ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 20:

Die Verdammnis

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

DIE VERDAMMNIS 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 21: LONDON 1666  

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

 

Für einen Menschen mag Verdammnis sich auf vielerlei Art zeigen, und jedes einzelne ihrer Gesichter wäre grauenvoll.

Was aber kann Verdammnis einer Kreatur bedeuten, die zu Lebzeiten selbst das Grauen über die Welt gebracht hat – weit über tausend Jahre lang?

Landru, der einstige Hüter des Lilienkelchs, muss erfahren, in welche Verdammnis ein Wesen seiner Art gestürzt werden muss – und fortan übertrifft sein Dasein jeden seiner schlimmsten Alpträume.

Denn Landru, der Mächtigste unter den Vampiren, wird Mensch!

Und seine erbittertste Feindin Lilith Eden kann triumphieren, denn nun endlich vermag sie ihn mit seinen ureigenen Mitteln zu schlagen!

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter der Blutsauger, mit Gott versöhnt. Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten.

Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst.

Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer.

Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet.

Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und dass das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen.

Eine ähnliche Erfahrung machte auch der Geist von Beth McKinsey, die von Lilith im Korridor der Zeit getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, »erwachte« Beth und wurde auf ein fernes Licht zugezogen – als plötzlich alle Türen aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht Beth im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Ein Inquisitor soll mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch nicht Beth ist das wahre Böse in Prag. Satan streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet er die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg wird. In den Wirren der Geschehnisse – und nach einer Begegnung mit Satan – kann Beth fliehen...

Jenseits des Tores im Monte Cargano erwarten Lilith und Landru eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, die einen Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht; nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren. Auch Landru findet sich in einem fremden Körper – dem des Vampirs Racoon – wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, verderbliche Macht, die in Paris weilt, die dortige Vampirsippe abschlachtet. Und er trifft auf eine Frau, die er aus der Zukunft kennt. Zuletzt sah er sie dort als Tote mit gebrochenem Genick im Korridor der Zeit in Uruk: Beth MacKinsey!

Doch Beth hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren. Landru hilft ihr dabei, sie wiederzuerlangen; vielleicht gelingt es ihnen gemeinsam, den Weg in die Gegenwart zurückzufinden. Doch Beth ist auf der Suche nach Satan, der ihr das Kind geraubt hat! Seine Spur weist nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier vereinen sollen.

In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati – und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt! Warum, kann Lilith noch nicht ergründen. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen. Allein Landru erlebt das Zusammentreffen nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir fast beiläufig. Und Beth sieht ihren Sohn wieder – der in den Diensten Satans zu einem Greis gealtert ist, aber getreulich zu ihm steht.

In einer entweihten Kirche findet das Ritual statt, das die drei Manifestationen vereinen soll. Doch im entscheidenden Moment greifen die Illuminaten ein! Und Salvat entpuppt sich als überirdisches Wesen, das mit einem Flammenschwert Satan schwer verletzt. Er flieht und nimmt Beth mit sich, während deren Sohn – so wie viele Mitglieder der Loge – stirbt. Salvat, ebenfalls verletzt, kann ihm nicht folgen. So verankert er den Auftrag, Satan den entscheidenden Stoß zu versetzen, in Lilith und Tobias, einem jungen Mann, der als einziger Bewohner Heidelbergs dem Einfluss Satans trotzen konnte.

DIE VERDAMMNIS

 

 

 

   Für Wesen, deren Leben nach Jahrtausenden zählt, bleibt der Sensenmann ein Fremder. Zu gering ist seine Bedeutung für jene, deren Augen Ewigkeiten geschaut haben.

Aber auch vieltausendjähriges Leben findet irgendwann sein Ende. Das Privileg, die Gnade solchen Daseins ist nicht gleichbedeutend mit Unsterblichkeit – und im Angesicht des Schnitters mag es schließlich zum Fluch geraten. Denn wer nie einen Gedanken an seine eigene Sterblichkeit verschwendet hat, den trifft der Tod härter als jeden anderen. 

Landru hatte diese für eine Kreatur seiner Art leidvollste Erfahrung gemacht. Und er wusste jetzt, was es hieß, sterblich zu sein.

 

 

Who wants to live forever?

Who dares to live forever?

- Queen

 

 

Aus dem Leib gerissen zu werden, nur noch Geist zu sein – dieser Aspekt des Todes hatte Landru am wenigsten getroffen. Fast empfand er sogar vage Erleichterung darüber. Denn der Körper, den seine Seele eben verlassen hatte, war nicht sein eigener gewesen – und er wäre es wohl auch nie geworden, selbst wenn er noch Jahrhunderte oder gar bis ans Ende aller Zeit darin zu leben gezwungen gewesen wäre.

Racoons Leib war für Landru nicht mehr als eine Hülle gewesen; ein Kerker, in den sein Bewusstsein eingesperrt worden war, nachdem er der Hölle (oder einem Ort wenigstens, der ihm die Hölle bedeutet hatte) entkommen war. Seines eigenen Körpers beraubt, war Landru durch Raum und Zeit geflohen, ohne seinen Fluchtweg bestimmen oder auch nur die Flucht als solche kontrollieren zu können.

