach offene Augen für die Folgen von Regulierung, doch mir fehlte das Vokabular dafür, die Theorie, das Gefäß. Und meine damalige Freundin, das Vorankommen im Studium und mein geplanter Job-Einstieg in den Journalismus waren mir auch wichtiger. Und dann kam André und hatte ein Gefäß gefunden: Damals hatte er angefangen, den libertären Klassiker von David D. Friedman, „Das Räderwerk der Freiheit“, zu übersetzen. Er schickte mir seine Arbeit kapitelweise. 1996/1997 haben wir dazu viel gemailt und telefoniert. Ich merkte, dass meine losen Gedanken ein Gerüst erhielten. Das tat gut.

Uschmann: Also tatsächlich kein libertäres Gen, sondern Erfahrung und Theorie?

Pimpl: Die Gendefekt-These ist ja eher ein Witz. Erfahrungen, Skepsis gegenüber Moralismus, Spaß am Quer- und logischen Denken – das sind die Bausteine. Auch ohne Theorie findet man bei unterschiedlichen Menschen Anknüpfungspunkte für libertäres Denken: Selbständige nervt die Bürokratie, Kiffer das Drogenverbot und schwäbische Sparer das Gelddrucken der EZB. Und auch das Lehrerpaar, das sogenannte Schwarzarbeit total unsolidarisch findet, wird beim Thema private Putzhilfe plötzlich ganz still. Ja, nur wenige dieser Leute gehen den gesamten Weg und werden konsequent libertär. Vielleicht braucht es dazu doch noch etwas Theorie.

Uschmann: Sie waren damals junge Männer, die sich in exotische Theorien vergraben, Bücher wälzen, Theorietexte übersetzen, in radikale Opposition zur Gesellschaft geraten und schließlich in einem Heft mit kleiner Schrift Diskurse führen, die nicht nur die schwäbische Hausfrau, sondern auch der schwäbische Ingenieur nicht im Geringsten nachvollziehen können. Strukturell war das doch das gleiche Lebensgefühl wie bei den linksintellektuellen Revoluzzern, die sich Foucault, Adorno oder Derrida zum geistigen Erweckungserlebnis machten, inklusive des Streits um minimal unterschiedliche Exegesen der heiligen Texte.

Pimpl: Zunächst ein doppelter Einspruch: Ich verstehe mein Denken bis heute nicht als „Opposition zur Gesellschaft“, sondern als Opposition zur real existierenden Politik. Ich bin ja Teil der Gesellschaft und sehe eher die Politik als deren Opposition. Und wie oben erwähnt kann man auch Nicht-Theoretikern libertäres Denken anhand von Beispielen erklären. Ansonsten haben Sie natürlich recht: Wir haben uns gerade zu Beginn als verschworene Gemeinschaft gefühlt und das Magazin für uns selber gemacht – und nicht so sehr für die Leser. Unsere Zielgruppe beim Schreiben waren häufig diejenigen unter uns, die in dieser oder jener Detailfrage anderer Meinung waren. Die wollten wir provozieren oder überzeugen. Hier die Jünger von Max Stirner, dort die von Ayn Rand, nur als ein Beispiel dieser Grüppchenkämpfe. Da ging es oft nur um die fünfte Nachkommastelle. Die „taz“ nannte unser Heft damals ein „libertäres Fanzine“, das traf es ganz gut. Es war quasi ein gedruckter Theoretiker-Stammtisch.

Uschmann: Am Stammtisch ist man sich aber meistens einig.

Pimpl: Zu 95 Prozent waren wir uns ja einig – umso heftiger haben wir um die fehlenden fünf Prozent gestritten. Das ist ja das Salz in der Suppe für Leute, die gerne leidenschaftlich diskutieren. Andererseits hat das Gräben aufgerissen, wichtige Mitstreiter abgespalten und Freundschaften gestört, manchmal auch zerstört. Vielleicht kann man dieses Phänomen auch generalisieren: Je kleiner die thematische Parzelle ist, auf der man sich bewegt, desto heftiger kann der Streit untereinander wogen. Und ja, womöglich greifen hier ähnliche Mechanismen wie früher in den linken K-Gruppen. Wobei das Links-rechts-Schema ja ohnehin längst nicht mehr passt.

Uschmann: Was wäre denn präziser?

Pimpl: Als aussagekräftigere Achsen sehe ich etwa Markttreiben versus Staatsplan, Vertrag versus Gesetz, Freiheit versus Zwang, Individuum versus Kollektiv, Leben-und-leben-lassen versus Gesellschaftsklempnerei. Wenn man die Dinge so einteilt, liegen rechts und links plötzlich ziemlich dicht beieinander. Die Radikalen auf beiden Seiten unterscheiden sich nur in ihren Antipathien: Diese lehnen das Fremde ab, jene das Deutsche. Doch Rechte wie Linke wollen autoritär ins Leben der Menschen eingreifen – und Libertäre wollen davon verschont werden.

