Das Buch

In diesen Studien geht es zunächst um die selbstgewählte Verantwortung des Intellektuellen, der im Namen der Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit Mißstände in Politik und Gesellschaft kritisiert. Zweitens wird Adornos Erklärung beschrieben, warum im letzten Jahrhundert der Geist durchweg links stand, vor allem aber seine Theorie der subjektiven Erfahrung in der verwalteten Welt. Im Mittelpunkt steht jedoch das heikle Problem, ob Heideggers ethische Skepsis gerechtfertigt ist. Er hat zwar die ethischen Begriffe der Entscheidung und Verantwortung mustergültig analysiert, bestreitet aber, daß die Philosophie eine normative Ethik begründen könne. In diesem Kontext wird gefragt, ob es Hans Jonas gelungen ist, seine Theorie der Verantwortung plausibel zu begründen. Zum Schluß folgen, im Anschluß an Thomas Nagel, Reflexionen über ein modernes Weltbild und die Stelle, die eine Ethik darin finden könnte.

Der Autor

Josef Quack, Jg. 1944, Dr. phil., Publikationen:

Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus. 1976.

Die fragwürdige Identifikation. Studien zur Literatur. 1991.

Künstlerische Selbsterkenntnis. Über E.T.A Hoffmann. 1993.

Wolfgang Koeppen, Erzähler der Zeit. 1997.

Die Grenzen des Menschlichen. Über Simenon & Co. 2000.

Geschichtsroman und Geschichtskritik. Döblins „Wallenstein“. 2004.

Diskurs der Redlichkeit. Döblins „Hamlet“. 2011.

Wenn das Denken feiert. Philosophische Rezensionen. 2013.

Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert. 2014.

Über das authentische Selbstbild. Zum Tagebuch. .2016.

Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit .2017.

Lehrjahre in St. Wendel und St. Augustin. 2018.

Über Simenons traurige Geschichten. 2019.

(www.j-quack.homepage.t-online.de)

Josef Quack

Über das Ethos von Intellektuellen

Philosophische Aufsätze

Inhalt

Vorbemerkung

I. Zum Selbstverständnis von Intellektuellen

Status

Verrat

Elite

Verantwortung

II. Der Intellektuelle im Exil.

Über Adornos Minima Moralia

1. Biographisches

2. Aphoristisches Denken

3. Sachliche Einwände

4. Die Moral der Minima Moralia

5. Intellektuelle im Exil

6. Begriff des Nichtidentischen

7. Subjektive Erfahrung

8. Fazit

III. Über Heideggers ethische Skepsis

1. Begriff der Person

2. Man vs. eigentliches Selbst

3. Gewissen und Schuld

4. Entschlossenheit

5. Werte

6. Verbindlichkeit und Freiheit

7. Sein und Sollen

8. Zeitkritik

9. Zum Begriff des Seins

9.1 Sinn von „sein“

9.2 Die metaphysische Frage

9.3 Seyn vs. Sein

9.4 Seyn vs. Gott

9.5 Das „ausgezeichnete Seiende“

9.6 Normatives Seinsverständnis

10. Resümee

IV. Zur Begründung der Ethik bei Hans Jonas

1. Alternative Ansätze

2. Der metaphysische Ansatz

3. Sein und Sollen

4. Verantwortung

5. Zur Rezeption

6. Fazit

V. Probleme eines modernen Weltbildes

Begriff des Weltbildes

1. Nagels Entwurf

1.1 Einwände gegen andere Theorien

1.11 Materialismus

1.12 Dualismus

1.13 Theismus

1.14 Panpsychismus

1.2 Das teleologische Weltbild

1.3 Diskussion

1.31 Begriff der Teleologie

1.32 Ordnung der Natur

1.33 Wertbegriff

2. Zusätze

2.1 Die Hauptfrage der Philosophie

2.11 Natura naturans

2.12 Sein vs. Nichts

2.2 „Kosmologische Gedankenspiele“

2.21 Hawkings Überlegungen

2.22 Zur Stringtheorie

2.3 Wissenschaftliche Aussagen vs. Glaubensaussagen

2.31 Wahrheiten der Vernunft

2.32 Wahrheit des Glaubens

2.33 Metaphysische Theorien in der Kosmologie

2.34 Eccles über den Ursprung des Selbst

3. Zum Schluß

Literatur

Vorbemerkung

Die folgenden Aufsätze beleuchten verschiedene Aspekte der Verantwortung, die man den Intellektuellen zuschreiben kann oder vielmehr zuschreiben muß. Zunächst erörtere ich das merkwürdige Phänomen, daß sich das Klischee vom verantwortungslosen Intellektuellen in geänderter verbalen Form bis heute erhalten hat, und ich bespreche aus unserer Zeit drei Beispiele eines unbestreitbaren Verrats von Intellektuellen, was dem Ansehen dieser gesellschaftlichen Spezies, die sich gerne als Elite betrachtet, gewiß nicht gedient hat (I.).

Die Studie über Adorno, die zuerst in „Exil“ (33.2013.Nr.1) erschienen ist, habe ich in erweiterter Form aufgenommen, weil Adorno auf seine Art Status und Funktion des Intellektuellen in der modernen Gesellschaft vorzüglich beschrieben hat. Er hat auch plausibel gezeigt, warum viele, wenn nicht die meisten Intellektuellen der Zwischenkriegszeit und des Nachkriegs politisch links ausgerichtet waren und mit dem Sozialismus in all seinen Spielarten sympathisierten. Erwähnt wird auch die Kernthese seiner Philosophie, ein Problem, das er erst als solches erkannt hat, die Frage, ob in einer total verwalteten Gesellschaft unreglementierte, wahre subjektive Erfahrung noch möglich ist (II.).

Verantwortung ist eine Grundkategorie der Ethik, sie setzt eine als allgemeingültig anerkannte Moral voraus. Nun hat aber Heidegger vielfach Kritik an der philosophischen Ethik geübt. Er hat zwar den Begriff der Entscheidung, der im Zentrum jeder Ethik steht, in formaler Hinsicht scharfsinnig beschrieben, jedoch bezweifelt, daß sich die Verbindlichkeit moralischer Normen philosophisch begründen läßt. Außerdem hat er die begrifflich unklare, zweideutige und zwielichtige Rede von Werten im ethischen Kontext als philosophisch inakzeptabel destruiert. Deshalb kann man an seiner Kritik nicht vorbeigehen, wenn man heute Probleme einer philosophischen Ethik diskutiert.

