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Danksagung

Autorin, Verlag und Lektorat danken Herrn PD Dr. Winfrid Halder für seinen umfassenden und vielschichtigen Kommentar.

In memoriam Prof. Dr. Horst-Peter Hesse, der den Erstkontakt zur Autorin ermöglicht hat.

Für meinen Sohn Klaus
und meine Enkelin Janina

Inhalt

Das Wolfskind aus Königsberg: Was bisher geschah

Das Wolfskind auf der Flucht

Zu alt für die Schule

Gute und schlechte Nachrichten

Ein starker Wille

Nur Zoselsuppe

Mein erstes Zeugnis

Nur nichts vergessen

Glücklich überstanden

Weihnachten 1949

Nehmt euch mal ein Beispiel!

Ein zufriedener Pastor

Nicht mal ein Bett

Wenigstens zuschauen

In blauer Bluse

Sport frei!

Vorfreude, schönste Freude

Ein armes Menschenkind

Tanzstunden bei der FDJ

Erwachsenwerden

Die Lauflokomotive

Zwischen Hitler und Stalin

Bau auf, bau auf, bau auf

Zwei Florentiner

Wie ein Donnerschlag

Aufruhr

Fluchtpläne

Ins Ungewisse

Schwarze Menschen

Über und unter den Wolken

Im goldenen Westen

Das erste Paar Schuhe

Amtsdeutsch

Aufbegehren

Wozu habe ich Dich denn in die Welt gesetzt?

Ersatzmutter

Von morgens bis abends auf Trab

Ein Sonntagsbraten für Alona

Nicht nur Trauer haben

Dreistufenröcke und Petticoats

Liebe auf den ersten Blick?

Versöhnung

Eine Zukunft für uns

Gemeinsam statt einsam

Endlich angekommen

Fotos und Dokumente von 1948 bis 1958

Begriffe der ehemaligen DDR

Ein ganz normales (Flüchtlings-)Leben oder
Vom pädagogischen Wert des Unspektakulären Ein Kommentar von PD Dr. Winfrid Halder

Das Wolfskind aus Königsberg:
Was bisher geschah

Ursula, genannt Ulla, stammt aus Königsberg. Aufgewachsen ist sie in einer einfachen Familie. Der Vater ist Soldat und bleibt im Krieg vermisst. Die Mutter, die sich hartnäckig weigert, die Stadt zu verlassen, hat fünf kleine Kinder zu ernähren. Ulla wird 1935 geboren. Ihre Kindheit ist durch die Kriegswirren in Königsberg geprägt. Mit der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee beginnen ihre Erinnerungen im ersten Teil ihrer Biografie „Ich war ein Wolfskind aus Königsberg“ (edition riedenburg, ISBN 978-3902647092).

Sie erzählt mit erschütternden Worten von den alltäglichen Massenvergewaltigungen und den Hungermärschen der aus der Stadt heraus und wieder zurück Getriebenen. Als sie begreift, dass ihr in Königsberg im Winter 1945/46 unweigerlich der Hungertod droht, treibt sie ihr Überlebenswille dazu, sich von Mutter und Geschwistern loszusagen und als blinder Passagier auf einem russischen Eisenbahnzug bis nach Kaunas in Litauen zu fahren.

Glückliche Umstände – ein russischer Soldat, der das elende Kind, allen Vorschriften zum Trotz, in den Waggon herein- und wieder hinauslässt, sowie die litauischen Familien, die ihr helfen – lassen Ulla überleben. Nach wenigen Wochen kehrt sie, inzwischen wieder etwas gestärkt, nach Königsberg zurück.

Die Lage ihrer Mutter und der Geschwister hat sich inzwischen dramatisch verschlechtert. Die Elfjährige bringt ihre Mutter dazu, die drei Geschwister in der Obhut einer Nachbarin zurückzulassen und mit ihr gemeinsam erneut nach Kaunas zu fahren. Doch die Rückfahrt wird unmöglich, da der gesamte Bahnverkehr streng von den Sowjets überwacht wird.