Die Kellnerin kommt und fragt nach Zufriedenheit und Befinden. Ob sie mitgehört hat, was wir am Ecktisch besprechen? Pimpls Rührei ist nahezu unangetastet, was – wie er zur Beruhigung der Gastronomin betont – nicht an der Qualität des Gerichts, sondern am Interview liegt. Immerhin verschwinden die heißen Speckstreifen in angemessenem Tempo. Ich schlage vor, er möge erst mal zu Ende essen, er zieht mir zur Ansicht eine Mappe aus der Tasche. Darin: die Gesellschafterpapiere aus der Gründerzeit von eigentümlich frei. Außerdem ambitionierte Diagramme und Prognosen einer möglichen Heftentwicklung in den Folgejahren der Gründung. „Schauen Sie hier“, kaut Pimpl und tippt auf ein Diagramm, „André plante damals, schon im dritten Jahr in die Gewinnzone zu kommen“. Dies war freilich ein wenig zu optimistisch. Seine finanzielle Einlage hat Pimpl dennoch niemals bereut und sogar immer mal wieder aufgestockt. „Ein Abenteuer mit begrenztem Risiko“, meint er und beendet langsam das Rührei, „außerdem eine in jeder Hinsicht gute Sache – und eine, die Spaß macht“. Auch die Kellnerin ist zufrieden, dass das Frühstück gemundet hat. Die zwei politischen Extremisten in ihrer Sitzecke bestellen, was solche Gestalten in einer Hamburger Bar am Vormittag so brauchen: zweimal heiße Zitrone mit Honig.

Uschmann: Wie stellt sich das Magazin heute für Sie dar? Hat es seinen libertären Kern verloren, als es in den vergangenen Jahren auch mal nahe an der AfD segelte und somit aus „Notwehr“ gegen die herrschende Politik heraus plötzlich Hoffnung in Parteipolitik setzte? Die gehört schließlich zu den 95 Prozent, die man eigentlich gemeinsam ablehnen müsste. Das muss Ihnen als Ur-Libertärem doch Schüttelfrost bereiten.

Pimpl: Parteipolitik oder nicht – das ist eine Frage des Weges, nicht des Zieles. Das verursacht mir keinen Schüttelfrost, ebenso die Heftlektüre nicht, auch wenn es vor ein paar Jahren mal eine Phase gab mit einigen Beiträgen, die mir nicht so gefielen. Nein, wenn es mich schüttelt, dann bei manchen Leserkommentaren auf der Webseite. Es sind immer dieselben vielleicht zehn, 15 Leute, die sich da – wie ich finde – bisweilen anti-libertär auslassen. Die sind aber nicht repräsentativ für die vielen Tausend ef-Leser, sondern leider nur besonders kommentaraktiv.

Uschmann: Sie sprechen sicher von den Kommentaren, die eher rechtskonservativ bis rechtsnational sind und viel besser zur „Sezession“ oder zur „Jungen Freiheit“ statt zu einem Heft für Marktradikale passen. Wieso glauben Sie, dass eigentümlich frei auch Fans in diesem Bereich hat?

Pimpl: Naja, eigentümlich frei kritisiert die real existierende Politik teilweise sehr hart. Dies tun die Rechten auch und glauben daher – nach dem alten Spruch „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ –, dass wir ihre Freunde sind. Was aber ein Trugschluss ist, auch wenn es bei einigen Kritikpunkten Schnittmengen gibt, übrigens aber auch mit Status-quo-Kritik von links. Denn, wie schon zuvor skizziert: Für AfD und Konsorten ist Politik die Lösung – und für Libertäre eben nicht. Ich bin froh, dass das Heft genau dies seit längerem wieder stärker herausarbeitet.

Uschmann: Auf die Gefahr hin, Kundschaft zu verlieren.

Pimpl: Für die gibt es andere Medien. ef ist jedenfalls nicht das Magazin für staatliche Lösungen.

Uschmann: Und nicht für völkische.

