BRYAN EDGAR WALLACE

 

Der weiße Teppich

 

 

 

 

Roman

 

Apex Crime, Band 64

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DER WEISSE TEPPICH 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

Der weiße Teppich war ein Zankapfel von dem Augenblick an, als Harriet MacDonald ihn vorschlug. Ihr Mann protestierte entschieden. Trotzdem ging sie hin und kaufte ihn. Als ich sie kennenlernte, bildete ich mir ein, ihr eigensinniges Beharren auf dem weißen Teppich sei nur eine Methode, sich gegen den dominierenden Gatten durchzusetzen: Aber wie so vieles in dem eigenartigen Haus lag auch hier, wie es sich herausstellen sollte, ein tieferer und keineswegs so simpler Grund vor.

 

Bryan Edgar Wallace (* 28. April 1904 in London; † 1971), der Sohn des legendären Schriftstellers Edgar Wallace, wurde in Deutschland insbesondere durch die Verfilmung seiner Romane in den 1960er Jahren bekannt.

Der Roman Der weiße Teppich erschien erstmals im Jahre 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr unter dem Titel George und Jojo.

Der weiße Teppich war überdies die literarische Vorlage für den Film Der Henker von London (Deutschland 1963, Regie: Edwin Zbonek) mit Hansjörg Felmy, Maria Perschy, Dieter Borsche, Wolfgang Preiss, Rudolf Fernau und Chris Howland.

Der Apex-Verlag veröffentlicht die Werke von Bryan Edgar Wallace als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME und macht diese Krimi-Klassiker erstmals seit nahezu fünfzig Jahren wieder verfügbar.

 

Der Autor

 

Bryan Edgar Wallace.

(* 28. April 1904 in London; † 1971).

 

Bryan Edgar Wallace - auch Edgar Wallace jr. - war ein englischer Kriminalschriftsteller und Drehbuchautor. Er war zudem der Sohn des erfolgreichen Schriftstellers Edgar Wallace.

Bryan Edgar Wallace wurde im April 1904 als Sohn des britischen Schriftstellers Edgar Wallace und dessen erster Frau Ivy Wallace, geborene Caldecott, geboren. Wallace benannte ihn nach dem amerikanischen Senator William Jennings Bryan, mit dem er befreundet war. Bryan Edgar ging auf die Oundle School und später auf das Emanuelle College in Cambridge, anschließend war er Offizier der britischen Armee. Nach seiner Militärzeit arbeitete er als Drehbuchautor bei British Lion, der Gaumont British Picture Corporation, Twentieth Century Fox und anderen Filmgesellschaften, bevor er für zwölf Jahre als Sekretär in der britischen Botschaft in Madrid arbeitete.

Bryan Edgar heiratete 1934 die Biographin seines Vaters, Margaret Lane, die Ehe wurde jedoch bereits 1939 wieder geschieden. 1940 heiratete er Wylodine van Dyke Jones aus Columbus in Ohio. Gemeinsam mit seiner Frau verbrachte er seinen Lebensabend auf dem Schloss Champigny in Champigny-sur-Veude bei Tours an der Loire in Frankreich.

Die Kriminalromane von Bryan Edgar Wallace wurden stark von denen seines Vaters beeinflusst, handelten jedoch vor allem von Agenten und Weltbeherrschungsplänen. Die Berühmtheit seines Vaters konnte er nicht erreichen.

Neben diesen eigenen Romanen schrieb Wallace Drehbücher nach verschiedenen Romanen seines Vaters, darunter The Flying Squad (1932), The Frightened Lady (1932), Whiteface (1932), Strangers on a Honeymoon (1936), The Squeaker (1937) und The Mind of Mr. Reeder (1939).

Nach einem Treffen mit den Filmproduzenten Artur Brauner wurden einige der Romane von Bryan Edgar Wallace im Rahmen des durch Constantin Film und Rialto Film ausgelösten Edgar-Wallace-Booms durch Filme in den 1960er- und 1970er-Jahren verfilmt. Dabei wurde teilweise nur sein Name genutzt und nur ein geringer Teil der Verfilmungen wurde nach seinen Romanen verfilmt; daneben wurden völlig neue, Edgar-Wallace-ähnliche Stoffe erdacht.

Zu den bekanntesten Bryan-Edgar-Wallace-Filmen gehören Der Würger von Schloss Blackmoor (1963), Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963), Der Henker von London (1963) und Das siebente Opfer (1964). 

