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Herstellung: Libri Books on Demand GmbH, Hamburg

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ISBN 978-3-74121-782-1

„Der Endzweck aller Kultur ist es, das, was wir ‚Politik’ nennen, überflüssig, jedoch Wissenschaft und Kunst der Menschheit unentbehrlich zu machen.“ (Arthur Schnitzler)

„Ein Buch ist ein Garten, den man in der Tasche trägt.“ (Afrikan. Sprichwort)

„Kultur ist die Pflege der Vernachlässigung einer Naturanlage.“ (Karl Kraus)

„Bildung ist vollendete Natur.“ (Platen)

„Alle Bildung reduziert sich auf den Unterschied von Kategorien.“ (Hegel)

„Kahler schon ist Vergil in seinen „Eklogen“, am langweiligsten aber Geßner, so daß ihn wohl niemand heutigentags mehr liest und es nur zu verwundern ist, daß die Franzosen jemals so viel Geschmack an ihm gefunden haben, daß sie ihn für den höchsten deutschen Dichter halten konnten. Doch mag wohl einerseits ihre Empfindsamkeit, welche das Gewühl und die Verwicklungen des Lebens floh und dennoch irgendeine Bewegung verlangte, andererseits die vollkommene Ausleerung von allen wahren Interessen, so daß die sonstigen störenden Verhältnisse unserer Bildung nicht eintraten, das Ihrige zu dieser Vorliebe beigetragen haben.“ (Hegel: „Ästhetik“, Frankfurt/M. 1955, S. 451)

Für Horst Friese

Inhalt

Sigmund Freud sagte, „daß Philosophie eine der anständigsten Formen der Sublimierung verdrängter Sexualität, nichts weiter, ist."

(Ludwig Binswanger: „Erinnerungen an Freud“, Bern 1956; Seite 19)

Die Freiheit auf der Couch: Jean-Paul Sartre

In einem Interview nach seiner Erblindung, die seine Laufbahn als Schriftsteller abschloß, bekannte Sartre, aus Schriften über ihn habe er nie etwas über sich lernen können. Machen wir einen neuen Versuch, den Denker der absoluten Freiheit über den Sinn seiner Ideen aufzuklären.

Der schon 33-Jährige debütierte mit dem Roman „Der Ekel“, den er heute für seinen bleibenden literarischen Beitrag hält. An einer schwarzen Kastanienwurzel im Park von Bouville (Rouen) geht dem Protagonisten Antoine Roquentin eine metaphysische Grunderfahrung auf: die Dinge existieren, und sie existieren unabhängig von menschlichen Bedeutungen und Bezügen; Geschichte und Gesellschaft sind ihrer nackten Existenz wie nur übergestülpt. Die jungfräulich reine Natur, bevor der Bürger seine Fettfinger auf sie gelegt und sie zum Arbeitsmaterial erniedrigt hat, erregt nicht heilige Wonneschauer wie den heutigen Ökolog(ist)en und Naturschutzheiligen, sondern Grauen und Abscheu. Die antifaschistische Résistance weckte Sartre aus seiner anarchistischen Kleinbürgerradikalität.

Das Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ (1943) wurde von nihilistischen Intellektuellen der Pariser Kneipenkeller begeistert aufgenommen und mißverstanden als Pop-Philosophie eines amoralischen Sichauslebens auf den Trümmern des 2. Weltkriegs. Seine Resistance-Erfahrungen verarbeitete Sartre in der Roman-Tetralogie „Wege der Freiheit“. Der politische Philosoph verschrieb sich von nun an einem voluntaristischen Dezisionismus und liberalistischen Hyper-Aktionismus von Happenings. Um der Rechten nicht zu dienen in der Restaurationsphase, verteidigte er gegen den Weggefährten Camus sogar die stalinistischen Schauprozesse, ohne sich je den Kommunisten explizit anzuschließen. Gegen den bürokratisch skierotisierten Sowjetmarxismus schrieb er nach dem Ungarnaufstand das Theaterstück „Die schmutzigen Hände“ und die „Kritik der dialektischen Vernunft“ (1959), einen anarchistischen „Marxismus für das 21. Jahrhundert“, der den Existenzialismus als „historisch-strukturale Anthropologie“ dem historischen Materialismus als „Enklave“ andiente. Nur militanten Gruppen traute er hier die Kraft zu, die objektive Trägheit immer neu zu überwinden, zu der den Menschen ihre eigene systemüberschreitende Praxis dialektisch immer wieder gerinnt. Unter dem Eindruck der Pariser Mairevolte 1968 näherte er sich, erneut enttäuscht von den französischen Sozialisten und Kommunisten, jenen maoistischen Gruppen an, deren Denken er eher verspottet hatte. Selbst seine programmatische „littérature engagée“ verabschiedete er mit der brillanten Autobiographie seiner ersten zwölf Lebensjahre: „Die Wörter“. Die unvollendet gebliebene Flaubertstudie „Der Idiot der Familie“ vereinigte nach den Baudelaire- und Genetstudien noch einmal alle literarischen und philosophischen Intentionen zu einer marxistischen Ästhetik, welche die subjektive Neurose Flauberts mit der „objektiven Neurose“ seines bürgerlichen Publikums im 19. Jahrhundert vermittelte zu einer Selbstanalyse des Schriftstellers Sartre, eines kleinbürgerlichen Revolutionärs im 20. Jahrhundert.

Sartres Werk wird unsere Interpretationsversuche von drei Gesichtspunkten aus interessieren müssen. Einmal gilt es, sich auseinanderzusetzen mit seiner Absicht, Freuds Psychoanalyse durch eine eigenwillige „existentielle Psychoanalyse“ zu ergänzen, ja, zu ersetzen. Zum anderen hat Sartre sich selbst explizit zu Kernthemen der Psychoanalyse - wie Liebe, Haß, Sexualität, Sadomasochismus, Phantasie, Emotion, Bewußtsein, Unbewußtes - auf eine Weise geäußert, die zuweilen signifikant abweicht vom gängig gewordenen psychoanalytischen Standardmodell. Drittens werden wir Sartres Metaphysik, also auch und gerade jene genuin philosophischen Gedanken, die nicht ausdrücklich zur Psychoanalyse und ihren Lieblingsproblemen Stellung nehmen, einem psychoanalytischen Deutungsversuch unterziehen.