Pimpl: Natürlich nicht! Das würde doch vorne und hinten nicht in die libertäre Gedankenwelt und Lebensphilosophie passen. Und wissen Sie, was ich mit Blick in die Türkei oder nach Ungarn jetzt oft denke? Wenn sich in Deutschland der Wind drehen würde und wir eine stramm rechte Regierung bekommen würden – dann wäre eigentümlich frei immer noch Opposition! Bei aller harten ef-Kritik am „Internetzensurgesetz“ der letzten CDU/SPD-Koalition: Wir haben Pressefreiheit im Land, von „Konkret“ bis „Compact“, von „Rote Fahne“ bis „National-Zeitung“ erscheint alles Mögliche, in Print und im Internet. Ob eine AfD-Regierung die je erstgenannten linken Titel tolerieren würde? Und das libertäre eigentümlich frei? Ich habe da meine Zweifel. Die Medienvielfalt ist übrigens der beste Beweis gegen die Schwachsinnsthese, die Medien seien alle gelenkt. Nee, sind sie nicht. Manche werden nur öfter genutzt als andere – das liegt aber an den Lesern. Und dass die Leitmedien alle irgendwie links-liberal sind, liegt ebenfalls nicht daran, dass deren Chefs an Marionettenfäden des Kanzleramts hängen würden, sondern unter anderem daran, dass die meisten Journalisten eben aus diesem Milieu stammen. Die gewinnorientierten Verlage haben das längst selbst als Problem erkannt und formuliert.

Uschmann: Zwei traditionell konservative Werte nehmen allerdings unter Libertären gerade einen sehr hohen Stellenwert ein: das Bekenntnis zur traditionellen Familie sowie zur Religion, namentlich der katholischen oder orthodoxen. Beides betrachtet man als letzte, notwendige Schutzwälle gegen den Zugriff des Staates. André F. Lichtschlag zollt dem Islam in dieser Hinsicht zum Entsetzen großer Teile seiner Leserschaft zuweilen sogar Respekt aufgrund dessen unerschütterlicher Traditionsstabilität. Sogar Clans und Parallelgesellschaften könnten aus libertärer Sicht gut wegkommen, da sie eine unabhängige Struktur ohne Zugriff des Fiskus und anderer Staatsbeamter garantieren.

Pimpl: Die Achse konservativ versus progressiv ist für mich keine politische Frage, sondern eine der persönlichen Werte, des Lebensstils und des Geschmacks. Es kann rechte, linke und libertäre Katholiken, Muslime, Atheisten, Familienväter und schwule Singles geben. Und „Schutzwälle gegen den Zugriff des Staates“ können aus meiner Sicht alle privaten Gemeinschaften sein, ob Kleinfamilien, Clans oder Freundeskreise – und sollten es auch sein! Der Begriff „Clan“ ist oft negativ belegt, daher möchte ich hier den für mich wichtigsten Vorschlag fürs Zusammenleben der Menschen nennen: Leben, Leib und Eigentum anderer Menschen sind unantastbar! Wenn ein Clan dies befolgt und man dort auch austreten kann, hätte ich auch nichts gegen Clans.

Uschmann: Wieso muss die Familie dann aber traditionell sein? Ich kann doch sagen, ich suche mir mein Bollwerk aus Menschen selber aus. Im Zweifel kann eine Wahlfamilie sogar enger und unerschütterlicher zusammenstehen als eine erzwungene aus Blut.

Pimpl: Das sehe ich ja genauso. Eine solche private Entscheidung gemäß Lebensstil, Gefühl oder sexueller Präferenz würde ich nicht höher oder niedriger bewerten als andere Formen. Das schwule Paar ist genauso wenig zu loben, zu fördern, zu tadeln oder zu diskriminieren wie die Traditionskombi mit Vater, Mutter, Kind und Hund. Gleiches gilt beim Religionsthema. Eine ganz andere Frage ist es natürlich, inwieweit die traditionelle Familie nicht das einzige Mittel darstellt, ein „Volk“ zu erhalten. Allein – das ist nicht meine Frage. Das ist mir wurscht.

Uschmann: Es wäre Ihnen wurscht, wenn die Deutschen aussterben?

Pimpl: Ja. Wäre mir egal. Wirklich. Was ist denn deutsch? Hamburg ist voller Zuwanderer, die oder deren Vor-Generationen aus aller Welt kamen. Wenn ich mit denen rede oder ihnen beim Arbeiten zuschaue, fühle ich mich ihnen oft näher als manchen Ur-Deutschen, die null Bock auf nichts haben, aber Recht auf alles fordern. Mit Blut-und-Boden-Argumenten konnte ich noch nie etwas anfangen. Mir ist es wichtiger, was meine Mitmenschen machen und was sie sagen, als woher sie kommen, zu wem sie beten und welche Tönung ihre Haut hat. Ich lebe gerne in Deutschland und bin froh, dass es hier keinen Krieg gibt und wenig gefährliche Tiere. Und ich komme gut mit dem Klima klar. Aber Stolz? Stolz bin ich nur auf eigene Leistungen – und zufällig hier geboren zu sein, ist kein eigenes Verdienst, sondern Glück.

Uschmann: Was geschieht bei dieser Haltung mit unserem kulturellen Erbe? Es ist doch schon jetzt im Niedergang, wenn an den Schulen nur noch Auszüge von Klassikern oder gar nichts Altehrwürdiges mehr gelesen wird, da man, um eine Lehrerin zu zitieren, „schon alle Hände voll damit zu tun hat, dass die Jungs nicht aus dem Fenster pinkeln“? Man muss kein Identitärer sein, um Angst davor zu haben, dass das europäische oder deutsche Kulturerbe in Literatur, Musik, Kunst oder Philosophie ausstirbt.