DER WEISSE TEPPICH

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der weiße Teppich war ein Zankapfel von dem Augenblick an, als Harriet MacDonald ihn vorschlug. Ihr Mann protestierte entschieden. Trotzdem ging sie hin und kaufte ihn. Als ich sie kennenlernte, bildete ich mir ein, ihr eigensinniges Beharren auf dem weißen Teppich sei nur eine Methode, sich gegen den dominierenden Gatten durchzusetzen: Aber wie so vieles in dem eigenartigen Haus lag auch hier, wie es sich herausstellen sollte, ein tieferer und keineswegs so simpler Grund vor.

Ich persönlich musste, als ich den Teppich zum ersten Mal sah, Jock MacDonald recht geben. Er brachte eine übermäßig bizarre Note in ein an und für sich schon recht phantastisches Haus. Aber als dann alles vorbei war, habe ich mich zuweilen gefragt, ob nicht MacDonald mit seinem Interesse für afrikanische Zauberkünste dunkel geahnt haben mag, dass dieser Teppich der Schlüssel zu seinem Tode sein würde.

Harley Manor, das schöne alte Herrenhaus, das die MacDonalds bewohnten, habe ich mein Leben lang gekannt. Bevor die MacDonalds es kauften, hatte es den Craigs gehört, die mit meiner Familie befreundet gewesen waren. In meiner Jugend war ich in dem Haus aus und ein gegangen. Sie hatten einen Sohn in meinem Alter gehabt, aber er war bei einem Autounglück umgekommen, und da waren sie weggezogen. Er war der einzige Sohn gewesen. Ich nehme an, sie hielten es nicht aus, dort zu bleiben.

Wohl gerade weil ich das Haus so gut kannte und weil es so eng mit meiner Kindheit verknüpft gewesen war, war ich tief bestürzt, als ich sah, was MacDonald angerichtet hatte.

In den Jahren, in denen ich es gut kannte, war es ein schlampiges, behagliches Heim gewesen, etwas altmodisch, voll von Lachen, Hunden und Angelgerät in der Halle. Einmal im Jahr, erinnere ich mich, veranstaltete Mrs. Craig ein gigantisches Großreinemachen, und trotz der schmerzerfüllten Proteste der Kinder wurde aller angehäufte Kram auf einem gewaltigen Scheiterhaufen verbrannt. Trotzdem sah das Haus nach zwei Monaten wieder so aus, als ob gar nichts geschehen wäre.

Mehrere Jahre hatte das Haus leer gestanden. Dann zog plötzlich der neue Besitzer ein - MacDonald. Da er mein nächster Nachbar war, suchte ich ihn auf. Obwohl ich wusste, es sei jemand zu Hause, meldete sich niemand auf mein Klingeln, also gab ich es auf - das heißt so lange, bis ich Joan, MacDonalds Tochter, kennenlernte. Das genügte, um mich zu neuen Annäherungsversuchen zu bewegen.

Ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich zum ersten Mal das Innere des Hauses zu sehen bekam, nachdem die MacDonalds es übernommen hatten. Diesmal wurde mir die Tür geöffnet, von einem alten, verschrumpelten Neger, und den Bruchteil einer Sekunde lang war es, als ich die Halle betrat, v/ie eine Heimkehr; aber als ich mich umsah, bekam ich einen gewaltigen Schock: eine grausige Maske starrte mir ins Gesicht. Es gab vier Stück davon, je zwei links und rechts von der Tür, die früher einmal zu Vater Craigs Studierstube geführt hatte - eine Sammlung hässlicher afrikanischer Ritualmasken, eine immer schöner geschnitzt und eine immer abscheulicher als die andere. Schon ihr Anblick bedrückte mich, und noch heute bringe ich diesen ersten Augenblick mit all den Ereignissen in Verbindung, die sich später in diesem Haus abgespielt haben.         

Die Masken waren an und für sich schlimm genug. Ihre primitive Brutalität aber wurde noch durch den unfassbaren Kontrast zu dem Wandschmuck an der gegenüberliegenden Seite der Halle unterstrichen. Dort hingen neben der Tür, die früher einmal ins Wohnzimmer führte, zwei zarte französische impressionistische Gemälde.