Da er von der „klaren und deutlichen“ Selbstgewißheit des cartesianischen ego cogito ausgeht, lehnt Sartre erst einmal ab, die autonome Existenz des Unbewußten als einer Sphäre sui generis anzuerkennen. Freuds „System ubw“ hält er für eine ontologisch mystifizierte Hypostase, die es gerade philosophisch in „reines Bewußtsein“ aufzulösen gelte. Natürlich gibt Sartre zu, daß auch dem - von ihm zum „narzißtischen Größen-Selbst“ (Kohut) hypertrophierten - Ich nicht jederzeit all das explizit bewußt ist, was sein ganzes Sein ausmacht. Um aber trotzdem die supponierte Hegemonie dieses Ich gegenüber Es, Überich und Realitätsprinzip aufrecht zu erhalten, führt Sartre das „nichtthetische Bewußtsein des präreflexiven Cogito“ ein. Das erlaubt ihm, in Freuds „System ubw“ ein verkapptes und mystifiziertes „System vbw“ entlarvt zu glauben. So bleibt Sartres Ego cogito auch dort Herr im eigenen Hause, wo es zu offensichtlich von ichdystonen Antrieben gesteuert und von Heteronomie behindert scheint. Es ist Sartre offenbar so unerträglich kränkend, die Möglicheit eines naturdeterminierten Ich einzuräumen, daß er diesem allwissenden, transzendental omnipotenten Cogito lieber noch die stolze Verantwortung für jedes Nichtich und für krasseste Schicksalsschläge aufbürdet. Keinem Menschen könne im Ernst etwas wirklich Unmenschliches passieren, nichts nur von oben und von außen zustoßen, da alles, was wir erleiden, nur die Kehrseite dessen sei, was wir wünschen. Wenn das Subjekt unterdrückt und ausgebeutet werde, wenn es ohnmächtig und abhängig sei, dann nur deshalb, weil es bloß ernte, was selber gesät zu haben es vor sich und anderen wohlweislich allzu gern verberge, und weil es eine „unwahrhaftige Urwahl“ seiner selbst aufrechterhalte, in deren vorgängigem Horizont dann die Welt als sinnvoll gegliedertes Reich möglicher Widerstände und Gegenstände allererst auftauchen könne.

Sartre findet immer neue Formulierungen, das Ich aus allen Foltern als Herr selbst seines grausamsten Schicksals hervorgehen zu lassen. Alles, was sich dem Ego wie von oben und außen auferlege (verinnerlicht zu Es, Realität und Überich) - der „Widerstandskoeffizient der Dinge" - existiere ja nur für ein Ich, das „in der Welt auf etwas aus" sei und sie „auf seine Ziele hin überschritten" und von diesen Selbstprojektionen aus als „Antifinalitäten“ entdeckt habe. Ein Berg könne sich nur dem als unbesteigbar enthüllen, der ihn besteigen wolle. Unabhängig von einem menschlichen Entschluß, ihn zu erklimmen, habe es überhaupt keinen Sinn, von seiner Unbesteigbarkeit zu sprechen oder sich gar noch auf sie zu berufen beim Versuch, etwa das Unterlassen eines Besteigungsversuchs vor sich und anderen zu rechtfertigen, sich auf Sachzwänge herauszureden und von der vermeintlichen Objektivität der Gegebenheiten entschuldigen zu lassen, die es nur für ein Subjekt gebe, das sie provoziere durch seinen „Entwurf“, sie zu überwinden, zu unterlaufen oder zu umgehen.

Auf den mütterlichen Venusberg übertragen heißt dies, daß die väterliche Kastrationsdrohung nichts ist außer für und durch einen Sohn, der den Inzest begehrt (oder verdrängt). Das Kind scheitert mit seinem unerfüllten Wunsch nicht einfach an seinem Vater über ihm, weil die verbietende Macht des Vaters das bloße Korrelat des kindlichen Inzestwunsches sei, durch den der Sohn erst überhaupt darüber befinde, ob es so etwas wie das Inzesttabu und väterliche Sanktionen gebe: Er könnte ja auf diese Begierde verzichten, und schon gäbe es die Kastrationsdrohung nicht mehr für ihn.

Man weiß, wie das neurotische Kind reagiert: Statt ihn aufzugeben oder den prekären Wunsch doch durchzusetzen, verdrängt das Kind, daß es die verbotene Mutter weiter libidinös besetzt hält. Was heißt „verdrängen", fragt Sartre, an dieser Stelle? Wird nun das verpönte Verlangen aus dem Medium des Bewußtseins herausgehoben und in ein ebenso verabsolutiertes Medium, genannt Unbewußtes, getaucht, gleichsam von einem Gefäß in ein anderes getunkt? Sartres Kritik an dieser objektivistischen Vorstellung stützt sich dabei vor allem auf die sogenannte „Nachverdrängung" einer unbewußt gewordenen Regung. - Gesetzt, eine Strebung erfahre von der Zensurbehörde des Über-ich eine moralische Zurückweisung und werde ins System ubw abgeschoben und dort sequestriert. Auch nach Freud ist eine ständig neu aufzufüllende Energiebesetzung nötig, um den Widerstand gegen die Rückkehr des also Verdrängten ins Bewußtsein aufrecht zu erhalten. Es genügt nicht, das zu verheimlichende Gelüst ein für allemal zu verdrängen, es muß in jeder Sekunde neu verdrängt werden und im Status der Verdrängtheit gehalten werden. Wie, fragt nun Sartre sehr scharfsinnig, kann das Ich - via Überich - die beanstandete Regung am Bewußtwerden hindern, wenn es gar nicht weiß, was es verdrängen soll? Muß es nicht implizit ein wenn auch noch so unausdrückliches Bewußtsein von dem haben, was es unbewußt lassen soll - eben, um es unbewußt zu halten? Wie kann das Ich etwas aus dem Bewußtsein entfernt lassen, wenn ihm nicht unablässig durchaus bewußt bleibt, w a s es eliminiert zu halten hat? Für Sartre gibt es nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Um ins Unbewußte verdrängen zu können, muß paradox gerade dieser Begriff des Unbewußten fallen gelassen werden. Um etwas nicht bewußt werden zu lassen, müsse dem Ich bewußt bleiben in jeder Sekunde, daß und was es ins Unbewußte detachieren wolle. Verdrängung ist für Sartre nur ein Sonderfall von Unaufrichtigkeit und Unwahrhaftigkeit des Ich gegen sich selbst, eine „mauvaise foi“, ein Akt schlechten Willens, für den es wie für alle übrigen Abwehrmechanismen voll verantwortlich bleibe, auch und gerade da, wo es sich auf etwas Ichfremdes entschuldigend berufen wolle. Verdrängen, das heiße einfach etwas vor sich selbst verbergen, und um etwas vor mir verbergen zu können, müsse ich schon wissen, was ich verstecke und daß ich es verstecke. Von Verdrängung i. e. S. ist nach Sartre dann zu sprechen, wenn das Ich nicht nur vor anderen verschweige, sondern auch und vor allem vor sich selbst geheim halte, daß es etwas geheim halte, dessen es sich gleichwohl bewußt bleiben müsse, einfach, um es geheim halten zu können. Das Ich spielt ein falsches Spiel und Versteck mit sich selbst; es tut, als wüßte es nicht, was es weiß, und muß doch wissen, was es tut, um es überhaupt konsequent tun zu können, als wüßte es nicht: es belügt sich selbst. Gut, wird man sagen, es belügt, um nicht bestraft oder gekränkt zu werden, sich selbst - aber ja doch unter Druck. Aber diesen Druck, wird Sartre einwenden, gebe es ja nur, sobald und solange das Ich sich entschließt, sich mit seinem inzestuösen Es zu identifizieren und dadurch den empörten Aufschrei seines Gewissens herauszufordern.