Zwei lange Jahre ziehen Mutter und Tochter als Bettlerinnen und Diebinnen kreuz und quer durch Litauen. Zwar könnte Ulla dauerhaft bei einer litauischen Familie unterkommen, aber ohne die Mutter. Beide geraten zwischen die Fronten der verschiedenen Interessengruppen in Litauen, ständig in der Angst, aufgegriffen und nach Sibirien deportiert zu werden. Als sie schließlich die Nachricht erreicht, dass die in Königsberg zurückgelassenen Kinder und die Nachbarin verhungert sind, bricht die Mutter seelisch zusammen.

Über Irrwege gelangen beide, verstört und aller Lebenskraft beraubt, 1948 doch noch nach Deutschland. In Weißbach, Thüringen, gewährt man ihnen Unterschlupf und, nach den Schwierigkeiten der Anfangszeit, eine sichere Bleibe. Selbst den Bruder Herbert finden sie, einem Wunder gleich, wieder. Doch dieser, mittlerweile bei Onkel und Tante wohnend, weigert sich, mit Mutter und Schwester in der DDR zu leben. Zu tief ist sein Misstrauen gegen den Staat, über den nun die Sowjetunion wacht. Wieder sind Mutter und Tochter auf sich gestellt.

Das Wolfskind auf der Flucht

Biographischer Roman von Ursula Dorn

Zu alt für die Schule

Nun traute ich mich überhaupt nicht mehr auf die Straße. Was sollte ich denn antworten, wenn mich die Leute nach Herbert fragen würden? Es war die Hölle für mich, jetzt in die Schule zu gehen und zu sagen, dass mein Bruder nicht mit nach Hause wollte. Ich suchte Trost bei meiner Freundin Inge und ihrer Mutter. Sie gaben mir viel Halt in dieser schweren Zeit.

Meine Mutter war, glaube ich, seelisch krank und wirkte immer verschlossener. Ich sagte: „Mutti, ich bin auch seelisch kaputt und muss trotzdem in die Schule gehen, um noch was zu lernen. Such dir eine Arbeit, damit du auf andere Gedanken kommst.” Wir machten uns öfter gegenseitig Vorwürfe, und es war für mich sehr schwer, das alles zu verkraften.

Ich ging in meiner Not zu Frau Bachmann, einer Bekannten, und sagte zu ihr, sie solle doch mal ernsthaft mit meiner Mutter sprechen. Die müsste doch mal daran denken, dass ich mit 14 Jahren noch fast ein Kind sei und nicht nur allein bei den Bauern arbeiten könnte, um ein bisschen Essen zu bekommen. Ich hielte das alles auf die Dauer nicht mehr aus. Da sagte Frau Bachmann zu mir: „Ulla, ich habe es deiner Mutter schon so oft gesagt, aber sie geht überhaupt nicht darauf ein. Ich habe drei Kinder, die ich ernähren muss. Es fragt auch keiner, wo ich es herhole. Sie könnte schon arbeiten, aber der Wille fehlt ihr einfach. Du musst stark sein im Leben, sonst gehst du mit deiner Mutter keiner guten Zukunft entgegen.” Diese Worte habe ich mir gemerkt und später auch befolgt.

Nun dachte ich oft über mich nach, und wie es wohl mit der Schule wird. Ich wollte mich anstrengen, damit ich ein gutes Zeugnis zur Schulentlassung bekommen würde, denn der Schulrektor Herr Huke hatte zu mir gesagt: „Ulla, du wirst dieses Jahr aus der Schule entlassen, weil du ja 14 Jahre alt bist. Wir können es nicht weiter dulden, dass du die Grundschule besuchst.”

