JOHN WAINWRIGHT

 

 

Die ganz besondere Nacht

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 62

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE GANZ BESONDERE NACHT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Das erste Opfer war ein junges Mädchen.

Aber damit fing alles erst an. Denn der Mörder hatte noch mehr Patronen in seinem Revolver - und jede war für ein weiteres Opfer bestimmt.

Die Polizei wusste bald, dass der Täter in einer Gruppe von Studenten zu suchen war. Aber man konnte schließlich nicht alle festnehmen, um weitere Morde zu verhindern...

 

Der Roman Die ganz besondere Nacht des britischen Bestseller-Autors John Wainwright (* 25. Februar 1921 in Leeds; † September 1995)  erschien erstmals im Jahr 1974; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DIE GANZ BESONDERE NACHT

 

 

 

 

   

   Erstes Kapitel

 

 

Die Stadt hatte rund eine halbe Million Einwohner, sechs Parlamentsabgeordnete und fünf Polizeibezirke - Cawdale Rise, North End, Mellow Road, Park View und Hallsworth Hill.

Der erste, zweite und vierte Mord wurden in Hallsworth Hill verübt, einem Bezirk, der Mittelpunkt des Entsetzlichen werden sollte - aber das wusste an diesem Freitagabend um 22.30 Uhr natürlich noch niemand.

 

Hallsworth Hill war - wie andere Randgebiete der Stadt auch - eine Gemeinschaft, fast ein Ort für sich. Nicht besonders elegant, wie etwa Park View, nicht das Slumviertel, wie North End, keine Ansammlung von Fabriken und einem Güterbahnhof, wie Mellow Road, keine Mittelstandsgegend, wie Cawdale Rise.

Hallsworth Hill war Hallsworth Hill. Es gab vereinzelt Leichtindustrie, einen Park, zwei gute Schulen, eine Anzahl schöner Kirchen und Kapellen. Dann war da noch das Busdepot, ein weitläufiges Backsteingebäude, in dem früher die Straßenbahnwagen untergebracht gewesen waren. Hinter dem Hauptgebäude des Depots gab es einen kleineren Bau, ehemals das Umspannwerk. Die Generatoren waren längst verschwunden, und man benützte das Bauwerk als Reparaturlager für das Busdepot.

Die Straßen und Gassen um diesen Bau waren dunkel, schlecht beleuchtet. Es gab seltsame, verwirrende Winkel zwischen Mauern und Häuserwänden, die fast immer im Schatten lagen. Dort wurden Abfälle weggekippt, es gab streunende Katzen und Ratten, und hier und da fand man sich zu verbotenen Schäferstündchen ein, nicht weit von der hell beleuchteten Straße mit dem Haupteingang des Depots.

Es war still hier und friedlich, der ideale Ort, um einmal fünf Minuten Pause zu machen und sich schnell eine Zigarette zu gönnen. Und genau das wollte Polizei-Constable Campbell tun. Er bog von der Hauptstraße links ab, noch einmal links, dann rechts, zu einer Ecke, die er schon kannte, einem Dreieck aus einer hohen Mauer und dem Doppeltor an der Rückseite eines Supermarkts. Er zog eine Packung Zigaretten heraus, zündete sich eine davon an und warf das noch brennende Zündholz in den Schatten. Es erlosch zischend auf dem feuchten Boden.

Einen Augenblick lang sah Campbell die Leiche, bevor das Zündholz im Blut erlosch.

»Mensch!«, stieß Campbell hervor. Es war sein erster Mordfall.