Pimpl: Sie haben diese Angst?

Uschmann: Ja. Als Teil jener fünf Prozent, die ihr Studium der Germanistik ernst genommen haben, ertappe ich mich sogar bei dem Gedanken, dass man die wichtige Disziplin, sich unnahbare, knüppelschwere Werke zu erschließen, nur durch ganz unlibertären, kanonischen Zwang retten kann. Dass wir heilfroh sein sollten um jede von den Schülern unter Zwang erarbeitete historische Zeitleiste an der Klassenwand, die von Platon über Kant bis Nietzsche die Geistesgeschichte abklappert.

Pimpl: Ich persönlich fände es auch schade, wenn dieses kulturelle Erbe ausstürbe. Doch wenn Sie, ich und noch viele weitere Menschen das so sehen und die Klassiker nachfragen, dann wird dieses Erbe erhalten. Aber bitte auf unsere Kosten in Privatschulen, Privatbüchereien und auf privatwirtschaftlichen Bühnen, und bitte nicht auf Kosten der Allgemeinheit durch Steuern und Subventionen! Und diese Nachfrage muss ja nicht nur von Deutschen stammen, sondern kann aus der ganzen Welt kommen. Viele fanatische Fans deutscher Klassikmusik kommen etwa aus Asien.

Uschmann: Wenn die Klassiker keiner mehr nachfragt, dürfen sie also in Vergessenheit geraten?

Pimpl: Natürlich. Die sind doch kein Selbstzweck. Kulturelle Vorlieben haben auch wenig zu tun mit dem eigenen Geburtsort oder dem des Künstlers. Sondern damit, was man kennenlernt im Leben. Mit Erinnerungen, mit Gefühlen. Ich liebe – neben den Schlagern natürlich! – vieles von Johann Sebastian Bach, außerdem die Klavierkonzerte des Russen Sergei Rachmaninow, die Melancholie des argentinischen Tangos und Jazz à la Oscar Peterson, einem Kanadier mit karibischen Wurzeln. Also, mein Deutschsein erklärt meinen Musikgeschmack eher nicht.

Uschmann: Mal böse gefragt: Ist es Zufall, dass die beachtliche Menge an überwältigender Kultur im christlichen Europa den kulturellen Output muslimischer Länder bei weitem überragt – und zwar seitdem bei uns ab der Aufklärung die Religion nicht mehr das Bestimmungsrecht über das Tun und Lassen anderer Systeme wie der Kunst oder der Wissenschaft innehat?

Pimpl: Weiß ich nicht. Bach war ja Kirchenmusiker. Und mit der islamischen Kultur kenne ich mich nicht aus. Vielleicht sieht der Output der christlichen Welt ja nur von hier aus überwältigend aus. Ich zumindest habe kein Problem mit Religionen und freue mich für jeden, der darin sein Seelenheil findet. Gehört man freiwillig einer solchen Gemeinschaft an und unterwirft sich ihren Regeln, ist das prima. Mein Problem beginnt dann, wenn eine Staatsmacht aus Religion weltliche Gesetze ableitet, die für alle gelten sollen, auch für Anders- und Ungläubige. Oder wenn sich Religionsführer Staatsgewalt anmaßen und auf Andersgläubige übergriffig werden.

Uschmann: Wenn Sie morgen früh aufwachen und beim Blick aus dem Fenster ist auf magische Weise Ihre Idealwelt entstanden – was sehen Sie da?

Pimpl: Mehr Markt, weniger Staat, weniger Krieg. Mehr Menschen in der freien Wirtschaft – und weniger Menschen, die sie regulieren und anderer Leute Geld umverteilen. Doch nehmen wir an, hier vor uns wäre ein roter Knopf, der den Staat auf einen Schlag abschaffen und sofort alles privatisieren würde: Ich würde es wohl nicht wagen, ihn zu drücken – obwohl ich hundertprozentig an die Kraft freier Märkte mit Eigentumsrecht und Vertragsfreiheit glaube.

Uschmann: Nein?

Pimpl: Ich gehöre nicht zu den Waghalsigsten, und beim roten Knopf kommt ja alles und sofort. Besser gefällt mir das Bild eines Schiebereglers zwischen null und 100 Prozent Staatsquote, also zwischen Anarchie und Diktatur ohne Eigentumsrechte. Die Politik schiebt diesen Regler stetig nach oben. Und ich sage: Stopp. Lasst uns ihn anhalten und zurückschieben. Ich bin sicher, man würde bald sehen, dass vieles besser wird – und dann kann man die Staatsdosis weiter sukzessive reduzieren. Ob am Ende die vollständige Privatgesellschaft stehen kann oder soll, das weiß ich nicht. Früher haben wir nächtelang über diese Fragen gestritten, heute ist mir das nicht mehr so wichtig. Aber wir müssen den Regler jetzt mal zurückschieben.

