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Jason Atum

StarEclipse





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Der Anfang vom Ende

Nach sechshundert Solartagen heimzukehren, brachte viele Gefühle mit sich. Die Empfindungen, die man verspürt, wenn man nach einer langen Reise ankommt, dürften niemandem fremd sein – Freude und Erleichterung. Endlich, nach so langer Zeit, würden die Forschungsreisenden wieder ihre Familien in ihre Arme schließen können – ein Tag, den sie seit langer Zeit herbeisehnten. Dieses freudige Ereignis ließ die letzten Stunden zwar noch länger erscheinen, machte sie jedoch um ein Vielfaches erträglicher, als die durch Trennungsschmerz geplagte Zeit, die jetzt hinter ihnen lag.

Kommandant Poem stand mit freudiger Miene am Hauptmonitor seiner Schiffsbrücke und verfolgte den Eintritt in ihr Heimatsystem. Auch er war voller Vorfreude, sein Weib Gana und seine Tochter Oria wiederzusehen. Trotz der Liebe zu seiner Arbeit, Sterne und Planeten im Namen seines Volkes zu erforschen, gering schätzte er sie zugleich, da sie ihn so lange Zeit von seinen Liebsten trennte.

 

»Kommandant«, sprach ihn seine Kommunikationsoffizierin an. »Sassyaly antwortet nicht.«

Mit einem verwunderten Gesichtsausdruck wandte er sich vom Monitor ab.

»Wie kann das sein? Wir müssten uns bereits seit Hix-Fi9 in Kommunikationsreichweite befinden. Versuchen sie es erneut.«

»Ja Sir«, sagte sie und machte sich daran, abermals den Identifikationsgruß zu senden, während sich Poem prüfenden Blickes auf das Kommunikationsterminal zubewegte. Und trotz ihrer fehlerfreien Vorgehensweise erhielten sie abermals keine Antwort.

Skeptisch warf der Kommandant einen Blick über den Hauptschirm hinaus in ihr Sonnensystem. Solange Sassyaly nicht antwortete, durften sie sich auf keinen Fall weiter ihrem Heimatplaneten nähern – nicht bevor die Verteidigungsbarken deaktiviert wurden, die den Planeten vor ungebetenen Besuchern schützte.

»Antrieb deaktivieren«, befahl Poem, worauf der Steuermann prompt reagierte.

»Kommandant. Irgendetwas Seltsames geht auf unserer Sonne vonstatten«, meldete sich ein junger unerfahrener Offizier, der mit dieser, seine erste intergalaktische Raumreise absolviert hatte.

Poem hatte ihn mit einer eher unbedeutenden Aufgabe betraut. Er wurde, in ihnen bekannten Gefilden, mit der Überwachung des Scanners beschäftigt. Doch durch seine Unkenntnis konnte er mit den Daten, die das System ihm lieferte, nichts anfangen. Ein routinierter Offizier hätte sofort erkannt, um was es sich dabei handelte – auch wenn die Überraschung wahrscheinlich gleichermaßen groß gewesen wäre.

Poem interessierten die Daten, die das System verzeichnete, jedoch nicht. Seine Augen hatten schon längst das erfasst, was der junge Offizier noch nicht einmal mithilfe des Scanners zu deuten vermochte.

Das Zentrum ihres Systems erschien ihm heller als jemals zuvor. Poem wäre nicht der erfahrene Kommandant gewesen, wenn er nicht genau gewusst hätte, was dies bedeutet. Dutzende Male hatte er schon die Ehre, dieses Schauspiel der Natur beobachten zu dürfen, doch dies zu seinen Lebzeiten, bei ihrer eigenen Sonne zu erfahren, hätte er niemals zu wagen geglaubt. Vollkommen paralysiert stand er da und starrte auf das Licht, welches stetig zu wachsen schien.

Weitere Besatzungsmitglieder gesellten sich zu Poem an den Hauptschirm und starrten rätselnd in ihr Heimatsystem. Abgesehen von einem der erfahreneren Offiziere, der es sich nicht nehmen lassen wollte, die Daten des Scannersystems zu prüfen. Schnell, jedoch skeptisch kam er anhand der vorliegenden Analysen zu demselben Ergebnis wie sein Kommandant mit bloßem Auge.

»Sir, das ist eine Supernova.«

Alle Blicke waren mit einem Mal auf Poem gerichtet. Allein seine Reaktion würde ihnen zeigen, ob die Aussage des Offiziers der Wahrheit entsprach oder nicht. Der Kommandant spürte die Augen der Crew auf sich ruhen. Ein Nicken oder eine andere bestätigende Geste würde vermutlich eine Panik auslösen – doch andererseits wollte und konnte er seiner Mannschaft nicht die Wahrheit verheimlichen.

So wandte er sich seiner Brückencrew zu. Kein einziger Ton war vonnöten, sodass sich schon das erste Besatzungsmitglied mit ungläubiger Miene zu Wort meldete.

»Wie kann das sein? Unsere Sonne ist gerade einmal sieben Milliarden Jahre alt und somit noch nicht einmal annähernd in ihrer Endphase angekommen.«

»Wasserstoff- und Heliumbrennen in weniger als sechshundert Tagen, was normalerweise fünf bis sieben Milliarden Jahre benötigt? Das ist unmöglich«, fügte ein weiteres Besatzungsmitglied hinzu.