Da seine Ablehnung einer normativen philosophischen Ethik letztlich auf seinem Seinsverständnis beruht, konnte ich nicht umhin, den kryptischen Begriff des Seins seiner esoterischen Spätphilosophie wenigstens in Umrissen zu beschreiben. Ich hoffe, daß diese Interpretation verständlich ausgefallen ist und seinen Denkansatz, soweit er überhaupt verständlich ist, richtig wiedergibt. Die Erörterung seiner Gedanken zur Ethik bildet in jeder Hinsicht den Mittelpunkt dieser Aufsatzsammlung.

Heideggers Votum für Hitler 1933 war sein persönlicher Fehler. Die Frage jedoch, ob seine ethische Skepsis begründet ist, ist eine eminent wichtige Sache von allgemeiner Bedeutung (III.).

Die Theorie der Verantwortung von Hans Jonas habe ich untersucht, weil sie wegen des darin behandelten Zukunftsaspekt die ethische Theorie ist, die in der politischen Öffentlichkeit die größte Zustimmung gefunden hat. Dies aber ist umso merkwürdiger, als seine ethische Theorie außerordentlich komplex und seine Darstellung alles andere als leicht verständlich ist; nach meiner Meinung ist manches wenig überzeugend, und man muß fragen, ob es ihm gelungen ist, den moralischen Begriff der Verantwortung adäquat zu beschreiben und rational zu begründen (IV.).

Sowohl bei Adorno wie bei Heidegger und Jonas ist evident, daß ihre Überlegungen zur Ethik auf die Voraussetzungen einer Philosophie oder einer Weltanschauung bezogen sind. So war es naheliegend, in diese Sammlung auch den Aufsatz über Thomas Nagel aufzunehmen, über eine Skizze der Weltanschauung, in der auch Argumente der Ethik eine Rolle spielen. Mir scheint es aber signifikant für die philosophische Ethik heute zu sein, daß Nagels ethische Aussagen die schwächsten Argumente in seinem Weltbild sind. Seine Studie ist jedoch deshalb bemerkenswert, weil er einer der wenigen Philosophen unserer Tage ist, der es überhaupt unternommen hat, die Welt im ganzen zu beschreiben. In meinen Augen ist dies die wichtigste Aufgabe, die ein Philosoph seiner Zeit schuldig ist. Ich habe wenigstens anzudeuten versucht, welche philosophischen und physikalischen Probleme mit einem modernen Weltbild verbunden sind. (V.).

I. Zum Selbstverständnis von Intellektuellen

The intellectuals are nothing to lose but their brains.

A. HUXLEY

Vor einigen Jahren erschien eine soziologische Studie über die deutsche Theaterszene, in der die Landestheater und die Städtischen Bühnen in mancher Hinsicht schlechter wegkamen als die freien Theater. Darauf antwortete der Intendant eines Stadttheaters mit dem Vorwurf, die Studie sei von selbsternannten Kritikern erstellt worden.

An diesem Vorwurf ist zweierlei bemerkenswert: erstens die Vorstellung, daß man zu einer öffentlichen Kritik in gesellschaftlichen Belangen behördlich oder amtlich autorisiert sein müsse, und zweitens, daß der Vorwurf von einem Funktionär, der im Auftrag einer Stadt eine Bühne leitet, erhoben wurde, eines Mannes, dem ein Amt mit weitreichenden Befugnissen übertragen wurde, und mancher Intendant ist bis heute für seine autoritäre Einstellung bekannt. So war noch in jüngster Zeit von einem Intendanten die Rede, der seine Schauspieler anzuschreien pflegt und einem Theaterkritiker den Zutritt zum Schauspielhaus verbot (SZ 6.8.16).

In jenem Vorwurf kommt eine Mentalität zum Ausdruck, die letztlich auf den Untertanengeist, das Denken in obrigkeitsstaatlichen Begriffen zurückgeht, und diese Einstellung hat eine lange Tradition in Deutschland. So berichtet Ernst Jünger am 5. Januar 1948, daß sein Bruder auf ein Amt zitiert und „von einem dort residierenden Eunuchen nach seinem Arbeitgeber gefragt wurde. Auf seine Antwort, er sei selbständig, kam die Frage: Ja, haben Sie denn die Erlaubnis dazu?‘“

Jener Vorwurf traf seinerzeit, im März 1976, auch Alfred Andersch, als er in seinem berühmten Gedicht „artikel 3(3)“ die Folgen des Radikalenerlasses, der einem Berufsverbot für einige hunderttausend Bewerber gleichkam, anprangerte. Der Fernsehdirektor verbot zunächst die Ausstrahlung des Gedichts und löste damit eine heftige öffentliche Diskussion aus, in der es auch um die Frage ging, ob dieses Verbot gerechtfertigt sei. Darauf antwortete Kurt Sontheimer, Professor für Politologie, Beamter auf Lebenszeit: „Soll der Steuerzahler denn ein Heer von selbsternannten oder selbststilisierten Schriftstellern und Intellektuellen wirtschaftlich absichern, die für ihre Produktionen keinen Abnehmer finden?“ Dem entgegnete Dieter Biallas, Kultur-Senator von Hamburg: „Grobschlächtige Vereinfachungen à la Sontheimer sind wohl nur möglich aus der Position eines Publizisten, dem die Freiheit des Hochschullehrers bis an die Grenze der Narretei soziale Gewißheit ist.“ (Haffmans 1979, 392f.). – Übrigens konnte Andersch mit seiner Intervention einen Erfolg verbuchen. Er hat das Gedicht im Januar 1976 veröffentlicht, es führte zu einer öffentlichen Debatte mit dem Ergebnis, daß die Bundesregierung im Mai des gleichen Jahres den Radikalenerlaß zurückzog (l.c. 401).

„Selbsternannt“ ist ein Prädikat, das meist im pejorativen Sinne verwendet wird, um die Selbständigkeit und Eigeninitiative der Handelnden zu diffamieren und zu verurteilen. Das Klischee ist heute in der Öffentlichkeit weit verbreitet; es wundert aber nicht, daß es gerade von Angestellten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, einer quasi-staatlichen, den Hörer und Zuschauer bevormundenden, autoritären Institution, gerne gebraucht wird. So scheint es zur Sprachgewohnheit oder zur Sprachregelung zu gehören, vom „selbsternannten Islamischen Staat“ zu reden (DLF 10.4.15, 19.10h; 31.8.18, 12.45h). Man fragt sich, von wem diese kriegerischen Fundamentalisten denn die Legitimation für ihr terroristisches Vorgehen hätten erhalten können. Der gedankenlos gebrauchte Ausdruck verrät, daß die Sprecher kaum eine Ahnung von politischen Aktionen haben.

