ALGERIENS UNABHÄNGIGKEIT

unter besonderer Berücksichtigung
der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte
und Auswirkungen heute

Inaugural-Dissertation

zur Erlangung des Doktorgrades

der

Philosophisch-
Sozialwissenschaftlichen
Fakultät der

Universität Augsburg

vorgelegt von
Fathia Lakhdar aus
Troyes, Frankreich
2016

Erstgutachter: Prof. Dr. Theo Stammen
Zweitgutachter: Prof. Dr. Marcus Llanque
Tag der mündlichen Prüfung: 5. Juli 2017

Für meinen Vater und meine Großeltern in memoriam

Für meine Mutter

VORWORT

Algerien und seine Kolonialgeschichte. Aber welche Spuren hat die Kolonialmacht Frankreich hinterlassen und vor allem, mit welchen Auswirkungen in der politischen Weltordnung heute? Welche Rolle haben andere westliche Länder wie Spanien gespielt, über die wenig geschrieben wurde, die aber im Hintergrund der französischen Kolonialherrschaft agierend lange Zeit einen verheerenden Einfluss auf Algerien ausgeübt haben? Stellt diese Geschichte etwa ein Hindernis zum möglichen Regimewandel in Algerien dar, indem sie ihn teilweise bremst bzw. strukturell nicht fördert?

Diese Studie und dieser Diskussionsbeitrag verstehen sich als kritische Analyse zum Reflektieren, Abwägen und Weiterdenken, speziell heute, in einer Welt mit neuen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Konstellationen, die nicht ohne Rückblick auf das Geschehene verstanden werden können.

Ferner soll diese kritische Analyse dazu anregen, die Vergangenheit Algeriens unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten und mit neuen Anhaltspunkten das heutige Algerien besser zu verstehen. Dies bedarf einer Auseinandersetzung mit Erfahrungen, über die nicht oft genug berichtet wurde. Hierfür sind Reflexion und Akzeptanz gefragt.

Es liegt hier eine Komplexität von mit bzw. ineinander verbundenen Ereignissen und Ursachen vor, die über Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prinzipien, schließlich reduziert auf innenpolitische Einwanderungsprobleme heute in westlichen Ländern, mehr und mehr zum Ausdruck kommen. Eine nationale Innenpolitik in westlichen Ländern, verstanden als Basis der einfachen, dogmatischen Konfrontation, die sich schließlich negativ auf die globalisierte Welt auswirkt und langsam etabliert. Und die sich wiederum als gesellschaftliche Kluft in den westlichen Industrienationen verstärkt.

Zeitzeugen im engsten Familienkreis haben mich, mit teilweise viel Schmerz bei der Konfrontation mit dieser schweren Vergangenheit, dazu veranlasst, mehr über die Geschichte zu erfahren. Somit konnte die Entwicklung einer perspektivlosen Jugend und ausgegrenzter Generationen heute besser verstanden werden. Diese Studie beschäftigt sich aber auch damit, nicht nur die gesellschaftlichen Probleme auf nationaler Ebene zu analysieren, sondern auch einen möglichen Lösungsansatz für die weltpolitischen Krisenherde anzubieten.

Mein Doktorvater Prof. Dr. Theo Stammen, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Augsburg, der bereits meine Diplomarbeit an der Hochschule für Politik München als Lehrstuhlbeauftragter der Politischen Theorie betreut hatte, hat mir viel Lreiraum und Unterstützung für diese Studie zur Verfügung gestellt, ferner hat er mich mit Blick auf interdisziplinäre Lragestellungen in der Politikwissenschaft immer weiter dazu getrieben, diese Arbeit analytisch und methodisch zu konzipieren und schließlich zu beenden.

für vielfältige Unterstützung bei der Erstellung gilt mein Dank besonders Dr. iur. Dieter Barth sowie meinem Vater Abdelkader Lakhdar, ohne den diese Arbeit nicht hätte entstehen können.

Eine ganz besondere Dankbarkeit, die ich mit der Widmung dieser Arbeit nicht genug ausdrücken kann, empfinde ich gegenüber meinen Eltern und Großeltern, die mir Werte wie Philanthropie trotz, aber auch aufgrund ihrer Erfahrung, vermittelt haben, was speziell in unserer Zeit Ausdruck finden soll. Mit Erfolg.