Poems Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Auch wenn es geradezu unmöglich war, entsprach es dennoch einer Tatsache. Vor ihren Augen vollzog sich eine Supernova – das Sterben eines Sterns, der alles unbarmherzig um sich herum ebenfalls in den Tod riss.

In den Gesichtern der Männer und Frauen konnte er erkennen, wie die Ungläubigkeit langsam zur Erkenntnis heranwuchs – ihre Welt war verloren, ihre Heimat existierte nicht mehr. Doch bevor die blanke Panik um sich zu greifen drohte, wollte er einige Worte an seine Besatzung richten. Poem hob seine Arme in die Höhe, wodurch jene, deren Stimmen sich bereits aus der Menge erhoben hatten, wieder verstummten.

»Es mag noch so unwahrscheinlich und unerklärbar sein, dennoch ist es Realität. In diesem Augenblick schleudert uns der Fixstern geladene Partikel entgegen. Doch um ein Vielfaches gefährlicher ist die unvorstellbar gewaltige Plasmawolke, die sich in einer horrenden Geschwindigkeit auf uns zubewegt. Auch wenn diese trotz ihrer enormen Rasanz im Augenblick noch weit entfernt ist und für uns und das Schiff noch keine direkte Gefahr darstellt, walzt der glühend heiße Strom alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Unsere Familien und unsere Freunde sind in diesem Moment bereits verloren. Ihr wisst alle, welche Bedeutung die Meinen für mich haben, dennoch müssen wir jetzt stark sein. Trauert um eure Freunde und Familien, doch lasst euch nicht davon verzehren. Das Überleben unserer Art liegt nun ganz allein in unseren Händen. Sassyaly mag verloren sein, doch wir werden überleben, im Namen all derer, denen dies nicht vergönnt ist.«

Poem hatte keinen Applaus oder Jubelschreie nach seiner Ansprache erwartet, denn es gab nichts, was man hätte bejubeln können. Dennoch hatte er das Gefühl, dass seine Worte, trotz des immensen Verlustes aller, ein wenig die Hoffnung und Entschlossenheit, in jedem Einzelnen wieder aufkeimen ließ. Nach seiner Rede trat die Kommunikationsoffizierin neben den Kommandanten, der sich dem vernichtenden Schauspiel wieder zugewandt hatte und es trauernd betrachtete. Er fragte sich: ›Wie kann etwas so Schönes, zugleich so mörderisch sein‹.

»Poem«, riss die junge Offizierin ihn aus seinen Gedanken. »Wir müssen irgendetwas tun. Wir können doch unsere Familien nicht einfach sterben lassen.«

Er sah sie an und wünschte sich, es gäbe etwas, dass er sagen oder tun könnte, was ihren Schmerz minderte. Doch das Reißen und Zerren in seiner Brust war zu gewaltig, als dass er tröstende Worte hätte finden können. Stattdessen strich er ihr über ihre Wange, sah sie traurigen Blickes an und sagte: »Es gibt nichts, was wir tun könnten, ohne bei einem erfolglosen Versuch unser eigenes Leben zu verlieren. Dies ist eine Macht, gegen die wir, trotz allen Fortschritts, nichts entgegenstellen können.«

Der unverbesserliche Lucas Scott

 

Wer würde dem kurzhaarigen, blonden Jungen, dem Lucas Scott gegenübersaß, einen derart widerspenstigen Geist zumuten. Seine strahlend blauen Augen und der Charme, den dieser zu versprühen in der Lage war, machte es unsagbar schwer, ihm etwas übel nehmen zu können. Dieser Tatsache war sich Lucas stets bewusst, doch diesmal war es anders – zum allerersten Mal sah der Junge wirklich besorgt aus. Auch wenn sich Lucas selbst nicht darüber im Klaren zu sein schien, offenbarte ihm sein Ebenbild, was er selbst nicht in der Lage war zu erkennen.

Er fragte sich unzählige Male, die er an dieser Stelle saß und auf die Spiegelwand blickte, welchen pseudo-pädagogischen Zweck diese wohl erfüllen sollte. Diesmal glaubte er, es im Ansatz begriffen zu haben. Im Grunde war es eine Art Gegenüberstellung. Man wurde mit der Person konfrontiert, die eine Schandtat beging, in diesem Falle das Ebenbild und zwang den ›Unruhestifter‹, in sein eigenes Angesicht zu blicken. Vermutlich hatten sie die Hoffnung, dass man Scham oder Reue dabei verspürte. Bislang verfehlte diese Maßnahme ihren Zweck bei Lucas gänzlich – doch dieses Mal war es irgendwie anders. Er konnte es nicht ertragen, wenn sein Gegenüber ihn ansah. Was dies bedeutete, konnte oder vielmehr wollte er nicht verstehen.

Die Blicke, der an ihm vorbeigehenden Mitschüler und Lehrkräfte, war Lucas inzwischen gewohnt und auch für sie war es nichts Neues, den Störenfried vor dem Büro des Direktors wartend anzutreffen. Die unterschiedlichen Reaktionen der Schüler und Lehrer waren immer faszinierend für ihn. Die einen grinsten ihn an, klopften ihm sogar oftmals lobend auf die Schulter, während die anderen ihn für seine Streiche verachteten und keines Blickes würdigten oder gar ihm geltende Beleidigungen vor sich hinmurmelten. Doch dies kümmerte ihn keineswegs. Er forderte und erhoffte sich niemals anerkennende Worte der Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld – seine Beweggründe lagen tiefer, auch wenn er sich vielleicht über diese Tatsache, zu diesem Zeitpunkt, noch nicht im Klaren war.