Wandte ich mich nach links, dann befand ich mich in der heutigen Welt, wandte ich mich nach rechts, dann fühlte ich mich um zehntausend Jahre zurückversetzt, in eine Zeit, als alles Wissen noch im Verborgenen lag und das Leben der Menschen von der Angst vor dem Unbekannten beherrscht wurde. Es lag an dem krassen Kontrast: Als ob auf eine mystische Art das Haus in zwei Hälften zerfallen wäre. Mein erster Impuls war, wegzulaufen, aber, wie gesagt, ich war gekommen, um eine junge Dame zu treffen - also blieb ich da.

Ich bin nie ein Schürzenjäger oder Seladon gewesen, aber ich muss zugeben, im Falle Joan war ich drauf und dran, mich zu verknallen - noch dazu, nachdem ich sie bis dahin nur zweimal getroffen hatte. Jetzt hatte ich mir vorgenommen, sie zu einer Tennispartie einzuladen, die eigens zu diesem Zweck arrangiert worden war.

Joan MacDonald war ein merkwürdiges Mädchen, völlig anders als die Frauen, die ich je in meinem Leben kennengelernt hatte, und gerade ihre besondere Art machte sie so anziehend. Im Vergleich zu den ortsüblichen drallen Sporttypen, die in rotwangiger Fülle in meinem Erdenwinkel zu gedeihen schienen, war sie reiner Dynamit, und bereits unser kurzes Gespräch an den Seitenlinien von Dolly Harmsworths Tennisplatz, während wir zusahen, wie die Tochter des Dorfarztes mit schwitzender Begeisterung den Ball jagte, hatte mir gezeigt, dass alles an ihr durchaus ungewöhnlich war. Sie spielte nicht Tennis, war aber eine Meisterschützin. Sie hatte noch nie ein Kaninchen, wohl aber mindestens drei Tiger erlegt. Sie sprach nicht Französisch, dafür aber fließend Suaheli, und anders als die meisten jungen Mädchen aus meinem Bekanntenkreis, die sich nur dafür interessierten, wer es gerade mit wem trieb, wie und wo, machte Joan MacDonald kein Hehl daraus, dass sie jede Art von Tratsch langweilig fand.

Sie war nicht sehr groß, hatte aber die anmutig lässige Haltung eines Menschen, dessen Muskeln durchtrainiert sind und jedem Wink gehorchen. Ihr Gang hatte etwas Katzenhaftes, und obwohl sie sich durchaus natürlich bewegte, lag in ihrer gleitenden Anmut etwas Unwirkliches. Das Gesicht war herzförmig, mit reinen, scharf geschnittenen Linien. Obwohl die Backenknochen vielleicht ein wenig zu hoch saßen, als dass man von Vollendung hätte sprechen können, fand ich den Gesamteindruck berückend; nach Dollys Tennispartie konnte ich es kaum erwarten, Joan wiederzusehen.

Leider war die Woche nach der Partie recht arbeitsreich. Ich bin nämlich ein sogenannter Gentleman-Farmer, eine Art Landjunker. Ich bewirtschafte ungefähr elfhundert Morgen Land, die mir mein Vater vererbt hat, und gerade in dieser Woche hatte ich einen Mähdrescher für die Weizenernte gemietet. Jede Stunde war kostbar, und ich kam nicht los.

Am Sonnabend kurz nach der Mittagspause waren wir fertig, drei und eine halbe Stunde früher als berechnet. Ich ging eilends ins Haus und badete. Aus einleuchtenden Gründen laufe ich nicht gern mit Strohhalmen im Haar umher.

Ich weiß nicht, ob es zu trifft, dass Trennung die Herzen zärtlicher stimmt. Meine Neugier jedenfalls war erheblich gewachsen.

Joans Vater hatte ich nur ein einziges Mal getroffen, und ich muss zugeben, er war eine imposante Erscheinung. Ich beaufsichtigte gerade einige meiner Leute, die einen Zaun gegen seinen Wald zu reparierten. Plötzlich - lautlos - stand er da, wie aus dem Boden gewachsen, wie aus dem Nichts hervorgezaubert: eine wuchtige Gestalt, volle einsachtzig groß, obwohl er kleiner wirkte, weil seine Schultern so breit waren. Er musste seine guten hundert Kilo wiegen. Der massige Kopf saß auf einem kurzen, kräftigen Hals, der mit einer muskulös gewölbten Brust verschmolz. Obwohl seine Züge die gleichen heroischen Ausmaße hatten wie seine Glieder - fester Mund, weit auseinanderstehende Augen mit buschigen Brauen, eine große, leicht abgeplattete Nase -, machte er auf mich einen seltsam verschlossenen und versonnenen Eindruck. Er kam mir wie ein Mensch vor, der ganz auf sich selber konzentriert ist und ohne Rücksicht auf die Folgen seinen Weg geht. Instinktiv spürte ich, dass MacDonald sich seine eigenen Maßstäbe setzte.