Im gleichen Sender war auch öfter von der „selbsternannten Bürgerbewegung“ Pegida die Rede – als sei es nicht das Wesen einer Bürgerbewegung, daß sie sich der Obrigkeit widersetzt und sich selbständig, ohne deren Erlaubnis, konstituiert (DLF 19.2.15, 19.25h). Ein andermal sprach man von den „selbsternannten Patrioten“ bei Pegida – als müßte die patriotische Einstellung staatlich sanktioniert werden (DLF 20.10.15, 12.20h). Die Wortwahl zeigt eine Ignoranz in Staatsbürgerkunde, die man bei politischen Redakteuren nicht für möglich gehalten hätte.

Leider aber ist der Gebrauch des Klischees nicht auf die öffentlich-rechtlichen Medien beschränkt. Rolf Wiggershaus spricht von den „selbst ernannten Adorno-Jüngern“, die seinerzeit verhindert haben, daß Leszek Kolakowski nach Frankfurt berufen wurde (UniReport 11.7.19, S.5). Indem er das fragliche Prädikat metaphorisch gemeinten Jüngern, religiös motivierten und berufenen Anhängern einer religiösen Leitperson, zuschreibt, verurteilt er die Adorno-Anhänger in einem doppelten Sinne: als nicht legitimierte Anhänger, die Adorno eine quasi-religiöse Autorität zusprachen.

Im Spiegel (46/2014, S. 156) konnte man von der „selbsternannten Kirche“ des Ron Hubbard lesen, als brauche ein Sektengründer die staatliche Erlaubnis für sein religiöses Vorhaben. Dann wurden wissenschaftliche Fachleute für ein Spezialgebiet als „selbst ernannte Experten“ bezeichnet, als werde das Expertentum eines Wissenschaftler nicht allein durch seine wissenschaftliche Leistung begründet (l.c. 17/2018, S.114). Wenn in der FAZ (5.5.2018, S.3) Nordzypern ein „selbsternannter Staat“ genannt wird, zeigt sich auch hier ein Mangel an politischer Bildung, weil mit dem Ausdruck die Frage nach den Ursachen der Entstehung dieses kleinen Staates bewußt ausgeblendet wird. Wenn dagegen Markus Wolf die Kritiker, die die Abhörpraxis seiner Auslandsspionage verurteilten, als „selbsternannte Moralwächter“ bezeichnet, verwendet er bewußt ein Klischee, um die politische Ahnungslosigkeit und Blauäugigkeit seiner Kritiker seinerseits zu kritisieren (Spionagechef im geheimen Krieg, 2002, 349). Töricht ist dagegen wiederum die vorwurfsvolle Rede von „selbsternannten Antifaschisten“ (FAZ 2.11.2019, S.70), weil Antifaschismus nun mal eine politische Einstellung ist, die man selbst wählen muß.

Doch gibt es auch einen neutralen Gebrauch des Prädikats. So nennt Golo Mann Rußland vor dem Ersten Weltkrieg den „selbsternannten Schutzpatron aller Slawen“, um die Motive Rußlands in den Konflikten jener Jahre zu erklären – eine objektive, aufschlußreiche Beschreibung einer machtpolitischen Konstellation (Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1966, 574). Hier kann man natürlich fragen, ob Rußland für seine Rolle nicht die Zustimmung aller slawischen Staaten gebraucht hätte; tatsächlich wurde sein Anspruch von den meisten Slawen anerkannt. Entscheidend ist jedoch, daß es diese Rolle nur selbst wählen konnte.

Sinnvoll und nicht klischeehaft ist auch das verächtlich gemeinte Wort Erwin Wickerts über „selbsternannte Eliten“ (Wickert 1992, 255). Er meint damit Menschen, die sich zur Elite zählen, ohne die dafür notwendige Bedingung einer außergewöhnlichen Leistung erfüllt zu haben. Darüber später mehr.

Status

Genau genommen, ist „selbsternannt“ nun aber ein Prädikat, das die spezifische Differenz angibt, durch die sich Intellektuelle vor anderen gesellschaftlichen Gruppen auszeichnen. Sie haben ihre Aufgabe und öffentliche Verantwortung selbst gewählt, sie reden und schreiben „ohne Auftrag“, wie der treffende Titel eines Buches von Walter Dirks lautet, der selbst ein herausragender Intellektueller des Nachkriegs war. Meist freiberuflich tätig, sind sie geistig unabhängig, wobei man durchaus an das Wort Friedrich Torbergs denken kann, der einmal von jener geistigen Unabhängigkeit sprach, „die man in der Regel nur bei den sehr Reichen oder den sehr Armen antrifft“ (Die Tante Jolesch, 1999, 139).

Wie Julien Benda in seinem Standardwerk Der Verrat der Intellektuellen dargelegt hat, sind Intellektuelle Menschen, deren Tätigkeit nicht unmittelbar praktischen Interessen dient: Philosophen, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Menschen, die abstrakten Idealen wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit der Person verpflichtet sind und im Namen der universalen Moral der Menschlichkeit die Mißstände in Politik und Gesellschaft kritisieren. Ein Intellektueller vertritt keine gruppenspezifische Interessen, sondern die Interessen der Allgemeinheit, er ist ein „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ und sein Herz schlägt für die Menschlichkeit, wie Marquis Posa im „Don Carlos“ sagt (VV.157, 167). Er begeht laut Benda Verrat an seiner Aufgabe, wenn er sich unmittelbar politischen Leidenschaften unterwirft, sein Denken den Zielen des Nationalismus oder des Kommunismus widmet, den beiden vorherrschenden Ideologien des letzten Jahrhunderts.

Was die öffentliche Tätigkeit des Intellektuellen angeht, so kann man zwei Aufgaben unterscheiden: die Kritik gesellschaftlicher, kultureller, politischer Mißstände im Namen humaner Ideale, vor allem der Gerechtigkeit, und zweitens die grundsätzliche Kritik der öffentlichen Diskussion im Namen der Wahrheit. Kraft ihrer geistigen Kompetenz haben sie dafür zu sorgen, daß es im öffentlichen Diskurs vernünftig zugeht, Vorurteile aufgedeckt und der Wahrheit zur Geltung verholfen wird.