 

Sein Vater, ein bekannter Neurochirurg und gefeierter Arzt zahlte eine Menge Geld für dieses Eliteinternat. Doch nicht aus dem Grund, ihm eine gute Ausbildung und vielversprechende Zukunft zu gewährleisten, sondern einzig und alleine zu dem Zwecke, dass er ihm aus dem Weg war. Der ›große‹ Prof. Dr. Nathan Scott bemühte sich nicht um Dinge, die für ihn weder einen Nutzen hatten, noch Kapital abwarfen. Vollkommen egal, was Lucas auch anstellte, die Aufmerksamkeit seines Vaters bekam er dadurch nicht.

 

Als seine Mutter noch gesund und am Leben war, vor dem schwarzen Freitag im Oktober vor zehn Jahren, war die Welt noch in Ordnung. Damals arbeitete sein Vater für eine kleine neurochirurgische Klinik in Calgary. Meist war er jedoch zu Hause in ihrem Blockhaus am Rande der kanadischen Großstadt und nahm sich Zeit für ihn und seine Mutter. Nachdem ein Tumor im Kopf seiner Mutter diagnostiziert wurde und feststand, dass dieser bösartig war, zogen sie nach New Angeles, in der sich die größte und erfolgreichste Klinik der Vereinigten Staaten zur Bekämpfung gegen den Krebs befand, wo Nathan schließlich einen neuen Job erhielt und sich ausschließlich dem Krankheitsbild seiner Frau widmete.

Bereits in dieser Zeit begann sich sein Vater in einen besessenen Workaholic zu verwandeln und war kaum noch zu Hause.

Drei Jahre sollte der Kampf andauern, den Lucas Mutter schließlich, trotz allen Fortschrittes in der Krebsforschung und der Bemühungen ihres Mannes verlor. Lucas hoffte, dass nun, nach dem Tod seiner Mutter, sein Vater sich wieder um ihn kümmern würde, da auch er schließlich einen wichtigen Menschen verloren hatte. Doch der damals Sechsjährige blieb weiterhin mit seiner Trauer und dem Gefühl, nicht nur seine Mutter, sondern zugleich auch seinen Vater verloren zu haben, allein. Der zweite Schicksalstag im Leben von Lucas war, als Consuela, die mexikanische Haushälterin ihm in ihrem gebrochenen Englisch darüber berichtete, dass er bereits am nächsten Tag in eine Internatsschule gehen würde. In dieser Zeit zerbrach etwas in dem Jungen. Zuerst dachte er, dass er die Schuld an allem tragen würde und sein Vater aus diesem Grund nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Doch nach einiger Zeit wandelten sich seine Gedanken und seine Wut wandte sich gegen den wahren Schuldigen – seinen Vater.

Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen, ihn aus der Ferne zu drangsalieren und für das zu bestrafen, was dieser ihm angetan hatte – doch vermutlich war es auch ein Schrei nach Liebe und Aufmerksamkeit. Trotz allem Ärger, den er verursachte, bemühte sich sein Vater kein einziges Mal in eines der Internate. Er klärte stets alles aus sicherer Distanz, um ihm, seinem Jungen nicht gegenübertreten, nicht in die Augen sehen zu müssen.

 

Die große hölzerne Tür zum Rektorat öffnete sich und Miss Mildrich, die Sekretärin warf einen Blick hinaus auf den Korridor. Argwöhnisch, ohne ein Wort zu sagen, blickte sie den Sechszehnjährigen an. Lucas wäre wahrscheinlich enttäuscht gewesen, hätte sie nicht, wie eh und je diesen erfrischend mürrischen Blick aufgesetzt und ihren streng nach hinten gebundenen Haarknoten getragen, welchen sie seit Jahren nicht anders zu drapieren schien. Man konnte diese beiden Dinge schon beinahe als ihr Markenzeichen betrachten. Seit er diese alte Dame zum ersten Mal zu Gesicht bekam, fragte sich der Junge, ob dies schon immer so war. Daraufhin recherchierte er in den Schularchiven nach ihr und fand unzählige Bilder, bis hin zu ihrer eigenen Schulzeit im selben Internat. Was erschreckend an der Sache war, vollkommen egal, aus welchem Jahr er ein Foto von ihr zu sehen bekam, trug sie den seltsam grimmigen Ausdruck im Gesicht und die gleiche altbackene Frisur – nur mit dem Unterschied, dass sich ihr damals brünettes Haar in ein alterndes Grau gewandelt hatte.

Auch wenn er ihre missgelaunten Blicke bereits gewohnt war, hatte Lucas den Eindruck, dass sie heute noch ein wenig finsterer waren.

Ohne auf eine weitere Aufforderung zu warten, erhob sich Lucas und folgte der humpelnden Miss Mildrich durch das Sekretariat zu den ‚Pforten des Teufels‘, wie Lucas so gerne dazu sagte. Die Rede war vom Büro des Direktors.

Schulrektor Benjamin Turner war eigentlich kein übler Mann. Er war geduldig und äußerst beliebt bei den Schülern, wie auch dem Kollegium. Doch auch seine Toleranz und Gutmütigkeit hatten ihre Grenzen, welche Lucas bereits über alle Maßen strapazierte. Die Unterredungen wurden stetig ernsthafter – was er zu Anfang noch als lustige Jungenstreiche durchgehen ließ, war nach einiger Zeit für Mister Turner nicht mehr vertretbar. Zumal Lucas alles andere, als ein unbeschriebenes Blatt war.