München, im Dezember 2019

Fathia Lakhdar

Inhaltsverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Akronyme und Abkürzungen

1. Einleitung

2. Kurze historische Hintergründe „Ifriqiya“

2.1 Beginn der französischen Kolonisierung

2.1.1 Zielgerichtete Entwurzelung der „französischen Heimat“ im kolonisierten Algerien

2.1.2 Eine unwürdige Grande Nation und ihre republikanischen Prinzipien gegenüber ihren Mitbürgern während ihrer Besatzung

3. Die Unabhängigkeit und ihre Schwierigkeiten

3.1 Zwei Fronten während der Unabhängigkeit

3.1.1 Die FLN: Die Nationale Befreiungsfront

3.1.2 Die OAS: Die Organisation der geheimen Armee

3.2 Die Évian-Abkommen und die Unabhängigkeit Algeriens

3.3 Die Gräueltaten des Generals Massu und fehlende Reue anlässlich des Jubiläums der Évian-Abkommen

3.4 Die freiheitlichen, gleichen und brüderlichen Prinzipien eines Frankreichs im wahren Leben

4. Gestaltung der Politik im neuen unabhängigen Staat

4.1 Einführung in das politische System Algeriens

4.1.1 Die politische Landschaft Algeriens

4.1.1.1 Die Hauptfiguren und deren Politik in Algerien

4.1.1.2 Die politischen Organe

4.1.2 Fehlgeschlagene Versuche einer politischen Opposition

5. Über 40 Jahre „selbstständige“ Politik nach der Unabhängigkeit

5.1 Die Regierenden in Algerien, die militärische Macht und ihr Handeln

5.2 Wirtschaft

5.2.1 Wirtschaftliche makroökonomische Daten

5.2.2 Der Außenhandel

5.2.3 Die Arbeitslosigkeit

5.3 Die Entschlossenheit der Regierung, das Land mit besonderem Fokus auf der Wirtschaft zu reformieren

5.3.1 Zusammenarbeit und wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und den Mittelmeerländern und die Rolle der ausländischen Finanzorganisationen

5.3.2 Die Wirtschaft, von der Politik als Geisel genommen

5.3.3 Bilanz: Wirtschaftliche Probleme und ein desolater materieller Zustand

6. Die Konsequenzen in der heutigen Zeit

6.1 Die heutigen Spuren der damaligen Kolonialherrschaft

6.2 Eine Analyse des heutigen Algeriens

6.2.1 Eine altruistische Kultur und Mentalität, die doch hedonistisch gesteuert wird

6.2.2 In sich zurückgezogene Gesellschaft

6.3 Blockade der eigenen Landsleute: Behinderung von der eigenen Regierung und der Anstieg der Religionsherrschaft. Keine säkulare Ordnung

6.4. Mittäterschaft des Militärs im Genozid zur Wahrung des eigenen Interesses

6.5 Der Terrorismus

6.5.1 Begriff und Definition

6.5.2 Demagogisch betriebener Terrorismus: Genozid im Namen Allahs

7. Ein langwieriger Weg zu einer neuen Herrschaftsordnung

7.1 Algerien und sein Verständnis von Menschenrechten

7.2 Fortschritt oder Rückgang in der Systemtransformation, wenn überhaupt Systemtransformation?

7.3. Die Interaktion der weltweiten Akteure mit Algerien im Namen des Demokratisierungsprozesses?

7.4. Eine Transformation mit autoritärem Charakter

7.5 Bilanz eines Demokratisierungswandels in Algerien

8. Umbruch in der arabischen Welt

8.1 Eine neue arabische Welt zeichnet sich ab: der Arabische Frühling und seine Aussichten

8.2 Die Industrienationen und die Jasminrevolution

9. Ergebnis und Politikempfehlung

Literaturverzeichnis

Anhang

Anhangsverzeichnis

Anhang 1: Karte und Flagge_

Quelle: CIA World Factbook (2014) Algeria.

URL: https://www.cia.gov/librarv/publications/the-world-factbook/geos/ag.html

Anhang 2: Entwicklungsstand insgesamt 2008

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2008

URL: https://www.bti-proiect.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/dza/itv/2008/itr/mena/

Anhang 3: Geburtenrate und Bevölkerungsdichte

Quelle: Perspective monde in Anlehnung an Weltbank.

