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Deutsche Erstausgabe (ePub) Januar 2020

 

Für die Originalausgabe:

© 2017 by K.M. Neuhold

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»From Ashes«

 

Originalverlag:

Published by Arrangement with

Hershman Rights Management, LLC

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Susanne Scholze

 

ISBN-13: 978-3-95823-799-5

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Aus dem Englischen von Anne Sommerfeld


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Alles beginnt mit der anonymen Chat-Nachricht eines Mannes, der sich selbst „Phoenix“ nennt. Als Adam die hoffnungslosen Worte des Fremden liest, verspürt er den drängenden Wunsch, „Phoenix“ zu helfen, und führt ihn mit ihrer Online-Unterhaltung durch die dunkelste Phase seines Lebens. Obwohl sie Hunderte Kilometer voneinander trennen und sie sich noch nie gesehen haben, ist das Band zwischen den beiden Männern bald stärker als jede Freundschaft. Doch auf einmal bricht der Kontakt ab und Adam befürchtet das Schlimmste, bis plötzlich ein verzweifelter Mann in seinem Tattoostudio steht und ihm das Bild eines Phönix‘ zeigt…


 

Kapitel 1

 

 

Adam

 

Januar 2017

 

Ich hatte gestern Geburtstag.

Ich bin 21 geworden.

Ich glaube nicht, dass ich meinen 22. Geburtstag erleben werde.

Ich will es nicht.

~ Phoenix

 

Vor zwei Minuten habe ich mich nach einem langen Tag im Heathens Ink auf die Couch fallen lassen, um mich zu entspannen. Ich habe die Confessions-App auf meinem Handy geöffnet, weil ich jemanden finden wollte, mit dem ich ein paar Stunden lang dreckige und versaute Nachrichten austauschen konnte. Sie eignet sich perfekt für kinky Sexnachrichten, weil sie vollkommen anonym ist. Dadurch sind die Leute offener für interessante Unterhaltungen. Und dadurch fühle ich mich wohl genug, um den lang versteckten Teil meiner Sexualität zu erkunden – und zwar, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle.

Ich bin nicht sicher, warum ich auf den Neueste-Reiter und nicht auf den Not-Safe-for-Work-Reiter geklickt habe, wie ich es normalerweise tue. Vielleicht Schicksal? Denn jetzt kann ich nicht aufhören, den Beitrag anzustarren, während mir das Herz bis zum Hals schlägt.

Diesen Beitrag von einem User namens Phoenix, der vor weniger als fünf Minuten geschrieben hat, dass er nicht lange genug leben will, um seinen nächsten Geburtstag zu erleben. In meinem Hinterkopf schleicht sich ein Gedanke ein. Hat Johnny jemandem erzählt, dass er vorhatte, sich das Leben zu nehmen? Wenn er es getan hätte, hätte ihn jemand aufhalten können? Kann ich diesen Fremden aufhalten?

Ohne weiter darüber nachzudenken, klicke ich auf den Chat-Icon, der neben dem Beitrag zu finden ist.

 

Inked: Hey

Phoenix: …….

 

Mit angehaltenem Atem beobachte ich die kleinen blinkenden Punkte auf dem Bildschirm und warte darauf, ob ich eine Antwort bekomme.

 

Phoenix: hi

Inked: alles Gute zum Geburtstag

Phoenix: nicht so gut, aber trotzdem danke

Inked: Tut mir leid. Willst du darüber reden oder wollen wir uns lieber über was anderes unterhalten?

Phoenix: ja, ich will dich nicht wegen meinem beschissenen Leben vollheulen. Wenn du mir also geschrieben hast, um mich zu bemitleiden, verpiss dich freundlicherweise.

Inked: Ich wollte dir alles Gute wünschen

Inked: Und dass die Dinge besser werden

Phoenix: Danke. Das ist nett von dir. Ich wünschte, ich könnte glauben, dass die Dinge jemals besser werden.

Inked: Was ist mit all den Menschen, die dich vermissen würden, wenn du stirbst?