Hier wäre an die ethischen Prinzipien zu erinnern, die, wie Karl Popper nachgewiesen hat, jeder rationalen Diskussion zugrunde liegen. Gemeint ist eine Diskussion, in der es um die Wahrheitssuche geht: 1. das Prinzip der Fehlbarkeit, 2. das Prinzip der vernünftigen Diskussion, der unpersönlichen, sachlichen Argumentation, 3. das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit, der man in einer sachlichen Diskussion näher kommt oder die man besser versteht. Diese Überlegung ist insofern aufschlußreich, als sie zeigt, daß der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst ethische Prinzipien inhärent sind, daß die „Idee der Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip“ selbst ein ethisches Prinzip ist (Popper 1995, 225f.).

Was die deutsche Öffentlichkeit des Nachkriegs angeht, so haben tatsächlich einige Philosophen und Publizisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Klärung der politisch-moralischen Situation der Zeit geleistet, einen Beitrag zum richtigen Verständnis grundlegender Begriffe, um die aktuelle Lage richtig einzuschätzen. So hat Karl Jaspers in „Die Schuldfrage“ (1946) sozusagen ein für allemal geklärt, daß es zwar eine politische Haftung eines Staates gibt, aber keine kriminelle, keine moralische und keine metaphysische Schuld des ganzen Volkes, sondern nur eine individuelle Schuld dieser Art geben könne. Dies war als Antwort auf die These der Siegermächte von der Kollektivschuld der Deutschen gedacht. Ähnlich wie Jaspers dachten und schrieben in dem gleichen Jahr Eugen Kogon und Alfred Döblin. Beide ließen nur eine individuelle Schuld gelten, wofür Döblin die glänzende aphoristische Formel fand: „Moral existiert nur im Singular“ (KS 4,194). Dieses Prinzip ist natürlich nichts anderes als das Grundprinzip der Ethik der Aufklärung und der christlichen Moral, die sich dadurch von einer archaischen Moral der Blutrache und der Sippenhaftung unterscheidet. Wenn bis heute manche Menschen von der Kollektivschuld der Deutschen oder eines anderen Volkes sprechen, regredieren sie geistig auf die Stufe einer archaischen Moral oder, wie Ludwig Marcuse mahnt: „Wer von der Kollektivschuld beunruhigt ist, hat mehr Hitler in sich, als er ahnte. Ich habe über dem bequemen Wort ‚Deutsches Volk‘ nie vergessen, daß es achtzig Millionen gab; ich will nicht, daß man mich zugunsten irgendeines Abstraktum übersieht – und tue es anderen nicht an.“ Auch erinnert er daran, daß die Völker-Psychologie, die der These von der Kollektivschuld zugrundeliegt, aus der Kriegspropaganda entstanden sei und allgemeine Einsichten vortäusche, die nur sehr partikulär seien (Mein zwanzigstes Jahrhundert 1968, 304). Die gleiche Bedeutung wie die Schrift Jaspers über die Schuldfrage hat der epochemachende, unvermindert aktuelle Aufsatz Eugen Kogons über das „Recht auf politischen Irrtum“, in dem es um die gerechte Beurteilung der Anhänger und Mitläufer des Nationalsozialismus geht, das Problem aber grundsätzlich geklärt wird (Frankfurter Hefte 1947). In diesem Zusammenhang muß man auch die im Hinblick auf die NS-Verbrechen irritierende Behauptung von der „Banalität des Bösen“ erwähnen, die Hannah Arendt aufgestellt hat, um die blasse, gänzlich undämonische Durchschnittlichkeit Eichmanns zu bezeichnen, eine Formel, die bis heute zu einem gedankenlos nachgesprochenen Klischee der öffentlichen Rede geworden ist. Dem hat Jean Améry aus eigener Erfahrung, in Erinnerung an die Folter und die Qual der Monate in Auschwitz, entschieden widersprochen: „Wo ein Ereignis uns bis zum äußersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annähernde Einbildungskraft“ (Améry 1977, 52). Améry, einem tonangebenden Publizisten der siebziger Jahre, kommt auch das Verdienst zu, die Stellung des Linksintellektuellen in diesen politisch bewegten Jahren scharfsinnig analysiert und selbstkritisch überdacht zu haben.

Wenn von den bleibenden Leistungen der Intellektuellen des Nachkriegs die Rede ist, so darf man keineswegs Poppers Schrift über die „offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (dt. 1957) vergessen, die Theorie der Gesellschaft der westlichen Demokratie, das politische Credo des Westens, das in der Zeit des Ost-West-Konflikts die stärkste Resonanz fand.

Lebhaft diskutiert wurde auch der Beitrag von Jaspers über „Freiheit und Wiedervereinigung“ (1960), in dem er die überzeugende These vertrat, daß die politische Freiheit ein unabdingbares Ideal, während die Wiedervereinigung Deutschlands demgegenüber aber ein zweitrangiges Ziel sei. Aus dieser richtigen Prämisse folgerte er aber die keineswegs zwingende Maxime der praktischen Politik, „wir sollten auf die Wiedervereinigung von Bundesrepublik und Sowjetzone verzichten unter der Voraussetzung, daß die politische Freiheit der Deutschen in der Zone gewonnen würde“ (Jaspers 1963, 171). In einer Diskussion mit Rudolf Augstein verschärfte er seine Behauptung zu der moralisch begründeten These, „die Bundesrepublik müsse, um ihre hitlerische Vergangenheit zu sühnen, auf die Wiedervereinigung verzichten“ (zit. Wickert 1992, 264). Es ist offensichtlich, daß Jaspers in diesem Ansinnen entgegen seiner früheren Klärung die These von der moralischen Kollektivschuld der Deutschen an den NS-Verbrechen als richtig voraussetzt, und fatalerweise haben dann einige Intellektuelle, als die Wiedervereinigung wider alles Erwarten auf die politische Tagesordnung kam, dieses falsche moralische Argument übernommen, um gegen die Einheit Deutschlands zu votieren.

Wenn von den bleibenden Leistungen der deutschen Intellektuellen in den Nachkriegsjahren die Rede ist, muß man auch die Kritik Adornos an der Kulturindustrie nennen, Adornos wichtigste Gedanken, die die Studentenbewegung stark beeinflußt haben. Daß heute seine kulturkritischen Einsichten in der Diskussion über die Medien praktisch vergessen sind, verweist auf ein empfindliches Manko des intellektuellen Diskurses unserer Tage. Monatszeitschriften, einst das bevorzugte Publikationsorgan der Intellektuellen, nun als akademisch geprägte Schriften bedeutungslos geworden, verzichten heute programmatisch auf jede Kulturkritik, eine überaus klägliche Einstellung, die man nur bedauern kann.