Direktor Turner saß angespannt in seinem schweren braunen Ledersessel, hinter seinem massiven, antiken und aufwendig verzierten Schreibtisch, als Lucas sein Büro betrat. Jedoch war er nicht wie sonst alleine. Neben ihm stand Mister Schuhmann, Professor für Mathematik und unmittelbar vor Mister Turner auf einem der beiden schweren Ohrensessel ein weiterer Mann.

Lucas stockte für einen Moment der Atem. Vollkommen paralysiert starrte er auf den über die hohe Rückenlehne leicht sichtbaren kurz geschorenen dunkelblonden Hinterkopf. Sie sollten es doch wohl nicht geschafft haben, seinen Vater von seiner geliebten Arbeit loszureißen und hierher zu zitieren?

Doch als sich der Mann leicht nach rechts über die Armlehne neigte, um einen Blick Richtung Tür zu werfen, konnte er das Gesicht des Mannes sehen. Die Mimik des Jungen verriet, dass er ein wenig enttäuscht darüber war, dass es sich um einen ihm Unbekannten und nicht um seinen Vater handelte.

 

»Mister Scott!«, riss der Rektor ihn mit tiefer Stimme aus seinen Gedanken. »Setzen sie sich!«

Lucas tat, worum man ihn bat. Er setzte sich, ohne seinen Nebenmann eines weiteren Blickes zu würdigen, auf den noch freien Ohrensessel. Währenddessen war Miss Mildrich im Begriff, das Büro verrichteter Dinge wieder zu verlassen, als Schuldirektor Turner sie ansprach.

»Miss Mildrich. Sie betrifft dies ebenso. Sie dürfen also gerne anwesend sein.«

»Nein, werter Direktor. Diese Angelegenheit war bereits nervenaufreibend genug für mich. Ich setze vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, dem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu bereiten«, antwortete sie atemlos und für ihre Verhältnisse schon beinahe aufgeregt.

»In Ordnung, Miss Mildrich. Es ist ihre Entscheidung.«

Daraufhin ließ sie die beinahe drei Meter hohe doppelflüglige Holztür so laut ins Schloss krachen, dass alle anwesenden Personen erschrocken zusammenfuhren. Ein wenig verärgert sah der Direktor zur Tür, bevor er seine Blicke schließlich Lucas zuwandte.

»Nun Mister Scott. Sie können sich wahrscheinlich bereits denken, warum ich sie hierher zitieren ließ«, sprach Turner ruhig, jedoch bestimmt.

Lucas mimte den Unwissenden und blickte Mister Turner dabei an, als ob er kein Wässerchen trüben könne. Dem Rektor war diese anfängliche Masche von Lucas nicht unbekannt, daher zog er aus der Aktenmappe vor sich, in die kaum noch mehr hineinpassen konnte, ein Din-A4 großes Foto heraus und legte es dem Jungen vor.

»Was sagen sie hierzu?«

Lucas warf einen raschen Blick darauf, sah anschließend geradezu empört zu Professor Schuhmann und verzog angewidert sein Gesicht.

»Was sollte ich dazu sagen? Ich finde, dass es keinen etwas angeht, was Arbeitskollegen miteinander treiben. Und auch wenn ich mir eigentlich kein Kommentar darüber erlauben dürfte, aber ... ist Miss Mildrich nicht ein wenig zu reif für sie, Professor Schuhmann?«

Schuhmann wich Lucas Blick nicht aus. Auch das unterschwellige, schelmische Grinsen des hintertriebenen Rotzlöffels brachte ihn nicht aus der Fassung. Nur die Augen des jungen Professors verrieten, dass er überaus verärgert war.

»Mister Scott. Unsere Miss Mildrich hatte vor nicht einmal sechs Monaten eine komplizierte Hüftoperation und selbst, unabhängig dieser Tatsache, bezweifle ich, dass eine Dame ihres Alters zu einer derart komplexen sexuellen Pose imstande wäre. Also geben sie zu, dieses Bild manipuliert und ins Internet gestellt zu haben!«, fuhr ihn der Rektor aufgebracht an.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wovon sie sprechen«, entgegnete er, ohne von seiner gewohnten Unschuldsmasche abzuweichen.

»Wir haben ausreichend Hinweise dafür, dass sie diese Fotomontage gemacht haben. Zudem wäre niemand anderes dazu in der Lage, etwas derart Verkommenes und Widerwärtiges zu tun«, warf Professor Schuhmann um Fassung bemüht ein.

 

Lucas hatte absolut nichts gegen Schuhmann. Die Wahl hätte auf jede männliche Lehrkraft fallen können, doch das Durchschnittsalter der Lehrer lag bei etwa fünfzig. So war der einzige Grund, warum die Wahl auf Professor Schuhmann fiel, der, dass er mit fünfunddreißig sehr jung war, und zudem auch noch relativ gut aussah, soweit Lucas dies, als Mann beurteilen konnte.

 

»Und welche Hinweise könnten derart erschwerend für mich sein, dass dies größere Konsequenzen nach sich ziehen könnte?«, fragte Lucas altklug.

Direktor Turner schüttelte verständnislos sein Haupt.