Phoenix: Es würde niemanden interessieren. Tut mir leid, ich will nicht so Emo sein, aber es stimmt. Niemandem wird es auffallen, wenn ich weg bin

Inked: Mir ist es nicht egal

Phoenix:

Inked: dann erzähl mir von dir, dann lerne ich dich kennen

Phoenix:

Ich warte und halte die Luft an, während die Minuten ohne eine Antwort von Phoenix vergehen. Ignoriert er mich, weil er nicht persönlich werden will? Oder ist er zu beschäftigt, um zu antworten?

 

Phoenix: tut mir leid deswegen. Mein Freund…

Inked: Dein Freund? Ich wette, dass es ihm nicht egal wäre, wenn du stirbst

Phoenix: haha, wenn überhaupt ist er wahrscheinlich der Grund für meinen Tod

 

Mir schlägt das Herz bis zum Hals, während ich seine Worte wiederholt lese. Ich kenne diese Person nicht einmal, aber der Drang, durch das Telefon zu steigen und ihn aus einer missbräuchlichen Beziehung und einem Leben zu retten, das sich für ihn wie ein Gefängnis anfühlt, überwältigt mich.

 

Ich: Du musst nicht bei jemandem bleiben, der dir wehtut

Phoenix: es ist kompliziert. Ich sollte besser gehen

Ich: Warte! Ich mach mir Sorgen um dich…

Phoenix: tu's nicht

 

Tu's nicht. Diese Worte suchen mich die ganze Nacht über heim. Als wäre es so einfach. Tu's nicht. Ich weiß nicht, warum ich mir solche Sorgen um Phoenix mache, aber Scheiße, ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob es ihm gerade gut geht.

Vielleicht denke ich unterbewusst, dass ich wieder gut machen kann, Johnny nicht gerettet und nicht einmal gewusst zu haben, dass er gerettet werden musste, wenn ich Phoenix retten kann.

»Du starrst dein Handy ziemlich eindringlich an. Schreibst du wieder diese verrückten, anonymen Sexnachrichten, die du so liebst?«, fragt mich Gage, mein bester Freund und Mitbewohner und wackelt mit den Augenbrauen.

»Ja«, lüge ich.

Das ist eine weitaus einfachere Erklärung, als ihm zu sagen, dass ich zwanghaft an eine beliebige suizidgefährdete Person denke, die mir nur ein paar Nachrichten geschrieben hat.

Gage ist seit Kindertagen mein bester Freund. Als mein Bruder Johnny gestorben ist, war er der einzige, der den Schmerz verstanden hat, den ich deshalb empfunden habe. Ich kann mich noch immer an die Beerdigung erinnern, als wäre sie gestern gewesen. Wir sind nur so lange wie nötig auf dem Friedhof geblieben und sind anschließend mit einer Flasche Jack Daniel's und unserem Kummer zu Johnnys Lieblingsaussichtspunkt gefahren.

 

»Ich hab das Gefühl, als wäre es meine Schuld«, gestand Gage zwischen zwei Schlucken Whiskey. »Johnny und ich… standen uns nah, ich hätte die Zeichen sehen müssen. Ich hätte es wissen müssen. Ich meine, er hatte seine dunklen Stimmungen, aber ich hätte nie gedacht…«

»Es ist nicht deine Schuld. Ich bin sein Bruder, wenn jemand etwas gewusst haben sollte, bin ich es.«

»Wir waren zusammen«, platzte Gage heraus. »Ich liebe ihn… ich habe ihn geliebt«, korrigierte er sich mit erstickter Stimme. »Ich dachte, dass du wegen des Altersunterschieds sauer sein würdest, also hab ich ihm gesagt, dass er warten soll, bis er achtzehn ist, bevor wir es dir sagen.«

»Der Altersunterschied? Ihr seid nur vier Jahre auseinander.«

»Aber er war sechzehn. Ich bin zwanzig, also hat es verkorkst ausgesehen oder sowas.«

Ich nahm einen tiefen Schluck und versuchte, die neuen Informationen zu verarbeiten. Es ergab Sinn, aber es war ein kleiner Schock, zu erfahren, dass mein zwanzigjähriger Freund heimlich mit meinem sechzehnjährigen Bruder zusammen war. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre ich vielleicht verblüfft oder sogar aufgebracht gewesen, wenn ich herausgefunden hätte, dass sie was miteinander hatten. Aber in diesem Moment war ich zu betäubt, um irgendetwas zu empfinden. Nichts davon war mehr wichtig.

»Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte ihn retten müssen.« Er lehnte sich an meine Schulter und fing an zu schluchzen.

Ich wurde von meinem eigenen Schmerz übermannt und wir weinten gemeinsam um all die Dinge, die hätten sein können. Wir trauerten um all die Dinge, die Johnny niemals sein würde und all die Arten, auf die unsere Leben ohne ihn leer sein würden.

 

Selbst acht Jahre später kann ich nicht an Johnny denken, ohne dass sich mir die Kehle zuschnürt und mir ungeweinte Tränen in den Augen brennen. Auch Gage ist nie über ihn hinweggekommen. Er ist nur noch eine Hülle des Menschen, der er einmal war und geht mechanisch durch den Alltag, ohne zu leben.

Ich werfe einen Blick auf meinen besten Freund neben mir auf der Couch. Ich würde alles geben, um ihn wieder glücklich zu sehen. Ich frage mich, ob es jemanden auf dieser Welt gibt, der ihm wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann.

 

***

 

Mein Handy piept mit einer Benachrichtigung, als ich nach meiner morgendlichen Dusche in mein Zimmer komme. Sofort schnappe ich mir das Handy und hoffe inständig, dass es Phoenix ist. Ich kann meinen mysteriösen Freund nicht das gleiche Schicksal erleiden lassen wie Johnny. Es wäre, als würde ich meinen Bruder erneut im Stich lassen.

 

Phoenix: Hey, tut mir leid wegen dem Drama und dem Selbstmitleid gestern. Normalerweise bin ich nicht so, ich hatte nur einen schlechten Tag. Wie auch immer, danke, dass du dich mit mir unterhalten und meinen Geburtstag etwas weniger beschissen gemacht hast.

Inked: Es war keine Mühe, du scheinst cool zu sein. Ich würde gern weiter mit dir reden, wenn es in Ordnung ist?

Phoenix: Ja, ich hab Lust auf einen Plausch. Erzähl mir was über dich.

Inked: Lass mal sehen, das bin ich, kurz zusammengefasst: 28, habe mein eigenes Tattoo-Studio, umwerfend gutaussehend

Phoenix: und bescheiden, lol

Phoenix: es ist cool, dass du dein eigenes Studio hast, ich wollte schon immer ein Tattoo

Inked: Ich liebe es. Was machst du?

Phoenix: Ich tue, was ich tun muss, um zu überleben

Inked: Es muss nicht so sein. Im Leben geht es um mehr als nur das Überleben.

Phoenix: Na ja, für mich ist Überleben schwer genug. Wenn mich meine Sucht nicht umbringt, wird es mein Arschloch-Freund tun.

Inked: Du kannst diesen Wichser verlassen und clean werden.

Phoenix: leichter gesagt als getan

Inked: Ich hab nicht gesagt, dass es leicht wird, aber du musst nicht sterben

Inked: was kann ich tun, um dir zu helfen? sag es

Phoenix: Ich weiß nicht, sei einfach mein Freund

Inked: …ok, aber ich meine es ernst, wenn ich sage, dass ich da bin, wenn du irgendwas brauchst.

Phoenix: Warum ist dir das so wichtig?

Inked: ich will nicht, dass du stirbst

Phoenix: warum?

Inked: weil das Leben es wert ist

Phoenix: Meins nicht

Inked: dann mach es lebenswert

Phoenix: Ich verstehe immer noch nicht, warum du überhaupt mit mir redest…

Inked: Fühlst du dich besser, wenn es ein eigennütziger Grund ist?

Phoenix: irgendwie

Inked: … Mein Bruder hat sich umgebracht

Phoenix: Das tut mir so leid :(

Inked: ja… es ist schon eine Weile her, aber wenn sie sagen, dass es mit der Zeit besser wird, lügen sie.

 


 

Kapitel 2

 

Adam

 

Mit den Fingern trommle ich im Rhythmus der Musik, die von Royals Arbeitsplatz aus durch den Flur dringt. Royal ist einer der fünf Tattoo-Künstler, die für mich arbeiten. Sie sind meine besten Freunde, meine Familie.