Geendet hatte sie schließlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts – in diesem Leib, dessen Fleisch totenkalt war und durch dessen Aderwerk schwarzes Blut kroch1 ; denn Racoon war ein Vampir, der Pariser Sippe zugehörig und einst von Landru selbst »geschaffen«, als er noch das Amt des Kelchhüters bekleidet und lange bevor er das Unheiligtum der Vampire ob seines unendlichen Machthungers verloren hatte. 

Warum es Landrus Seele (oder wie immer man jenen Teil, auf den er reduziert war, nennen wollte) gerade in Racoon verschlagen hatte, wusste er nicht. Dass ein vampirischer Leib zu seiner neuen Heimstatt geworden war, mochte damit zu erklären sein, dass etwas wie eine Anziehungskraft zwischen gleichartigen Wesen bestand. Ein besonderes Verhältnis hatte es zwischen Landru (zu jener Zeit, da er »offiziell« und als Hüter des Grals der Alten Rasse im 17. Jahrhundert gelebt hatte) und Racoon jedoch nicht gegeben; nicht einmal dem Namen nach hatte er ihn gekannt. Wie auch? In seiner tausendjährigen Amtszeit als Verwalter des Unheiligtums hatte er unzählige Menschenkinder mit dem Lilienkelch getauft. Sich an einzelne von ihnen zu erinnern, war selbst Landru nicht möglich.

Andererseits – es zählte auch nicht, weshalb er in Racoon eingefahren war und dessen Bewusstsein vertrieben oder gar vernichtet hatte. Der Leib dieses Vampirs war so gut wie jeder andere gewesen – oder vielmehr: ebenso schlecht... 

Egal. Denn nun war Landru des fremden Leibes ledig. Aber um welchen Preis!

Landrus Sterben war von Beginn an grauenvoll gewesen.

Angefangen hatte es vor den Toren von Paris. Dorthin war er mit Beth MacKinsey gereist, die den Entführer ihres Sohnes gesucht hatte. Und eben jener, dessen Spur sie gefolgt waren, war Landru zum Verhängnis geworden. Denn die pestilenzartige Aura dieses Anderen war schlimmstes Gift für jeden Vampir. 

Seine bloße Nähe hatte Landru schon wahre Höllenqualen bereitet. Seine Gegenwart hatte ihn schließlich an den Rand des Todes getrieben. Und dann – seine Stimme, nur ein stinkender Hauch an Landrus Ohr...

»Um dich kümmere ich mich später – um deine Hülle gleich. Fahr zur Hölle...! « 

Landru hatte nicht mehr mitbekommen, wie es geschehen war; nur dass es geschehen war, stand außer Zweifel. 

Der andere (Wer war er? Wer oder was konnte er sein – mit all dieser gewaltigen Macht, über die er gebot?) hatte Racoons Körper vernichtet, und Landru – 

fuhr zur Hölle! 

 

 

Es war ungefähr so, als würde Landru mit Urgewalt in einen eruptierenden Vulkan gesogen, hinein in glutflüssig aufbrodelndes Gestein und alle Vorstellung sprengende Hitze.

Der Vergleich hinkte lediglich in einer Hinsicht – die Realität war hundertfach schlimmer!

Landru wurde verschlungen von einem kochenden Mahlstrom, ohne dass er irgendetwas von dem wahrgenommen hätte, was um ihn herum vorging. Denn er war ohne Körper und mithin blind und taub. Nur zu fühlen war ihm noch gestattet – und eben darin bestand die Folter!

So also stirbt ein Wesen meiner Art!, schrie es in Landrus nacktem Bewusstsein; nur ein Gedanke, aber auch er schmerzte, als wäre er ein lebender Teil seines Selbst, der von glühenden Zähnen und Krallen zerfetzt wurde. 

Vielleicht, brüllte es in ihm weiter, ist diese Art des Todes der Fluch meiner Rasse, der Preis, den wir für ewigkeitslanges Leben zu zollen haben? Das Leid, das wir über die Welt gebracht haben, holt uns im Sterben ein! Was wir in unzähligen Jahren an Grauen gesät haben, wird uns selbst im Tode zuteil – geballt, auf einen Schlag...! 

Trotzdem Landrus Empfinden längst nicht mehr über Nerven lief, war ihm, als träfen Hiebe mit feurigen Prügeln jeden einzelnen davon. Die Wucht der scheinbaren (und doch so wirklichen!) Schläge trieb ihn zusätzlich zu der Macht des Soges vorwärts (Vorwärts? Hier gab es weder vor noch zurück, kein Oben und Unten – dieser Ort war ohne jede Grenze, er war immer und überall!). 

Und doch war es irgendwann vorbei.