Schließlich sei noch die Theorie der Verantwortung von Hans Jonas genannt, die wohl einflußreichste Ethik der Zeit, eine Antwort auf die ökologische Risiken der Zukunft. Weniger wirkungsvoll, aber doch verdienstlich war das unbeirrte Plädoyer von Jürgen Habermas, einem Kritiker der Idee des Nationalstaats, für die demokratische Gestaltung der Europäischen Union, um die politische Teilhabe der Bürger an der europäischen Politik zu sichern.

Verrat

Das Diktum von Jaspers gegen die Wiedervereinigung ist das Beispiel einer Moralisierung der Politik im pejorativen Sinn, die Anwendung einer moralischen Norm auf einen falschen Gegenstand, der Mißbrauch der ethischen Kompetenz eines Intellektuellen. Eben die unpassende moralische Beurteilung einer politischen Situation war auch das Thema einer Kontroverse zwischen Hermann Kesten und Uwe Johnson. Der Streit erregte damals einiges Aufsehen, auch haben wir hier den eklatanten Fall des Verrats eines Intellektuellen im Sinne Bendas vor uns. In einer Diskussion in Mailand im November 1961 hatte Johnson erklärt, beim Bau der Mauer hätten die ostdeutschen Kommunisten nicht die Absicht gehabt, „unmoralisch zu handeln“. Auch hat er sich dagegen ausgesprochen, daß Kesten die Geschichte moralisch beurteilt und behauptet, „der Kommunismus wäre immoralisch“ (Begleitumstände 1980, 216f.). Dabei dürfte schon in den sechziger Jahren, nach der Erfahrung des Stalinismus und der Unterdrückung im Ostblock, klar gewesen sein, daß sowohl die Praxis als auch die Doktrin des Kommunismus unmoralisch war. Die Doktrin war es, weil sie keine autonome Ethik anerkannte, sondern das moralische Verhalten den Zielen des politischen Kampfes, der Diktatur des Proletariats, unterordnete. Kurzum, die kommunistische Doktrin kannte keine unbedingte Achtung der Menschenrechte, was Kesten richtig erkannt und immer angeprangert hatte. Heute ist es uns unverständlich, wie Johnson implizit behaupten konnte, die Verantwortlichen für den Bau der Berliner Mauer hätten in ihrem Sinne nicht moralisch verwerflich gehandelt, und wie er meinen konnte, man dürfe den Kommunismus nicht moralisch verurteilen.

Das zweite Beispiel stammt aus dem Jahr 1980, wo ein Sekretär des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands dem „Genossen Pol Pot“ ein Grußtelegramm schickte und sich mit ihm solidarisch erklärte (E. Wickert, 3.3.2001, an J. Fischer). Ein eindeutiger, skandalöser Fall eines Verrats eines Intellektuellen. Dieser Mann wurde später in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes übernommen, wogegen Erwin Wickert scharf protestierte und mit Recht feststellte, daß das Bekenntnis zu Pol Pot keineswegs als politischer Irrtum zu betrachten sei. Darauf erwiderte Fischer, bei dem Mann liege eine „glaubhafte Wandlung zum Demokraten“ vor: „Ich bin sicher, daß das Recht, politische Auffassungen zu ändern, gerade auch in Ihrer Generation vielfach in Anspruch genommen wurde“ (13.3.2001 an E. Wickert).

Was ist falsch an Fischers Rechtfertigung? Er spielt auf die Diplomaten aus dem Dritten Reich an, die später in gleicher Funktion als neubekehrte Demokraten in der Bundesrepublik tätig waren. Gerade die Erfahrung des Hitler-Regimes hätte aber die Nachgeborenen lehren sollen, daß man sich niemals mit Massenmördern wie Pol Pot solidarisch erklären dürfe. Ein wichtiger Impuls der Studentenbewegung war doch auch der Vorwurf an die Eltern-Generation, daß sie die NS-Vergangenheit nicht recht aufgearbeitet habe. Weniger bedeutsam ist der pragmatische Grund, daß man nach dem Krieg auf die früheren Berufsdiplomaten angewiesen war, während 2001 keine Notwendigkeit bestand, einen ehemaligen Stalinisten, der mit dem Verursacher eines Genozids sympathisiert hatte, in das Außenministerium aufzunehmen.

Einen Verrat von Intellektuellen müßte man auch die Medienkampagne gegen Christian Wulff 2011/12 nennen – vorausgesetzt allerdings, daß es überhaupt statthaft wäre, Redakteure der Boulevardpresse, ihre Kollaborateure und Nachsprecher in den anderen Medien als Intellektuelle zu bezeichnen, sind doch mit diesem Ehrentitel gewiß nicht Weisungsempfänger von Pressekonzernen gemeint, sondern unabhängige Köpfe, Menschen mit Bildung, die dem Ideal der Wahrheit verpflichtet sind. Aber sei‘s drum.

Wenn Wulff letztlich als Bundespräsident auch durch seine politischen Konkurrenten in Hannover zu Fall kam, die gegen ihn ein Ermittlungsverfahren einleiteten, so war dieses Verfahren doch nur aufgrund der Medienkampagne möglich geworden. Sein einziger Fehler bestand darin, daß er persönliche Beziehungen zur Boulevardpresse unterhalten hat, gewiß ein grober Fehler, aber nicht justiziabel. Von allen Vorwürfen wurde er vom Gericht freigesprochen, aber keiner seiner journalistischen Gegner brachte es über sich, Selbstkritik zu üben. Vielmehr wurde das Skandalblatt mit einem Pressepreis ausgezeichnet, und nach einem Wortführer der Medienkampagne hat man später einen Literaturpreis benannt – kein Ruhmesblatt der deutschen Pressegeschichte.

Das Ganze war aber gewiß ein Lehrstück der Streitkultur hierzulande, wenn dieser hochtrabende Titel hier überhaupt angebracht ist. Die Affäre der Skandalpresse bestätigte aufs entschiedenste die Ansicht, daß man Intellektuelle nur Menschen mit Bildung nennen kann. Bildung ist aber nicht nur eine Frage umfangreichen Wissens, sondern ebenso eine Frage des Taktes. Dies meint Goethe, wenn er sagt: „Gebildete Menschen bringen ihr Leben ohne Geräusch zu“, und diesen Aspekt hat George Steiner in seinem Buch Von realer Gegenwart (1989), die authentische Literatur gegen die Sekundärliteratur verteidigend, genauer beschrieben.