Ich lehne mich auf meinem Bürostuhl zurück und reibe mir die Augen. Kostenabrechnungen sind die eine Sache, auf die ich verzichten könnte, wenn es um meinen eigenen Laden geht.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy, das neben mir auf dem Tisch liegt und hoffe irgendwie auf eine Nachricht von Phoenix. Während der letzten Woche haben wir regelmäßig geschrieben und es fühlt sich an, als würde er sich ein wenig entspannen und öffnen. Jedes Mal, wenn ich versuche, über seinen Freund oder seine Drogensucht zu sprechen, macht er dicht und muss plötzlich etwas Wichtiges erledigen. Aber solange ich mich von diesen Themen fernhalte, schreibt er begeistert stundenlang mit mir.

Es stellt sich heraus, dass wir denselben verkorksten Sinn für Humor haben und deshalb versuchen wir, die besten Witze und Memes zu finden, die wir einander schicken können. Letztens hat er mir ein Meme mit der Überschrift Verwandlungs-Dienstag geschickt. Es war ein Bild von einem Küken, das sich in ein Chicken Nugget verwandelt hat. Ich pruste, als ich daran denke.

Als mein Handy vibriert, stürze ich mich sofort darauf, um nachzusehen, von wem die Nachricht ist.

Meine Begeisterung verfliegt, als ich feststelle, dass die Nachricht nicht von Phoenix, sondern von Kira ist. Sie ist seit Jahren immer mal wieder meine Fick-Freundin.

 

Kira: Hey Sexy, es ist eine Weile her. Hast du heute Abend Zeit?

 

Ich verdrehe die Augen. Es ist eine Weile her, weil sie mir vor zwei Monaten ein Ultimatum gestellt hat – die Sache offiziell machen oder kein Gelegenheitssex mehr. Ich habe letzteres gewählt, weil Kira genauso verrückt ist, wie sie heiß ist. Und, wie alle wissen, sind verrückte Frauen der Wahnsinn im Bett, aber man will sie nicht heiraten.

 

Ich: Wir können rumhängen, aber für mich hat sich nichts geändert. Wenn du also immer noch darauf aus bist, ist es besser, wenn wir die Dinge nicht komplizierter machen

Kira: Das ist in Ordnung, ich vermisse dich einfach. Lady Persia vermisst dich ;)

 

Schnaubend schüttle ich den Kopf. Hab ich erwähnt, dass sie verrückt ist? Beweis: Sie hat ihre Vagina Lady Persia genannt.

 

Ich: Na schön, kommst du gegen elf vorbei?

Kira: Können wir zumindest vorher was trinken?

 

Ich seufze und kneife mir in den Nasenrücken. Ich zweifle nicht daran, dass sie ein paar Drinks haben, sich an mir reiben und mir sagen wird, dass ich ihr fester Freund werden muss, wenn ich ran will. Scheiß drauf, das ist es so was von nicht wert.

Wenn ich ehrlich bin, bin ich über alles hinweg, was mit Kira zu tun hat. Sie ist eine glatte Zehn und das Wort Nein existiert nicht in ihrem Vokabular. Hin und wieder habe ich versucht, verrückte Scheiße fürs Bett vorzuschlagen, nur um herauszufinden, wo ihre Grenzen liegen, aber sie ist nie zurückgeschreckt. Ich habe sie auf Arten gefickt, die sich die meisten Menschen nicht mal vorstellen können. Besser noch, sie hat nie mit der Wimper gezuckt, wenn ich sie um Dinge gebeten habe, für die mir bei einer gehemmteren Person der Mut gefehlt hätte. Aber wir hatten unseren Spaß und ich glaube, es ist Zeit, weiterzuziehen. Zumindest schulde ich es ihr, ihr persönlich zu sagen, dass es für mich vorbei ist.

 

Ich: K. O'Malley's um elf?

Kira: Kann es nicht erwarten

 

Ein Klopfen an meiner Tür lässt mich zusammenzucken.

»Herein«, rufe ich und lege mein Handy wieder auf den Schreibtisch.

Gage streckt den Kopf herein. Seine grün gefärbten Haare stehen ihm wild vom Kopf ab.

»Hey, ich wollte fragen, ob du Mittagessen gehen willst?«

»Ja, absolut. Kannst du mir noch fünf Minuten geben, um diese verdammte Tabelle fertig zu machen?«

»Klar.« Er nickt und verschwindet wieder.