»Mister Scott. Wie viele Unterredungen mussten wir die letzten Monate bereits schon wegen diverser Vergehen miteinander abhalten? Immer und immer wieder sagte ich ihnen dasselbe, doch diesmal werde ich offen mit ihnen reden. Ich kann sie verstehen, das heißt ich begreife, auch wenn ich es nicht gutheißen kann, warum sie sich gezwungen sehen, gegen nahezu jede Regel zu verstoßen. Sie fühlen sich alleingelassen, hoffen auf diese Weise, die Aufmerksamkeit zu erhalten, die ihnen von jeher verwehrt wurde. Ich kenne ihren Vater, sogar sehr gut, und vielleicht genau aus diesem Grund muss ich ihnen sagen, dass es sinnlos ist, sich auf diese Weise Gehör oder gar eine Art von Zuwendung verschaffen zu wollen. Ihr Vater mag nicht der für sie gewesen sein, den sie verdient hätten und vielleicht ist er auch nicht dazu in der Lage, zu würdigen, was für ein intelligenter und überaus kreativer Sprössling sie sind, doch auf diese Weise zu rebellieren, hat noch nie auch nur annähernd einen sinnvollen Zweck erfüllt. Eher Gegenteiliges.«

Lucas versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, doch das, was der Direktor zu ihm sagte, erschütterte ihn zutiefst. Womöglich war dies wirklich der Grund, dass er auf diese Weise Aufmerksamkeit und Beachtung suchte. Wie oft saß er vor dem Rektorat, blickte in den Spiegel, konnte aber genau dies nicht erkennen – er war nicht dazu in der Lage, sich selbst mit anderen Augen zu sehen, aus sich herauszugehen. Beschämt saß er da, mit geneigtem Kopf, seine Blicke dem teuren altertümlichen handgeknüpften Teppich zugewandt.

»Ich muss mir nun heute, obwohl ich mir vorgenommen hatte, ihnen zu helfen Mister Scott, eingestehen, dass ich versagt habe. Ich wünschte, ich hätte mich bereits vorher bemüht und versucht zu verstehen, was in ihnen vorgeht. Doch nun ist es zu spät«, sagte Direktor Turner bedrückt.

 

Lucas Kopf schnellte in die Höhe und seine Blicke waren plötzlich hellwach.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er erschüttert. »Sie können mich nicht von der Schule werfen. Es gibt außer diesem kein Internat mehr, welches mich aufnehmen würde.«

»Das ist nicht richtig!«, vernahm er eine tiefe markante Stimme neben sich.

Es war der Mann, den er zuvor absichtlich nicht beachtet hatte. Nun blickte er neben sich und sah, dass er eine Uniform trug. Lucas vermutete aufgrund seiner zahlreichen Orden und Abzeichen, dass er ein Mann vom Militär sein musste.

»Darf ich vorstellen, dies ist Major General Harry West.«

»Schickt mich mein Vater jetzt etwa auf eine Militärschule?«, entgegnete Lucas empört, beinahe schon den Tränen nahe.

»Ehrlich gesagt, war dies nicht die Idee ihres Vaters, sondern meine«, gestand Professor Schuhmann. »Ihr Vater war auch nicht imstande dazu, mir sein Einverständnis persönlich zu übermitteln, sondern durch seine Sekretärin.«

Direktor Turner warf dem vor Schadenfreude grinsenden Professor rügende Blicke zu, da er es als unnötig und gemein erachtete, dies erwähnen zu müssen.

»Wie auch immer«, fuhr der Rektor fort. »Sie lagen mit der Vermutung nicht ganz falsch, dass es sich um eine Art Militärschule handelt, nur dass diese nicht dem US-Militär untersteht und alles andere als gewöhnlich ist. Nur wenige haben das Privileg, diese außergewöhnliche Schule besuchen zu dürfen und dies haben sie einzig ihren ausgezeichneten Noten und ihrem scharfen Verstand zu verdanken. Major General West hier, ist der Leiter und Initiator dieser neuartigen Schule, einer fliegenden Schule. Das Projekt nennt sich ›School to the Stars‹. Sie werden ein Teil der besten Schüler dieses Landes sein und mit ihnen ihre Zeit auf der CSA Epiphany verbringen.«

Lucas traten Tränen in die Augen.

»Meinem Vater ist es also vollkommen egal, dass sie mich zu den Sternen schießen wollen? Und dann schickt er auch noch seine kleine Vorzimmerschlampe Sandy?«

Der Junge pausierte und schluckte einige Male schwer. »In Ordnung. Ich packe nur kurz meine Sachen zusammen. Es gibt nichts, was mich auf diesem beschissenen Planeten noch halten könnte. Ich benötige keine halbe Stunde und werde an der Hauptpforte warten. Ich kann nicht schnell genug hier wegkommen.«

Daraufhin stand Lucas auf und war im Begriff zu gehen.

»Einen Moment, junger Mann. Nicht so schnell, da gibt es noch einige Formulare, die vorher auszufüllen wären. Unter anderem das Abmeldeformular. Zudem werden sie erst morgen früh abgeholt«, entgegnete Turner ein wenig überrascht. Noch nie zuvor hatte er den jungen Mann, der es stets verstand, seine Gefühle zu verbergen, derart emotional gesehen.

Der Major General erhob sich.

»Schon in Ordnung, Junge. Geh und packe deine Sachen in aller Ruhe. Ich werde mich hier um den Schriftkram kümmern«, woraufhin Lucas das Rektorat kommentarlos verließ.