Vor allem aber wurde in jener Affäre evident, daß jeder, der vor der Wahl steht, ob er sich auf eine öffentliche Auseinandersetzung einlassen soll, die damit gegebenen Risiken erwägen sollte. Er sollte die Warnung Martin Luthers beachten, der wahrlich in solchen Dingen erfahren war: „Wer mit einem Scheißdreck rammelt, er gewinne oder verliere, er gehet beschissen davon.“

Aber, Jahre später stellten Kommunikationswissenschaftler fest, daß während und wegen jener grundlosen Zeitungskampagne das Schlagwort von der „Lügenpresse“ aufgekommen ist. Außerdem soll das Boulevardblatt in den folgenden Jahren über eine Million Leser verloren haben – vor allem natürlich wegen der Konkurrenz des Internets, aber zweifellos doch auch wegen der damaligen Kampagne, von der kein einziger Vorwurf gerichtlich bestätigt wurde.

Elite

Wickert spricht gelegentlich im Ton eines sachlichen Berichts von der intellektuellen Elite Englands. Der Sprachgebrauch wirft die prinzipielle Frage auf, ob es in der Gesellschaft eine Rangordnung geben kann, die moralisch gerechtfertigt ist. Nach dem ethischen Ideal des Intellektuellen, dem Ideal der Gerechtigkeit, der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen, scheint dies nicht begründet zu sein. Benda lehnt eine gesellschaftliche Ungleichheit aufgrund der Geburt oder des Vermögens ab, räumt aber ein, daß es eine Elite geben könne, wobei er wohl an Menschen mit hoher Begabung und außergewöhnlichen Leistungen denkt (Benda S. 22).

Dagegen erklärt Karl Popper: „Ich bin ein Gegner aller Eliten und des Mythos von der Elite“, und verwirft die „Theorie von der Existenz einer intellektuellen und philosophischen Elite“, indem er am Beispiel von Platon, Hume, Spinoza, Kant nachweist, daß sie falsche Theorien, erschreckende Lehren verbreitet haben (Popper 1995, 168; 194f.). Gegen die politische Elite wendet er ein, daß sie „praktisch von der Clique nie unterschieden werden“ könne (l.c. 252). Sein Argument, das er gegen die Idee der Autorität in der Wissenschaft vorbringt, besagt, wenn alles wissenschaftliche Wissen Vermutungswissen ist, kann es keine wissenschaftlichen Autoritäten geben, die über ein gesichertes Wissen verfügen. Außerdem gilt: „Unser objektives Vermutungswissen geht immer weiter über das hinaus, was ein Mensch meistern kann. Es gibt daher keine Autoritäten. Das gilt auch innerhalb von Spezialfächern.“ (l.c. 227) Der Grundsatz seiner humanen Ethik lautet: „Kein Mensch ist wichtiger als irgendein anderer“ (Popper 1992, Bd. 2,317).

In seiner verwundenen Art kritisiert Adorno die Vorstellung, daß man die öffentliche Meinung mit der Meinung der gesellschaftlichen Elite gleichsetzen könne, einer Gruppe, die sich selbst als Elite versteht. Denn in einer derartigen Gruppe sei das wirkliche Sachverständnis „unauflöslich verstrickt in Partikularinteressen, die jene Elite wahrnimmt, als ab es die allgemeinen wären.“ Der entscheidende Einwand gegen das Selbstverständnis einer Gruppe als Elite lautet aber, daß sie einen unbegründeten Herrschaftsanspruch erhebt: „Im Augenblick, in dem eine Elite als solche sich weiß und erklärt, macht sie sich schon zum Gegenteil dessen, was sie zu sein beansprucht, und leitet aus Umständen, die ihr vielleicht manches an rationaler Einsicht gestatten, irrationale Herrschaft ab. Elite mag man in Gottes Namen sein; niemals darf man als solche sich fühlen.“ (Adorno 1964, 164f.). Wie man unschwer erkennen kann, ist Adornos Kritik der Idee der Elite, wie übrigens auch das Verdikt Poppers, gegen die platonische Lehre gerichtet, daß mit dem Besitz von Wissen der Anspruch, herrschen zu sollen, verbunden ist. Übrigens betont er hier auch, daß es die wesentliche Aufgabe der öffentlichen Meinung sei, die Massenkommunikation zu kritisieren.

Es geht hier vor allem um den Status und das Selbstverständnis deutscher Intellektueller. Ihnen stellt Erwin Wickert die Intellektuellen des traditionellen China als Vorbild entgegen: „Die Intellektuellen machen sich Sorge um das Wohl des Ganzen, nicht nur um ihre Klasse. Der Staat ist ihnen nicht etwas Fremdes zu dem sie Distanz halten oder gar grundsätzlich in Opposition stehen wie viele unserer deutschen Schriftsteller, sondern eine Aufgabe, für die sie sich kompetent fühlen“ (Wickert 1982, 476). Er ist voll des Lobes für die chinesischen Gelehrten und Gebildeten, die als Beamte zweitausend Jahre lang das Land vorbildlich verwaltet und, wenn nötig, die Politik und das Verhalten des Kaisers scharf gerügt haben. Er vergißt hier aber zu sagen, was er an anderer Stelle erwähnt, daß die Chinesen eine andere Art von Nationalbewußtsein hatten als die deutschen oder europäischen Intellektuellen. Sie betrachteten China als das Reich der Mitte, als „das Zentrum der Zivilisation“, andere Völker als Barbaren. Er betont, daß die Gelehrten-Beamten sich an die konfuzianische Ethik hielten, von der er die Maxime zitiert: „Jedermann ist für alles verantwortlich, was unter dem Himmel geschieht“ (l.c. 472). Diese Norm scheint der Ausdruck einer universellen Moral zu sein, doch muß man wohl annehmen, daß sie hauptsächlich die Verantwortung für das Reich der Mitte, das eigene Land, bezeichnet. Das ist wohl auch gemeint, wenn von der „Sorge für das Wohl des Ganzen“ die Rede ist.