Mein Magen zieht sich zusammen, als ich auf die Stelle starre, von der mein bester Freund gerade verschwunden ist. Ist es überhaupt fair, ihn meinen besten Freund zu nennen, wenn ich seit über zehn Jahren ein großes Geheimnis vor ihm habe?

Die vertraute Panik wallt in mir auf, als sich meine Gedanken in diese Richtung bewegen. Ich hatte nie vor, so einen großen Teil meiner selbst so lange vor Gage und dem Rest der Welt zu verbergen, aber die Dinge sind außer Kontrolle geraten.

Als mir das erste Mal klar wurde, dass ich bisexuell bin, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte und war nicht bereit, jemandem davon zu erzählen. Denn um ehrlich zu sein war es verwirrend. Man könnte anführen, dass es ein guter Zeitpunkt gewesen wäre, mich mit siebzehn zu offenbaren, als sich Johnny mir gegenüber geoutet hat. Aber ich hab es nicht getan. Und kurze Zeit später, als sich Gage geoutet hat, war ich immer noch nicht bereit. Ich wusste, dass ich ein Feigling war, aber ich wollte nicht zu einem Coming-Out gezwungen werden, bevor ich das Gefühl hatte, dass es der richtige Zeitpunkt war. Und dann war Johnny gestorben.

Johnny war emotional schon immer instabil gewesen. Er war vier Jahre jünger als ich und ohne Zweifel das Baby der Familie. Es hat mich verdammt wahnsinnig gemacht, als wir Kinder waren und meine Mom ihn wie ein Baby behandelt hat. Als er das Teenageralter erreichte, war er ein Einzelgänger, einer dieser Jungs, die die ganze Zeit deprimierende Lieder hören und darüber lamentieren, wie sinnlos alles ist. Ich glaube, dass wir alle dachten, es wäre die normale Teenager-Angst. Keiner von uns wusste, dass er in der Schule gemobbt wurde. Keiner von uns wusste, dass er sich selbst mit allen möglichen Tabletten behandelte, die er in die Finger bekommen konnte. Keiner von uns wusste, dass er vorhatte, sich das Leben zu nehmen.

Ich reibe mir über die Brust, um die Enge loszuwerden, die immer dann aufzutreten scheint, wenn ich an Johnny denke. Wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich bisexuell bin, wäre er mir gegenüber offener gewesen und hätte mir gesagt, wie schwer er es hat? Hätte es ihm das Leben gerettet, wenn er gewusst hätte, dass er nicht allein war?

Und das ist die Crux, warum ich Gage acht Jahre später immer noch nicht gesagt habe, dass ich bi bin. Er hat Johnny geliebt. Ich wusste es nicht, bis Johnny gestorben war, aber Gage war wahnsinnig in ihn verliebt. Auf keinen Fall würde Gage mir nicht zumindest teilweise die Schuld an Johnnys Tod geben, wenn er wüsste, dass ich bi bin und es ihm oder Johnny nie gesagt habe, als es am wichtigsten war.

Ich schiebe die dunklen Gedanken beiseite und widme mich wieder der gefürchteten Tabelle, in die ich die letzten noch fehlenden Zahlen eintrage und dann zusammenrechne, bevor ich sie abspeichere.

Ich stehe auf und strecke die Arme über den Kopf. Mir entkommt ein Stöhnen, als sich meine Muskeln dehnen und die Wirbel knackend in ihre ursprüngliche Position springen. Ich gehe gerade mal auf die dreißig zu und fühle mich schon wie ein alter Mann.

Ein letztes Mal überprüfe ich mein Handy, ob Phoenix eine Nachricht geschrieben hat, stecke es aber in die Tasche, als nichts zu sehen ist und gehe nach vorn zu Gage.

»Also, was braucht es, damit ich die Tattoos sehen kann, die du unter diesem engen Shirt versteckst?«

Ich runzle die Stirn, als ich die dreiste Anmache aus dem vorderen Teil des Studios höre.

»Einen besseren Spruch, ein paar Manieren und etwas Shampoo. Viel Glück beim nächsten Mal.« Dani, die Hauptpiercerin und Bad-ass-Frau im Studio weist diesen Trottel mit Leichtigkeit zurück.