Die Prozedur war genau festgelegt:

 

1. Leiche besichtigen.

2. Leiche nicht berühren.

3. Vergewissern, so weit das möglich ist, dass keine Lebenszeichen mehr vorhanden sind.

4. Alles notieren, was später wichtig sein könnte.

5. Neugierige vom Schauplatz fernhalten.

6. Sofort Vorgesetzten verständigen.

7. Am Schauplatz bleiben, bis Ablösung kommt und Vorgesetzter Erlaubnis erteilt, sich zu entfernen.

8. Nichts verändern.

9. Mord unterstellen, bis Gegenteil bewiesen ist.

10. Verhindern, dass jemand den Schauplatz verlässt.

11. Namen, Adressen und Beruf aller anwesenden Personen notieren.

12. Wenn möglich, Identität und Adresse des Opfers feststellen.

 

Constable Campbell tat sein Bestes. Er besichtigte die Leiche. Er beleuchtete die zusammengesunkene, blutverschmierte Gestalt. Er berührte die Leiche nicht, nur das Blut.

Er bückte sich und hob ganz vorsichtig das Zündholz aus der gerinnenden Blutlache beim Hals des Opfers. Es war ein Akt der Selbsthilfe, um zu verhindern, dass er langatmige Erklärungen abgeben und sich von einem Vorgesetzten scharfe und unberechtigte Kritik gefallen lassen musste.

Er geriet für einen Augenblick fast in Panik.

Trotz seiner Vorsicht brach der verkohlte Streichholzkopf ab und blieb im Blut liegen. Er klemmte die Lampe an den Uniformrock, ging in die Hocke, schob die Finger in die Lache und zog den Zündholzkopf heraus.

Und machte alles nur noch schlimmer.

»Menschenskind!«, flüsterte er.          

Der Abdruck seiner Finger hielt sich auf der Oberfläche der Lache. Zeigefinger und Daumen waren verschmiert. Das nicht verbrannte Ende des Zündholzstäbchens war ebenfalls befleckt und hinterließ Spuren an den Fingern und der Handfläche.

Und die brennende Zigarette hatte er immer noch im Mund. Er hätte am liebsten gehustet und sie ausgespuckt, aber das wagte er nicht. Er konnte es nicht tun. Er konnte sie auch nicht aus dem Mund nehmen - nicht mit blutverschmierten Fingern.

Er richtete sich auf, und seine Beine zitterten ein wenig. Er suchte nach dem Taschentuch. Ungeschickt schob er mit dem Handgelenk den Uniformrock hoch, kramte mit Ring- und Kleinfinger in der Tasche, fand das Taschentuch, zog es heraus.

Dann ließ er Zündholz und Kopf in das Taschentuch fallen, spuckte die Zigarette hinein, knüllte das Taschentuch zusammen, um die Zigarette auszudrücken, rieb und wischte sich die Flecken von Händen und Fingern. Mit Speichel entfernte er die letzten Spuren.

Er stopfte das verschmutzte Taschentuch tief in die Hüfttasche, griff nach der Lampe und leuchtete die Blutlache ab, deren Oberfläche sich wieder geglättet hatte. Seine Fingerabdrücke waren verschwunden.

Er seufzte tief auf vor Erleichterung.

Er stellte fest, dass keine Lebenszeichen mehr vorhanden waren.

Das Blut, das aus den Wunden am Hals und am Nacken geflossen war, war inzwischen geronnen.

Constable Campbell leuchtete die Umgebung der Leiche mit der Taschenlampe ab, auf der Suche nach wichtigen und sofort auffälligen Einzelheiten.

An der Mauer bemerkte er eine Einschussstelle und glaubte, das Geschoss noch im zerfallenden Mauerwerk stecken zu sehen, etwa in Brusthöhe. Eine Blutspur führte von dort zum Boden. Sonst sah er nichts Auffälliges. Am Tor fand er keine Spuren. Das Hängeschloss war zu. Niemand hatte versucht einzubrechen.

Campbell blickte sich um. Er war allein am Schauplatz. Neugierige gab es hier nicht.

Er musste schleunigst seinen Vorgesetzten verständigen.

Aber am Schauplatz bleiben sollte er auch. Beides ging nicht.

Constable Campbell kannte sich hier aus. Er wusste, dass sein Handfunkgerät in diesem versteckten Winkel nichts nützte.

Im Busdepot gab es Telefon - aber dann musste er die Leiche liegen lassen und zur Hauptstraße gehen... und dort war das Handfunkgerät ohnehin wieder funktionsfähig.