Wenn sie mit den Lebensregeln oder Maßstäben seiner Mitmenschen in Konflikt gerieten, würde er dennoch unbeirrt seinen eigenen Kurs halten.

Natürlich wurde in der Umgebung, besonders abends im Wirtshaus, viel über ihn geredet, aber Genaueres ließ sich nicht feststellen. Er war Witwer, hatte fast sein ganzes Leben in Afrika verbracht, aber was er dort eigentlich getrieben hatte, konnte nicht einmal Sergeant Gruggins, unser lokaler Sherlock Holmes, ans Licht fördern - und er hätte es wissen müssen, wenn es überhaupt zu erfahren gewesen wäre. Was die Dorfbewohner am meisten ärgerte - weil sie nämlich für gewöhnlich binnen vierundzwanzig Stunden herausbekommen hatten, was jedermann tat -, war, dass keiner von ihnen bisher Gelegenheit gehabt hatte, einen Blick in das Haus zu werfen, seit der neue Besitzer eingezogen war. Auch aus den beiden Negerdienstboten war nichts herauszubekommen, weil sie nie das Grundstück: verließen. Alle Änderungen im Hause selbst hatte eine Londoner Firma vorgenommen, deren Arbeiter - wenn man der öffentlichen Meinung Glauben schenken wollte - sich mit dem neuen Schlossherrn verschworen hatten, den Mund nicht aufzumachen. Nach dem dritten oder vierten Glas Bier wurden die Geschichten, die man sich über Harley Manor erzählte, immer phantastischer.

Nach seiner Ankunft wohnte MacDonald allein mit seinen Dienern zwei Jahre lang in dem Haus. Dann wurde über Nacht alles zugesperrt, und die Bewohner verschwanden. Das war an und für sich recht seltsam gewesen, aber als er einige Monate später wiederkam, genauso geheimnisvoll und stumm, wie er abgereist war, kannten die Aufregung und Neugier im Dorf keine Grenzen mehr - besonders, da er eine junge schöne Frau mitbrachte, die nur halb so alt war wie er.

Die ganze Gegend bereitete sich auf die Invasion vor. Nun, da eine Frau im Haus regierte, würde alles anders aussehen, aber man irrte sich sehr: Mrs. MacDonald war eher noch unzugänglicher als ihr Mann, und die gute Gesellschaft durfte auch weiterhin in ihrem immer kälteren Missvergnügen schmoren.

Drei Wochen später tauchte Joan auf.

Sie war mit der Bahn bis Newbury gefahren und hatte dort ein Taxi genommen, dessen Chauffeur den Weg zum Herrenhaus nicht kannte. Zum Glück hatte ich an der Dorfstraße gestanden und konnte seine Fragen beantworten. Sie saß auf dem Rücksitz, hinter geschlossenen Scheiben, und musterte mich mit einer Gleichgültigkeit, die ich nur als geflissentlich bezeichnen kann. So betrachtet man einen Käfer, um seine Gattung zu bestimmen. Sorgfältig sah sie mich von oben bis unten an. Dann, davon bin ich überzeugt, warf sie mich in den Mülleimer. Ihre Bliche verließen mich und wanderten die Straße entlang, um nach erfreulicheren Exemplaren Ausschau zu halten. Aber solange ihr Blick auf mir ruhte, war ich seltsam betroffen: er war so durchdringend und unpersönlich, dass er in mir ein gewisses Vertrauen wachrief und ich ihn ebenso freimütig erwiderte, mit einem Freimut, den sie entweder nicht bemerkte oder ignorierte. Aber in diesen kurzen Sekunden hatte ich das Gefühl, in eine andere Welt entrückt zu sein und einem Erlebnis entgegenzusteuern, das außerhalb des Bereichs meiner bisherigen Erfahrungen lag.