Etwas nicht wahrhaben wollen heiße aber zu wissen, daß man es eigentlich besser wisse. Streng logisch betrachtet, unterscheidet Sartre also zwei Ebenen der Abstraktion: das Ich contra Trias Es-Überich-Realität und das narzißtische Selbst des Ego cogito. Das cartesianische Ego ist gleichsam die Metastufe über jener Ebene, auf der ein empirisches Ich einem gleichberechtigten Es oder Überich oder Realen wie ausgeliefert scheint. Als ein empirisches Ich bin ich Teil der Welt unter anderem und ihren Determinismen unterworfen, eine Wirkung von Ursachen, über die ich keine Macht haben mag. Als gleichzeitig freie Subjektivität allerdings bin ich Inbegriff jener Welt, in der mein empirisches Ich als Objekt anderer Subjekte ihnen ausgeliefert ist, und der Schöpfer dieser Welt, in der ich Geschöpf unter anderen zu sein habe. Als Subjekt, das alle anderen Subjekte zu seinen Objekten zu machen vermag, kann ich gleichwohl in jeder Sekunde auch Objekt dieser Subjekte werden. Entweder bin ich nach Sartre Herr oder Knecht, tertium non datur: entweder Geist oder Materie, Subjekt oder Objekt, Mann oder Frau, Vater oder Mutter, Vater oder Kind, Überich oder Ich. Als Subjekt aber bin ich wohl Herr über meine Objekte, aber nicht Herr über meine Herrschaft über sie. Nach Sartre bin ich nämlich ebenso frei wie zu dieser Freiheit „verurteilt", von wem auch immer und für welche Untat auch immer. „Wie könnte man sich befreien, wenn man nicht schon frei wäre?“ Eigentlich sei ich immer frei und reines Subjekt und noch Urheber meiner eigenen Knechtschaft, denn Gegenstand in den Augen eines anderen könne ich nur sein, wenn ich zuvor darauf verzichtet habe, ihn meinerseits zu meinem Gegenstand zu machen, wenn ich ihn dazu ermächtigt habe, mich zu seinem Objekt zu machen. Kurz: alles verläuft nach Sartre so, als würden nicht Es oder Überich oder Realitäten mich bestimmen, sondern als würde allein ich selber diese Mächte dazu bestimmen, nun mich zu bestimmen.

Es mag sein, sagt Sartre, daß eine Frigide glaube, sich aus ihrer Frigidität als einem organischen Befund erklären zu können, aus einer unzurechenbar vorgegebenen Tatsache definieren zu dürfen, daß sie sich also nicht bewußt ist, sich diese Frigidität in jedem Moment freiwillig neu zuzuziehen, um sich damit etwa an einem ungeliebten Mann zu rächen. Aber diese verborgene Bedeutung und der ursprüngliche Wunsch, ihren Mann für etwas zu bestrafen, müssen ihr wenn auch noch so unausdrücklich bewußt sein, um als faktische Frigidität vor sich und anderen verkäuflich zu sein, um diesem vor sich selbst versteckten Zweck in jeder Minute dienen zu können.

Sartres „Ego cogito“ bleibt sich bewußt, was ihm unbewußt ist, es muß die verdrängte Regung kennen, um sie verdrängen zu können; das Unbewußte setzt Bewußtsein von ihm voraus. Wenn ich etwas verdränge, dann nicht deshalb, weil ein übermächtiges Überich und der darin verinnerte Vater es so will, auf dessen Übermacht mein Gehorsam sich herausreden kann wie die Wirkung auf ihre Ursache, sondern weil ich es bin, der dieses Überich dazu ermächtigt, mich von meinen eigensten Regungen abzuschneiden.

Auch das Es kann das Ich nur überschwemmen, sofern das Ich eingewilligt hat, sich von den Primärprozessen überrollen zu lassen. Wichtig sei allein, was der Selbsterhaltungstrieb, den Sartre zur freien Subjektivität einer narzißtischen Grandiosität aufdonnert, aus dem mache, wozu Es und Überich und Realität ihn machen. So sei auch die Liebe kein Wildbach, der das Subjekt mitreiße, denn niemand könne sich verlieben, der nicht auch verliebt sein wolle, heißt es in dem Vortrag „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ Uns scheint, daß Sartre hier die Kompetenz des Ich überanstrenge und ihm die aggressiv magische Gedankenallmacht des „archaisch primärnarzißtischen Selbstideals“ (O. Kernberg) vindiziere. Ist das nicht Adlers reine Ich-Psychologie als ein Rückfall hinter Freud zurück?

Im Grunde leugnet Sartre einfach die Differenz und strukturelle Differenzierung von Ich und Überich, von Ich und Es, um den topologischen Abstand zwischen Es und Überich als inneres Spannungsgefüge des Ich selbst „interiorisieren" zu können. Nur ein Ich, das sich freiwillig auf die künftige Erfüllung dessen hin entwirft, worauf Es aus ist, stößt auf den resistenten „coefficient d’animosité" der mater-iellen Realität oder des patrigenen Überich. Statt das Ich aus der Konstellation dieser präsubjektiven Instanzen als eine bloße Rationalisierungsresultante vorgegebener Kräfte zu erklären, hält Sartre dafür, daß das Ich sein eigenes Überich und Es ist, also Herr darüber, daß sie Herr über das Ich sind. Ich bleibe verantwortlich für das, was ich in den Augen des Es, des Intemalisats meiner Mutter, und in den Augen des Überichs bin, des väterlichen Intemalisats.

Einmal von meinen Eltern in die Welt gesetzt, sei ich auch schon abgenabelt und selbst noch für meine eigene Geburt verantwortlich, gleichsam Mutter und Vater meiner selbst. Genauer sei ich es, der sie dazu bestimme, als meine Eltern mich in meinem Kindsein zu determinieren, denn mein Projekt, mich in die Welt zu setzen, habe sie ja allererst dazu bewegt, meine Eltern zu werden, so daß das Kind Vater und Mutter noch seiner eigenen Eltern sei. In die Welt „geworfen“ als Wurf meiner Eltern, gebe erst mein „Entwurf“ dieser Geworfenheit ihren Sinn. So fliehe ich nach Sartre zunächst und zumeist meine Verantwortlichkeit für das, was ich faktisch doch bin, weil es mich narzißtisch kränken würde, meine unschöne Faktizität übernehmen zu sollen als Produkt meiner freien Entscheidung.