Constable Campbell knipste die Lampe aus, schaute sich ein letztes Mal sorgenvoll um und eilte dann zur Hauptstraße, wo die Funkwellen die Nachricht von der in Hallsworth Hill begangenen Scheußlichkeit übermitteln konnten.

 

Die Nachricht ging im Polizeiamt Hallsworth Hill ein, wurde weitergegeben ans Präsidium, von dort weitergereicht an zwei Streifenwagen. Gleichzeitig verständigte man den Chefinspektor und den Polizeidirektor.

 

Der Mörder war außer Atem. So, ah sei er Meilen gerannt - aber das stimmte nicht.

Er war überhaupt nicht gerannt. Er hatte mit dem Revolver gezielt, abgedrückt, einen Augenblick den gewaltsamen Tod angestarrt und war dann davongegangen. 

Er war weitermarschiert, mit flotten Schritten, aber nicht übereilt.

Er trug das gemusterte Hemd lose über der Hose, und unter dem Hemd spürte er den Kolben der Waffe an seinem Bauch, den Lauf kalt und hart an der Leiste, unter dem Hosenbund.

Das Gefühl der Macht - wahrhaftiger Macht - zum ersten Mal in seinem Leben.

Nicht verlacht werden. Keine Verachtung zu spüren. Nie mehr Hohn über sich ergehen lassen zu müssen... denn jetzt war er größer als alle anderen. Er hatte getan, was sie nicht getan hatten. Nicht konnten. Nicht wagten.

Ein neues, ein wunderbares Gefühl.

Und das nahm ihm den Atem.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die Polizeimaschinerie war in voller Aktion. Alle ihre Rädchen waren in den vergangenen sechzig Minuten in Gang gebracht worden und kamen auf Touren.

Am Schauplatz des Verbrechens gab es jetzt Polizeibeamte im Überfluss. Dem Rang, wenn auch nicht unbedingt der tatsächlichen Bedeutung nach, gehörten dazu Kriminaldirektor Sullivan, Leitender Chefinspektor Child, Chef der Kriminalpolizei, Leitender Chefinspektor Collins vom Polizeiamt, Chefinspektor Rucker, Chefinspektor Howarth, Kriminalinspektor Arbuckle, zwei Kriminal-Sergeants, drei uniformierte Sergeants, vier Kriminal-Constable, über ein Dutzend uniformierte Constables.

Die Straßen hinter dem Busdepot waren verstopft mit Streifenwagen, Mannschaftswagen und Privatautos. Die Straßenbeleuchtung war durch Scheinwerfer ergänzt worden. Und von der Albany Road her kamen die Neugierigen.

»Ihre Aufgabe, Sergeant«, sagte Collins zu einem der Uniformierten. »Sperren Sie die Umgebung ab. Hundert Meter, alle Straßen.«

»Ja, Sir.«

»Besorgen Sie Seile. Sperren Sie alles ab. Und niemand darf ohne Genehmigung herein.«

»Vor allem die Presse nicht«, sagte Rucker, der danebenstand. »Und von den besonders Neugierigen, in der ersten Reihe, lassen Sie sich Namen und Adressen geben.«

»Rückkehr zum Schauplatz des Verbrechens?«, fragte Collins leise und lächelte.

»Ist schon vorgekommen«, erwiderte Rucker. »Um sich zu vergewissern, dass die Toten wirklich tot sind. Wir würden uns schön bekleckern, wenn er da draußen steht und zuguckt und wir ihn heim ins Bett schicken.«

»Ja, Sir, wird gemacht«, sagte der Sergeant und eilte davon.

»Er?«, sagte Collins. »Sie haben schon entschieden, dass der Täter ein Mann ist?«

»Er«, sagte Rucker betont. »Frauen mögen Schusswaffen nicht. Es kommt selten vor, dass Frauen Geschlechtsgenossinnen erschießen. Ich sage er, und ich bleibe dabei.«

 

Sullivan war auch zu diesem Schluss gekommen.