Direktor Turner betätigte seine Gegensprechanlage: »Miss Mildrich, Major General West wird alle Formulare zur Entlassung von Lucas Scott ausfüllen. Bitte kümmern sie sich darum.«

Kaum, dass Benjamin Turner das ausgesprochen hatte, stand eine freundlich dreinblickende Miss Mildrich in der Tür.

»Hier entlang bitte der Herr. Ich habe bereits alles vorbereitet.«

»Welch überschwänglicher Enthusiasmus. Sie scheinen es wohl kaum erwarten zu können, diesen Knaben loszuwerden«, entgegnete West überrascht.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie recht sie haben«, antwortete sie breit grinsend.

 

Kaum dass die Tür hinter den beiden geschlossen war, wandte sich Direktor Turner dem Professor zu. Seine Miene sah bedrückt aus.

»Sind sie sicher, dass wir das Richtige tun? Der Junge wurde stets von einem zum anderen Ort geschickt. Er wird auf diese Weise niemals seinen Platz im Leben finden. Mir erging es damals wie ihm heute, nur dass ich hier mein zu Hause fand. Ich habe versagt, Robert!«

Der Professor klopfte dem Schulrektor tröstend auf die Schulter.

»Was Lucas benötigt, ist eine strenge Führung. Es gäbe nichts, was wir hier für ihn noch tun könnten. Glauben sie mir, es wird im gut ergehen und er wird sicherlich auch schnell Freunde finden. Machen sie sich also keine Vorwürfe. Er schafft das! Jedenfalls kommt er dort nicht mehr auf so dumme Ideen, wie Seifen in die Lehrerumkleide auf den Boden zu legen oder abartige Fotomontagen anzufertigen.«

»Ich bin mir bis heute noch nicht sicher, ob er es tatsächlich gewesen ist oder es nur ein Zufall war, dass die Seife auf dem Boden lag«, zweifelte Turner.

»Nun, Miss Mildrich ist da anderer Meinung. Sie ist sich nach wie vor sicher, dass es der Junge war. Er soll ihr zu schnell zu Hilfe geeilt sein. Wenn man sie fragt, so war das alles andere als ein Zufall. Doch dies ist nur eines der vielen Geschehnisse, die noch anderen Schmerzen und Leid zufügten, die nicht aufgeklärt wurden. Es ist besser für ihn, wenn er geht und was noch viel wichtiger ist, besser für uns!«

 

Lucas verbrachte nahezu den gesamten Abend in seinem Zimmer und dachte über alles nach. Er hasste Veränderungen und dies sollte die wohl gravierendste in seinem noch jungen Leben sein.

Er lag auf seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke, während Joey auf dem Boden saß, mit seinen Blicken auf sein Herrchen gerichtet und leise vor sich hin winselte, als ob er seinen Schmerz fühlen konnte.

»Joey!«, ermahnte er ihn. »Sei still!« Doch der intelligente Jack-Russell-Terrier dachte gar nicht daran, locker zu lassen und sprang aufs Bett.

Ein Belllaut riss den Jungen aus seinen Gedanken.

»Was ist los mit dir? Wir waren doch eben erst draußen.«

Joey sah Lucas traurig an. So, als ob er direkt in seine Seele schauen konnte. Dann folgte ein erneutes Wimmern. Lucas nahm seinen besten Freund hoch, legte ihn auf seinen Oberkörper und knuddelte ihn. Die Nähe seines Hundes gab ihm auf einmal wieder Hoffnung, denn er wusste, egal wohin man ihn bringen würde, Joey wäre immer bei ihm. Der Junge konnte sich noch an den Tag erinnern, an dem er ihn zum ersten Mal sah. Schon dort spürte er das Band der Treue und eigentlich war es Joey, der sich ihn aussuchte. Aus mehreren Würfen von etwa zwanzig Welpen stürmte der Kleine, tapsigen Schrittes, auf den damals sechsjährigen Jungen zu. Es war Liebe auf den ersten Blick, unabhängig der Tatsache, dass es ein Abschiedsgeschenk von seinem Vater war, bevor er ihn ins Internat schickte. Joey war sein bester Freund. Mit ihm auf seiner Brust schlief Lucas selig ein, ohne einen weiteren Gedanken an das Morgen zu verschwenden oder daran, noch nicht gepackt zu haben.

 

Ein hämmerndes Geräusch riss Lucas aus seinen Träumen. Er richtete sich verschlafen auf und versuchte, die Quelle des Lärms ausfindig zu machen. Trotz seiner kurzfristigen Orientierungslosigkeit war es nicht allzu schwer, Joey zu bemerken, der vor der Tür zum Flur stand und diese energisch anbellte. Lucas warf einen kurzen Blick auf seine digitale Zeitanzeige neben seinem Bett, die 7:30 AM anzeigte. Normalerweise eine Uhrzeit, zu der er nicht mal annähernd ans Aufstehen dachte. Doch das Klopfen war so heftig, dass Lucas jeden Augenblick erwartete, das die Tür aus ihren Angeln gerissen werden würde. Nach kurzen ermahnenden Worten, die er an Joey richtete, stellte dieser das Bellen sofort ein.

»Wer ist da?«, fragte er.