Wenn ich es im Leben zu nichts gebracht habe, dann deshalb, weil dies und jenes gegen mich war, nicht weil mein „Ich-Ideal“ es war, das eine Welt auftauchen ließ, in der für meine Pläne kein Platz war. Rede ich mich als Frau auf Frigidität heraus, statt mir mein moralisch verpöntes Rachebedürfhis einzugestehen, dann deshalb, weil ich vor mir selbst als unschuldig dastehen möchte, vor mir selbst gerechtfertigt sein, also dem Es und Überich gleichzeitig gerecht werden will. Nicht ich will heimzahlen, sondern ich bin so frigide, wie ein Stein eben schwer ist, und damit basta: Ich kann nicht, weil ich nun einmal so oder so bin, aber nicht, weil ich nicht will.

Ich bin nicht impotent bei dieser Frau, weil ich in ihr meine verbotene Mutter begehre, sondern weil sie frigide ist. Ich habe nicht Angst vor dem Chef, weil ich in ihm meinen Vater von früher fürchte, sondern weil er ein Sadist ist. Laut Sartre ist nicht das Ich, sondern das Unbewußte selbst eine Rationalisierung. Alfred Lorenzers Auffassung von Verdrängung als rationalisierter Fehletikettierung kommt Sartres Deontologisierung des Systems ubw entgegen. Offenbar empfindet er die narzißtisch kränkende Funktion der Rationalisierung stärker als ihre moralisch entlastende und exkulpierende, aber er bürdet dem einzelnen Ich auf, wessen vielleicht erst eine freie Gesellschaft mächtig wäre. Wenn der „Existenz" aufgegeben ist, ihre eigene Essenz zu „erfinden" in freier Wahl, dann kann diese Suche nach dem eigensten Wesen auf nichts zurückgreifen als auf die nackte (gesellschaftlich aber präformierte) Existenz, und die ganz formelle Wahlfreiheit akklamiert nur dem, was ohnehin da und verfugt ist. Wenn die Existenz ihrer Essenz vorangeht, die sie zu wählen hat, statt von ihr definiert zu sein, wird sie ihre eigene Essenz und kann nur noch dem beipflichten, was Es oder Überich oder Realitätsprinzip in die nackte Existenz des Ich längst implantiert haben, bevor das Ich sich wählt. Sicher ist das Kind es, das die Mutter gegen den Vater oder den Vater gegen die Mutter wählt, aber was ich wählen kann, ist ins Ich als Über-Ich verinnerlicht, bevor ich diese geheimen Introjekte durch vermeintlich freie Wahlen nur re-externalisiere.

Sehen wir zu, ob das Subjekt bei Sartre wirklich sich bewußt ist, was es „überschreitet", wenn es das „Etre-en-soi“ transzendiert auf dem Weg zu einem „An-und-für-sich-Sein". Der moralische Appell des Existenzialisten, auch und gerade sich in dem wiederzuerkennen, was ihm zuwiderläuft, und das auf sich zu nehmen, was er gar nicht verbrochen hat, will aus der primärnarzißtischen Einheit des Ich mit der Welt eine Ethik ableiten und das krudeste Nicht-ich als Ausfluß des Ich hinstellen, oralkannibalisch vom Ich verschlungen, anal vom Ich ausgeschieden, mater-ial vom Ich geboren.

Das Ich entsteht gleichsam durch analsadistisches Abtrennungsmanöver vom Nichtich, als das böse Andere vom Ego ausgeschissen.

Das ach so freie „pro-jet" des Subjekts ist bloße Projektion seiner eigensten unwillkommenen Eigenschaften aufs Nichtich, das erst durch diese Projektion zum „Anderen" sich verfremdet. Genauer: das Ego projiziert seine eigene Vollkommenheit in die Zukunft, um seine eigene Gegenwart und Vergangenheit als Inbegriff des zu überwindenden Bösen aufleuchten zu lassen, um seine guten von seinen bösen Qualitäten zu trennen. Durch sein Ichideal will es sich von allem „losreißen“, was es (gewesen) ist, und will nicht sehen, daß dieses Ichideal selbst eine in die Zukunft projizierte Vergangenheit impliziert, z.B. den Wunsch, sein eigener Vater zu werden.

„Ich bin (noch) nicht, was ich (schon) bin, und ich bin (noch), was ich nicht (mehr) bin.“ Ich bin (in der Imagination) schon der Vater, der ich (realiter) noch nicht bin, und ich bin in Wirklichkeit ja noch das Kind, das ich in Gedanken schon nicht mehr bin. Diese zeitliche Struktur soll das paradoxe Wesen des Menschen laut Sartre ausmachen; faktisch noch Kind und doch im Inzesttraum schon erwachsen. Potentiell hat der Sohn bereits die Potenz des väterlichen Potentaten, die ihm realiter als dem Kind, das er noch ist und bisher immer gewesen ist, noch abgeht. Potentiell ist ihm auch schon bewußt, was ihm tatsächlich noch unbewußt ist und was es faktisch noch verdrängt hält: daß es den gegengeschlechtlichen Elternteil gegen den gleichgeschlechtlichen begehrt. Wenn Sartres Mensch „für sich" sein will, was er „an sich" ist, wenn er sein eigenes Ansichsein in sein Fürsichsein „aufheben" möchte, dann heißt das auch, daß Ich werden soll, wo Es war.

Im Zustand des Ansichseins treten dem Ich seine eigensten Regungen wie Dinge von außen entgegen, entfremdet und ichdyston. Unterm Druck des Überichs ist „an sich" geworden, was „für mich" war, hat sich als für den Vater erwiesen, was für mich bestimmt schien. „An sich" ist die Mutter für den Vater statt für mich. An sich bin ich noch das Kind, das ich für mich schon nicht mehr bin, an sich bin ich noch präödipal an die nutritive Mutter gefesselt, an sich, d.h. für Vater und Mutter, während ich für mich bereits mein eigener Herr und Vater bin. Heteronom bedingen mich meine eigensten Wünsche, sofern sie als verdrängte und unbewußt gewordene mich hinterrücks wie Ursachen bestimmen, statt daß ich mich in ihnen wie in eigenen Zielen und Plänen wiederfinde. Für mich ist die Mutter mein Liebesobjekt, an sich und für den Vater aber ist sie mir verboten und gehört sie ihm. Was sie an sich ist, ist sie für ihn, und genau das will ich für mich, nicht das, was sie mir nur als alimentäre Fürsorge zukehrt. Als verdrängte gehören mir meine Wünsche nach meiner Mutter so wenig wie die Mutter selbst: das „Ansichsein" bei Sartre ist das Verdrängtsein der Begierde nach der Mutter, schließlich die Mutter selbst. Und wenn das freie Fürsich, das „Etre-pour-soi", dieses „Etre-en-soi" nichtet und überschreitet, dann so, daß es sich die verdrängte, von sich abgespaltene Regung ins Bewußtsein zurückholt, die Verdinglichung der eigensten Strebungen transzendiert, um auf sich selbst zurückzukommen. Das Ansich sei zähflüssig gewordenes, geronnenes Fürsich, im Aggregatzustand der „coagulation“, und in neuen Zukunftsplänen jederzeit wieder zu verflüssigen, bis zum Tode von außen.