Ich kann dem Typen keinen Vorwurf machen, dass er es versucht hat. Dani ist atemberaubend schön und verdammt leidenschaftlich. Wenn sie für mich nicht wie eine Schwester wäre, würde ich sie anflehen, mir eine Chance zu geben. Und ich weiß mit Sicherheit, dass die anderen Jungs, die im Heathens arbeiten, um unser Mädchen kämpfen würden, wenn sie hetero wären.

Bis jetzt ist es mir noch nicht aufgefallen, aber von den sechs Leuten, die im Heathens arbeiten – mich eingeschlossen – ist nur eine Person vollkommen hetero. Nash, Royals bester Freund und Mitbewohner ist der Hetero-Mann und ich bin nicht mal überzeugt, dass er nicht wenigstens flexibel oder neugierig ist, weil ich ziemlich sicher bin, dass zwischen ihm und Royal eine gewisse sexuelle Spannung herrscht. Und Dani geht größtenteils mit Typen aus, aber sie hat uns klipp und klar gesagt, dass sie keine Schubladen mag und ihr das Geschlecht egal ist. Also arbeiten vielleicht gar keine heterosexuellen Menschen im Heathens.

»Bereit?«, frage ich Gage, als ich in seinen Arbeitsbereich spähe.

Er legt seinen Skizzenblock ab und steht auf.

»Willst du ein paar Burritos von dem Food Truck die Straße hoch?«

»Scheiße, ja«, stimme ich zu und bei dem Gedanken läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

»Du zahlst«, sagt Gage mit einem Zwinkern.

Ich zeige ihm den Mittelfinger und lache gutmütig. Ich weiß nicht, was ich ohne Gage tun würde. Er ist wie ein Bruder für mich. Ich hoffe nur, dass er mir vergeben kann, wenn ich irgendwann den Mut aufbringe, ihm zu sagen, dass ich ihn fünfzehn Jahre lang angelogen habe.

 

***

 

Nach einem langen, anstrengenden Tag im Heathens, will ich eigentlich nur nach Hause, mich vor den Fernseher schmeißen und vielleicht ein paar Folgen Tattoo Nightmares ansehen. Vielleicht könnte ich auch ein wenig mit Phoenix schreiben. Stattdessen drängle ich mich durch die Freitagabend-Menge im O'Malley's und versuche, Kira zu entdecken.

Ich zucke erschrocken zusammen, als sich zwei schlanke Arme um meine Taille legen, aber als ich nach unten sehe und die mit einem aufwendigen Muster verzierten Fingernägel und ein kleines Herz-Tattoo am linken Handgelenk sehe – von mir selbst gestochen –, weiß ich, dass es Kira ist.

Ich drehe den Kopf und zwinge mich zu einem Lächeln.

»Ich hole uns was zu trinken, wenn du uns einen Platz suchst?«

»Wird erledigt«, stimmt sie zu, kneift mir in den Po und schlendert dann mit wiegenden Hüften davon.

Ein paar Minuten später rutsche ich neben sie in die Sitzecke und reiche ihr eine Pfirsich-Sangria.

»Danke, Liebling«, schnurrt sie, legt eine Hand auf mein Knie und rutscht näher an mich heran.

Ich hatte entschieden, dass es die beste Strategie wäre, zu warten, bis Kira ein paar Drinks intus hatte und ihr dann zu sagen, dass die Sache zwischen uns aus ist. Anschließend wollte ich sie in ein Taxi setzen und beten, dass sie es ohne einen großen Aufstand dabei bewenden lässt. Das ist die Sache bei Kira: Sie ist eine verwöhnte Göre. Die Verrücktheit zeigt sich erst wirklich, wenn sie ihren Willen nicht bekommt. Einmal hab ich versucht, die Sache mit ihr zu beenden und sie hat eine Schwangerschaft vorgetäuscht. Ich habe herausgefunden, dass die ganze Sache eine Verarsche war, um mich zurückzubekommen, als ich gehört habe, wie sich ihre Freunde darüber lustig gemacht haben. Und jetzt frage ich mich, wie sie mich überhaupt so lange am Schwanz herumführen konnte.

»Wie geht's dir?«, fragt Kira, wirft sich die langen, dunklen Haare über die Schulter und beugt sich zu mir, sodass ich einen guten Blick auf ihren Ausschnitt werfen kann.