URL:http://perspective.usherbrooke.ca/bilan/servlet/BMTendanceStatPavs71angue=fr&codePavs-DZA&codeSt at=SP.DYN.TFRT.IN&codeStat2=x

Anhang 4: Armutsrate und BIP

Quelle: Perspective monde in Anlehnung an Weltbank.

URL: http://perspective.usherbrooke.ca/bilan/servlet/BMTendanceStatPavs?codeTheme=2&codeStat=SI.POV.D DAY&codePavs=DZA&optionsPeriodes=Aucune&codeTheme2=2&codeStat2=NY.GDP.MKTP.KD.ZG&code Pavs2=DZA&optionsDetPeriodes=avecNumeros&langue=fr

Anhang 5: Alterspyramide 2014

Quelle: CIA World Factbook 2014

https://www.cia.gov/librarv/publications/the-world-factbook/geos/print_ag.html

Anhang 6: Entwicklungsstand des politischen Systems 2008

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2008

https://www.bti-proiect.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/dza/itv/2008/itr/mena/

Anhang 7: „Politische Stabilität“ 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

URL: https://atlas.bti-proiect.org/share.php71*2018*CV: CTC;SELDZA*CAT*DZA*REG: TAB

Anhang 8: „Politische und soziale Integration“ 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

URL: https://atlas.bti-proiect.org/share.php71*2018*CV: CTC: SELDZA*CAT*DZA*REG: TAB

Anhang 9: Moderne Staatlichkeit als Maßstab 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

httŋs://atlas.bti-ŋroiect.org/share.ŋhŋ?l*2018*CV: CTC: SELDZA*CAT*DZA*REG: TAB

Anhang 10: Rechtsstaatlichkeit als Maßstab 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

URL: https://atlas.bti-proiect.org/share.php71*2018*CV: CTC: SELDZA*CAT*DZA*REG: TAB

Anhang 11: „Politische Partizipation“ 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

URL: https://atlas.bti-proiect.org/share.php?l*2018*CV: CTC: SELDZA*CAT*DZA*REG: TAB

Anhang 12: Entwicklungsstand 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

URL: https://www.bti-proiect.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/dza/itv/2018/itr/mena/

Anhang 13: Entwicklungsstand insgesamt 2018

Quelle: Bertelsmann Transformation Index in Anlehnung an Weltbank, UNDP 2019

URL: https://atlas.bti-proiect.org/share.php71*2018*CV: CTC: SELDZA*CAT*DZA*REG: TAB

Akronyme und Abkürzungen

AEDM

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

AIS

Armee Islamique du Salut (Islamistische Heilsarmee)

ALN

Armee de Liberation Nationale (Nationales Befreiungsfront)

AQIM

Al-Qaida im Islamischen Maghreb

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BSP

Bruttosozialprodukt

CNSEL

Commission Nationale de Surveillance des Elections Legislatives (Nationale Kommision für die Überwachung von Parlamentswahlen)

COM

Collectivités d'Outre-Mer

CSP

Comité de Salut Public (Wohlfahrtsausschuss)

DROM

Départements-Régions d'Outre-Mer

DRS

Departement du Renseignement et de la Sécurité

EIDHR

European Instrument for the Promotion of Democracy and Human Rights

EMFZ

Euro-mediterrane Freihandelszone

ENPI

Europäische Nachbarschaftspolitik

FFS

Front des forces socialistes (Front Sozialistischer Kräfte)

FIS

Front Islamique du Salut (Islamistische Heilsfřont)

FLN.

Le Front de Liberation National (Nationale Beffeiungsfront)

FNA

Front National Algerien (Algerische Nationale Front)

GLA

Groupe Islamique Armé (Die Bewaffnete Islamische Gruppe)

GPRA

Gouvernement Provisoire de la République Algérienne (Provisorische Regierung der Algerischen Republik)

GSPC

Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat (Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf)

GTAI

Germany Trade & Invest

HDI

Human Development Index

MALG

Ministère de l'Armement et des Liaisons générales (Ministerium für die Bewaffnung und die allgemeine Verbindung)

MEDA

Mesures d’accompagnement financières et techniques (Finanzielle und technische Begleitmaßnahmen)