Das Ich befreit sich vom verdrängten, „exteriorisierten", „serialisierten" Modus seiner eigenen Akte und nimmt sich wieder in Besitz in einer „retotalisierenden Synthesis", die das unbewußt gewordene, „detotalisierte champ de pratico-inerte" „re-interiorisiert", „resubjektiviert". Mit Alfred Lorenzer zu reden, wird das „umgangssprachlich Exkommunizierte resymbolisiert", das „klischeehaft bestimmte, szenische Agieren in symbolvermitteltes Handeln zurückverwandelt". Die biologistische Entwicklungsund Triebtheorie ist interaktionistisch aufgelöst: Kein Trieb zwingt mich, es sei denn durch meine Anerkennung hindurch; ich sei es, der ihm erlaube, mich zu treiben. Wenn es wahr ist, daß Triebe so schubsen, wie Ziele ziehen, dann läßt Sartre sich höchstens von Trieben ziehen und von Zielen stoßen. Er erhebt die Ursachen zu Mitteln auf dem Wege zu Zielen und macht Ziele zu Ursachen, nicht zu Wirkungen der Mittel, sie zu erreichen.

Die Kausalität des Es und Überich wird überformt durch eine Finalität des Ich, das sich auf sein Ichideal hinspannt, in dessen Licht das Es bzw. Überich und die Realität dann als mögliche Werkzeuge oder Hindernisse erst auftauchen. Die verdrängten Gehalte samt der verdrängenden Instanzen wären von daher die „Antifmalitäten" des ego cogito selbst, sein eigenes „champ de pratico-inerte", seine eigene immobilisierte Praxis. Die innere Dialektik des Ich bestünde dann darin, die Verdrängungen seiner eigensten Es-Antriebe immer neu hegelisch „aufzuheben", die Diktate des Überich in seinem Herzen immer wieder neu zu negieren, sich immer wieder neu aus der Negation des Überich zu gewinnen und zu erfinden als Ego cogito.

Aber das Ich bestätigt sich nicht nur durch die Negation des patrigenen Überich, sondern auch in der „Nichtung“ des matrigenen Es: Es ist laut Sartre zur Freiheit von der Bindung an die Mutter „verurteilt“ durch den Vater. Permanent „überschreitet" es sein mater-ielles Ansichsein, alles, was es von Geburt aus ist. Aber vom maternalen Ansichsein reißt sich das Subjekt nicht los, weil es vom kastrationsdrohenden Vater im Himmel dazu „verdammt" ist, sondern weil es die Trennung von dieser ontologischen „viscosité“ selbst sucht, weil es gar nichts ist als dieser abrupte Akt der Befreiung aus den Fängen der Mutter Natur, weil es als Ego dazu „verurteilt" ist, seine Selbstidentität aus der Differenz und dem Abstand zur absorbierenden Mutterimago des Seins zu haben. Die Trennungsangst scheint da erträglicher als die Verfolgungsangst. Das Ich dieses Kindes entzieht sich im Individuationsprozeß der „klebrigen" Symbiose mit der frühen Mutter, den „Leimruten" seiner Anhänglichkeit und Abhängigkeit und ihrer ehrgeizigen overpotection, dem ausbeutenden mothering.

Sartre wird nie müde, den ekel- und grauenerregenden Sog zu beschwören, der vom „weißen Fleisch des Seins", seiner „obszönen Überfülle" ausgeht, seiner sinnlos massiven Kompaktheit, seiner genitalen „inpénétrabilité“ und „opacité“, die ihn paranoid-persekutorisch umtreibt und oft das Weite suchen läßt. Freiheit meint bei Sartre die Verurteilung des Selbsterhaltungstriebes zur Befreiung des Ichs von der archaisch omnipotenten, präödipal phallischen Mutterimago des „Etre-en-soi". Beim Versuch, sich von dieser Mutter-Kind-Ursymbiose zu lösen, kann sich das ego cogito allerdings bei Sartre auf keine Vaterfigur mehr stützen, denn der Existenzialismus ist die „Philosophie eines vaterlosen (Einzel-)Kindes" (Hans Mayer).

Gott ist tot, weil vom Sohn ermordet, und sowenig er dem Kinde helfen kann, sich von dem mütterlichen Schoß unabhängig zu machen, sowenig kann er mehr störend zwischen das mütterliche Sein und die inzestuösen „Intentionalitätsakte“ des Sohnes treten. Sich der Inzest-Regungen bewußt zu werden, heißt für das Ich des Sohnes, von der nutritiv klammernden Mutter frei zu sein für das vormalige Liebesobjekt des erschlagenen Vaters.

Frei von Vater und Mutter steht das Ich reuelos zu seinen inzestuös-patrizidalen Begierden, so scheint es. In „Les Mots“ zitiert Sartre einen Psychoanalytiker, der ihm das Fehlen jedes Überich attestiert habe, und wirklich ist er ja ohne Vater aufgewachsen, da er die Beziehungsangebote und die Wertvorstellungen seines späteren Stiefvaters „Onkel Jo“ zurückwies, nachdem der Vater als Marineoffizier „sich in den Tod geflüchtet hatte".

Bei der Aufgabe, sich aus der Abhängigkeit und Umklammerung der Mutter zu befreien, die sich von den Männern zum kastrierten Wesen abstempeln ließ, war Sartre auf sein eigenes Ich angewiesen und zurückgeworfen. Diese heroische Aufgabe stimulierte das urnarzißtische Größen-Selbst, dessen ruhmsüchtigen Unsterblichkeitswahn Sartre 1964 in „Les Mots“ plastisch herausgearbeitet hat. Ein Ego ohne paternales oder maternales Ichideal wäre dazu außerstande gewesen. Die Möglichkeit, er habe all seine Bücher letztlich nur geschrieben, um seinem Großvater Schweitzer zu gefallen, tut Sartre als „Aberwitz“ ab. Obwohl alle Familienmitglieder ihn ständig in seinem Wert bestätigten und den künftigen großen Schriftsteller in ihm bewunderten, den er ihnen vorspielte, um sich schließlich von seinem eigenen Theater mitreißen zu lassen, will er in einer blitzartigen Intuition die Lüge darin und seine eigene Nichtigkeit erkannt haben. Zum großen Sartre bestimmt, nach dem in jeder Provinzstadt eine Straße benannt sein würde, entdeckte er eines Tages, daß er zu gar nichts da sein würde, falls er nicht selbst seine eigene Bestimmung sich schüfe.