Er stand bei Child und Dr. Joseph Carr, Direktor des gerichtsmedizinischen Instituts, und Carr hatte eben die erste Untersuchung der Leiche abgeschlossen und sich aufgerichtet.

»Aus ziemlicher Nähe abgegeben«, sagte Carr. »Weniger als fünfzehn Zentimeter, würde ich sagen. Die Einschuss wunde sieht rund aus, ist es aber nicht, sondern kreuzförmig, mit zerfetzten Wundrändern. Die Austrittswunde scheint eher etwas kleiner zu sein, bestimmt aber nicht größer. Das ist auch ein Hinweis. Bei größerer Entfernung wäre sie viel größer als die Einschusswunde. Ich tippe auf zehn, höchstens zwölf Zentimeter.«

Campbell, der dabeistand und den Lichtstrahl auf die Leiche richtete, sah plötzlich ein Mädchen mit dem Rücken an der Wand stehen - vor seinem inneren Auge. Vor ihr der Täter, der sie vielleicht noch verhöhnte, bevor er aus nächster Nähe abdrückte.

»So ein Dreckskerl!«, entfuhr es ihm.

»Wie?«, sagte Child.

»Verzeihung, Sir.« Campbell schüttelte betroffen den Kopf. »Ich - ich hab’ nur nachgedacht.«

Sullivan sah Carr an. Er stellte eine Frage, wie sie jeder Polizist dem Sachverständigen unter solchen Umständen stellt.

»Zeitpunkt?«

»Das kann kein Mensch sagen.«

»Aber irgendwann muss es geklärt werden.«

»Nach der Obduktion. Nach den chemischen Untersuchungen.«

»Wir brauchen aber wenigstens einen Anhaltspunkt«, knurrte Sullivan. »Ich meine nicht die Minute.«         

»Tja, bei gewaltsamem Tod ist das Problem mit der Leichenstarre so...«

»Vierundzwanzig Stunden?«, unterbrach ihn Sullivan.

Carr starrte ihn an.

»Quatsch!«

»Zwölf?«

»Natürlich nicht.«

»Sechs Stunden?«

»Natürlich ist sie keine sechs Stunden tot. Sie...«

»Fünf Stunden? Vier Stunden? Drei Stunden?«

»Sullivan, ich...«

»Ich will wissen, ob sie drei Stunden tot ist oder nicht!«

»Nein!«, fauchte Carr. »Zwei Stunden. Nicht mehr als zwei Stunden, wahrscheinlich viel weniger. Aber das ist nicht...«

»Das reicht«, sagte Sullivan. »Campbell hat sie gefunden um - wann war das, Constable? - um halb elf?«

»Halb elf, Sir«, sagte Campbell.

»Jetzt ist es halb zwölf. Wir haben es eingegrenzt. Mehr wollte ich nicht, Doktor. Sie ist zwischen halb zehn und halb elf ermordet worden, ja?«

»Das muss man noch genauer...«

»Danke.« Sullivan wandte sich Child zu. »Also, das ist Ihr Anhaltspunkt, Chefinspektor. Fangen Sie an. Wer war zwischen halb zehn und halb elf hier? Was hat man gemacht? Mit wem war man zusammen? Wer hat sie gesehen? Wen - oder was - hat man gesehen? Sie kennen sich aus. Und stellen Sie eine Liste zusammen, so schnell es geht. Männer - Namen und Adressen aller Männer, die auf tauchen... der Täter könnte darunter sein.«

»Ein Mann?«, sagte Carr verwundert. »Warum nicht eine Frau?«

»Weil ich kein Trottel bin«, knurrte Sullivan. »Das ist die Tat eines Mannes für mich. Man riecht es förmlich.«

 

Er war ein Mann mittleren Alters, anständig, ehrlich und ein wenig zurückhaltend. Er gehörte zur Menge. Er hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft und war Korporal geworden. Nach dem Krieg hatte er das Mädchen geheiratet, das er seit frühester Jugend kannte, weil man das einfach von ihm erwartet hatte. Mit Liebe hatte das nicht viel zu tun gehabt. Liebe war für ihn etwas Unwirkliches. Er liebte nicht, er hasste nicht. Extreme Gefühle waren ihm fremd.