MJD

Mouvement pour la Jeunesse et la Démocratie (Bewegung für Jugend und Demokratie)

MNA

Mouvement National Algerien (Algerische nationale Bewegung)

MPF

Mouvement pour la France (Bewegung für Frankreich)

MNND

Mouvement national pour la nature et développement (Nationalbewegung für Natur und Entwicklung)

MPA

Mouvement Populaire Algerien (Algerische Volksbewegung)

MPF

Mouvement pour la France (Bewegung für Frankreich)

MSP

Mouvement de la Société de la Paix (Bewegung der Gesellschaft für Frieden, auch: Hamas)

OAS

Organisation de l´Armée Secrète (Organisation der geheimen Armee)

PCA

Parti Communiste Algérien (Algerische Kommunistische Partei)

PCF

Parti Communiste Français (Kommunistische Partei Frankreichs)

PPA

Parti du Peuple Algérien (Algerische Volkspartei)

PSF

Parti Socialiste Français (Französische sozialistische Partei)

PT

Parti des Travailleurs (Arbeiterpartei)

RCD

Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (Sammlung für Kultur und Demokratie)

RNAS

Rassemblement National d´Action Sociale

RND

Rassemblement National Démocratique (Nationale demokratische Sammlung)

RoG

Reporter ohne Grenzen

RPR

Rassemblement pour la République (Sammlungsbewegung für die Republik, neogaullistische Partei)

SM

Sécurité Militaire (Militärische Sicherheit)

UDF

Union pour la Démocratie Française (Union für die französische Demokratie)

UfM

Union für das Mittelmeer

UGTA

Union Générale des Travailleurs Algeriens (Generalunion der algerischen Arbeiter)

UMA

Union du Maghreb Arabe (Union des Arabischen Maghreb)

UMP

Union pour un Mouvement Populaire (Union für eine Volksbewegung)

UNDP

United Nations Develepment Programme

WKÖ

Wirtschaftskammer Österreich

WTO

World Trade Organization

1. Einleitung

Algerien gehört zu den fünf Maghrebländem1, nämlich Algerien, Tunesien, Marokko, Libyen und Mauretanien, wobei die drei ersteren als Kernraum bezeichnet werden können. Knapp 34 Mio. Einwohner verteilten sich 2010 auf eine Gesamtfläche von 2 381 741 km2.2 Innerhalb von vier Jahren, zwischen 2002 und 2006, sind knapp zwei Millionen Einwohner zusätzlich dort registriert worden. 2013 war die Bevölkerung auf 38,1 Mio.3 gestiegen und es wird prognostiziert, dass sie 2050 die Grenze von 50 Millionen erreichen wird.4 Der Prozentsatz der Ausländer bzw. anderer religiösen Gemeinschaften ist drastisch gesunken. Die Bevölkerung setzt sich aus 70 % Arabern und 30 % Berbern5 zusammen. Die Geschichte Algeriens ist vielschichtig; man kann sogar eine Parallele ziehen zwischen seiner Entwicklungsgeschichte und seiner Diglossie (Zweisprachigkeit), die in kultureller bzw. sprachlicher Hinsicht nicht zu leugnen ist. Das Ideal einer Arabisierung mit einer einzigen Sprache in der islamischen Welt, die der Verwaltung, dem Recht, aber insbesondere der Religion dienen würde, scheint einerseits aufgrund der geschichtlichen Strömungen wie seiner Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich ab dem 16. Jahrhundert, aber auch wegen seiner Unterwerfung durch die Kolonialmacht Frankreich ab 1831 und andererseits der arbeitsbedingten Migrationsbewegungen aufgegeben werden zu müssen.6 Dieses Ideal eines Panarabismus und einer arabischen Nation, das sich hinter eine locker agierende Arabische Liga zu stellen vermag, scheint längst ohnmächtig und zum Scheitern verurteilt zu sein.

Algerien ist mit 2,38 Mio. km2 Fläche das größte aller fünf Maghrebländer.7 Es ist umgeben von Marokko im Westen und Tunesien im Osten, beide auch bis 1956 unter französischer Kolonialherrschaft, die allerdings ihre Unabhängigkeit rascher und schmerzloser sechs Jahre früher als Algerien realisierten, das sie erst 1962 mit seinem blutigen Kampf erlangen konnte.