Die hohen Ambitionen und stimulierenden Erwartungen seiner Familie reichten offenbar nicht aus, ihn vom Sinn ihrer Absichten mit ihm zu überzeugen, er fühlte sich stets „überzählig". Warum? Sartre scheint außerstande, das plausibel zu machen, er rekurriert dazu auf einen unverständlichen irrationalen Akt der autogenetischen „Selbsterfindung“ gegen alle objektivistische Probabilität. „Die Kindheit eines Chefs“ hat erzählt, wie ein Sohn sein eigener Vater wird, wie er sich durch ein patrigenes Ichideal davon entlastet, sich selbst zu erschaffen, statt einen richtigen Vater nachzuahmen. Der Marineoffizier Sartre war tot, als sein Sohn wissen wollte, was er werden könne. Seine junge schöne Frau Anne-Marie hatte ihm ein ebenso kluges wie häßliches Kind geschenkt, und nun fand dieses Kind keinen Adressaten; es war umsonst geboren, von keinem Vater erwartet, von keinem Vater vermißt, falls es stürbe. Es war kein Vater da, der dieses Geschenk entgegennehmen und ihm seinen Willen aufzwingen, seinen Ehrgeiz einpflanzen konnte. So mußte, so durfte „Poulu“ sich selber ganz erfinden. Großvater Schweitzer und Onkel Jo, aufgeklärte und liberale Männer, kamen dabei angeblich nicht in Frage, will man Sartre glauben.

Jeder habe in jedem Augenblick das Leben, das er verdiene, ohne daß ihm ein anderes vorbestimmt oder vorenthalten sei. Wenn ich wie mein Vater sein will, so ist das meine Sache; zwingen kann er mich nicht, mein Leben rechtfertigen schon gar nicht. Daß und als was ich geboren werde, sei zufällig, die Notwendigkeit komme erst durch mich in mein Leben. Die Welt muß ich übernehmen, als hätte ich sie so gemacht, wie sie ist und wie ich sie vorfinde. Sie ändern heißt den Entwurf ändern, sie so zu wollen, wie sie zufällig ist. Dieses stolze Ich ist die Notwendigkeit aller geheimen Kontingenz aller vermeintlichen Notwendigkeiten und die „existentielle Psychoanalyse“ nur eine radikalisierte Ich-Psychologie, deren Nähe zur Individualpsychologie des Freud-Apostaten Adler ja oft hervorgehoben wurde, welche die verborgene „Lebensleitlinie“ unter rationalisierenden Verschüttungen ebenso ausgraben will wie Sartre die „choix originelle“ der Existenz unter ihren objektivistischen Selbstmißverständnissen.

Das von Freud dezentralisierte Ich wird von Sartre wieder inthronisiert, allerdings als exzentrisch auf die Zukunft hin aufgebrochen, analysiert als Konstellation von Ansichsein und Fürsichsein, also von Sein und Bewußtsein, Objekt und Subjekt. Die Gegenwart und Vergangenheit eines Individuums bestimmen seine Objektivität, über die seine Subjektivität hinwegschreitet beim Entwurf der Zukunft, in deren antizipiertem Horizont die infantile Beschränktheit dessen, was ich hier und jetzt bin und immer war, erst retardierend aufscheint. „Fürsichsein“, Zukunft, Bewußtsein, Subjektivität, (männliche) Freiheit sind bei Sartre ebenso Synonyme wie Ansichsein, Realität, Nichtich, Vergangenheit, Mater-ie, Objektivität, Widerständigkeit etc. Welches Bedeutungsmoment gewählt wird, entscheidet je der Kontext. Jeder Mensch wird als „individuelles Abenteuer" begriffen, als Drama zwischen dem Ansich und dem Fürsich, als (vergeblicher) Versuch, die Würde eines „Anundfürsichseins“ zu erlangen. Ich will für mich sein, was ich an sich, d.h. für andere bin, will also selbst begründen, schaffen, rechtfertigen, erzeugen, was ich in den Augen anderer objektiv bin und zu sein habe. Da die Ur-Anderen aber die eigenen Eltern sind, deren Existenz von Sartre als „Skandal“ bezeichnet wird, möchte ich Urheber dessen sein, was ich unter ihrem Blick bin, nämlich dieses Kind. Was heißt das anderes, als seine eigenen Eltern werden zu wollen?

Als Kind meiner Mutter bin ich gleichsam nur Ansichsein, Rohmaterial, nacktes Dasein, Mater-ie, Existenz, als „Wurf" in die Welt gesetzt, die ich meinerseits erst setze durch einen „Entwurf auf die Zukunft hin", die mich meiner Kindlichkeit und der Obhut meiner Mutter entreißt, also meiner „Geworfenheit in die Welt“. Gewöhnlich sind in dieses Ichideal, auf das hin ich mich entwerfe, die bewunderten Züge des väterlichen Vorbilds eingegangen, das Sartre allerdings fehlte, so daß er zurückgreifen mußte auf das primärnarzißtische Größen-Selbst, das mehr idealisierte Mutterbilder enthält, wie wir sehen werden.

Sartre muß den Vater erfinden, den er nicht hat; es gab niemanden, der ihm sein definitives Wesen hätte vorzeichnen können. Er konnte sich so frei fühlen, sich einen Sinn und eine Bedeutung, eine Bestimmung und ein Ziel auszudenken, was ihn der Austauschbarkeit, Verwechselbarkeit und Überflüssigkeit eines unerwünschten Kindes, eines verwöhnten Einzelkindes allerdings, entreißen sollte. Sartre war nicht als Geschenk einer Frau an einen Mann gerechtfertigt und einer Chefkarriere geweiht, denn dieser leibliche Vater hatte sich „in den Tod geflüchtet", seinen Verpflichtungen entzogen und „sich als nicht haltbar erwiesen". Sein Vater war erst einmal ein toter, ein flüchtiger Vater, und Sartre stellt von Gottvater verdutzt fest: „Er existiert nicht." Poulu war da, aber zu nichts. Seine erste Tat bestand darin, sein Sein von Gnaden seiner Mutter hinter sich zu lassen wie eine Vergangenheit, sich vom Ursprung zu lösen, dem er sich verdankte. Wenn es keinen Vater gibt, dessen Launen zu Naturgesetzen werden, gibt es keine fix und fertige supranaturale Bedeutung, keinen platonischen Ideenhimmel, keine Werte an sich. Sartres berühmter „Ekel" vor der nackten Existenz der Dinge ist ein auf die Dinge projizierter Akt der psychischen Abwehr des eigenen Ansichseins, also dessen, was ihn an die Mutter und seine Herkunft aus ihr erinnert. Nach Freud ist Ekel ätiologisch eine Reaktion der Sinne auf die kloakale Sphäre, sobald der Mensch sich durch Erwerb des aufrechten Ganges, der Erektion seines ganzen Körpers, von dieser Sphäre stammesgeschichtlich entfernt hatte. Sartres Mensch versucht verzweifelt, den Kopf des ego cogito aus der anrüchigen präödipalen Sphäre der Mutterimago des Seins herauszuheben und nicht im maternalen Sumpf zu versinken, weder im Schlaf noch im Rausch oder Orgasmus: er bleibt wach und rein, sich selbst durchsichtig, klar und nüchtern.