Ich konnte es nicht begreifen. Ich war doch gerade ein paar Monate in die Schule gegangen, und nun war schon wieder alles vorbei. Ich ging zum Bürgermeister Herrn Henkel, erzählte ihm die ganze Sache, und er sagte: „Ulla, du bist zu alt für die Schule und musst eine Berufslehre anfangen.” Erstmal war ich baff, dann sagte ich: „Das geht doch überhaupt nicht, Herr Henkel. Ich habe doch keine achte Klasse gehabt. Das schaffe ich doch nicht mit dem Abschluss der fünften Klasse.” „Du wirst es schaffen müssen, wie so vieles, was du schon geschafft hast in deinem jungen Leben. Wenn ich dich jetzt fragen würde, was du denn gerne als Beruf lernen möchtest, was antwortest du mir?” Spontan sagte ich: „Herr Henkel, Schneiderin würde ich gerne werden wollen.” „Na, mal sehen, was sich da machen lässt.” Dann schickte er mich nach Hause.

Nach ein paar Tagen kam seine Tochter Rita zu mir, ich sollte doch mal zu ihrem Vater kommen. Er sagte zu mir: „Ulla, mit dem Schneiderberuf, da wird nichts draus. Da ist keine Lehrstelle frei, aber wie wäre es mit einer Lehre als Knopfmacherin in Schmölln bei der ehemaligen Firma Strauss, so hieß die Firma vor dem Krieg?” Ich war ganz glücklich darüber, dass Herr Henkel sich für mich so umgehört hatte, sagte zu, ohne dass ich mich mit meiner Mutter darüber unterhalten hatte, und bedankte mich bei ihm.

Der Beruf des Knopfmachers war zwar selten, aber interessant. Als Knopfmacherin sollte ich vor allem lernen, Knöpfe herzustellen, aber auch zu veredeln. Dafür lernte ich die verschiedenen Materialien kennen und die Maschinen, mit denen sie bearbeitet wurden. Mein wichtigstes Instrument war die Schiebelehre, mit der ich die Knöpfe vermaß. Außerdem lernte ich viel über die Verpackung der Knöpfe. Das geschah nach dem Wiegen im Endlager, wo die Knöpfe in Dutzend, Schock oder Gros – 12, 60 oder 144 Stück – abgemessen wurden. Diese Berufsausbildung war in Schmölln ganz neu und ich sollte zu den Ersten gehören, die sie anfingen. Am Ende würde ich eine Facharbeiterin sein.

Zu Hause erzählte ich die Neuigkeit. Meine Mutter war damit einverstanden. Nun konnte ich mich darauf einstellen, bald aus der Schule zu kommen, wo ich geglaubt hatte, für längere Zeit dort bleiben zu dürfen, um noch was hinzuzulernen, was mir in all den Jahren davor versagt geblieben war. Aber ich musste mich damit abfinden. Es war nicht mehr zu ändern.

Bei der Margitta Gabler, einer Schulkameradin, bekam ich immer noch jede Woche einmal Rechenunterricht, das machte mir Freude. Zum Spielen im Dorf war so gut wie keine Zeit übrig und eigentlich hatte ich dazu auch keine Lust. Ich glaube, es lag daran, dass ich schon viel erwachsener war als meine Mitschüler. Ich musste ja auch noch fürs Essen sorgen. Damit hatte keiner der Mitschüler was zu tun, denn die Eltern hatten fast alle einen Bauernhof und wenn es auch manchmal nur ein kleiner war. Auf jeden Fall waren sie meist Selbstversorger. Meine Mutter sagte zu mir: „Ulla, ich werde es noch mal versuchen, Onkel Alwin einen Brief zu schicken. Vielleicht überlegt es sich der Herbert doch noch und entscheidet sich, hier zu uns herzukommen.” Auch ich hatte noch ein wenig Hoffnung. Nach 14 Tagen kam die Antwort und Herbert sagte ab. Er kam in ein Lungensanatorium, um seine Tuberkulose auszuheilen. Onkel Alwin hatte uns geschrieben, er würde immer für Herbert da sein und wir sollten uns keine Sorgen machen.