In der Literatur stellt man fest, dass wenig über Algerien insgesamt und speziell über die algerische Politik bzw. den wirtschaftlichen Machtfaktor im direkten Zusammenhang geschrieben und berichtet wurde. Die paar veralteten Schriften können nicht mehr die aktuelle Situation widerspiegeln, wenn sie überhaupt heutzutage verfügbar sind. Diese Arbeit soll sich nicht mit der Geschichte des unabhängig gewordenen Algerien auseinandersetzen, womit die meiste Literatur sich schon längst befasst hat, sondern vielmehr als Forschungsarbeit der aktuellen Lage mit einer empirischen Seite in Algerien verstanden werden. Eine ausufernde Erarbeitung der Geschichte wäre hier nicht nur wenig ziel führend, sondern auch von keinem besonderen Reiz. Darüber hinaus wird hinsichtlich der kritischen Sicherheitslage derzeit in Algerien daraufhingewiesen, dass in den letzten Jahrzehnten wenige objektive Blicke aus dem Ausland, geprägt von terroristischen Attentaten und vom Genozid, dieses explosive Terrain antasten konnten. Die wenigen Autoren, die sich auf dieses risikoreiche Feld gewagt haben, sind ins Exil geflohene ehemalige Mitwirkende bzw. mittelbare Mitgestalter.

In Anbetracht der heutigen Auseinandersetzung des ehemaligen Kolonialherren Frankreich mit seiner Geschichte und speziell in Anbetracht einiger französischer Politiker, die die jetzige Politik Frankreichs gestalten, wie der amtierende Staatspräsident Nicolas Sarkozy, Sohn der ersten Generation von Auswanderern, der anlässlich des Präsidentenwahlkampfes im Jahr 2007 den Eindruck vermitteln wollte, die koloniale Geschichte, speziell auf Algerien bezogen, neu schreiben zu wollen, wenn nicht endlich auf sich beruhen zu lassen oder doch leugnen zu wollen,8 wird diese Arbeit gezwungenermaßen einen Blick auf die Geschichte Algeriens richten müssen. Außerdem lässt sich der Ausgang einer Situation besser nachvollziehen und einschätzen, wenn man den roten Faden verfolgt hat. Eine gewisse Reflexion der Geschichte Algeriens ist hierzu aus diesem Grund notwendig.

Zum einen geht es bei dieser Forschungsarbeit darum, die Ausgangssituation Algeriens zu Beginn seiner errungenen Freiheit für einen bestimmten Zeitraum zu analysieren, Korrelate zu entdecken, die dazu verhelfen werden, das jetzige Algerien verstehen zu können. Hat sich Algerien so entwickelt aufgrund seiner Misswirtschaft auf manchen Ebenen? Oder war es einfach eine Frage des Willens und des Engagements für die Gemeinschaft? Die in mancher Hinsicht noch archaischen Strukturen im Algerien des 21. Jahrhunderts hinterlassen den Eindruck einer gewissen Unzufriedenheit. Einer Unzufriedenheit, die sich wiederum in den Träumen einer gelungenen Auswanderung auf der einen Seite und in der Problematik ungewollter Einwanderung für die Industrieländer auf der anderen Seite widerspiegelt. Der wirtschaftliche Aspekt, der eine wesentliche Rolle in dieser Problematik spielt, verzeichnete Fortschritte in Richtung einer Reformierung mit Wiederbelebung der algerischen Wirtschaft. Auch wenn diese kleine Reform zeitweise ihre Wirkung gezeigt hat, ist das aber nicht ein Synonym für die Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit. Nach wie vor wird das politische Machtgefüge von einer kleinen Schicht beherrscht, die von allen Vorteilen voll und ganz profitiert, ohne einen Teil dieser Früchte an die Gemeinschaft zurückzugeben.

Auf die sogenannte „revolution du sourire“9, die das Land seit 22. Februar 2019 jeden Freitag und Dienstag für die Studenten – jetzt und noch bis zum Jahresende beherrscht, wird nicht eingegangen. Allerdings scheint das algerische Volk das seit der Unabhängigkeit bestehende autoritäre Regime diesmal mit Ausdauer und Beharrlichkeit seit knapp einem Jahr einem demokratischen Wandel entschieden zu unterziehen und ihn zu forcieren.