»Mister Scott!«, antwortete ihm eine markante kräftige Männerstimme. »Ich habe den Auftrag, sie zur CSA Epiphany zu bringen.«

Lucas stolperte schlaftrunken aus seinem Bett.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet!«, stellte Lucas fest, während er sich vollkommen unbekümmert ins angrenzende Badezimmer begab, um sich dort, mit einer Hand gegen die Wand lehnend, zu erleichtern. Erneut schlug es gegen die Tür.

»Mister Scott, ich möchte Sie nur ungern ermahnen.«

Lucas drückte die in der Wand eingelassene Spülung, wodurch ein kurzer intensiver Wasserstoß ausgelöst wurde. Doch statt anschließend direkt zur Tür zu gehen, warf er einen Blick in den Spiegel und schnitt alberne Grimassen, welche dem Mann vor der Tür galten. Lucas liebte es, seine Überlegenheit auf diese äußerst kindische Art zu demonstrieren.

 

Mit einem lauten Knall und dem Geräusch von splitterndem Holz verschaffte sich ein Offizier gewaltsam Zutritt in den Raum. Lucas hatte mit dieser Reaktion nicht gerechnet, ebenso wenig Joey, der sich gerade noch rechtzeitig von der Tür entfernen konnte, bevor diese laut krachend zu Boden ging. Zähnefletschend, mit gespreizten Vorderläufen, stellte sich der kleine Terrier schützend vor sein Herrchen.

Vollkommen regungslos stand Lucas mit versteinerter Miene da und sah über das Spiegelbild, wie ein muskulöser, dunkelhäutiger Offizier in einer schwarzen ledermatten Uniform in sein Zimmer trat. Die Augen des Offiziers waren jedoch nicht auf Lucas, sondern auf den Jack-Russell-Terrier gerichtet, der nach wie vor knurrend in Verteidigungsposition stand.

»Sagen sie ihrem Zeckenteppich, dass er sich beruhigen soll, ansonsten sehe ich mich gezwungen, Fellpantoffeln aus ihm zu machen.«

Lucas kam die wenigen Schritte aus dem Bad gelaufen und begab sich umgehend in die Hocke, um seinen Hund zu beruhigen, denn die Blicke des Offiziers verrieten ihm, dass er es bitterernst meinte.

»Unterstehen sie sich, auch nur daran zu denken, Joey etwas anzutun. Was wollen sie von mir?«

Lucas hatte nun die Möglichkeit, den schätzungsweise 1,90 m großen Uniformierten ausgiebig zu mustern, während dieser sich im Raum umsah. Sein schwarzes Haar trug er militärisch kurz, sein Gesicht war glatt rasiert und seine Oberarme waren beinahe so dick wie Lucas Oberschenkel. Der Soldat war ein Berg von einem Mann.

»Mein Name ist Cameron Davis, Colonel der Confederated-Space-Alliance, und ich habe den Auftrag, sie umgehend zur Sy-Hum-Launching-Plattform zu bringen. Dort werden wir eine Raumfähre besteigen, welche uns zur CSA Epiphany bringen wird. Doch wie ich sehe, haben sie noch nicht einmal gepackt.«

Colonel Davis betrachtete eines der vielen umherliegenden Kleidungsstücke, welches er vorsichtig, als ob es sich dabei um einen atomaren Sprengsatz handelte, mit seinem kleinen Finger vom Boden aufhob. Es war eine alte verschlissene Boxershorts, welche der Junge eigentlich nur noch zum Schlafen trug. Dies war Lucas sichtlich peinlich und so riss er sie dem Colonel vom Finger, um sie sogleich wieder auf einen der im Raum zahlreich vorhandenen Wäschehaufen zu werfen.

»Nun! Da wir gerade noch genügend Zeit zur Verfügung haben, dass sie sich duschen und ankleiden können, werden wir wohl jemanden beauftragen müssen, dieses Chaos zu ordnen und es ihnen nachzuschicken. Und da ich nicht annehme, dass sie auch nur ein sauberes Kleidungsstück besitzen, sondern alles hier verstreut liegt, könnte dies seine Zeit dauern. Vermutlich wäre es von Vorteil, wenn sie sich eine neue Garderobe zulegen und die alte verbrennen würden. Denn dem Geruch nach zu urteilen, vermute ich, dass selbst eine chemische Reinigung keine Option mehr darstellt.«

Nachdem Lucas sich selbst in seinem Schlafraum umgesehen hatte, als ob er sich erst in diesem Augenblick über das Chaos bewusst geworden wäre, drehte er sich zu dem Colonel um und warf ihm einen widerspenstigen Blick zu.

»Keine Chance. Das kommt nicht infrage. Ich gehe hier nicht ohne meine Sachen weg, dann müssen sie sich eben ein wenig mehr Zeit nehmen. Am besten kommen sie morgen wieder.«

Cameron Davis mochte die arrogante Art des pubertären halbstarken Bengels nicht. Doch er war nicht der Erste, der sich dem jungen aufstrebenden Colonel zu widersetzen versuchte und sicherlich nicht der Letzte, der sich an ihm die Zähne ausbiss.

»Ich habe eine bessere Idee!«, sagte er emotionslos. »Wir haben tatsächlich ein zweites Zeitfenster, doch dann sehe ich mich gezwungen, ihren geliebten Flohzirkus zurückzulassen. Sie haben die Wahl«.

Für einen kurzen Moment machte sich Verzweiflung im Gesicht von Lucas bemerkbar. Es war undenkbar, ohne Joey irgendwo hinzugehen.