Uschmann: Eben fuhr ein Krankenwagen hier am Lokal vorbei. Irgendwo liegt gerade jemand auf der Straße und kann sich darauf verlassen, dass der Rettungsdienst kommt. In einer komplett privatisierten Gesellschaft würden sich mehrere Rettungsdienste um den Verletzten fetzen. So wie es heute schon bei Bestattern geschieht.

Pimpl: In einer Welt ohne oder mit bedeutend weniger Steuern hätten die Menschen mehr Geld zur Verfügung, um anderen zu helfen. Ein libertäres Leben schließt Herz, Mitleid und Solidarität ja nicht aus. Solidarität muss aber freiwillig sein, sonst ist es keine – sondern Zwang. Nur würde man sein Geld dann kaum in eine Monopol-Blackbox namens Staat stecken, sondern es an Hilfsorganisationen und für Zwecke seiner Wahl spenden. Oder in der Nachbarschaft helfen, dort, wo man gut sehen kann, wer das Geld bekommt und was damit geschieht. Und gerade in einem freien Markt gäbe es neben allen Versicherungen weitere freiwillige und um Mitglieder wetteifernde Vertrags- und Schutzgemeinschaften. Die Rettungsdienste? Da gibt es ja schon mehrere, doch die Nummer 112 führt zum Monopolanschluss der Feuerwehr, die dazu neigt, nur ihre eigenen Wagen loszuschicken. Ob sich unter diesen Umständen die besten Dienste durchsetzen, das weiß ich nicht. Generell ist das Gesundheitswesen ja extrem reguliert. Viele Missstände dort sind daher eher zu begründen mit der starken Regulierung als mit den allerletzten Resten Markt, die dort noch wirken können. Ein kompliziertes Thema, daher würde ich mit dem Privatisierungsregler nicht gerade bei Unfall, Krankheit und Tod beginnen, sondern bei weniger dramatischen Themen, bei denen man angstfreier zeigen kann, wie freier und fairer Wettbewerb das Angebot verbessert. Zum Beispiel beim Mediensystem.

Uschmann: Aber selbst hier ist das für viele nicht offensichtlich. Viele Menschen betrachten die öffentlich-rechtliche Großmacht mit durch Zwangsgebühren garantierten Einnahmen von acht Milliarden Euro pro Jahr nicht als Großmacht, sondern als tapferen Widerstand gegen die skrupellosen Kapitalisten der Privatsender, die das Volk verblöden. Und die Politik als gutes Bollwerk gegen die bösen Konzerne. Sie sind doch Medienfachmann. Wie kriegt man dieses eindimensionale Comic-Weltbild in den Köpfen differenziert?

Pimpl: Mit vielen konkreten Beispielen, immer wieder. Etwa, dass viele Großkonzerne auch Teil des politischen Klüngels sind und manchmal sogar an Gesetzen mitschreiben. Sie können mit neuen Regulierungen und Berichtspflichten auch sehr viel besser umgehen als kleinere Betriebe. Wenn zum Beispiel sämtliche Firmentexte in gendergerechte Sprache umformuliert werden und weitere Mitarbeitertoiletten für weitere Geschlechter installiert werden müssten, dann könnten Konzerne das problemlos umsetzen, kleinere Firmen aber nicht. Für die Großen sind neue gesetzliche Regulierungen oft kein Hindernis, sondern eher eine Gelegenheit, sich lästige Konkurrenz vom Hals zu schaffen. Mittelständler können da viele Beispiele nennen.

Uschmann: Die verstehen womöglich auch das unfaire Ungleichgewicht zwischen Zwangsgebührenfunk und Privatfernsehen.

Pimpl: Ich finde bereits den Vorwurf gegen das Privatfernsehen unfair, es sende nur Unterhaltung und Trash. Weil die Öffentlich-Rechtlichen mit Gebühren das Bedürfnis nach Information und betulicher Unterhaltung längst überversorgen, bleibt den Privaten doch nur noch die bunte Nische. Stellen Sie sich mal vor, die Alliierten hätten nach 1945 beschlossen, auch die Print-Presse öffentlich-rechtlich zu organisieren. Dann gäbe es heute etwa die „Süddeutsche Zeitung“ und die „FAZ“ so nicht. Privatzeitungen wären so schrill wie jetzt oft die privaten Sender. Weil den Bedarf an Politik, Wirtschaft und Feuilleton bereits die Gebührenzeitungen abdeckten. Oder nehmen wir an, es gäbe eine Gebührenbäckerei, weil die Grundversorgung mit Brot doch so wichtig ist! Dann hätten wir zwei, drei Sorten öffentlich-rechtliches Brot – und die privaten Bäckereien würden notgedrungen nur bunte Donuts anbieten, die mit den ungesunden Farbstoffen. Wir Libertären würden dann sagen: Leute, in einem freien Markt würden auch private Bäckereien gutes Schwarzbot anbieten, sogar noch besser und billiger als das GEZ-Brot. Und ohne Politik-Klüngel. Da würden uns alle ganz ungläubig angucken.