Es wird sich in naher bzw. mittlerer Zukunft erweisen, ob sich Algerien aus einem autoritären Regime in eine Demokratie entwickeln wird oder nicht. Ob hartnäckige Massenbewegungen ausreichen werden, um dem autoritären Regime Algerien zielstrebig und vor allem mit Erfolg die Stirn zu bieten, werden wir anhand der im Land noch bestehenden Merkmale eines autoritären Regimes feststellen können, nämlich ein reeller politischer Pluralismus und die Freiheit der gesellschaftlichen Akteure in jeglicher Form.10 Dies könnte den Weg zum Demokratisierungswandel in Algerien ebnen.

Zu diesen oben genannten Merkmalen, die den Autoritarismus im Wesentlichen definieren, kommt die religiöse Komponente hinzu. Könnte sich diese negativ auf den demokratischen Prozess solcher Länder mit dem Islam als Staatsreligion auswirken, die ohnehin bereits strukturelle Probleme bei ihrem Transformationswandel verzeichnen? Im Vergleich zu Huntingtons Theorie der Religion und insbesondere des Islams als Bremse für die Demokratisierung eines Landes11 wird diese negative Auswirkung in Studienanalysen renommierter Autoren wie Stepan und Linz verneint. Als Beispiel hierfür wird die moslemische Bevölkerung – mit circa 200 Millionen Anhängern – in Indien genommen, die keinesfalls einen Antagonisten der Demokratie bildet. Auch für Indonesien und Senegal als junge Demokratien lässt sich das feststellen. Vielmehr wird auf eine profunde differenzierte Institutionalisierung zwischen Staat und Religion gesetzt, also die Voraussetzung, dass beide Institutionen ohne Interaktion bzw. Interdependenz und volle Unabhängigkeit interagieren bzw. coexistieren.12

Somit geht es schließlich um einen strukturellen Prozess, den das autoritäre Algerien tiefgreifend genug und authentisch vollziehen müsste, um sich als junge Demokratie und nicht im Sinne derjenigen von 1962 entwickeln und definieren zu können.

1 Maghreb bedeutet der Ort, an dem die Sonne untergeht, im Gegenteil zu Mashrek, dem Ort, an dem die Sonne aufgeht.

2 Der Fischer Weltalmanach 2004, Sp. 19.

3 Bevölkerungswachstum in Algerien. Laender.info.
Abrufbar unter: https://www.laenderdaten.info/Afrika/Algerien/bevoelkerungswachstum.php Stand 2006. Zugriff: 30.03.07.

4 Deutsch-Algerische Industrie- und Handelskammer Algerien: Algerien.
Abrufbar unter: http://algerien. ahk.de/algerien/
Stand 2014, Zugriff: 15.08.09 und 27.02.14.
Laut dem Nationalen Statistikamt Algeriens wurde die Bevölkerung zum 01.01.08 auf 34,4 Mio. registriert.
http://www.ons.dz/-Population-et-Demographie-.html
Stand: 2012. Zugriff: 15.08.09.

5 Ebd. Sp. 85.

6 Forstner, Martin: Afrika II. Sprachen und Kulturen. In: Informationen zur politischen Bildung 272/2001, Bonn, S.9.

7 Schliephake, Konrad: Afrika II. Prägung durch Klima und Natur. In: Informationen zur politischen Bildung 272/2001, Bonn, S. 4.

8 Elkabach, Jean-Pierre: Interview des Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, Radiosender Europe 1 vom 13. Mai 2007.

9 Zuerst Revolution des Lächelns genannt, dann algerischer Frühling, der aus Rücksicht auf das Regime und ohne Verwendung der Terminologie „Revolution“ schließlich in Hirak bzw. Harak (Bewegung mit sporadischen Demonstrationen) neutral umbenannt wurde.

10 Kienle, Eberhard: Les „Revolutions“ Arabes, Critique internationale Nr. 54. In: Presses de Sciences Po, Januar-März 2012, S. 110.

11 Stepan Alfred/Linz, Juan./.: Democratization theory and the “Arab Spring”. Journal of Democracy, Vol. 24, Number 2. In: National Endowment for Democracy and The Johns Hopkins University Press, 2013, S. 17.

12 Ebd., S. 18.