Aber er machte sich Sorgen.

Er stand an der Tür seines mit Hypotheken belasteten Reihenhauses, starrte die lampenhelle Straße hinunter und machte sich Sorgen um sein einziges Kind, seine Tochter.

»Komm rein, Albert«, rief seine Frau im Haus. »Es zieht.«

»Gleich, Liebes.«

»Es zieht furchtbar, Albert. Komm rein! Wahrscheinlich hat sie den Bus verpasst. Sie kommt sicher bald.«

Er hätte am liebsten gesagt: Ich kenne sie nicht. Du kennst sie auch nicht. Wer kennt sein Kind schon? Welcher Vater kann sagen, dass er seine Tochter wirklich kennt? Dass er beschwören kann, sie sei keine Hure oder zumindest eine, die Männer anlockt? 

Stattdessen murmelte er: »Ja, Liebes«, drehte sich um, schloss die Tür und ging ins Haus.

 

In der Back Finkle Street war das Opfer fotografiert worden, man hatte die umliegenden Straßen abgesperrt, die ranghöheren Beamten standen in Gruppen beieinander.

Eine dieser Gruppen bestand aus drei Männern - Leitender Chefinspektor Collins, Chefinspektor Rucker und Constable Campbell.

»Das ist Ihr Streifengebiet, Constable, ja?«, sagte Rucker.

»Ja, Sir«, erwiderte Campbell.

»Seit wann? Wie lange sind Sie hier schon eingesetzt?«

»Fünf Jahre, Sir.«

»Fünf Jahre«, sagte Rucker und zog die Brauen hoch.

»Vorher war ich in Mellow Road. Ich...«

»Das schenken wir uns. Das Opfer befindet sich in Hallsworth Hill, nicht wahr? Und Sie sind zuständig für das Gebiet Albany. Es ist doch nicht übermäßig groß, wie?«

»Nein, Sir.«

»Also. Sie kennen das Opfer. Sie haben ihr Gesicht gesehen, Sie erkennen sie als eine Person, die Sie oft gesehen haben. Ziemlich oft, wie Sie sich ausdrücken.«

»Ja, Sir.«

»Wer, zum Teufel, ist sie dann?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Ich habe sie öfter gesehen, weiß aber nicht...«     

»Sie wohnt in Ihrem Gebiet?«

»Ich glaube schon. Ich habe sie oft genug gesehen, um...«

»Sie glauben? Ein ganz kleines Gebiet, dieses Albany, und Sie wissen nicht, wer dort wohnt und wer nicht? Nach fünf vollen Jahren?«

»Sir, ich kann schließlich nicht jeden kennen, der...«

»Jede Katze«, unterbrach ihn Rucker barsch. »Jeden Hund, der an einen Eckstein pisst. Sie müssten Bescheid wissen. Dafür sind Sie hier. Dafür bezahlt man Sie.«

»Man hätte Zeit sparen können, Campbell, wenn Sie Namen und Adresse gewusst hätten«, sagte Collins ruhig.

»Tut mir leid, Sir. Ich weiß, dass sie aus der Gegend ist. Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr sagen kann.«

»Und Leute Ihres Schlages haben den Mut, sich Polizisten zu nennen!«, sagte Rucker verächtlich. »Zum Kotzen. Man kann euch nicht einmal als Schülerlotsen gebrauchen.«

»Vorsicht, Campbell«, murmelte Collins und bewahrte Rucker damit vor einem Faustschlag ins Gesicht und Campbell vor einem Disziplinarverfahren.