Ich beschrieb dem Chauffeur den Weg zum Herrenhaus, und just, bevor er weiterfuhr, drehte sie sich um und bedankte sich bei mir mit einem Lächeln so freundlich, so frei von allen verlogenen Konventionen, so frei von jeder falschen Prüderie, dass ich schon die Hand heben wollte, um sie zurückzuhalten. Aber bevor ich mich rühren konnte, war sie weg.

Vier Tage lang benutzte ich jeden denkbaren und undenkbaren Vorwand, um ins Dorf zu eilen, aber von ihr war keine Spur zu sehen. Zweimal schritt ich an dem Zaun zwischen den beiden Grundstücken von einem Ende bis zum andern entlang, aber wiederum ohne Erfolg, und zuletzt musste ich Dolly Harmsworth um Hilfe bitten.

Dolly ist dick, um die Dreißig und glücklich verheiratet.

Burr Harmsworth, der irgendeinen unwahrscheinlichen Posten bei der Staatsanwaltschaft bekleidet, ist mein bester Freund seit der Zeit, da er mir im Alter von neun Jahren eine Tracht Prügel verabreichte. Dolly, die als ihre Hobbys eigentlich die Begonien-Zucht, die Entenjagd und die Heiratsvermittlung registrieren müsste, obwohl die beiden letzteren wahrscheinlich auf das gleiche herauskommen, war entzückt über die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einem Schlag zu treffen, und ich hatte kaum ausgeredet, da hing sie bereits am Telefon. Mit sonorer Stimme entschuldigte sie sich bei Joan, dass sie nicht angerufen habe, erklärte, sie veranstalte eine Tennispartie, und ohne sich um Joans Hinweis zu kümmern, dass sie nicht Tennis spiele, setzte sie ihren Wortschwall fort, bis die junge Dame am anderen Ende der Leitung kapitulierte.

Auf diese Weise lernte ich Joan MacDonald kennen. Und so kam es, dass ich die Leiche ihres ermordeten Vaters auf einem fleckenlos weißen Teppich liegen sah.

  Zweites Kapitel

 

 

Als ich den alten Neger, dessen unbeschreiblich verrunzeltes Gesicht von einem grauen Haarschopf gekrönt war und der aussah, als müsse er an die hundert Jahre alt sein, nach Miss Joan fragte, warf er mir einen hastigen und unverschämten Blick zu, als wollte er sagen, das kenne er schon und ich vergeudete nur meine Zeit, aber ich setzte eine strenge Miene auf, in, wie ich hoffte, bestem ,Sahib‘-Stil. Er trat zur Seite.

Nachdem ich einige Minuten in der seltsam veränderten Halle gewartet hatte, kehrte er mit einem verschmitzten Lächeln zurück, als ob er sich eine Lausbüberei erlaubte, und führte mich in die alte Bibliothek rechter Hand.

Natürlich war ich schon tausendmal in diesem Raum gewesen und glaubte ihn wie meine Westentasche zu kennen. Deshalb war ich so erschüttert, als ich sah, was MacDonald aus ihm gemacht hatte. Oft habe ich seither versucht, die Gefühle zurückzurufen, die mich überwältigten, als ich zum ersten Mal MacDonalds Museum erblickte. Ehrlich gestanden aber war ich ganz einfach erschrocken.

Es war kein großer Raum, mit niedriger Balkendecke und kleinen Schartenfenstern, die nicht sehr viel Licht einließen. Was ich aus Craigs Zeit am deutlichsten in Erinnerung hatte, war ein riesiger Schreibtisch, ständig mit Papier und mit Korkscheiben übersät, auf denen Schmetterlinge aufgespießt waren. Nun waren alle Spuren eines gemächlichen, sorglosen Lebens verschwunden. Das erste, was mir auffiel, als ich hereinkam, war ein unangenehmer, fauliger Geruch, ein übler Tropengestank, der sozusagen den Hintergrund der neuen Einrichtung bildete.

Unruhig sah ich mich in dem halbdunklen Raum um. An der Balkendecke hingen seltsam gebündelte Stäbe, Klötze und Fähnchen aus rauem Eingeborenentuch, die sich alle sachte bewegten, als ob sie ein eigenes Leben führten. Ich kam rasch dahinter, dass es der Luftzug von der Tür her war, der sie in Bewegung setzte. Trotzdem blieb der Eindruck bestehen, als krümmten sie sich vor geheimer Qual. Besonders einer der dort hängenden Holzklötze, in den ein grobes Gesicht eingekerbt war, faszinierte mich. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass dieses Gesicht sich mir ständig zuwende, wohin ich auch ging.