Insgesamt gewinnt man den Eindruck, daß diese beamteten Intellektuelle kulturell und politisch, besten Gewissens, einen Sinozentrismus vertraten, was wohl mit dem von Benda beschriebenen Ideal des Intellektuellen kaum vereinbar ist. So hat denn auch Simone de Beauvoir den Titel für ihren Schlüsselroman über die französischen Intellektuellen des Nachkriegs, Les mandarins (1954), falsch gewählt. Denn Sartre und Camus waren freie Schriftsteller, keine Beamte, sie lehnten auch jede staatliche Auszeichnung ab. Seine geistige Unabhängigkeit zeigte Sartre, als er den Nobelpreis mit den Worten ablehnte, er wolle sich nicht für eine „offizielle Vereinnahmung hergeben“, und hinzufügte: „Ein Autor, der politisch, gesellschaftlich und literarisch Stellung bezieht, sollte nur mit seinen eigenen Mitteln handeln, das heißt mit dem geschriebenen Wort“ (Was kann Literatur? 1979, 69f.).

Zu fragen wäre bei diesem Vergleich aber doch, ob nicht der Eurozentrismus, den man den europäischen Politikern und Ideologen vorgeworfen hat, in formaler Hinsicht eine ähnliche Doktrin oder geistige Einstellung sei wie der Sinozentrismus. So hat man denn von asiatischer Seite den Europäern gelegentlich vorgehalten, die von ihnen propagierte Wertordnung der Menschenrechte sei eine europäische Angelegenheit, die für Asien und Afrika nicht gelte. Diesen Vorwurf kann man nur entkräften, wenn man nachweisen, d.h. rational begründen kann, daß die Theorie der universellen Moral tatsächlich allgemeingültig ist. Damit aber ist der heikelste Punkt im Selbstverständnis der Intellektuellen getroffen, die Frage nämlich, wie sie die moralischen Ideale rechtfertigen können, in deren Namen sie Politik und Gesellschaft kritisieren.

Verantwortung

In der Rezension eines unser Thema betreffendes Buches heißt es, der klassische Intellektuelle habe moralische Autorität genossen (NZZ 27.10.15). Nichts falscher als diese Meinung. Man kann mit Benda allenfalls sagen, daß der Intellektuelle ein moralisches Prestige besitzt; er fügt aber hinzu, daß dies eine zweischneidige Sache sei: „Vermag der moderne clerc eine Sache vorwärts zu bringen, indem er ihr seine Stimme leiht, so fügt er ihr empfindlichen Schaden zu, wenn er sie ihr versagt“ (Benda S.229). Die Folgen wären im letzten Fall, daß er sich unter Umständen der Bestrafung durch den Staat aussetzen würde.

Prinzipiell wäre festzustellen, daß es in einer säkularen Gesellschaft keine moralische Autorität geben kann und daß ein Intellektueller die Gesellschaft im Namen des Ideals der Freiheit der Person, einer universalen Moral kritisiert, was per definitionem ausschließt, daß er sich als moralische Autorität aufspielen und mündige Menschen bevormunden könnte. Sehr treffend hat Max Scheler bekannt: „Ich habe mich niemals zu jemand pädagogisch verhalten“. Die moralisch begründete Gesellschaftskritik des Intellektuellen ist natürlich nur glaubhaft, wenn er selbst dem Ideal der intellektuellen Redlichkeit verpflichtet ist. So haben wir erlebt, daß Intellektuelle ihr Prestige sofort einbüßten und unglaubwürdig wurden, als sich herausstellte, daß sie ihre Mitgliedschaft in der NSDAP oder ihren Dienst in der Waffen-SS verschwiegen hatten oder Beziehungen zur Halbwelt unterhielten.

Des weiteren ist klar, daß Intellektuelle nur glaubwürdig sind, wenn sie die humanen Interessen der Allgemeinheit vertreten. Damit ist aber gegeben, daß sie als Teilnehmer am öffentlichen Diskurs besonders für die unterprivilegierten Schichten der Gesellschaft sprechen, die in der Öffentlichkeit keine Stimme haben und in der Politik sprachlos sind. Sobald sich jedoch gesellschaftliche Bewegungen bilden, die basisdemokratisch organisiert sind, wird die Funktion der Intellektuellen überflüssig. So geschehen bei der Studentenbewegung der späten 60er Jahren und der Friedensbewegung der 80er Jahre.

Dabei hat es seinen guten Grund, daß die Studentenbewegung wie die Bürgerrechtsbewegung zuerst in Amerika aufgekommen sind. Zwei Faktoren waren hier maßgebend: das Fehlen eines Bildungsbürgertums, aus dem der Intellektuelle stammt. So stellt Adorno fest, daß der gebildete Mensch im europäischen Sinne als sozialer Typus in Amerika niemals etabliert gewesen sei (Adorno 1969, 126). Und zweitens herrscht in Amerika ein anderes Politikverständnis, insofern die Bürger gewohnt sind, die politischen Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auch bestimmte lokale Beamte und Funktionäre selbst wählen zu können. So hat in der amerikanischen Gesellschaft der Intellektuelle niemals die tonangebende Rolle gespielt wie in den europäischen Gesellschaften. Wo man die Professoren so wenig schätzt wie in Amerika und die Intellektuelle als Eierköpfe bezeichnet, wäre es undenkbar, daß ein Schriftsteller sich zum „Adel des Geistes“ rechnet.

Daß wir auch in Deutschland vor nicht langer Zeit einen Bedeutungsverlust der Intellektuellen erlebt haben, ist auf vier Faktoren zurückzuführen, von denen ich schon zwei Gründe genannt habe: prominente Schriftsteller und Professoren wurden unglaubwürdig, weil sie ihr Verhalten im Dritten Reich verschwiegen hatten. Zweitens wurden die Intellektuellen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in der Auseinandersetzung der Ideologien nicht mehr gebraucht, während nach dem Krieg die amerikanische Regierung Kongresse der Freiheit gesponsert und der amerikanische Geheimdienst sogar Kulturzeitschriften subventioniert hat und im Gegenzug die DDR westdeutsche Zeitschriften finanziell unterstützt hatte. Drittens sind Bürgerbewegungen entstanden, die ihre eigenen Sprecher hatten und auf die Stimme und das Renommee der Intellektuellen nicht angewiesen waren. Und nicht zuletzt hat ein Großteil der linken Intelligenz der Bundesrepublik im Augenblick der Wiedervereinigung versagt, weil sie sich im Verein mit vielen Presse- und Rundfunkleuten gegen die Wiedervereinigung aussprachen und damit das berechtigte Interesse der großen Mehrheit der Deutschen, das moralische Recht auf politische Selbstbestimmung, mißachteten. Sie haben das Recht auf die politische Einheit eines Landes mit der Ideologie des Nationalismus verwechselt, was nicht nur ihre politische, sondern auch ihre moralische Ignoranz in dieser Sache bewies.