Campbell erstarrte für Augenblicke, dann sagte er mit gepresster Stimme zu Collins: »Wenn Sie gestatten, Sir, stelle ich fest, wer sie ist. Ich frage herum. Ich kenne Leute, mit denen zusammen ich sie gesehen habe. Ich stelle fest, wer sie ist, und melde mich dann.«

»Gute Idee, Campbell«, sagte Collins. »Tun Sie das.«

Campbell salutierte, drehte sich um und hastete davon.

»Wenn sie ihre Arbeit ordentlich machen würden...«, begann Rucker.

»Ich finde, wir sollten uns unterhalten«, meinte Collins.

»Worüber?«

»Ach, über so manches.« Collins zertrat seine Zigarette. »Vor allem über die Art, wie meine höheren Beamten mit ihren Untergebenen verfahren sollten.«

»Ach, darüber?«, sagte Rucker spöttisch.

»Darüber.«

»Das hat man bei mir schon versucht«, erklärte Rucker. »In Park View - bevor ich hierherkam. Ich sage, was ich denke.«

»Sie werden sich ändern«, sagte Collins ruhig. »Hallsworth Hill wird Sie ändern - oder zerbrechen, das garantiere ich Ihnen.«

 

Der Mörder versteckte den Revolver, bevor er ins Haus ging.

Das Versteck gefiel ihm nicht. Es war nicht sicher genug, durfte also nicht von Dauer sein. Es befand sich im Bereich der Aktivitäten und Interessen seines Vaters.

Eines Tages, und zwar bald, musste er ein neues Versteck suchen. Einen sichereren Ort. Dann würde er sich wohler fühlen.

Er betrat das Haus durch den Nebeneingang, der unmittelbar in die Küche führte. Es war eine hübsche Küche, modern und gut eingerichtet. Seine Mutter stand an der Spüle und reinigte das Geschirr vom Abendessen.

Sie hob den Kopf und sagte: »Du bist spät dran, Liebling.«

»Ich war bei Alex«, log der Mörder. »Wir haben uns unterhalten und nicht auf die Uhr geschaut.«

»Willst du etwas essen?«

»Hunger hab’ ich genug.«

»Ich bring’s dir...«

»Danke.« Er sah seine Mutter kaum an. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, seinen Eltern zu sagen, dass das keine normale Nacht war, sondern eine ganz besondere.

Aber das wäre irrsinnig und sinnlos zugleich gewesen.

Sie hätten Fragen gestellt, die er nicht beantworten konnte... und hätte er versucht, sie zu beantworten, wäre er nicht verstanden worden.

 

»Sie müsste längst da sein«, sagte der Vater.

Seine Frau hob den Kopf von ihrer Illustrierten.

»Albert, setz dich, bitte, hin. Das macht einen nervös.«

»Sie müsste längst zurück sein«, wiederholte er. Er ging hin und her, blieb stehen und sagte: »Verdammt noch mal, Ruth. Sie müsste wirklich längst da sein. Es ist bald Mitternacht.«

»Das ist der Bus«, meinte seine Frau gereizt. »Man kann sich nicht drauf verlassen. Das weißt du so gut wie ich.«        

»Ruth...« Er zögerte. »Ruth - es gibt Männer.«

»Männer?«, sagte sie verständnislos. »Tut mir leid, Albert, aber du sprichst in Rätseln.«

»Männer«, sagte er fast verzweifelt. »Rücksichtslose, gemeine Männer, die - die...«

»Ach - das?«

»Ja - das«, sagte er müde.

Sie ließ die Zeitschrift sinken.

»Alice ist gut erzogen worden, Albert.«

»Das weiß ich, aber...«

»Die - nun, die Fakten des Lebens, wenn du sie so nennen willst, habe ich ihr beigebracht. Es war nicht einfach und nicht sehr angenehm, aber ich habe sie ihr beigebracht.«

»Ich behaupte doch nicht, dass sie...«

»Sie weiß also Bescheid.«

Er fuhr mit den Fingern durch sein schon etwas schütteres Haar und seufzte.