In einer Ecke stand eine winzige Eingeborenenhütte, etwa anderthalb Meter hoch, aus geflochtenem Stroh angefertigt. An ihrem First waren zerzauste Hahnenfedern befestigt. Offenbar hatte diese seltsame kleine Behausung einen Sinn, denn sie war von zahlreichen Töpfen und ausgehöhlten Kürbissen umgeben, und rund um das ganze Zeug hatte man sorgfältig einen Aschenkreis auf den Fußboden hingemalt. Dicht neben der Hütte ragte aus einem Sockel ein kleiner, knorriger, abgestorbener Baum empor, das Geäst hässlich verkrümmt, und an diesem unerfreulichen Gerippe baumelten allerlei Gegenstände. Nach einem ersten raschen Blick machte ich keine Versuche mehr, sie zu identifizieren.

Der Raum enthielt Hunderte von Sachen, und ich merkte, dass sie nach einem gewissen System angeordnet waren. Hier und dort waren einzelne kleinere Gruppen zusammengestellt, die etwas zu bedeuten schienen, ohne dass ich auch nur ahnen konnte, welchen Sinn sie hatten. Vor allem fiel mir ein großer Tisch auf, der mitten im Raum stand und auf dessen Platte MacDonald ausgerechnet zwanzig Hühnerflügel arrangiert hatte. Verdutzt starrte ich sie an. Aus welchem Grund sollte jemand so unappetitliche Relikte aufbewahren? Die abgetrennten Flügel waren von unterschiedlicher Größe und Farbe, manche recht abgenützt, alle aber, davon abgesehen, dass mindestens drei Stück halb vermodert waren, mit äußerster Sorgfalt geordnet und jeder durch gekreuzte, mit Reißnägeln in der Tischplatte verankerte Seidenfäden festgehalten. Warum man sich mit diesen Hühnerflügeln so viele Mühe gemacht hatte und was sie darstellen sollten, konnte ich mir nicht vorstellen, obwohl ich ein dunkles Gefühl hatte, als bedeuteten sie nichts Gutes. Ich bückte mich, um sie mir näher anzusehen, und merkte, dass sie einen sonderbaren, muffigen Geruch ausströmten, der mir von jenseits der zivilisierten Welt herbeizuwehen schien.

Der Raum bedrückte mich. Ich kam mir wie ein Eindringling vor, als hätte ich die geheimsten Winkel eines fremden Denkens durchstöbert, eines Denkens, das mir so fremd war, dass es mir sinnlos erschien. Die Kluft zwischen diesem Raum mit seinen Symbolen afrikanischer Magie und dem freundlichen Alltag meines Lebens war unüberbrückbar. Einen Augenblick lang wurde ich schwach und trug mich ernsthaft mit dem Gedanken, wegzuschleichen, bevor jemand hereinkam, aber während ich noch schwankte, kehrte der Neger zurück.

Wieder winkte er mir, mit der gleichen nonchalanten Kopfbewegung wie zuvor, und ich folgte ihm durch die Halle in das gegenüberliegende Wohnzimmer, das sich trotz seiner orthodoxen Einrichtung mit der Zeit als die eigentliche, die wahre Schreckenskammer entpuppen sollte, weit schlimmer als das Spukgemach, das ich eben verlassen hatte.