Gute und schlechte Nachrichten

Als Mutter in Berlin war, um ihren Sohn Herbert zu holen, hatte Onkel Alwin ihr seine Geschichte von Königsberg erzählt: Er wurde von den Russen nach Sibirien verschleppt. Ohne seine Frau, Tante Herta. Er wusste nicht, wo seine Frau geblieben war und glaubte, sie wäre in Königsberg verhungert oder sonstwie umgekommen, denn seine einzige Tochter Doris war erst in letzter Minute vor dem Russeneinmarsch mit ihrem Verlobten Marcel Forell, einem französischen Kriegsgefangenen aus Paris, in Richtung Polen geflohen. Sie wollten weiter nach Frankreich. Ob sie es geschafft hatten, wusste keiner. Marcel hatte dem Onkel Alwin vorher noch seine Heimatanschrift hinterlassen und gesagt: „Egal, was passiert, wenn der Krieg aus ist, schreibe diese Anschrift an und frage, ob wir dort angekommen sind.”

Onkel Alwin hatte sich die Anschrift auf einem Zettelchen notiert und es auf seinen Kopf, in winzige Folie gefaltet, geklebt. Da er einen ganz dunklen, lockigen Haarschopf hatte, lag der Zettel gut versteckt da drauf. Sicher hätte er gelitten, wenn dieses Papier entdeckt worden wäre.

Das Schicksal nahm in Sibirien seinen Lauf. Onkel Alwin wurde von einem Arbeitslager in ein anderes verlegt und einige Zeit später begegnete er seiner eigenen Frau in diesem Lager wieder. So waren sie in Sibirien gelandet, ohne es voneinander zu wissen. Beide kamen später nach Berlin. Die Doris und der Marcel sind auch bis Paris durchgekommen und haben dort geheiratet.

Nach dieser guten Mitteilung von Alwin suchten Mutter und ich nach weiteren Verwandten. Ob noch welche lebten, wussten wir nicht. Dann aber schrieb uns Onkel Alwin, er hätte gehört, dass die Schwester von Mutter und ihm, die Tante Agnes, mit ihrer Tochter Karin in Bielefeld wohnen würde. Er hatte es von einem Bekannten erfahren. Einige Zeit später erhielten wir die Anschrift von ihr. Es stimmte, sie war es wirklich! Die Freude bei uns war riesig, und wir haben dann auch gleich einen Brief an sie geschickt. Mutter konnte es kaum glauben, dass sie noch lebten. Es dauerte nicht lange und dann kam Post von ihr. Sie hatten geglaubt, wir wären in Königsberg gestorben. Wir schrieben, was wir erlebt hatten. Die konnten gar nicht glauben, dass so viele aus unserer Verwandtschaft verhungert waren. Es brach für sie eine Welt zusammen. Sie wussten ja von alledem überhaupt nichts. Dann haben wir ihr schreiben müssen, dass ihr Mann von den Russen in Königsberg erschlagen worden war. Sie war ganz ahnungslos und hatte ihn als vermisst gemeldet. Dies alles haben wir unserer Tante Agnes im Brief mitgeteilt, und die wurde darüber krank und konnte es nicht fassen. Wir wären ja gerne zu ihr hingefahren und hätten mal alles erzählt, aber das ging ja nicht, weil wir in der Ostzone wohnten und nicht das Geld dafür hatten, im Westen meine Tante zu besuchen. So blieb uns nur das Briefeschreiben.

Ein starker Wille

Ein paar Wochen später kam der Rektor Huke zu mir und meinte: „Ulla, jetzt kommt bald die Schulentlassung für dich. Du musst dich nach einer Lehrstelle umhören.” „Herr Huke”, sagte ich, „der Herr Henkel hat schon mit mir darüber gesprochen und wollte mit mir zum VEB Knopffabrik Strauss hingehen, wenn ich es möchte.” Er war darüber erfreut und antwortete: „Du wirst es schon alles schaffen.”

Nun begann also schon wieder ein neuer Lebensabschnitt für mich. Es kam in mir eine große Angst auf, wie es wohl alles weitergehen würde. Wir sprachen auch in der Schule davon und der Lehrer König sprach mir großen Mut zu.