Die heiße Zitrone treibt. Ich entschuldige mich und suche die Toilette auf, noch immer das beeindruckende Beispiel mit den Bäckereien im Kopf. Die Sanitärräume sind mit Graffitis und Aufklebern übersät. Auf einem zertritt ein Fußballfan von St. Pauli das Hakenkreuz. Jemand hat mit weißem Edding das Anarchie-A sowie „Scheiß Polizei!“ auf die dunkle Tür geschrieben.

Uschmann: Weiß das Personal Ihres Stammlokals eigentlich, wo Sie politisch stehen?

Pimpl: Ich gehe mit diesen Themen und mit meiner Meinung nicht hausieren. Wenn die Diskussion darauf kommt, sage ich meine Meinung – aber nur, wenn auch genug Zeit ist, sie zu erklären. Ja, mit ein paar Leuten von den Gästen und vom Personal rede ich manchmal darüber.

Uschmann: Im derzeitigen gesellschaftlichen Klima kann es schnell passieren, dass jemand Sie googelt und aufgrund der tendenziösen Berichterstattung nach vier Minuten „herausfindet“, dass Sie angeblich zur „Neuen Rechten“ gehören. Dort ordnen die selbsternannten Autoritäten von Wikipedia und dem von der „Zeit“ betriebenen „Netz gegen Nazis“ die Libertären um eigentümlich frei schließlich ein. Sie könnten schnurstracks Existenzprobleme kriegen.

Pimpl: Dann könnte ich endlich mal beim Sozialstaat anklopfen (lacht). Im Ernst: Glaube ich nicht. Alles, was ich jemals geschrieben habe – und nur das dürfte zur Beurteilung meiner Person herangezogen werden – ist meinetwegen marktradikal. Wenn damit unter dem falschen Stempel „rechts“ die Diskriminierung von so Leuten wie mir begründet würde, wäre dieses Land ohnehin schon jenseits von Gut und Böse. Außerdem bin ich nicht der Typ fürs Rampenlicht oder für die erste Reihe. Sondern ich stehe lieber am Rand, schaue zu, denke mir meinen Teil oder kommentiere. Ich bin zu unwichtig, zu uninteressant für Kampagnen gegen mich. Und im Job wissen alle, wie ich ticke. Dort kann ich das Wirtschaftsgeschehen auch entsprechend meiner Haltung kommentieren, das deckt sich sogar oft, etwa bei der Kritik an Werbeverboten. Bei einigen Themen der Regulierung denken manche Kollegen anders als ich – aber ich kann meine Meinung immer schreiben. Und wenn mich im Privaten mal jemand anspricht, was das denn mit eigentümlich frei auf sich habe, dann sage ich: Lies nicht nur, was manche andere über uns schreiben, die ganz eigene Interessen haben. Und mache dein Bild nicht an einzelnen Leserkommentaren im Netz fest, das machst du bei anderen Medien ja auch nicht. Sondern lies, was ich schreibe. Lies, was im Heft steht. Und wenn du danach der Meinung bist, ich sei links oder rechts oder ein Arschloch, dann ist mir das auch egal.

Uschmann: Kommt das denn vor?

Pimpl: Nee. Die Menschen in meinem Leben, die mir wichtig sind, wissen, wie ich bin. Manche teilen einige meiner Ansichten, andere nicht. Mit manchen diskutiere ich, mit anderen nicht. Einige pflaumen mich gerne witzig und freundschaftlich an – oder ich sie. Humor hilft immer. Und das Libertäre ist auch nicht mein einziges Lebensthema. Vergessen Sie den Schlager nicht!

Uschmann: Nehmen wir an, Sie wären Texter in einer Werbeagentur wie Scholz & Friends, die seit geraumer Zeit Staatsaufträge für Kampagnen pro Politik bekommt und bei der ein einzelner Mitarbeiter schon via Twitter zum Halali auf Firmen geblasen hat, die Anzeigen in „rechten“ Medien schalten. Würden Sie derlei Kampagnen mittragen?

Pimpl: Der Fall, den Sie ansprechen, war eher eine Privatkampagne des Werbers, keine der Agentur. Wenn Sie danach fragen, ob ich als Agenturmitarbeiter bei einem offiziellen Auftrag der Politik mitmachen würde – klar, würde ich. Es ist eine Dienstleistung. Als Bäcker würde ich meine Brötchen ja auch jedem verkaufen: Rechten, Linken und sogar Politikern.