Dieser Trick hat in der Vergangenheit immer funktioniert, um meine Gedanken augenblicklich dreckig werden zu lassen und mich an Nächte zu erinnern, in denen ich ihre Titten gefickt habe, bis ich über ihren Hals gekommen bin. Aber mein Schwanz scheint nicht seine übliche Begeisterung für sie aufbringen zu können. Was ein weiterer Beweis dafür ist, die Sache endgültig zu beenden.

»Nicht schlecht.« Ich nehme einen Schluck von meinem Bier und sehe mich in der vollen Bar um.

»Ich hab gehört, dass Madden bei der Schießerei in dem Nachtclub war. Geht's ihm gut?«

Ich verenge die Augen. Von außen scheint es, als würde sie sich ernsthaft um das Wohlergehen meines Freundes sorgen, der angeschossen wurde, aber das ist nicht Kiras Art. Sie ist die egozentrischste Person, die ich je kennengelernt habe und deshalb interessiert sie sich einen Dreck für Maddens Zustand.

»Er erholt sich«, erwidere ich so knapp wie möglich.

»Er sollte seine Geschichte verkaufen, ich wette, er könnte Millionen machen.«

Uuuuund da ist es.

»Ich werde es ihm vorschlagen«, murmle ich.

Sie stürzt sich in eine Erzählung über eine ihrer Freundinnen, die mir nicht weiter am Arsch vorbeigehen könnte und mein Blick wandert umher, um etwas zu tun zu haben.

Schließlich landet er auf einem Mann an der Bar und mein Interesse ist sofort geweckt. Er ist gebaut wie ein Schrank und seine Muskeln sind so gewaltig, dass ich sicher bin, dass er mich in seiner Faust zerquetschen könnte. Und das ist verdammt heiß. Mein Herz schlägt schnell, während mein Blick weiter seine breiten Schultern bewundert und in meinen Gedanken Bilder davon aufblitzen, wie sich seine Muskeln unter meinen Händen anspannen, während er mich fickt. Als ich schließlich bei seinem Gesicht ankomme, bin ich nicht enttäuscht. Sein ausgeprägter, kantiger Kiefer betont seine vollen Lippen und die tiefliegenden Augen.

Ich frage mich, wie Phoenix aussieht. Ist er so ein großer Typ wie der Hulk da drüben an der Bar? Oder ist er klein und schlank? Vielleicht irgendwo dazwischen? Wie ist er im wahren Leben? Sicher, online ist er unglaublich witzig und herzzerreißend traurig, aber wäre er das auch außerhalb des Internets? Wie klingt seine Stimme? Welche Augenfarbe hat er?

Diese Gedanken jagen einander in meinem Kopf, bis meine Hand zu meinem Handy zuckt.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, will Kira mit scharfer Stimme wissen.

»Ähm, ja«, lüge ich.

»Ich komme direkt zur Sache, Adam«, sagt Kira, greift nach meiner Hand und sieht mir in die Augen. Jetzt geht's los. »Ich vermisse dich und glaube, dass wir zusammen gut sind. Ich denke, du solltest noch mal darüber nachdenken, uns eine Chance zu geben.«

»Kira, es tut mir leid, aber ich hab dir mehr als einmal gesagt, dass ich nicht nach einer festen Beziehung suche.«

Ihre Augen werden schmal und sie schürzt die Lippen, während sie sich auf einen Wutanfall vorbereitet. Ein paar Sekunden später verzieht sich ihr Gesicht zu einem süßen Lächeln.

»Ich verstehe. Kann ich einen letzten Kuss haben? Um der alten Zeiten willen?«

Ich verdrehe die Augen, gebe aber nach. Was kann ein Kuss schon schaden?

Ich beuge mich vor und drücke meine Lippen auf ihre. Sie schmeckt nach einer Mischung aus Pfirsich-Sangria und Wassermelonen-Lipgloss. Ich gebe nach, als ihre Zunge über meine Lippen streicht und lasse sie ein, sodass sich unsere Zungen umspielen können.

»Was zur Hölle soll das?«, will eine wütende, männliche Stimme wissen.

Ich ziehe mich zurück und wische mir mit dem Handrücken über die Lippen, um die Lipgloss-Reste loszuwerden.