EinigeTage später musste ich wieder zu Herrn Henkel hinkommen. Er teilte mir einen Termin für die Vorstellung in der Knopffabrik mit und ich ging dann dorthin. Der Personalchef war sehr nett zu mir. Ich schilderte meine Vergangenheit, und er konnte es nicht fassen, dass ein Kind das alles erlebt hatte. Als dann das Gespräch zu Ende war, sagte er: „Wenn die Schule beendet ist, kommst du wieder zu mir, und wir machen einen Lehrvertrag.” Glücklich ging ich nach Weißbach zu meiner Mutter und erzählte alles, was wir besprochen hatten. Auch sie war froh darüber. Ich bin dann zu Herrn Henkel hingegangen, habe die freudige Nachricht erzählt und mich für seine Hilfe bedankt.

Nun kam mir auf einmal der Gedanke: Die Schule ist vorbei! Ich bin plötzlich erwachsen und muss Geld verdienen! Es war alles kaum zu verarbeiten, zu viel war auf mich eingebrochen. Kaum war ich aus Litauen rausgekommen, war ich nun wieder auf mich allein gestellt. Ich dachte ständig daran, ob ich es wohl schaffen werde! Mein Wille war sehr stark. Meine Mutter gab mir darin keinen großen Beistand. Es war wohl für sie ganz normal, dass es für mich so ablief.

Nur Zoselsuppe

Um unseren Tagesbedarf an Essbarem zu decken, musste ich nach Schulschluss fast jeden Tag aufs Feld oder Kühe hüten. Es war ganz schön mager bei uns. Ich wusste manchmal nicht, was ich in die Schule als Pausenbrot mitnehmen sollte, geschweige denn, dass ich was aufs Brot hätte drauflegen können. Wenn überhaupt ein Pausenbrot, dann mit einfachem Getreidekaffee getränkt, ein paar Krümelchen Salz oder Zucker drauf, das war schon der pure Luxus für mich. Ich konnte mich mit den Bauernkindern nicht messen. Die hatten alles. Da fehlte es an nichts.

Wie sollte das bloß werden, wenn ich demnächst morgens in die Lehre gehen und den ganzen Tag arbeiten müsste ohne ein richtiges Essen? Es ginge ja dann auch nicht mehr, dass ich bei Hofers oder einem anderen Bauern helfen könnte, um etwas zu kriegen. Das Wenige, was wir auf Marken bekamen, langte überhaupt nicht. Meine Mutter müsste sich eine Arbeit suchen, damit wir überleben könnten. Dieses Thema sprach ich nun öfters an, aber Mutter ging mir stets aus dem Weg. Wir beide stritten uns oft. Mich zog es daher oft zu meiner Freundin Inge. Der erzählte ich dann, was bei uns los war, aber helfen konnte sie mir auch nicht. Trotzdem war ich froh, in die Lehre zu kommen, um ein anderes Umfeld zu haben. Auch Frau Bachmann sprach meine Mutter an und sagte: „Asta, du musst dir eine Arbeit in Schmölln suchen, damit ihr beide etwas Geld zusammenbekommt.“ Das war aber nichts für meine Mutter.

Ich dachte mir, dass es ja irgendwie weitergehen müsse und ging eines Tages nach der Schule ins Nachbardorf Vollmershain. Da gab es noch viele Bauern. Ich fasste den Entschluss, mir etwas zusammenzubetteln. Von einigen Bauern bekam ich ein paar Kartoffeln und war ganz froh darüber, meine Betteltasche fast voll zu haben. Auch ein bisschen Mehl hatte mir eine Bäuerin gegeben. Dann aber kam ich auf einen Hof, wo ich ebenfalls ein paar Kartoffeln erbetteln wollte. Ich war gerade durch die Eingangspforte durchgegangen, da trat mir vermutlich der Bauer selber entgegen. Er beschimpfte mich wütend und jagte mich vom Hof. Ich war sehr verängstigt, rannte weg und dachte: „So ein grausamer Mensch. Der hat alles und ich nichts.“ Ich drehte mich spontan um, suchte nach einem Stein und warf ihn voll Trauer in meiner Seele auf den Hof zurück.