Das Echo des Schmerzes hallte jedoch noch lange in Landrus Bewusstsein nach, wob es ein wie in einen glühenden, sich bewegenden und windenden Balg, aus dem sich zu befreien ihm die Kraft fehlte und von dem ihm die eigenen stummen Schreie wieder und wieder entgegengeschleudert wurden.

Irgendwann verebbten die Schmerzen, und Landrus Brüllen ging über in leidvolles Stöhnen und Wimmern. Niemand, der Landru kannte, würde geglaubt haben, dass er zu solchen Lauten auch nur fähig wäre.

Die Taubheit seiner Sinne klang ab.

Und mit ihr auch – der Tod selbst...?

War es etwa so, dass der Tod lediglich das Ende des Lebens als solches bedeutete, und begann danach – etwas anderes? Das eben, was den Menschen als »Leben nach dem Tode« galt? Wie musste sich ein solches »jenseitiges Leben« für ein Wesen von Landrus Unnatur darstellen? Konnte es dafür ein anderes Wort geben als – Verdammnis?

Landru hatte jedenfalls das Empfinden, als wäre er an einem wie auch immer gearteten Ziel angelangt, ohne es indes sehen zu können.

Nur eines registrierte er: Still war es nicht um ihn her.

Vielleicht waren die Stimmen schon länger zu ihm gedrungen, ohne dass er sie über seinem eigenen Brüllen hatte hören können. Vielleicht war es auch Zufall, dass ihr Aufklingen mit seinem allmählichen Verstummen zusammenfiel...

Landru verfolgte den Gedanken nicht weiter; nicht nur, weil die Überlegung als solche müßig war, sondern vor allem weil die Stimmen –

ihm vertraut schienen. 

Als würde er sie kennen. Und mehr noch: Sie rührten an etwas in ihm, das unter dieser Berührung – erwachte...

Erinnerung...?

»Wer bist du? Sollst du mir den Kelch übergeben?«

Die Stimme einer Frau, erkannte Landru und verbesserte sich noch im selben Gedanken: Nein, nicht die Stimme einer Frau, sondern... der Frau! 

Die nach wie vor glühende Hitze seines neuerlichen Gefängnisses schlug übergangslos um in beißende Kälte, als er die Stimme erkannte.

»Was ist dann dein Begehr?«, fragte die Stimme nun nach kurzer Pause weiter. 

Ein Mann antwortete ihr. Und sein Organ trieb die frostumhüllten Zähne und Klauen mit einem gewaltigen Ruck unendlich tief hinein in Landrus Seele.

»Bist du der neue Hüter?«, wollte der andere wissen. 

Der andere! Landru hätte aufgelacht, wäre es ihm nur irgendwie möglich gewesen. 

»Ich bin der Hüter...«, erwiderte sie. 

»Ich war der Hüter«, entgegnete – 

Landrus eigene Stimme...! 

 

 

Was Landrus Geist einhüllte wie ein Kokon gefrorenen Entsetzens, begann sich zu verändern. Es wurde tatsächlich zu einer Art Eis, rissig und von so grimmiger Kälte erfüllt, dass der Schmerz keinen Körper brauchte, um sich bemerkbar zu machen. Er nutzte Gedanken zum Fortkommen und ließ sich tief in Landrus Wahrnehmungsvermögen hineintragen.

Die bislang nur imaginäre Hülle schien zu materialisieren, wurde stofflich, und es geschah auf jene Weise, wie Eisblumen aus Frost und Raureif einen starren Gegenstand umwucherten. Und auf eine Art, die aller Natur hohnsprach, verband sich dieses wachsende Etwas mit Landrus Bewusstsein; in der Tat ganz so, als knüpften Hunderte oder gar Tausende von winzigen, aber eiskalten Händen Geist und Körper an ebenso vielen Punkten aneinander.

Obwohl Landru in seinem beinahe ewigen Leben nie etwas auch nur annähernd Qualvolles widerfahren war, gelang es ihm, die damit einhergehenden Schmerzen zu ignorieren. Zum einen, um sich vor dem Wahnsinn zu schützen, zum anderen, weil das, was er außerdem noch wahrnahm, ihn ablenkte und alles Leiden überwog.

Hatten die Stimmen und vor allem die Worte, die sie sprachen, in den ersten Momenten noch Schrecken in ihm geweckt, so schlug das Gefühl nun um. Es verkehrte sich fast ins Gegenteil, wurde erst zu vager Hoffnung, und dann, als ihm die Tragweite des Ganzen allmählich zu Bewusstsein kam, zu Euphorie.

Landru hegte keinen Zweifel mehr an der Identität der Stimmen. Die eine war seine eigene, die andere die –

Felidaes! Die Stimme der Kelchdiebin! 

Und die Worte, die beide miteinander wechselten, waren einst gesprochen worden zu der wohl dunkelsten Stunde in der Geschichte der Alten Rasse – im Dunklen Dom, tief im steinernen Leib des Berges Ararat, wo die Heimstatt der Hüter lag... 

andereanderegehörte»Du bist nicht der nächste Hüter!«