Uschmann: Brötchen helfen den besagten Extremisten aber nicht aktiv, ihre Ideologie zu verbreiten. Es sei denn, es gelänge Ihnen, Brötchen herzustellen, in denen ein Protein zur Gedankenkontrolle eingebacken ist.

Pimpl: Okay, anderes Beispiel: Ich bin Taxifahrer. Also, wenn die sich in meinem Wagen ordentlich benehmen, würde ich sowohl Linke wie auch Rechte zu ihrer Demo fahren. Wenn Sie so wollen, helfe ich beiden, ihre Meinungen zu verbreiten – doch eigentlich will ich nur Geld verdienen. Nicht fahren würde ich jemanden, bei dem ich ahne, er will am Ziel der Tour jemanden überfallen. Oder einen Kinderschänder, der mir die Adresse einer Grundschule angibt. Ich sehe einen Unterschied zwischen bloßer politischer Meinung und offensichtlicher Gewalttat. Zweitens will ich mir immer selbst aussuchen, mit wem ich Verträge schließe. Und besagte Politikkampagne: Vielleicht würde ich die ja als kreative Herausforderung ansehen.

Uschmann: Wenn Sie statt Werbetexter Redenschreiber wären, würden Sie also heimlich gleichzeitig für Alice Weidel und Martin Schulz Reden schreiben?

Pimpl: Wenn ich das handwerklich könnte, mir diese Herausforderung Spaß bereiten und das Geld stimmen würde – ja, vielleicht. Ich habe allerdings Zweifel, ob es mir gelingen und Freude bereiten würde, Meinungen, die ich nicht teile oder sogar dezidiert ablehne, überzeugend zu formulieren. Selbst wenn ich als Redenschreiber ja anonym im Hintergrund bliebe. Als Journalist, der seine Meinung mit Namen zeichnet, würde mir das nicht gelingen, das weiß ich schon jetzt. Da gehört es für mich zum Berufs- und Lebensglück, mich nicht zu verleugnen.

Uschmann: Beim Walk for Capitalism sind Sie sogar auf offener Straße mit einer Demo für den Kapitalismus eingetreten. Gab es da Krawalle und Gegendemonstrationen oder war die Aktion für die Menschen selbst für Gegenprotest zu irritierend? Etwa so wie ein Helge-Schneider-Konzert?

Pimpl: (schmunzelt) Beim ersten Mal waren wir so wenige, dass wir von Außenstehenden gar nicht als Demonstration angesehen wurden. Dabei waren beide Spaziergänge offiziell als Demo angemeldet, obwohl wir auch beim zweiten Mal nur rund 20, höchstens 30 Leute waren. Ein Polizeimannschaftswagen hat uns begleitet, es saßen aber nur zwei Beamte darin. Wir haben uns am Hotel Adlon getroffen, ein Glas Schampus getrunken und sind dann Unter den Linden zur DGB-Zentrale flaniert. Wir waren wohl die friedlichste, die amüsierteste und abseitigste Demonstration, die Berlin je gesehen hat. Wir haben sogar an roten Ampeln gestoppt! Die Menschen haben sicher gedacht: Was sind denn das für Verrückte? Uns hat‘s Spaß gemacht.

Uschmann: Wurden auf diesen Demos auch Schlager gesungen?

Pimpl: Nein, dafür hatten die „Drei Kapitäne“, also das Gesangstrio aus André Lichtschlag, Uli Wille und mir, ausreichend andere Gelegenheiten. Wir haben auch gerne mal Liedtexte umgedichtet, „Ich war noch niemals in New York“ oder „Sonderzug nach Pankow“ für private Feiern. Und die „Internationale“: „Auf zum Markt, zum Deal bin ich bereit.“ (lacht) Von Anfang an hat das gemeinsame Singen zu Verdruss, zu Erstaunen und zu Verwirrung anderer geführt. Ganz früher auf dem Schulhof war es immer lustig, wenn uns Mitschüler den Vogel gezeigt haben. Recht hatten sie! Später haben wir auf etlichen Treffen der Libertären gesungen. Nach einer unserer Darbietungen erschien eine ef-Rezension, in der es hieß, wir hätten von Melodie, Synchronisation, Text und Tonlage maximal zwei Elemente gleichzeitig im Griff gehabt. Das war eines der schönsten Komplimente, das ich je bekommen habe.