Um auf das Vorurteil vom selbsternannten Intellektuellen als Kritiker der Gesellschaft zurückzukommen, so ist offensichtlich, daß es dem alten Vorwurf von der „Verantwortungslosigkeit des Geistes“, d.h. der Verantwortungslosigkeit der Intelligenz im soziologischen Sinne, zum Verwechseln ähnlich ist. Diese polemische Theorie wurde von den Soziologen Auguste Comte und Julien Sorel vertreten, und sie wirkte, wie René König bemerkt, im Anti-Intellektualismus des Faschismus und des Nationalsozialismus weiter. Er fügt aber hinzu, daß gerade aufgrund der „Verfolgungen, denen die Intelligenz im Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus ausgesetzt gewesen ist, eine ausgesprochene Verantwortungsethik gegenüber allen Belangen des öffentlichen Lebens entstanden ist“ (König 1967, 152ff.).

Ich wollte diese sozialgeschichtlichen Zusammenhänge wenigstens erwähnt haben, habe aber nicht die Absicht, sie genauer zu erörtern. Wichtig ist vielmehr die Frage, die sich aus diesem Kontext ergibt, wie nämlich die ethischen Normen, auf die sich die Gesellschaftskritik der Intellektuellen stützt, letztlich begründet sind. Nun hat man aber gerade Julien Benda, wie Jean Améry in seinem Vorwort zu dessen Traktat schreibt, den Vorwurf gemacht, daß er „die Grundbegriffe seines Nachdenkens, Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, nicht hinlänglich philosophisch definiert“ und sich an den gewöhnlichen Sprachgebrauch gehalten habe. Darauf antwortet Améry, daß wir auch ohne Definitionen wissen, „was Vernunft ist und was Widervernunft; wir erleiden Ungerechtigkeit und dürsten nach Gerechtigkeit; Unwahrhaftigkeit raubt uns die Seins-Gewißheit, und so verlangen wir nach Wahrheit – alles jenseits erkenntnistheoretischer Haarspalterei.“ (Benda S. 9f.)

Améry beruft sich, wie auch Benda, auf die moralische Einstellung des gesunden Menschenverstandes und auf die Tatsache, daß de facto die meisten Menschen sich einig sind, was Gerechtigkeit und Wahrheit bedeutet und daß wir verpflichtet sind, Unrecht zu vermeiden und die Wahrheit zu achten. Dennoch bleibt die philosophische Aufgabe bestehen, genauer zu erklären, was unter Gerechtigkeit und Wahrheit zu verstehen ist. Es geht um die Frage, ob sich die Verbindlichkeit moralischer Normen rational begründen läßt, und dazu muß man sagen, daß das Problem höchst umstritten ist und die Antwort der angesehensten und leidenschaftlichsten Intellektuellen ihrer Zeit enttäuschend ausgefallen ist.

Bertrand Russell, der einflußreichste Intellektuelle der Nachkriegszeit, der mit Staatsmännern auf gleicher Augenhöhe korrespondierte und mit Jean-Paul Sartre dem Vietnam-Tribunal vorstand, gibt auf die Frage, wie sich eine Ethik vernünftig begründen lasse, die wahrhaft resignative Auskunft: „Eine ethische Auffassung läßt sich lediglich durch ein ethisches Axiom stützen, doch wird eine rational schlüssige Entscheidung unmöglich, falls dieses Axiom keine Anerkennung findet. Mehr zu sagen, sehe ich mich außerstande“ (Autobiographie III, 1974, 37). In seiner Kampagne für Frieden und Abrüstung angesichts der Gefahren eines Atomkrieges stützte er sich denn auch hauptsächlich auf die Beschreibung der Aussicht, daß die ganze Menschheit vernichtet werden könne, und weniger auf Argumente einer ethischen Theorie.

Sartre engagierte sich politisch, indem er sich auf seine moralische Intuition im Hinblick, was gut und böse ist, verließ, während sich aus der Philosophie des Existentialismus allenfalls eine wenig verbindliche Situationsethik herleiten läßt (cf. Quack 2013, 95ff.)

Ernst Tugendhat, der sich auch politisch engagiert und meines Erachtens die verständlichste ethische Theorie auf rationaler Grundlage ausgearbeitet hat, gibt ebenfalls eine überaus bescheidene Auskunft über die moralische Praxis: „Das einzige, wodurch sich vermeiden läßt, daß sich die Verbrechen immer wieder ereignen, ist, daß möglichst viele Menschen an die Menschenrechte glauben bzw. sich moralisch verstehen“ (Tugendhat 1995, 346).

Hans Jonas hat im Hinblick auf die ökologischen Risiken eine Theorie der Verantwortung vorgelegt, die in der Öffentlichkeit eine breite Zustimmung fand – was erstaunlich ist, da man sich für die Begründung dieser Ethik kaum interessierte und seine metaphysisch-religiöse Argumentation mit dem Denken einer säkularen Gesellschaft kaum zu vereinbaren sein dürfte (cf. IV).

Schließlich hat Martin Heidegger gegen die philosophische Begründung einer Ethik grundsätzliche Bedenken vorgebracht, die niemand ignorieren kann, der nach dem moralischen Kodex der Intellektuellen fragt (cf. III.).

Tatsächlich setzen die meisten Intellektuellen bei ihrer Gesellschaftskritik voraus, daß in der Öffentlichkeit ein Konsens besteht, was die allgemeinen Menschenrechten angeht. Erfolg oder Mißerfolg ihrer öffentlichen Interventionen hängt in der Regel hauptsächlich davon ab, ob und in welchem Maße dieses Einverständnis in ethischen Fragen wirklich besteht. Es gehört aber auch zu der Aufgabe von Intellektuellen, grundlegende ethische Fragen, das Problem der Schuld und der Verantwortung zu analysieren und nach Möglichkeit zu beantworten. Aber gerade die außerordentlichen Schwierigkeiten dieser Problematik sollte sie davon abhalten, sich eine Autorität anzumaßen, die sich mit den Idealen ihrer Aufgabe nicht vereinbaren läßt.