Das Wohnzimmer hatte keine Balkendecke. Die Wände waren grün gestrichen, mit, einem weichen, matten Chalzedon- Grün, das mir besser gefiel als das etwas schmutzige Braun, das die Craigs bevorzugt hatten. Die Möbel waren französisches Rokoko. Rechter Hand, als ich hereinkam, führte eine Glastür in einen nicht sehr sorgfältig gepflegten Garten. Dem Rasen hätte eine Portion Unkrautvertilgungsmittel nicht geschadet. Obwohl ich das alles nach und nach zur Kenntnis nahm, fesselte mich anfangs etwas ganz anderes - nämlich der Anblick des Teppichs. Er war von sahnig mattweißer Farbe und bedeckte fast den ganzen Fußboden, bis auf einen Rahmen gebohnerten Parketts. Er sah faszinierend aus, wirkte aber in diesem altväterlichen Haus deplatziert. Selbst in einer Stadtwohnung wäre er aufgefallen. Hier aber in diesem Raum mit der Aussicht auf einen vernachlässigten Garten sah er gekünstelt, gezwungen aus, und man hätte es fast für unmöglich gehalten, dass unter ein und demselben Dach zwei so völlig verschiedene Räume diesseits und jenseits der Halle Platz finden sollten. Wenn dieses blässliche Pastellinterieur die Hausfrau und jene finstere Kollektion des Unbekannten den Hausherren repräsentierte - wie hatten sie dann je zueinanderfinden können, ganz zu schweigen von einer Ehe? Was ich von der Frau aus der Ferne zu sehen bekommen hatte - nur recht wenig passte %xx dem Wohnzimmer. Sie war schlank, elegant, in ihrer Haltung um eine Nuance übertrieben, genauso wie der Teppich. Aber so sehr ich mich anstrengte, ich konnte den anderen Raum nicht mit dem Bild in Beziehung setzen, das ich von MacDonald gewonnen hatte. Es erschien mir undenkbar, dass so ein Kraftkerl, dem das Freiluftleben im Gesicht geschrieben stand, irgendetwas mit den verstohlenen Geheimnissen jenes abscheulichen Museums zu tun haben sollte.

Ich versuchte noch immer, dieses Problem zu lösen, da ging die Tür auf, und Joan kam herein. Alle meine konfusen Gedanken wurden durch eine Woge der Bewunderung hinweggespült. Sie sah noch bezaubernder aus, als ich sie in Erinnerung hatte, und die Träume, die ich in der vergangenen Woche geträumt hatte, waren nicht gerade schüchtern gewesen. Sie trug ein einfaches, weißes, ärmelloses Sommerkleid und an den bloßen Füßen besonders hübsche, schmale Sandalen. Sie sah ernst drein. An ihrem Stirnrunzeln merkte ich, dass sie sich über etwas geärgert hatte - hoffentlich nicht über meinen Besuch.

»Hat man Sie in das Zimmer auf der anderen Seite der Halle geführt?«, fragte sie, als sie hereinkam. Ich nickte mit einem Gefühl der Erleichterung. Gott sei Dank war nicht ich der Frevler.

Sie fuhr fort: »Ich wusste, es würde Unannehmlichkeiten geben, als mein Vater sich heute früh über die Eier beklagte.«

»Wie bitte?« Verdutzt sah ich sie an.

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Es ist eigentlich gar nicht wichtig, aber mein Vater wird wütend sein. Jojo hat leider manchmal seine Launen.«

Ich geriet immer mehr in Verwirrung. »Jojo?«, fragte ich verzagt.

»Der Neger, der Sie eingelassen hat. Er steht seit Jahren im Dienst meines Vaters, und manchmal nimmt er sich einiges heraus.«

»Hätte er mich nicht dort hineinführen sollen?«

Joan stieß einen kurzen, leicht gereizten Seufzer aus. »Mein Vater hat sich heute früh über die Eier beklagt, und das war Jojos Art, sich zu rächen. Papa wird toben, wenn er es erfährt.« Sie sah mir fest ins Auge. »Wir kennen uns nicht so gut, dass ich Sie um einen Gefallen bitten dürfte - aber würden Sie so lieb sein, nicht weiterzuerzählen, was Sie dort drin gesehen haben?«

»Selbstverständlich werde ich es nicht weitererzählen«, erwiderte ich ein wenig steif.

»Gut... Und warum haben Sie mich aufgesucht?« Ihre Stimme klang erschreckend sachlich.

»Ja - hm... Übermorgen findet bei mir eine kleine Tennispartie statt, und da dachte ich mir...«

Sie hob die Brauen. »Wie oft muss ich betonen, dass ich nicht Tennis spiele?«

»Aber ich dachte, vielleicht würden Sie nichts dagegen haben, zuzuschauen und ein paar nette Leute kennenzulernen.«

»Sehr lieb von Ihnen«, sagte sie kühl, »aber ich wüsste nicht, was das für einen Zweck haben sollte.«

Ich begann ärgerlich zu werden. Auch wenn eine Frau noch so schön ist, braucht sie einen nicht so von oben herab zu behandeln. »Gedenken Sie hier wohnen zu bleiben?«, fragte ich. Der plötzliche Wechsel des Themas überrumpelte sie, und zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, legte sie ein gewisses Interesse an den Tag.