»Nun?«, erkundigte sich der Colonel nach einer kurzen Bedenkzeit.

Lucas zögerte. Jedoch nicht, weil er sich unschlüssig war, sondern er es nicht einsah, all seine Prinzipien über Bord zu werfen und ohne Weiteres einfach klein beizugeben. Anders als er war der Offizier mehr als nur entschlossen.

»Lieutenant! Packen sie den Hund in die Box«, sagte Colonel Davis, woraufhin ein junger CSA-Offizier mit einer Hundebox den Raum betrat, der anscheinend vor dem Zimmer nur auf den Befehl gewartet hatte. Die Box war gerade groß genug, dass Joey darin Platz finden konnte.

»Dir bleiben nur zwei Möglichkeiten«, sagte Davis. »Entweder du beförderst deinen Hund selbst in die Transportbox oder der Lieutenant betäubt ihn!«

Der junge Offizier zückte eine Pistole und zielte auf Joey, der die Situation begriff und erneut seine Zähne fletschte.

»Ich werde es tun!«, gab Lucas klein bei und kniete sich vor der Transportbox auf den Boden, um diese zu öffnen. Der Junge befahl Joey in die Box zu gehen und dieser folgte ohne jegliche Gegenwehr.

»Sehr gut! Jetzt ziehst du dich an, damit wir endlich los können. Denn aufgrund dieser unnützen Diskussion bleibt nun nicht einmal mehr die Zeit dich zu duschen«, sprach der Colonel naserümpfend, als ob er dies ein wenig bedauerte.

Lucas tat, wie man es ihm auftrug, und entledigte sich rasch seines Schlaf-T-Shirts und der Boxershorts, während der Colonel am Haupteingang auf ihn wartete. Es dauerte weniger als fünf Minuten. Die Tatsache, all seine Habseligkeiten zurückzulassen, war für ihn vollkommen nebensächlich geworden. Das Wohl seines besten Freundes war wichtiger als alles andere. In jeder anderen Situation hätte der pubertierende Heranwachsende rebelliert, doch Colonel Cameron Davis traf ihn an seinem wunden Punkt und Lucas folgte wie ein Lämmchen seiner Herde.

 

Die Vorhalle, mit ihren hohen weißen Marmorsäulen war hell erleuchtet und vollkommen menschenleer. Lucas hatte in all den Monaten die Pracht der Empfangshalle nie auf diese Art wahrgenommen. Plötzlich erschien sie ihm vollkommen fremd und trostlos. Doch wahrscheinlich lag dies an den äußerst ungewöhnlichen Umständen. Ihn verband auf gewisse Weise mehr mit diesem Ort als mit all den vorherigen Internaten, welche er über die letzten neuneinhalb Jahre hinweg kennenlernte. Er konnte noch genau den grünen Fleck sehen, den die Putzkräfte verzweifelt zu entfernen versuchten, welcher durch einen Fehlwurf seiner Farbballonattacke eine der Säulen traf.

 

Auch wenn er schweren Mutes die lange und breite Marmortreppe in eine ungewisse Zukunft hinunterschritt, war es eine Erleichterung, dass er wohl der einzige Student zu sein schien, der zu dieser frühen Stunde bereits auf den Beinen war. Aufgrund seines Benehmens hatte der sich nicht gerade Freunde unter seinen Mitschülern gemacht und er war sich nahezu sicher, dass es einige von ihnen mit Freude gesehen hätten, wie er zum letzten Mal diese Treppe hinab ging.

Es kam ihm vor, als würden sich die Stufen endlos dahinziehen. Jeder seiner Schritte, welche die hohen Sandsteinwände widerhallen ließen, war ein Schritt mehr auf einem Pfad ohne Wiederkehr. Unweit des Treppenabsatzes wartete bereits der Colonel in Begleitung des anderen Uniformierten, in dessen Hand sich die Transportbox mit dem wimmernden Joey befand.

Lucas fühlte sich in diesem Moment wie ein Schwerverbrecher.

Die Orden und Auszeichnungen auf Colonel Davis linker Brust, als Beweis für seine ›übermenschlichen‹ Heldentaten und seine bedingungslose Hingabe gegenüber seinem Heimatplaneten, reflektierten auf unwirkliche Weise die Beleuchtung der Empfangshalle. Doch es war nichts im Vergleich zu dem optimistischen Strahlen in den Augen des Offiziers. Lucas fragte sich, ob er wohl hierfür einen weiteren Orden einheimsen würde, als der Colonel ihn mit einem breiten Grinsen ansprach.

»Schon fertig?«

Lucas verzog sein Gesicht zu einer leichten Grimasse. Doch statt, wie er es immer tat, einen flotten Spruch zu bringen, nickte er nur.

»Wollen wir?«, fuhr Colonel Davis fort, als ob Lucas eine Wahl gehabt hätte.

»Ja Sir!«, antwortete Lucas ironisch, da er es sich nicht nehmen lassen wollte, den Offizier in seiner gewohnten Weise auf die Schippe zu nehmen.

Cameron jedoch zog eine Augenbraue nach oben und sah den Jungen überrascht an.

»Das wird ja immer besser. Weiter so und wir werden gut miteinander auskommen.«

Lucas verdrehte nur die Augen und sie verließen gemeinsam die Empfangshalle, vor der bereits eine Flugfähre der Confederated-Space-Alliance auf sie wartete.