Ich bin dann weinend über die nahe bei Weißbach gelegene Autobahn nach Hause gelaufen. Dort erzählte ich alles meiner Mutter. Die konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gab. Wir aber hatten wenigstens für ein paar Tage Kartoffeln und machten uns daraus die Zoselsuppe. Sie wurde aus roh geriebenen Kartoffeln mit Wasser gekocht und schmeckte nach gar nichts. Aber wir waren froh, dass es sie gab. Ich habe mir manchmal ein bisschen bei Hofers verdiente Milch reingegossen. Dann hatte die Suppe wenigstens nicht mehr diese unansehnliche graue Farbe.

Bei den Weißbacher Bauern aber gab es alles in Hülle und Fülle. Doch sie teilten nicht. Da wurden die Schweine wie eh und je geschlachtet – nur heimlich. Eigentlich durften sie es nicht, aber da wurden viele Vorschriften umgangen.

Mein erstes Zeugnis

Nun kam für mich die Zeit der Schulentlassung immer näher und ich fürchtete mich davor. Ich bin dann zu Herrn Huke, unserem Schulrektor, und habe ihm meine Bedenken mitgeteilt. Er sprach mir Mut zu und sagte: „Ulla, es wird schon alles seinen Lauf nehmen. Nur immer gut aufpassen, was in der Berufsschule alles gelehrt wird und in der Firma ebenfalls, dann klappt es auch.” Diese Aussprache hat mir sehr geholfen.

Dann suchte ich meine Papiere zusammen, damit ich in der Firma meinen Lehrvertrag machen konnte. Ich bin hingegangen, um alles zu erledigen, da wurde ich gleich durch die ganze Firma geführt, auch in die Lehrwerkstatt. Ich sah, dass die Knöpfe aus Kunststoff, Holz, Horn oder Metall waren. Als Knopfmacherin würde ich entweder mit einer Drechselmaschine arbeiten oder auch von Hand Knöpfe feilen, raspeln, bohren und fräsen. Die beiden Ausbilder zeigten mir auch, wie Knöpfe veredelt wurden, indem wir sie lackierten oder mit Stoffen überzogen. Für ganz besondere Knopfmodelle wurden sogar Verzierungen gefräst.

In der Lehrwerkstatt begrüßten mich der Obermeister, Herr Schilling, und der Lehrausbilder, Herr Sebastian. Sie waren ganz freundlich zu mir und fragten, wann ich denn anfangen wollte. Es war Mitte Juni und die Schulentlassung sollte im Juli sein. Also Juli. Wir verabschiedeten uns, und Herr Sebastian sagte: „Auf gute Zusammenarbeit!”

Glücklich ging ich nach Weißbach zurück und gleich zu Inge. Ich erzählte ihr von der Zusage und sie freute sich auch darüber. Zu Hause bei meiner Mutter kam ich mir so richtig erwachsen vor. Ich war demnächst diejenige, die etwas Geld verdienen sollte?! Ich konnte es gar nicht begreifen. Immer wieder dachte ich daran, wie es sein würde, mein eigenes Geld in der Hand zu haben.

Die Zeit verging nun schnell und es kam der Tag der Schulentlassung. Es war der 24. Juli 1949, für mich ein schwerer Tag. Ich war sehr gerne in die kleine Dorfschule gegangen. Die Lehrer waren nett zu mir gewesen. Der Herr Huke hatte mir geholfen und Herr König hatte immer viel Verständnis für mich, wo ich doch von einem Nichts angefangen hatte. Ich bekam zum Abschied mein erstes Zeugnis im Leben und war ein wenig stolz darauf. In der Klasse wurde noch eine kleine Feier abgehalten, dann gingen wir alle heim. Ich schaute immer wieder auf mein Zeugnis und freute mich darüber. Mein großer Einsatz für das Lernen hatte sich gelohnt. Meine Mutter war ganz erstaunt. Ich schrieb es gleich meiner Tante Agnes nach Bielefeld und die schickte mir ein großes Paket aus der Westzone, wie es im Volksmund hieß.