Im metaphysischen Schlußkapitel von „L'Etre et le Néant“ fragt sich Sartre, was das Ansichsein wohl am Weltanfang bewogen haben mag, sich die Modalität des Fürsichseins zu geben? Das Ansich war vor dem Fürsich wie die Mutter vor dem Kinde (und dem Vatergott) reine Koinzidenz mit sich selbst und ohne „Riß". Wenn sie sich öffnete, einen vaginalen Spalt bekam, durch den das Fürsich als ihr Kind in die Welt kam, dann deshalb, weil sie in ihrem Sohn ihrer selbst inne werden und durch ihn in ihrem Sein gerechtfertigt werden wollte. Er ist der Sinn ihres Lebens, der ihre Überflüssigkeit und ihr „parasitäres" Dasein beenden soll. Das Fürsichsein hat diesen Penisneid des maternalen Ansich-seins zu befriedigen und verläßt Mutter Natur nur, um rechtfertigend zu ihr zurückzukehren. In gewisser Weise legt Sartre seinen Ruhm eher seiner Mutter Anne-Marie als dem Großvater Schweitzer zu Füßen. Wenn Jean-Paul über Anne-Marie hinausgeht, dann ist es gerade so, als habe Anne-Marie sich in „Poulu" selbst überschritten, sei in ihm zu Selbstbewußtsein gekommen und ihrer phantasierten Kastriertheit ledig geworden. Als Ursprung und Urheber ihres Wertes allerdings wird Jean-Paul so etwas wie die Mutter seiner Mutter, wie er auch der Vater seiner eigenen Männlichkeit werden mußte. Wenn die Mutter Natur im Sohn Sartre ihr eigener Gatte wird dadurch, daß dieser Sohn sich zu seinem eigenen Vater macht, dann hat der kleine Poulu es geschafft, Vater und Mutter in sich zu vereinigen, ohne daß die imaginierte Urszene der Kopulation ihrer Introjekte in ihm angsterregend wird. Im Gegensatz zu Ernst Bloch kann der marxistische Vatermord des Sohnes sich hier nicht auf den gattenmörderischen Ehrgeiz der Mutter Natur, also auf die realen Tendenzen der Geschichte, stützen. „Pollux“ Sartre kämpft an beiden Fronten gegen beide: gegen die verschlingende Mutter und den kastrierenden Vater - im Verein mit den virtuellen Brüdern, deren Solidarität er sucht. Er haßt die kapitalistische Geschwisterrivalität, die jede Front gegen die All-Elternimago der technokratischen Gesellschaft vereitelt.

„Der Mensch hat den Vater erfunden, um der langdauernden, psychoaffektiven Abhängigkeit vom Primärobjekt, der Mutter, zu entkommen; diese Abhängigkeit entstammt der somatischen Unvollkommenheit des Neugeborenen und wird auf der psychoaffektiven Ebene durch die entfremdenden Mutterimagines verlängert. Nur durch die Vermittlung des Vaters kann der Mensch in etwa die Auswirkungen der narzißtischen Urkränkung ausgleichen, indem er die Vaterimago internalisiert. Aus der postödipalen Identifizierung mit dem Vater konstituiert sich das Ich-Ideal, das hochentwickelte Erbe des primären Narzißmus. Menschliche ‚Normalität’ ist nur deshalb so schwer zu definieren, weil sie sich ständig fortentwickelt. Sie ist nur in Zusammenhang mit dem Begriff Freiheit zu begreifen, einer Freiheit, die selbst erst im Entstehen begriffen ist; sie ist der Ausdruck einer immer größer. werdenden Befreiung des Ich von inneren oder projizierten Mutterimagines, eine Freiheit, die nur über die wahre Rationalität zu erreichen ist."

(Gérard Mendel: „Die Revolte gegen den Vater“, Frankfurt 1972)

Nach Sartre ist der Mensch ein einziger Versuch, Gott zu werden, aber auch eine „nutzlose Leidenschaft", weil der Versuch, Gottvater, also Ursache seiner selbst zu werden (das ens causa sui der Scholastiker), den Versuch impliziert, sich selbst hervorzubringen und in die Welt zu setzen, also auch die eigene Mutter zu werden. Der Mensch kann sich selbst (und die Welt) nur produzieren, indem er den Schöpfer der Welt beseitigt und sich an dessen Stelle setzt. Sein eigener Vater zu werden, heißt für Sartre aber, auch seine eigene Mutter zu werden, weil ja die Mutter es ist, die das Kind hervorbringt, das sich also mit der eigenen Mutter identifizieren muß, wenn es sich selbst erschaffen will. Sartres Vaterbild hat die mütterlichen Züge des Weltschöpfers und Allproduzenten, und deshalb scheitert bei ihm der Versuch des Menschen, sich selbst zu produzieren, an der inneren Widersprüchlichkeit des damit identischen Versuchs, gleichzeitig der eigene Vater und die eigene Mutter zu werden. Im übrigen fürchtet Sartre in der Identifikation mit der produzierenden Vater-Mutter viel zu sehr den Rückfall in die „klebrige" Symbiose mit dem Sein, von dem er sich im „nichtenden Akt der Seinsüberschreitung" gerade befreien und „losreißen" will, wenn er der reine, strenge Vatergott werden will. Der „Ekel" vor der präödipalen Mutter-Kind-Einheit des Menschen mit dem Sein treibt die existenzialistische Existenz ja gerade in den habituellen Vatermord, also in die Identifikation mit einem nichtigen Vater, der so viele Züge mit der klebrigen Mutter gemein hat, daß das Dasein oszilliert zwischen Regen und Traufe und, verzweifelnd an den Paradoxien der Selbstverwirklichung, sein Heil schließlich in einer Verbrüderung mit militanten politischen Gruppen sucht. So hofft Sartre, durch „Aufhebung“ seines Existenzialismus in den Marxismus einer Bruderhorde der Gefahr zu entgehen, hinter den getöteten Autoritäten wieder das verhaßte Bild der verstrickenden Mutterimago auftauchen sehen zu müssen, denn der politische Kampf gegen imperialistischen Kapitalismus ist ein gleichzeitiger Kampf gegen die Autoritäten der Väter und der ausbeutend delegierenden Mütter. Gerard Mendel hatte gezeigt, daß sich im roh extemalisierten Überich aller Institutionen der vaterlosen modernen Industriegesellschaft die Vater- und Mutterbilder untrennbar vermischen und diese destruktive Verschmelzung es dem Kind verwehrt, die emotionalen Ambivalenzen auf eine geliebte Mutter und einen gehaßten Vater ödipal verteilen zu lernen.