»Kann ich dir helfen?«, frage ich kühl.

»Ja, du kannst deine verfickten Hände von meiner Frau nehmen.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und sehe zu Kira, die über die Entwicklung sehr zufrieden zu sein scheint.

»Ich hab dich gewarnt, Nick, wenn du dich nicht zusammenreißt, werde ich jemand anderen finden.«

»Verfickte Scheiße, jetzt wird mir alles klar. Es ging nur darum, deinen Freund eifersüchtig zu machen?« Der Freund lässt die Knöchel knacken und sieht mich boshaft an. »Tja, das hat Spaß gemacht, aber wie es aussieht, müsst ihr zwei einiges besprechen. Wenn ihr mich also entschuldigen würdet. Oh und Kira, tu mir einen Gefallen und lösch meine Nummer.«

Ich stehe auf und versuche, mich an Nick vorbeizuschieben. Aber anscheinend ist er entschlossen, einen Streit anzufangen, weil er mir direkt in den Weg tritt und mich wütend anfunkelt.

»Alter, dein Mädchen interessiert mich einen Scheiß, du kannst sie gern behalten. Gibst du mir jetzt bitte den verdammten Weg frei, damit ich gehen kann?«

Ich hebe die Hände und schiebe mich um ihn herum, ohne mich noch einmal umzusehen.

Es dauert nur zehn Minuten, bis ich zu Hause bin und als ich den Schlüssel in die Tür stecke, vibriert mein Handy.

Ich ziehe es heraus und lächle, als ich die Benachrichtigung von Confessions sehe.

 

Phoenix: Hey

Inked: Hey

Phoenix: wie ist dein Abend?

Inked: eigentlich ziemlich verrückt

Phoenix: ohhh, erzähl

Inked: Ich habe mich mit diesem Mädchen getroffen, mit der ich immer mal wieder geschlafen habe, damit ich mit ihr Schluss machen kann

Phoenix: Oh? Warum willst du es beenden?

Inked: na ja, zum einen ist sie total durchgeknallt

Phoenix: Ich bezweifle, dass sie plötzlich durchgeknallt ist. also, was ist der wahre Grund dafür, es jetzt zu beenden, wenn ihr euch vorher schon immer mal getrennt habt?

Inked: … ich hab das noch nie jemandem erzählt

Phoenix: du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst

Inked: Ich bin bisexuell. Offensichtlich ist das nichts neues, aber in letzter Zeit ist der Drang, es mit einem Kerl zu versuchen, immer größer geworden. Heute Abend hat mich der Gedanke, sie zu ficken, überhaupt nicht angemacht. Aber ich bin hart geworden, als ich einen Typ an der Bar abgecheckt habe. Tut mir leid, wenn das zu viele Informationen waren.

Phoenix: Nicht zu viel. Ich fühle mich geehrt, dass ich die erste Person bin, der du es erzählst.

Inked: Ich wünschte, ich könnte es allen sagen, aber wenn ich es endlich tue, verliere ich wahrscheinlich meinen besten Freund

Phoenix: Wenn er wirklich dein bester Freund ist, wird er an deiner Seite bleiben

Inked: Das hoffe ich

Inked: Kann ich dich was fragen?

Phoenix: klar

Inked: Kann ich ein Bild von dir haben?

Phoenix:

Phoenix: tut mir leid, nein

Inked: :(

Phoenix: Ich seh nicht gut aus. Die Drogen versauen einem das gute Aussehen, Mann, glaub mir, wenn ich dir das sage

Inked: :( ich schick dir ein Bild von mir, wenn du eins möchtest?

Phoenix: wenn du willst

 

Ich halte mein Handy hoch, mache schnell ein Selfie und schicke es Phoenix.

 

Phoenix: scheiße, du bist irre heiß

Inked: danke *rot werd*

Phoenix: scheiße, ich muss gehen, mein Freund ist gerade gekommen

Inked: ok… pass auf dich auf

 

Das Gefühl, als würde sich eine Faust um meinen Magen ballen, wird langsam vertraut, wenn ich meine Gespräche mit Phoenix beende. Ich mache mir ununterbrochen Sorgen, dass es unsere letzte Unterhaltung gewesen sein könnte und die Nachrichten irgendwann nicht mehr kommen werden.