»Ruth - sie weiß aber doch nicht, wie sie sich wehren muss. Das hast du ihr sicher nicht beigebracht. Darauf will ich hinaus.«

»Sei nicht albern.«

»Wieso albern? Ich meine doch nur...«

»Notfalls kann sie die Flucht ergreifen. Wenn eine Frau entschlossen genug ist, kann ihr im Grunde nichts passieren. Sie kann immer noch schreien und davonlaufen.«

»Mir gefällt auch die Vorstellung nicht, dass meine Tochter schreien und davonlaufen muss«, sagte er tonlos.

»Das ist doch Unsinn, Albert.«

»Ich warte noch bis zwölf«, sagte er. »Dann gehe ich zur Polizei.«

Sie sah ihn halb ungläubig, halb empört an.

»Das tust du nicht«, sagte sie entschieden. »Und jetzt setz dich hin und mach dich nicht selbst nervös.«

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Die drei Männer hatten den Tatort verlassen und sich in Collins’ Büro im Polizeiamt Hallsworth Hill zurückgezogen.

Sullivan hatte Child die Leitung der Ermittlungsarbeit übertragen. Carr überließ seinen Kollegen die Kleinarbeit. Collins verließ sich auf seinen Chefinspektor, was die Überwachung der uniformierten Beamten anging.

»Sex«, knurrte Sullivan. Er stopfte seine Pfeife.

»Muss man natürlich im Auge behalten«, sagte Collins. »Aber auf Anhieb scheint das nicht das entscheidende Motiv gewesen zu sein.«

»Sie hatte eine Strumpfhose an«, meinte Carr. »Nichts zerrissen, nichts verschoben.«

»Wie die ganze Kleidung«, ergänzte Collins.

»Na, gut - also kein Sex.« Sullivan biss auf den Pfeifenstiel und sog daran. Er reichte Carr den offenen Tabaksbeutel hinüber. »Also? Wem fällt sonst etwas ein?«

»Ich habe nicht gesagt, es sei nicht der Sex.« Carr griff nach dem Beutel und zog eine alte Pfeife aus der Tasche. »Nur eben nicht auffällig.«

»Symbolisch«, meinte Collins.

»Oh, je!« Sullivan strich ein Zündholz an und führte die Flamme über den Pfeifenkopf. Er blies den Rauch an die Decke und sagte: »Nur gut, dass Freud nicht bei der Polizei war, wie? Das hätte uns gerade noch gefehlt.«

»Sie sind also schon der festen Meinung, dass es ein Mann gewesen ist«, sagte Carr.

»Gewiss. Es...«

»Riecht förmlich danach, ich weiß.«

»Na ja, wie man eben so sagt«, erklärte Sullivan und paffte. »Sie wissen, was ich meine.«

»Natürlich. Dass eine Schusswaffe in der Regel nicht die Waffe einer Frau ist - wenn sie die Wahl hat.«

»So ist es.«

»Ich weiß auch, warum.«                

»Weil es knallt. Weil es Peng macht. Weil sie...«

»Ein Phallus-Symbol ist«, sagte Carr. »Deshalb. Sie steht für...«

»Gar nichts. Eine Schusswaffe ist eine Schusswaffe«, knurrte Sullivan. »Lassen wir es dabei, ja? Sie feuert Geschosse ab. Sie tötet. Alles andere interessiert mich nicht.«

 

Der Vater zog den Mantelgürtel enger.

Es war nicht nötig. Er konnte seine Hände damit beschäftigen, das war alles; es verriet, wie nervös und schüchtern er war.

Er stand vor dem Polizeiamt und suchte seinen Mut zusammen, um hineinzugehen und jemanden anzusprechen. Er konnte die Halle, die Theke und das Schild sehen. Er sah uniformierte Polizisten hinter der Theke, Polizisten ohne Helm, scheinbar entspannt. Aber eine gewisse Unruhe war nicht zu übersehen. Eine elektrisierende Spannung, die bis zu ihm drang.

Seine unsicheren Finger tasteten wieder nach dem Gürtel.

 

»Freund?«, sagte Sullivan.

»Das wird man unterstellen können«, meinte Collins.