»Ich habe noch keinen Entschluss gefasst... Wahrscheinlich aber nicht.«

»Deshalb pfeifen Sie auf die Nachbarn, ja?«

Sie sah mich lange an, bevor sie antwortete. »Ich war unhöflich, nicht wahr?«

Ich lächelte. »Ziemlich.« Seufzend trat sie ans Fenster, kehrte mir den Rücken und blickte hinaus. Und ich hatte das sonderbare Gefühl, dass sie einen Entschluss zu fassen versuchte.

Ohne sich umzudrehen, fragte sie: »Ihnen gehört das Gut nebenan?« Ich bejahte. Sie drehte sich noch immer nicht um und fuhr fort: »Sie haben wahrscheinlich Ihr ganzes Leben hier zugebracht?«

»Ich bin hier aufgewachsen, obwohl ich eigentlich erst vor vier Jahren - nach dem Tod meines Vaters - hierher übersiedelt bin, um das Gut zu übernehmen.«

Plötzlich drehte sie sich um. »Und was ist der eigentliche Grund Ihres Besuches?«

»Ich sagte schon, dass ich übermorgen...«

»Unsinn. Sie sind einzig und allein gekommen, um hier herumzuschnüffeln.«

»Wie können Sie so etwas vermuten...?«

»Warum also?«

Sie schien mir ein Mensch zu sein, der den Stier gern bei den Hörnern packt. »Um ehrlich zu sein, Sie gefallen mir sehr. Die Tennispartie war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie wiedersehen.«     

»Das hat wenigstens einen Sinn.« Sie musterte mich scharf, als wollte sie sich darüber klarwerden, mit wem sie es zu tun hatte, und dann machte sie eine seltsame Bemerkung. »Ich wäre auf keinen Fall die richtige Frau für Sie. Ich gehöre nicht hierher - vielleicht gehöre ich nirgendwo hin. Sie sind ein netter Mann, aber in meinen Augen stammen Sie aus einer anderen Welt.« Langsam sah sie sich um. »Was glauben Sie, wo meine Welt ist - hier oder in dem Raum an der anderen Seite der Halle?«

Da das genau die Frage war, die mir Kopfzerbrechen bereitete, zögerte ich, und sie fuhr hastig fort: »Sehen Sie, Sie können es nicht entscheiden!«

Ehe ich reagieren konnte, fragte sie mit gerunzelter Stirn: »Und was sagen Sie zu dem Raum an der anderen Seite der Halle? Ehrlich...«

Ich wurde immer verwirrter. Aber allem Anschein nach legte sie gar keinen Wert auf meine unmaßgebliche Meinung.

Sie blickte zu Boden. »Mein Vater hat in Afrika gelebt. Auch ich habe bis vor wenigen Monaten in Afrika gelebt.« Plötzlich blickte sie auf und sagte fast schroff: »Setzen Sie sich.« Sie nahm auf einem Sofa Platz und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. In geradezu schulmeisterlichem Ton fuhr sie fort: »Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, dass wir verschiedenen Welten angehören. Sie wurden in eine fertige, abgeschlossene Welt hineingeboren - inklusive aller Freunde und Feinde. Ich bin einfach nur zur Welt gekommen - von allem Anfang an ohne Freunde und Feinde. Können Sie sich vorstellen, wie das ist: ganz allein dazustehen - mutterseelenallein?«

»Aber Ihr Vater...«

Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, dass es seit Jahren das erstemal ist, dass ich mich mit meinem Vater unter ein und demselben Dach befinde? Ich...« Unvermittelt hielt sie inne.

Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, warum ich mich auf dieses Gespräch eingelassen habe. Mein erster Impuls war richtig: Sie so schnell wie möglich loszuwerden...«

Nun war ich an der Reihe, mich unverblümt zu äußern. »Ich habe es gespürt. Aber ich denke nicht daran, mich ab. wimmeln zu lassen.«

Sie zuckte die Achseln. »Sie werden sich die Finger verbrennen.«

Ich lächelte. »Seien Sie nicht gar so theatralisch.«

»Damit soll nur gesagt sein, dass Ihre Probleme nicht meine Probleme sind.«

Ich lächelte noch immer. »Das bilden Sie sich ein.«