Immer muß die von Sartre propagierte Existenz furchten, einen Vater zu töten, um ihr eigener Vater zu werden, der mit einer Mutter identisch ist, von der dieser Mensch sich gerade lösen will, also das zu werden, wovon er sich befreien will, und sich von dem zu trennen, was er erreichen will.

Jean-Paul Sartre: „Das Sein und das Nichts“. Hamburg 1962, Seite 726 ff. (Siehe auch S. 464-527 über Liebe, Haß, Begierde, Sado-Masochismus):

„Zudem ist in der Idee der Entdeckung, der Enthüllung, auch die Idee eines aneignenden Genusses enthalten. Das Sehen ist Genuß, sehen heißt deflorieren. Untersucht man die gewöhnlich gebrauchten Vergleiche, mit denen die Beziehung des Erkennenden zum Erkannten beschrieben wird, so stellt man fest, daß viele von ihnen sie wie eine Vergewaltigung durch den Anblick darstellen. Das nicht erkannte Objekt ist wie unbefleckt, jungfräulich gegeben, dem Weißen vergleichbar. Es hat sein Geheimnis noch nicht ‚verraten', der Mensch hat es ihm noch nicht ‚entrissen'. All diese Bilder heben hervor, daß das Objekt nichts von den Forschungen und Instrumenten weiß, die auf es zielen: es ist sich nicht bewußt, erkannt zu werden, es lebt vor sich hin, ohne den Blick zu bemerken, der ihm nachspäht, wie eine Frau, die ein Wanderer im Bad überrascht. Dumpfe und deutlichere Bilder wie das der ‚unverletzten Tiefen' der Natur erinnern genauer an den Koitus. Man reißt der Natur die Schleier ab, man enthüllt sie (Vgl. Schillers „Das verschleierte Bild zu Sais“); jede Untersuchung enthält stets die Idee einer Nacktheit, die man aufdeckt, indem man die sie bedeckenden Hindernisse beseitigt, wie Aktäon die Zweige zur Seite schiebt, um Diana im Bad besser zu sehen. Übrigens ist die Erkenntnis eine Jagd. Bacon nennt sie die Jagd Pans. Der Forscher ist der Jäger, der eine weiße Nacktheit überrascht und mit seinem Blick vergewaltigt... man jagt, um zu essen. Beim Tier entspringt die Neugier stets der Sexualität oder der Nahrungssuche. Erkennen heißt, mit den Augen essen... im Erkennen zieht das Bewußtsein seinen Gegenstand an sich und verleibt ihn sich ein; die Erkenntnis ist Assimilierung... In der naiven Vorstellungswelt ist immer wieder die Bedeutung des Symbols des ‚unverdaulichen Verdauten' festzustellen, der Stein im Straußenmagen, Jonas im Bauch des Walfisches. Es bezeichnet den Traum von einer nicht zerstörerischen Assimilierung... Diese unmögliche Synthese der Assimilierung und der bewahrten Unversehrtheit des Assimilierten trifft sich in ihren tiefsten Wurzeln mit den Grundtendenzen der Sexualität. Der körperliche ‚Besitz' bietet uns in der Tat das aufreizende und verführerische Bild eines dauernd besessenen und doch dauernd neuen Körpers, auf dem der Besitz keine Spur hinterläßt. Zugleich aber träumt, wie wir sahen, der Liebende davon, sich mit dem geliebten Gegenstand zu identifizieren, obwohl er dessen Individualität wiederum bewahren will: der andere soll ich sein, ohne aufzuhören, der andere zu sein. Eben dasselbe liegt in der wissenschaftlichen Untersuchung vor: wie der Stein im Straußenmagen ist der erkannte Gegenstand ganz in mir, von mir assimiliert, in mich selbst verwandelt; gleichzeitig ist er aber undurchdringlich, unveränderlich, ganz glatt, in der teilnahmslosen Nacktheit eines geliebten, erfolglos erregten Körpers. Er bleibt außerhalb, und Erkennen heißt, außerhalb essen, ohne etwas zu verzehren. Man ersieht hieraus, wie die Tendenzen der Sexualität und der Ernährung miteinander verschmelzen und sich durchdringen, um den Aktäon-Komplex und den Jonas-Komplex zu erzeugen; man sieht, wie die Verdauung und die Sinnlichkeit sich in der Tiefe miteinander vereinigen, um die Begierde nach Erkenntnis entstehen zu lassen. Die Erkenntnis ist Eindringen und zugleich oberflächliche Liebkosung, Verdauung und distanzierte Betrachtung eines nicht zu verformenden Gegenstands, Erzeugung eines Gedankens durch dauernde Neuschöpfimg und Bemerken der vollkommenen objektiven Unabhängigkeit dieses Gedankens. Der erkannte Gegenstand ist mein Gedanke als Sache. Und eben danach begehre ich zutiefst, sobald ich zu forschen beginne: meinen Gedanken als eine Sache zu erfassen und die Sache als meinen Gedanken."

“Das Loch und das Klebrige“: „Die erste Erfahrung, die das Kind von dem Klebrigen macht, bereichert es somit psychologisch wie moralisch: es braucht nicht zu warten, bis es erwachsen ist, um jene Art schmieriger Gemeinheit zu entdecken, die man metaphorisch ‚klebrig' nennt: sie ist schon da bei ihm in der Klebrigkeit des Honigs oder des Vogelleims. Was wir hier vom Klebrigen sagen, gilt für alle Gegenstände, die das Kind umgeben: die bloße Enthüllung ihres Stoffs erweitert seinen Horizont bis zu den letzten Grenzen des Seins und begabt es gleichzeitig mit der Gesamtheit von Schlüsseln, mit denen es das Sein aller menschlichen Fakten entschlüsseln kann... im Besitz aller Sinnhaftigkeiten des Seins, deren bloße Exemplifikationen das Schöne und das Häßliche, die Verhaltensweisen, psychischen Wesenszüge, sexuellen Beziehungen usw. sein werden. Das Klebende, das Teigige, das Dunstige, das Licht, die Nacht usw. enthüllen ihm präpsychische und präsexuelle Seinsweisen, die es sich in der Folge sein Leben lang verdeutlichen wird. Es gibt keine ‚unschuldigen' Kinder. Mit den Freudianern erkennen wir vor allem die zahllosen Beziehungen an, die bestimmte Stoffe und Formen der kindlichen Umwelt zur Sexualität haben. Jedoch meinen wir damit nicht, daß ein bereits fertiger sexueller Instinkt ihnen sexuelle Bedeutungen verleihen würde. Im Gegenteil erscheint uns, daß diese Stoffe und Formen um ihrer selbst willen erfaßt werden, und daß sie dem Kind Seinsweisen und Beziehungen zum Sein des Für-sich enthüllen, die ihrerseits seine Sexualität erhellen und bilden werden. So zeigen sich viele Analytiker, um nur ein Beispiel zu nennen, erstaunt über die Anziehung, die alle Arten von Löchern