»Sie ist in dem Alter gewesen.«

»Um die Zwanzig, ja.« Collins hob den Kopf. »Wir sind im Nachteil, bis wir wissen, wer sie war.«

»Sie wird vermisst werden«, brummte Sullivan. »Wahrscheinlich erst morgen früh.«

»Inzwischen können wir uns bereitmachen«, sagte Sullivan. »Und die Obduktion?«, sagte Carr.

»Morgen.« Sullivan schaute auf die Uhr und verbesserte sich. »Heute im Laufe des Tages. Der Coroner wird inzwischen informiert sein.«

»Ich komme vorbei. Wenn etwas Besonderes vorliegt, rufe ich Sie an.«

Collins überlegte.

»Der Ort«, sagte er schließlich. »Back Finkle Street, wo sie umgebracht worden ist.«

»Was ist damit?«, fragte Sullivan.

»Da kommt gewöhnlich kein Mensch hin. Nur Lieferanten für den Supermarkt, Müllabfuhr und dergleichen. Sonst kein Mensch.«

»Und als Abkürzung?«

»Es gibt keine. Man kann dort keinen Weg abkürzen.«

»Aber sie war dort«, meinte Sullivan. »Und ihr Mörder.«

»Richtig«, sagte Collins. »Darauf will ich hinaus. Sie ging hin. Sie wurde nicht geschleppt. Keine Spuren von Gewaltanwendung an ihrer Kleidung.«

»Mit einer - Kanone im Rücken?«, sagte Sullivan. Seine eigene Frage schien ihn verlegen zu machen.

»Gewiss nicht.«

Carr stopfte seine Pfeife und sagte: »Warum nicht?«

»Weil sie in Rufweite einer Hauptstraße war. Und man kann wohl davon ausgehen, dass sie in den Rücken geschossen worden wäre, wenn der Täter sie mit der Waffe vor sich hergetrieben hätte.«

»Wieso hergetrieben? Es gibt ja auch Autos«, erwiderte Carr, als er Sullivan den Tabaksbeutel zurückgab.

»Glaube nicht, dass ein Auto im Spiel war. Das würde bedeuten, dass sie in einem Fahrzeug mit der Waffe bedroht wurde, dass sie ausstieg, dass sie stehenblieb und an die Wand trat, alles ohne Gegenwehr. Kaum naheliegend.«

Carr grinste schief.

»Ich habe das Gefühl, dass Sie sich schon eine Meinung gebildet haben.«

»Nicht ganz«, sagte Collins. »Sie stand da. Sie ließ zu, dass ein Mann - unterstellen wir einmal, dass es ein Mann war, weil das naheliegt-dass ein Mann eine Schusswaffe auf ihre Kehle richtete. Sie wehrte sich nicht. Sie schrie nicht. Sie versuchte nicht zu fliehen.«

»Annahmen«, knurrte Sullivan.

»Annahmen«, bestätigte Collins. »Mehr haben wir im Augenblick noch nicht zu bieten. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen.«

»Einverstanden.«                                             

»Diese Annahmen bedeuten, dass sie ihn kannte. Sich nicht vor ihm fürchtete. Dass sie der Überzeugung war - der festen Überzeugung -, er werde nicht schießen... vielleicht auch, dass er nicht den Mut haben werde, abzudrücken.«

 

Der Mörder lag auf dem Teppichboden, den Rücken an das dreisitzige Sofa gelehnt. Er sah sich im Fernsehen die Filmspätvorstellung an, kaute Stücke von heißen Welsh Rarebit und schlürfte Tee aus einer Tasse, in die sein Vorname eingebrannt war.

Seine Mutter kam an die Tür.

Sie blieb kurz stehen und bewunderte ihre Familie, bewunderte ihren Sohn, der auf dem Teppich lag, ihre Tochter - drei fahre älter als der Sohn - auf dem Sofa, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Bewunderte ihren Mann, der in seinem Sessel saß und las.

Ihre Familie. Für die sie lebte.