Roland Pimpl

Zur Person

Seinem Ziel, allem möglichst vom Rand zuzuschauen und nicht selber ins Rampenlicht zu geraten, geht der Wirtschafts- und Medienfachjournalist erfolgreich nach. Gerade einmal neun Treffer ergibt eine Google-Suche nach seinem Namen im Spätsommer 2017, darunter keinerlei biographische Informationen. Nach Schulzeit und Abitur in Wuppertal absolvierte er eine Ausbildung zum Verlagskaufmann bei der dortigen „Westdeutschen Zeitung“ und schrieb auch für das Blatt. Für das Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim zog Pimpl 1993 ins nahe Heidelberg. In dieser Zeit schrieb er für die dortige „Rhein-Neckar-Zeitung“. 1998 gehörte er zur Gründungsmannschaft von eigentümlich frei. Seit 1999 ist er Redakteur bei der Marketing- und Medienfachzeitschrift „Horizont“, zunächst in der Frankfurter Zentrale, seit 2005 als Hamburg-Korrespondent. Unter dem Punkt „Persönliches“ findet man auf seinem Xing-Profil den Eintrag: „Mitglied seit 13. Juni 2005.“ Pimpl, Jahrgang 1970, lebt in Hamburg, unweit seines Stammlokals.

Walk for Capitalism

Der erste Walk for Capitalism fand am 2. Dezember 2001 in über 100 Städten weltweit statt. Initiiert wurde er vom australischen Straßenkünstler Prodos, der Libertäre in insgesamt 33 Ländern zur wohl ungewöhnlichsten aller denkbaren Demonstrationen auf die Straße brachte. Das liberale Autorenduo Maxeiner und Miersch schrieb über den Aktionstag im Jahre 2003 in der „Welt“: „Während in den Ländern, die dank Kapitalismus reich geworden sind, die Parolen von Attac reichlich Zulauf finden, sammeln sich Revolutionäre neuen Typs in den Regionen der Armen. Wer wahre kapitalistische Überzeugungstäter finden will, wird in den Slums von Johannesburg, Lima oder Bombay Überraschungen erleben. Denn im Gegensatz zu ihren wohlmeinenden Fürsprechern im Westen sind viele Dritte-Welt-Bewohner von Marktwirtschaft und Freihandel überzeugt.“ In der Schweiz hingegen habe sich dem Aufruf zum kapitalistischen Spaziergang niemand angeschlossen. „Der Züricher Bahnhofstraße blieb jegliche Kapitalismusverherrlichung erspart. Nirgendwo scheint man vor Kapitalismusbefürwortern sicherer zu sein als in der Schweiz und in Deutschland.“

„Der Todfeind des erfolgreichen Investierens ist die Ideologie“

Oliver Uschmann trifft … Bruno Bandulet

5. Mai 2017, Bad Kissingen. Bruno Bandulet sitzt in seinem Büro am Telefon und schaut hinunter auf die Stadt. In den 80ern lebte er mit seiner Familie in der südenglischen Grafschaft Surrey, einem äußeren Grüngürtel Londons, durchzogen von preisgekrönten Parkanlagen, Spazierrouten und Reitwegen. Die wohlhabende Gegend beheimatete auch einige prominente Bewohner wie Phil Collins, Eric Clapton oder Ringo Starr. Im unterfränkischen Bad Kissingen ist es ähnlich hübsch und gediegen. Bandulet kehrte nach seiner Zeit in England auch deswegen in seine Geburtsstadt zurück, weil Bad Kissingen „ziemlich genau in der Mitte von Deutschland“ liegt, noch dazu nahe der Autobahn, so dass seine zahlreichen Reisen zu Vorträgen und Konferenzen in alle großen Metropolen des Landes leicht zu bewältigen sind. Als Finanzexperte und mit scharfer Feder formulierender Herausgeber der Reihe „DeutschlandBrief“ ist Bandulet zwar einer der wichtigsten Chronisten der Krise, verzichtet aber gerne auf die Vor- und Nachteile des Großstadtlebens.

Uschmann: Herr Bandulet, was ist an Ihnen eigentümlich frei?

Bandulet: Ein nonkonformes Medium, das politische Korrektheit nicht kann und Meinungsfreiheit kompromisslos vertritt.

Uschmann: Verzeihung, da haben Sie mich akustisch falsch verstanden. Ich fragte nicht nach dem Profil des Heftes, sondern danach, was an Ihnen persönlich eigentümlich frei ist.

Bandulet: Eigentum und Freiheit sind für mich zentrale, unverzichtbare Werte. Sie sind in der menschlichen Natur angelegt. Sie bedingen sich gegenseitig. Aktuell gefährdet ist in Deutschland mehr als alles andere die Meinungsfreiheit.

Uschmann: Das war aber nicht immer so. Sie waren politischer Redakteur und stellvertretender Chefredakteur bei der „Quick“ und sind als Chef vom Dienst der Tageszeitung „Die Welt“ tätig gewesen und das, so nehme ich doch an, mit ähnlich „politisch unkorrekten“ Haltungen wie heute. War das damals alles noch möglich oder glorifizieren wir die alte Zeit?

Bandulet: