Impressum

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Dies gilt auch für Film, Rundfunk, Fernsehen sowie der Übersetzung.

Rechteinhaber: Heinz-Peter Maschke

Umschlaggestaltung und Motiv: Heinz-Peter Maschke

Lektorat: Klaus-Dietrich Petersen

©2017

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 9783746054308

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Der letzte Passagier

Diese Erzählung ist wahr

Es ist die Geschichte der Kriegs-Verwundung

von meinem Vater Heinrich Johann Maschke.

Schon fast zum Ende des 2. Weltkrieges

ist es doch noch passiert,

denn er wurde schwer verwundet.

Geschehen ist es irgendwo zwischen Smolensk und Minsk.

In der damaligen Sowjetunion/ Russland.

Wo genau, wusste er selber nicht mehr.

Aufgeschrieben habe ich diese Geschichte

nach den Erinnerungen meines Vaters.

So, wie er sie uns, seinen Kindern, immer erzählt hat.

Sie umfasst zeitlich nur eine Spanne von sechs bis acht Wochen.

Angefangen hat alles Ende November 1944.

Vielleicht auch erst Anfang Dezember 1944.

Das genaue Datum wusste er auch nicht mehr.

Und die Geschichte geht nur bis zum 31. Januar 1945.

Für meine Brüder

Ferdinand, geboren 1946

Hans-Felix, geboren 1950, gestorben 2006

Paul Hein, geboren 1967

Ich hoffe sehr, dass deren Kinder,

also die Enkelkinder unseres Vaters,

diese Geschichte irgendwann einmal lesen.

Und auch begreifen!

Ohne diese fast schon übermenschliche Energieleistung

würde es diese Menschen wahrscheinlich nicht geben!

Natürlich sollte meine „große“ Schwester diese Erinnerungen auch lesen, aber die ist ja Bestandteil dieser Erzählung, also zum Zeitpunkt dieser Geschichte schon geboren.

Die Verwundung hat mein Vater sich abgeholt (seine Worte) viele, viele tausend Kilometer weit von zu Hause entfernt.

Zu dem Zeitpunkt war er allein und völlig hilflos.

Es haben so viele namenlose Menschen geholfen, insbesondere die stillen Helden, dieses unsinnigen Krieges, die Sanitäter.

Die haben stets völlig uneigennützig geholfen.

Nur so konnte unser Vater zum Zeitpunkt des Geschehens, durch die schwere Kopfverletzung fast blind, tatsächlich wieder nach Hause kommen, zurück zu seiner Familie, die er so schmerzlich vermisst hatte. In Zeiten von Krieg und der meistens damit verbundenen menschlichen Verrohung, Hilfe, Zuspruch und auch ein kleines Stück menschlicher Wärme, zu erfahren, ist ein kleines Wunder! Vielen, viel zu vielen, war das nicht vergönnt.

Und sie sind geblieben.

Einführung

An meinem sechzigsten Geburtstag, im Jahre 2004, fragte mich meine Schwester Marianne: „Kannst du dich noch an die Geschichten erinnern, die Papi uns immer erzählt hat, wenn wir in Keitum, an den langen Winterabenden, um ihn herumsaßen?" Für einen Moment war ich ziemlich überrascht, denn Keitum war wirklich schon sehr lange her, fast eine kleine Ewigkeit. In Keitum auf Sylt haben wir von 1950 bis 1958 gelebt.

Und trotzdem: Auf einmal war alles wieder da. Die Geschichten, die mein Vater im 2. Weltkrieg erlebt hat. Ich fragte also, ich war wirklich einigermaßen verblüfft: „Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?"

„Weil es jetzt sechzig Jahre her sein müsste, als er sich auf dieses Schiff gekämpft hat, um wieder nach Hause zu kommen. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, welches Schiff das war."

„Dafür klingt mir da immer dieser komische Satz in den Ohren: Entweder sie lassen mich auf dieses Schiff, oder sie erschießen mich." Meiner Schwester standen die Tränen in den Augen. Als Folge ihrer Nierenerkrankung, hatte sie gerade einen leichten Schlaganfall erlitten und weinte deswegen leichter. Dennoch fragte sie mich, trotz ihrer Tränen: „Kannst du damit etwas anfangen, welches Schiff das eigentlich war, weiß du das noch?"

„Ich kann mich, verflixt noch mal, nicht mehr genau erinnern." „Aber ich will mich erinnern. Ich will das nicht einfach vergessen." „Er war doch mein Vater!" Einen kleinen Augenblick hat es jetzt gebraucht, bis ich begriffen hatte, was meine Schwester mich da gerade gefragt hatte.

„Keine Angst, ich kann mich erinnern! Fast Wort für Wort!"

„Ich habe sogar ein paar Mal bei ihm nachgefragt, um mir über diese möglichen Zusammenhänge klar zu werden. Um seine Geschichten in die richtige Reihenfolge zu bringen. Aber auch um viele Dinge, an die ich mich erinnere, richtig einordnen zu können. Er hat alles, wonach ich ihn auch fragte, immer wieder ausdrücklich bestätigt!“

„Die Verwundung hat er sich 1944 abgeholt. Kurz vor Weihnachten. Das ist unstrittig. Er selbst hat tatsächlich immer die seltsame Formulierung: Abgeholt, gebraucht."

„Und als Schiffe kommen nur die, ‚Cap Arkona' und die ,Hansa’ in Frage. Fragen konnte ich ihn leider nicht mehr, deshalb habe ich lange recherchiert und noch mehr gelesen. Und jetzt bin ich ziemlich sicher, das Schiff, nach dem du fragst, war die ,Cap Arkona'. Und auf eben diese ,Cap Arkona' hat er sich 1945 gekämpft. Am 31. Januar!"

Und der Satz, der in deinem Kopf herumgeistert, lautet korrekt: „Entweder, sie lassen mich auf dieses Schiff oder sie erschießen mich, hier und auf der Stelle.“ Und das Schiff war nicht irgendein Schiff, sondern die ,Cap Arkona'. Die ,Cap Arkona', die mit vielen, vielen KZ-Häftlingen an Bord in der Lübecker Bucht versehentlich von den Engländern beschossen wurde und gesunken ist.

In den Jahren danach habe ich mich manchmal gefragt, warum ich mich so genau an die Geschichten, die uns unser Vater erzählt hatte, so gut erinnern kann. Die Antwort darauf hat mir mein, leider viel zu früh verstorbener Bruder Hans-Felix gegeben, ohne dass er je ein Wort dazu gesagt hat. Hans-Felix hat, wie fast alle Jungs damals, Karl May gelesen. Hat sich, nach und nach, alle Bände gekauft...und sie mindestens zwei, drei Mal gelesen. Ich war sehr oft verblüfft darüber, wie flüssig er daraus zitieren konnte. Ich konnte es nicht! Denn ich kam nie in die Verlegenheit Karl May zu lesen! Die Abenteuergeschichten, die mir mein Vater immer erzählte, waren für mich immer viel interessanter. Vor allem aber, ich fand sie viel spannender.

Und so, wie mein Bruder Hans-Felix Karl May fast wörtlich zitieren konnte, kann ich die Geschichten meines Vaters fast wörtlich zitieren. Immer wenn ein bestimmtes Stichwort fällt, wie zum Beispiel: ,Stinkendes Stroh im Viehwaggon', fällt mir dazu die passende Geschichte ein, selbstverständlich eine seiner vielen Geschichten!

Zum fünfzigsten Geburtstag meines Vaters, im August 1964, saßen, nachdem alle anderen Gäste gegangen waren, noch vier Männer zusammen, die sich seit ihrer Schulzeit kannten. Und ich saß als stiller Zuhörer etwas abseits.

Ich leistete damals gerade meinen Wehrdienst ab und hatte mich über die kleinen und großen Schikanen beschwert, denen wir, infolge unserer Ausbildung, ausgesetzt waren. Für diese vier Männer waren meine Beschwerden nur ein Grund zur mittelprächtigen Belustigung und haben dann losgelegt, haben von dem erzählt, was sie alles erlebt hatten, vor gerade einmal zwanzig Jahren.

Vor zwanzig Jahren, im August 1944, war noch Krieg!

AII das, was die drei erzählten, habe ich mir, mehr oder weniger interessiert, angehört, denn in meinen Ohren klang das, was diese drei Männer da von sich gaben, ziemlich unwirklich, um nicht zu sagen, absolut unrealistisch.

Ich war solange stiller Zuhörer, bis ein bestimmtes Stichwort fiel, bei dem ich dann hellhörig wurde. Einer der Männer sagte nämlich: „Heine, vertell du doch mol, du hest doch og 'n Barg beleevt!"

Und ich spitze die Ohren und hoffte, in diesem Kreis würde mein Vater endlich einmal von seinen Kriegserlebnissen erzählen. Genauso kam es, allerdings völlig anders, als von mir erwartet wurde. Nach kurzem Zögern erzählte „Heine" an diesem Abend. In dieser Runde natürlich auf Plattdeutsch.

Zu meiner riesengroßen Verwunderung erzählte mein Vater doch tatsächlich von Erlebnissen, die ich längst kannte. Da begriff ich: Die Räubergeschichten, die Abenteuergeschichten, die mein Vater uns in den 1950iger Jahren in Keitum immer erzählt hatte, waren seine eigenen Erlebnisse! Er hatte uns seine Geschichten, immer als die Geschichten eines unbekannten, tapferen Mannes erzählt. Nie als seine Eigenen!

Nach dem Tag mit meiner Schwester, besser, nach dem Gespräch mit meiner Schwester, wurden die Erinnerungen an diese Geschichten immer deutlicher. Je länger ich über das nachdachte, was unser Vater uns alles erzählt hatte, umso mehr, längst Vergessenes, kehrte in meine Erinnerung zurück. Und es waren wirklich viele Geschichten.

Aber letztendlich war es immer wieder diese eine Geschichte. Die Geschichte seiner Verwundung.

Das war in manchen Passagen eine ganz schreckliche Geschichte, die er immer und immer wieder erzählt hat.

Wahrscheinlich war das seine ganz persönliche Art und Weise, seine vielen schlimmen Kriegserlebnisse verarbeiten zu können. Das habe ich aber erst sehr viel später begriffen... als ich anfing, meine und somit seine Erinnerungen richtig einzuordnen.

Immer öfter hatte ich nun ein ganz bestimmtes Bild vor meinen Augen: Mein Vater sitzt auf dem großen Sofa, meine Mutter sitzt ihm wie immer gegenüber im Sessel und ist mit irgendwelchen Handarbeiten beschäftigt. Felix sitzt auf Papas rechtem Bein und schläft, Ferdinand sitzt auf dem linken Bein und blickt seinem Vater genau auf den Mund, damit ja kein Wort verloren geht. Und Papi hat um seine beiden Jungs seine starken Arme gelegt. Marianne sitzt am anderen Ende vom Sofa und hat ihr Nachthemd über die Knie geschlungen, ihre Arme liegen auf den Knien und darauf hat sie ihren Kopf gelegt. Und hört so ganz entspannt zu.

Nur ich, ich sitze separat auf dem Fußboden, habe ein Kissen unter dem Hintern und habe mich zwischen Papas Beinen an das Sofa gelehnt. Ich glaubte, von dort besser hören zu können.

Und so erzählt er uns seine tollen, gleichermaßen spannenden Geschichten. Die Familie sitzt Mal wieder ganz eng beieinander, die Kinder sitzen um ihren Vater herum und hören ganz gespannt zu. Irgendwann habe ich dann begriffen, was für einen Schatz ich da mit mir herum schleppe. Und dann habe ich später alles aufgeschrieben.

Der letzte Passagier

Kurz vor Weihnachten, im Kriegswinter 1944. Irgendwo, im eisigkalten, tief verschneiten Russland. An der damals allgemein bekannten und gefürchteten Ostfront. Die Rote Armee ist immer noch auf dem Vormarsch, hat ein deutliches Übergewicht an Menschen und Material.

Ein, durch grauenvollen Kriegserlebnisse vorzeitig ergrauter, an Lebensjahren jedoch noch junger Oberwachtmeister, liegt neben seinem Flakgeschütz in einem Schützengraben. Sein blutjunger Unteroffizier, der ihn seit einigen Monaten begleitet, liegt neben ihm. Sie haben beide ihren Feldstecher vor den Augen und sehen angestrengt nach Osten.

Und sehen nichts!

Sie versuchen irgendetwas vom Feind auszumachen.

Aber sie sehen nichts!

Der junge Unteroffizier murmelt, mehr für sich selbst, leise vor sich hin: „Ich seh' nichts, siehst du was, wo sinds denn alle blieben, die werden doch wohl kein Schiss net kriegt haben und sind Heim gangen. Den Gefallen tun die uns net nich." Je länger er so vor sich hin brabbelt, desto mehr verfällt er in seinen bayrischen Dialekt. Und den versteht der Oberwachtmeister immer noch nicht richtig. Also lässt er ihn brabbeln, er hat sich daran gewöhnt. Er weiß, das ist die bayrische Art, Angst zu beherrschen, Angst zu überwinden.

Er dagegen, sagt kein einziges Wort, frisst das alles in sich hinein und wird immer grauer. Dafür macht sich jetzt bei ihm, ganz langsam, ein sehr mulmiges Gefühl in der Magengegend breit. Das Gefühl kennt er nur zu gut, das hatte er, gerade in der jüngsten Vergangenheit, schon ein paar Mal, da hieß es immer, schön in Deckung bleiben.

Vorwitzig um die Ecke gucken, das kann das Leben kosten. Es ist einfach viel zu ruhig. Sehr sorgenvoll sieht der Oberwachtmeister nach rechts und dann nach links. Es herrscht absolute Totenstille, weder von den Feinden noch von den Freunden ist etwas zu hören, zu sehen schon gar nicht! Alle haben, genau wie sie, die Köpfe eingezogen. Als er immer wieder in dieses menschenleere Land blickte, fragt er sich, wie so oft in letzter Zeit: Was mache ich eigentlich hier? Ich lieg hier in der Scheiße, friere mir den Arsch ab und schieße auf Menschen, die mir nichts, aber auch überhaupt nichts, getan haben. Ich habe absolut keine Lust mehr darauf, noch mehr Menschen zu erschießen, warum stehe ich nicht einfach auf und gehe nach Hause? Diesen genauso verlockenden, wie idiotischen Gedanken verwirft er genauso schnell wieder, wie er gekommen ist, denn wahrscheinlich würde er das nicht überleben. Die Russen haben einige Scharfschützen in ihren Reihen, die sich einen Spaß daraus machen, solche Dummköpfe einfach abzuknallen.

Und seine eigenen Leute?

Wenn er daran denkt, wie seine eigenen Leute damit umgehen, überkommt ihn das kalte Grausen, er könnte heute noch Kotzen! Als abschreckendes Beispiel hatte er einen jungen Soldaten, ein Pastorensohn aus der Nähe von Nürnberg, vor Augen. Der hatte genau die gleichen Gedanken, die er gerade hatte, für sich wahr gemacht. Der hatte nach einem Heimaturlaub beschlossen, nicht mehr auf Menschen zu schießen. Eher würde er einfach weggehen. Er kannte diesen jungen Soldaten zwar, der sich in seinem Leben ganz bestimmt noch nie rasiert hatte, hatte aber ansonsten mit ihm nichts zu tun. Der junge Mann gehörte zum 3. Zug und er zum 1. Zug. Aber wie mit diesem jungen Menschen verfahren wurde, hat ihm das erste Mal die ganze Sinnlosigkeit, die ganze Würdelosigkeit dieses Krieges vor Augen geführt! Innerhalb von drei Tagen stand dieser junge Mann mit verbundenen Augen an einer Schuppenwand vor einem Erschießungskommando

Und er ist sicher, dass der dort stand, ohne auch nur einmal von einem Richter vernommen worden zu sein. Ob es dem jungen Mann geholfen hätte, ist eine ganz andere Sache, denn diese Hinrichtung hatte nur einen einzigen Zweck: sie sollte allen anderen zeigen, was passiert, wenn! Das ganze Bataillon musste antreten und dieser makabren Inszenierung zusehen.

Nicht nur, dass man diesen jungen Mann so kaltblütig hat erschießen lassen, hat ihn so sehr getroffen, das kommt in Kriegszeiten seit Generationen immer wieder vor. Er findet das zwar ausgesprochen bescheuert und höchst überflüssig, weiß aber gleichzeitig auch, dass hier seine eigenen Grenzen sind. Bei zu großer Empörung kann es ihm passieren, dass er als nächster an dieser Schuppenwand steht.

Nein, entsetzt hat ihn die absolute Kaltschnäuzigkeit des jungen Hauptmannes, mit der er den jungen Mann aus kürzester Entfernung in die Schläfe schoss. Fast im Vorübergehen. Der ist nicht eine Sekunde stehen geblieben. Ursprünglich war dieser Akt als Gnadenschuss gedacht, um dem Erschossenen, der möglicherweise nicht richtig getroffen war, die letzte Achtung zu erweisen und ihm unnötige Qualen zu ersparen. Aber das, was dieser Hauptmann machte, war eher ein Fangschuss, mit der man Tiere erlegt, oder so, als wäre das eine lästige Schmeißfliege, die man tottreten muss.

Mein Vater hat sich, als er uns von diesem Erlebnis erzählt hat, darüber mokiert, dass dieser junge Soldat sich erst dann entschieden hatte, nicht mehr auf Menschen zu schießen, nachdem er aus einem Heimaturlaub zurückgekehrt war. „Der war von zu Hause aufgehetzt worden. Hätten alle ihre Klappe gehalten, hätten sie ihren Jungen nach dem Krieg wohlbehalten zurückbekommen!"

Seine eigenen Leute würden ihn also ohne viel Federlesen einfach an die Wand stellen. Fertig! Nein Danke, dann lieber den Arsch abfrieren. Seit er verheiratet ist, ist er ständig bemüht, nicht in unnötige Gefahr zu geraten.

Einfach nur weglaufen, das weiß er genau, das wäre genau das, was er nicht will. Das würde auch der Verantwortung gegenüber denen, die zu Hause auf ihn warten, aber auch gegenüber denen, für die er hier, auf diesem Schlachtfeld, Verantwortung trägt, nicht gerecht werden. Zumal er auch nicht genau weiß, in welche Richtung er denn laufen sollte, denn genau diese Frage beschäftigte ihn schon seit ein paar Tagen: Wo bin ich hier eigentlich? Bin ich wirklich noch in der Nähe von Smolensk? Er weiß es nicht mehr so genau.

Sie hatten in diesem nun fast vergangenen Jahr, nachdem sie sich schon 1943 der Offensive der Roten Armee geschlagen geben mussten, immer wieder, viel zu oft, ihren Standort nach hinten verlegen müssen. Meistens geschah dies nicht geordnet, sondern eher ziemlich fluchtartig, dadurch hatte er ein bisschen die Übersicht verloren. Es gab Tage, besser Nächte, da sind sie stundenlang nur zurückgefahren, solange bis einer „Halt'' sagte.

Warum der gerade hier „Halt" gesagt hatte und nicht einen Kilometer weiter oder zwei Kilometer vorher, blieb den alten Frontschweinen meistens verborgen. Die mussten sich dann dort einrichten, wo sie gerade waren. Deshalb stellt er sich nun die Frage: Bin ich nun noch in der Nähe von Smolensk? Oder bin ich schon in der Nähe von Minsk?

Er weiß, dass Smolensk und Minsk ungefähr 700 Kilometer auseinander liegen, aber hier in Russland relativierten sich Entfernungen. Egal, wo er in diesem Krieg auch schon war, es war alles einfach nur weit. Unvorstellbar weit!

Hier in Russland wird von den Soldaten nicht in Kilometern gerechnet, das verführt unnötigerweise nur dazu, dass die lebensnotwendige Wachsamkeit nachlässt. Hier in Russland wird in Tagen gerechnet, und wenn es ausnahmsweise Mal nicht so weit ist, in Stunden, das hält die Aufmerksamkeit hoch.

Wirklich wichtig ist die Frage, wo sie sich zur Zeit befinden, eigentlich nicht, viel wichtiger ist die Tatsache, sie haben seit fast drei Tagen nicht geschlafen, so heftig war der Dauerbeschuss der Roten Armee. Und er hält den Feldstecher immer noch vor den Augen. Und hält immer noch nach dem bösen Feind Ausschau. Der Feind ist aber im Moment gar nicht böse, eher friedlich. Es ist aber immer noch zu ruhig. Viel zu ruhig! Nur aus weiter Ferne, aus den Tiefen der russischen Tundra, ist ganz leise Granatfeuer und Geschützdonner zu hören. Für die beiden eigentlich ein sehr, sehr schlechtes Vorzeichen, meistens gab es nach einer derartigen trügerischen Ruhe immer richtig Prügel.

Trotzdem sagt der erfahrene Oberwachtmeister: „Die Russen machen wohl gerade Mittagspause, das können wir auch! Sieh mal zu, ob du von den Etappenhengsten was zu beißen kriegst, ich mach solange die Augen zu." Der Oberwachtmeister wundert sich ein bisschen, dass er keine Antwort erhält. Als er sich nach seinem Unteroffizier umsieht, huscht ein kleines Lächeln über sein sonst sehr angespanntes Gesicht.

Diese Bayern! Die haben vielleicht die Ruhe weg!

Der Junge schläft.

Und im Schlaf sieht er tatsächlich noch wie ein Junge aus. Die Stirn auf dem Unterarm, den Kopf leicht zu ihm gedreht und den Feldstecher noch in der Hand, aber dieser bayrische Junge schläft! Er überlegt kurz, ob er ihm die Ruhe gönnt und ob er ihn schlafen lassen soll. Alle brauchen aber dringend etwas zu essen, also weckt er ihn und wiederholt seine Bitte.

Der Junge ist zwar noch etwas verschlafen, verwandelt sich aber sofort wieder in einem Schlachten erprobten Soldaten und macht sich, ohne nachzufragen und ohne Verzögerung auf den Weg. Der Oberwachtmeister schließt tatsächlich die Augen, war das doch die einzige Möglichkeit, wenigstens in Gedanken bei den Lieben zu Hause zu sein.

Wieder einmal war bald Weihnachten, und wieder einmal war er hier, im viele Kilometer entfernten Russland. Dieser kriegserprobte, seit einiger Zeit aber auch kriegsmüde Oberwachtmeister ist ganz bestimmt kein frommer Mann, schon gar kein Heiliger, immerhin ist seit sechs Jahren Krieg.

Da verschieben sich mit der Zeit doch so manche dieser Wertvorstellungen. Aber! ... Der „Heilige Abend'' war in seiner Familie traditionell ein Familienfest. Das hatte er von seinem Vater übernommen, genau wie der von seinem Vater. Und an dieser lieben Tradition wollte er eigentlich auch in seiner kleinen Familie festhalten.

Aber! ... Wie in all den vergangenen Kriegsjahren auch, wurde da wieder einmal nichts daraus, denn seine Familie musste, wieder einmal, das Weihnachtsfest ohne ihn feiern. Das wievielte Mal eigentlich? Das dritte Mal? Das vierte Mal? Er grübelte vergeblich. Er wusste es schon lange nicht mehr!

Dafür ging ihm die bedrückende Stimmung, bei seinem letzten Heimaturlaub, auf dem Bahnhof in Mannheim, nicht aus seinem Kopf. Weil er wieder einmal so einen beschissenen Marschbefehl in der Tasche hatte, der ihn, genau wie seinen Schwager, zwang, wieder einmal an die vorderste Front zurückzukehren.

Als er sich von seinem Schwager Kurt verabschiedete, war beiden klar, dass sie sich nicht wieder sehen würden.

Aber nur sein Schwager wagte es auch auszusprechen: „Grüße noch einmal ganz herzlich meine Schwester von mir, umarme sie für mich, drücke sie ganz fest und sage ihr, ich hätte so gerne ihre Kinder aufwachsen sehen. Ich werde dazu leider keine passende Gelegenheit haben, ich spüre es, ich komme nicht wieder."

Als er an diesen Abschied denkt, stellt er erschrocken fest, dass er nicht mehr genau weiß, wann das war. Fieberhaft rechnet er zurück, das muss auf alle Fälle vor der Nacht vom fünften auf den sechsten September 1943 gewesen sein. Das weiß er noch ganz genau, das war die Nacht, als Mannheim in Schutt und Asche fiel. Mit Schrecken erinnert er sich noch an die Tage der Ungewissheit, als sie im Radio die Nachricht hörten, in Mannheim seien bei einem „hinterhältigen Luftangriff“ der alliierten Luftstreitkräfte über vierhundert Menschen ums Leben gekommen. Die Unruhe und die kaum zu ertragende Ungewissheit dauerte bis zu dem Tag, als ihn endlich der Brief von seiner Frau erreichte, in dem sie ihm berichtete: Sie hätten jetzt vorübergehend in der Wohnung ihres Bruders Joseph Unterschlupf gefunden. Joseph sei nun doch noch eingezogen worden, und seine Wohnung in Landsberg am Lech würde sowieso leer stehen. Die gesamte Einrichtung in Mannheim sei, genau wie 1940 in Hamburg, schon wieder verbrannt. Aber Josephs Wohnung ist ja mit allem ausgestattet, was eine kleine zweiköpfige Familie braucht. Und was für ihn noch viel wichtiger ist, seine Frau lebt, ist völlig unverletzt und ist nun schon zum zweiten Mal mit dem Leben davon gekommen. Dann schreibt sie noch, fast nebenbei, als wäre das alles nicht wichtig: Deine Tochter hat das alles gut überstanden und ist kerngesund!

Er konnte es gar nicht glauben, als er diesen Brief gelesen hatte, der war mit so einer leichten Hand geschrieben, fast so, als gehören Wohnungseinrichtungen, durch Bombenangriffe und durch willkürliche Feuersbrünste zu verlieren, zum täglichen Leben.

Was hatte er bloß für ein Glück gehabt, diese Frau zu finden. Als er diesen Brief das dritte oder vierte Mal gelesen hat, fällt ihm was vollkommen Blödes ein: Was wäre, wenn sich ein paar englische Piloten verfliegen und nicht wissen, wo sie die Bomben loswerden können. Wenn ein paar durchgeknallte englische Piloten auf die Idee kämen, sie müssten nun unbedingt die Festung bombardieren, in der Adolf Hitler eingesessen hat. Die würden sich alle zusammentun und gemeinsam Landsberg bombardieren. Er mag diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken. Das wäre dann das dritte Mal, dass sie alles verlieren! Erst Hamburg, dann Mannheim und dann vielleicht auch noch Landsberg.

Wo ist eigentlich die Grenze? Was kann ein Mensch eigentlich ertragen, bis er verrück wird?

Bei dem Schwersten, der insgesamt 151 Luftangriffe auf Mannheim, vom 5. auf den 6. September 1943 wurden 6000 Gebäude zerstört. 414 Menschenleben kamen in diesem Inferno um.

Da fällt ihm schon wieder sein Schwager Kurt ein, das ist doch vollkommen verrückt, dass sich jemand auf den Weg macht, von dem er genau weiß, das wird ein Weg ohne Wiederkehr. Das ist der absolute Wahnsinn. Unvermittelt, ohne dass er es merkte, murmelt er vor sich hin: „In welcher Welt leben wir eigentlich, dass so etwas möglich ist?" Erschrocken machte er die Augen etwas auf und dreht sich zu seinem Unteroffizier um, und fragte sich, ob der von seinem Heimweh-Anfall etwas bemerkt hat. Ach ja, den hatte er ja zum Essen holen geschickt.

Erleichtert macht er die Augen wieder zu, und etwas nachdenklich ruft er sich seinen Schwager Kurt ins Gedächtnis zurück. Das Grübeln hilft nicht so recht, er weiß von ihm nur noch, dass er sich auf den Weg nach Stalingrad gemacht hatte. Nach dem Abschied in Mannheim hatte er nie wieder etwas von ihm gehört. Er hatte nicht einmal die leiseste Ahnung davon, ob er überhaupt in Stalingrad angekommen war und wenn ja, wie es ihm dort ergangen ist.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Sein Schwager Kurt, der große Bruder meiner Mutter, gilt immer noch als vermisst. Das letzte Mal, dass dann jemand aus der Familie ihn lebend gesehen hat, war an jenem Tag, auf dem Bahnhof von Mannheim.

Dass Stalingrad die Hölle schlechthin ist, ist natürlich auch bis in sein Kampfgebiet durchgesickert. Gerade an solchen Urlaubstagen, wie die in Mannheim, traf man den einen oder anderen alten Kameraden. Jemanden, mit dem man irgendwo zusammen gekämpft hatte, jemanden, mit dem man zusammen auf einem Lehrgang war, der nun zur 6. Armee gehörte und der dahin zurück musste.

Ganz begehrte und wichtige Informationsquellen waren die vielen Nachschub- oder Versorgungsleute. Die, wenn sie es tatsächlich schafften, aus dem Kessel wieder rauszukommen, brachten dann die neuesten Informationen mit. Diese Leute waren selbstverständlich alle zum Schweigen verdonnert, es bestand auch überhaupt kein Zweifel, alle respektierten und alle achteten diese Schweigepflicht. Auch zum Schutz der Angehörigen zu Hause!

Aber irgendwann sickerte ihr Wissen doch durch.

Landser untereinander können mitunter sehr deutlich werden, wenn man den Code kennt oder die geheimen Umschreibungen versteht. Auch wenn der Propagandasender, der sich Soldatensender nennt, nicht müde wurde, das Gegenteil zu behaupten und jede vernichtende Niederlage in einen glorreichen Sieg verwandelte.

Die Schilderungen vom Schwager Kurt, die er ihm anvertraute, als die beiden einen Ausnüchterungsspaziergang am Rhein machten, lassen überhaupt keinen Spielraum für positive Interpretationen! Das war viel zu deutlich!

In Gedanken ist er deshalb immer wieder bei seiner geliebten Frau, die er in den fast sechs Jahren, die dieser elendige Krieg jetzt schon dauerte, ganze vier Mal gesehen hatte. Nur der Heiratsurlaub war etwas länger gewesen.

Wenn er an die schönen, leider viel zu kurzen Tage in Boltenhagen denkt, wird er fast trübsinnig. Jedes Mal kommen ihm die Tränen, wenn er an ihre Flitterwochen an der Ostsee denkt. Da waren sie beide noch allein, hatten nur sich, hatten oft Zeit und Raum vergessen und herrliche, unbeschwerte Tage erlebt. Der Krieg war weit, ganz weit weg, nicht nur in den Gedanken. Der Krieg war tatsächlich viele, viele Kilometer weit weg, beinahe so, als würde er gar nicht stattfinden. Und weil sie beide an diese unbeschwerten Tage in Boltenhagen doch so schöne Erinnerungen hatten, hatten sie sich, beim letzten Heimaturlaub, fest versprochen, wenn dieser Krieg vorbei ist, fahren wir noch einmal nach Boltenhagen. Da waren wir am glücklichsten, da waren unsere schönsten Tage. Und das war nun auch schon wieder eine Ewigkeit her. Obwohl, sind vier Jahre eigentlich schon eine Ewigkeit?

Natürlich ist daraus nie etwas geworden. Als der Krieg dann endlich zu Ende war, war Boltenhagen DDR. Und die Grenzen waren zu. Das Boltenhagen, das die beiden in Erinnerung hatten, gab es jetzt nicht mehr!

Er denkt auch oft an seine Tochter, die in Boltenhagen schon unterwegs war und ohne ihren Vater aufwuchs, jetzt schon drei Jahre alt ist und an deren Gesicht er sich nicht mehr erinnern kann. Wie sehr er sich auch bemüht, da ist einfach nur eine riesengroße Leere in seinem Kopf. Vor allem aber denkt er immer wieder an seinen Sohn, der jetzt sechs Monate alt ist und den er erst ein einziges Mal gesehen hatte, und weil der seinen Vater natürlich nicht kannte, aus Leibeskräften geschrien hatte, als Papa in den Baby-Korb strahlte. Und was hatte er gemacht? Völlig überfordert und entnervt, auf diese Situation überhaupt nicht vorbereitet, hatte er den kleinen Schreihals wutentbrannt, mitsamt seinem Körbchen im Badezimmer in die Badewanne gestellt und mit einem kräftigen Schwung die Tür zugeknallt. Natürlich hatte das einen Riesenkrach gegeben. Das Knallen der Tür hört er heute noch, jetzt auch, immer und immer wieder. Etwas verwundert macht er die Augen auf, das Tür knallen ist deutlich lauter und sehr nahe, fast schon neben ihm. Das ist auch kein Tür knallen, das sind Granateinschläge.

Der böse Feind hat seine Mittagspause beendet und ist, unbemerkt, bis auf ein paar Meter an den Schützengraben herangekommen. Die berühmt/berüchtigten Stalinorgeln haben, mit ihrem durchdringenden, Furcht einflößendem Heulen, ihr schlimmes Vernichtungswerk wieder aufgenommen. Das Grauen geht weiter! Wieder einmal tut sich die Hölle auf.

In genau diesem Moment ist auch, wie aus dem Nichts, sein junger Unteroffizier wieder zu ihm in den Schützengraben zurückgekehrt. Er fragt sich immer wieder, wie dieser junge Bengel das macht. Auch unter schwerstem Beschuss kommt der immer wieder zurück. Manchmal, genau wie jetzt, völlig verdreckt und außer Atem, mit einem verwegenem Grinsen im Gesicht, so, als wolle er sagen: Na, wie hab ich das gemacht? Aber immer hockte er irgendwann wieder neben mir. Diesmal allerdings, wie konnte er auch etwas anderes annehmen, ohne etwas zu beißen. Das heißt für sie beide, neben der fast unerträglichen Kälte, nun auch noch, wie in den letzten Monaten öfter, müssen sie Kohldampf schieben. Man gewöhnt sich aber an alles.

Der Kriegsveteran und sein junger Kumpel haben, so gut es denn eben geht, die Köpfe eingezogen und linsen ganz vorsichtig über die Kante ihres, nur wenig Deckung bietenden Schützengrabens. Beide zucken zurück! Da liegt eine russische Handgranate! Die liegt da einfach! Nur 50 Zentimeter weg!

Ein Nichts! Man könnte hinlangen! Vielleicht!

Die beiden Männer kennen diese Dinger genau. Oft genug haben sie die verheerende Wirkung der russischen Handgranaten mit ansehen müssen. Aber diese liegt da nur. Provozierend. Ganz friedlich und scheinbar völlig harmlos. Zum Ansehen. Zum Bestaunen. Einfach so.

Die Anspannung wird, je länger sie warten müssen, immer größer! Explodiert sie nun, oder ist das wirklich ein Blindgänger? Als der erfahrene Oberwachtmeister, trotz der eindringlichen Warnung seines inneren Schweinehundes und heftigem Flügelschlagen seines hoffnungslos überforderten Schutzengels, nach der Handgranate greift, explodiert sie doch. Die Wucht der Explosion wirft ihn zurück in den Dreck des Schützengrabens, und eine gnädige Ohnmacht umgibt ihn. Das rettet ihm dann wahrscheinlich auch das Leben! Als er endlich die Augen wieder aufschlägt und das Gefühl hat, in vergilbte, ungewaschene Gardinen zu blicken, bemerkt er gerade noch, wie eine wilde Horde Mongolen über die Schützengräben hinwegfegt und alles niedermetzelt, was sich ihnen in den Weg stellt. So auch seinen jungen Kameraden, der aus mehreren Wunden immer noch ganz fürchterlich blutet und in einer unnatürlichen Verrenkung tot neben ihm liegt.

Das Entsetzen, in dem vor Schmerzen verzerrtem Gesicht, ist noch immer zu erkennen. Gern würde er ihm, die nach wie vor weit aufgerissenen Augen zudrücken, aber er kann sich nicht bewegen, er ist immer noch starr und steif vor Schreck.

Er hat keine Zeit darüber nachzudenken, warum er das Gefühl hat, in ungewaschene Gardinen zu blicken, warum er fast nichts mehr sehen kann, er macht ganz schnell die Augen wieder zu, bewegt sich nicht und hofft, auch für tot gehalten zu werden.

In den endlosen Stunden, in diesem dreckigen, kalten Loch, findet er dann seinen inneren Frieden, weil er zu seiner eigenen Verwunderung, wie selbstverständlich, immer wieder die zerschundenen Hände faltet und leise betet. Das hatte sonst immer sein Unteroffizier für sie beide getan. Aber der ist ja nun schon seit mehreren Stunden tot.

Dieser Krieg schlägt die seltsamsten, oft aber auch bösartigsten Kapriolen. Da lernen , dass der oft in sich gekehrte, meistens auch schweigsame, Schleswig-Holsteiner und der redselige, andauernd vor sich hin brabbelnde Bayer, sich gegenseitig schätzen, sind auf dem besten Wege, trotz dieses fürchterlichen Krieges, der menschliche Gefühle zum Luxus werden lässt, Freunde zu werden, und nun liegt dieser junge Mensch, der in seinem kurzen Leben nicht viel mehr als die Last des Krieges kennen gelernt hat, tot neben ihm. Er hat längst die Übersicht verloren, wie viele Tage er denn schon, mit diesen schmerzhaften Verletzungen in diesem Loch verbracht hat. Weil er immer wieder in Ohnmacht fällt, wenn er eine unbedachte Bewegung macht, oder nur, wenn er versucht, es sich ein weinig bequemer zu machen.

In den eisigen und kalten Nächten, in denen ihm neben der Ungewissheit, wie schwer denn seine Verletzungen sind, auch noch Hunger und Durst plagen, frisst er aus Verzweiflung den dreckigen Schnee, um wenigstens den größten Durst zu löschen. Er erinnert sich vage, in einem seiner Lehrgänge gelernt zu haben: Nach drei bis vier Tagen setzt der Durst ein! Danach würde er mindestens schon vier bis fünf Tage so hier liegen, denn der Durst plagt ihn fürchterlich. Dabei lernt er die Fähigkeit, mit den Händen etwas ertasten zu können, ganz neu schätzen. Mit der gesunden linken Hand tastet er vorsichtig den Boden vor sich ab, das, was kalt ist und sich pulvrig anfühlt, ist Schnee. Jeden schneebedeckten Finger steckt er dann ganz vorsichtig in den Schlitz, was vor ein paar Stunden noch sein Mund war und leckt ihn ganz vorsichtig und noch sorgfältiger ab, damit nichts von dieser Kostbarkeit verloren geht.

Er wundert sich nur darüber, wie gut das eigentlich funktioniert. Den Sand, den er dabei dauernd mit ableckt, spuckt er spätestens dann wieder aus, wenn der Schnee aufgetaut ist und sich in überaus köstliches Schneewasser verwandelt hat. Beim Ausspucken wartet er jedes Mal darauf, dass es ihm die Besinnung raubt, doch er bleibt wach. Und so schluckt er nicht allzu viel von dem Matsch mit hinunter, wenn er auch mit Verwunderung feststellt, dieser Matsch hilft auch ein ganz kleines bisschen, den grässlichen Hunger wenigstens für einen kurzen Augenblick zu verdrängen. Von da an machte es ihm überhaupt nichts aus, dass er jedes Mal einen Teil von dieser verhassten, dreckigen, russischen Erde mit runterschluckt.

Als er sich wieder einmal eine Handvoll Schnee in den zerschundenen Mund schiebt, erinnert er sich plötzlich an seine Ausbildungszeit. Ganz besonders an einen Unterfeldwebel, der ein Teil seiner militärischen Grundausbildung war. Ihm sind ja im Verlauf dieses langen Krieges immer wieder militärische Schwachköpfe über den Weg gelaufen, die glaubten, wer am lautesten schreien kann, hat Recht. Aber den größten Schreihals, der ihm je begegnet ist, war jener Unterfeldwebel, während seiner soldatischen Grundausbildung. Der war ein ausgemachter Widerling!

Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit brüllte er mit sich überschlagender Stimme: „Erst, wenn ihr ein Zentner Sand gefressen habt, seid ihr auf dem Wege, einigermaßen brauchbare Soldaten zu werden." Wenn er hier, in diesem bescheuerten Loch, so weitermacht, hat er diese schwachsinnige Vorgabe ja bald erfüllt, noch drei Tage in dieser Einsamkeit und er schafft diesen Zentner locker. Insofern ist er jetzt, nach sechs Jahren Dauereinsatz an vorderster Front, endlich dabei, ein brauchbarer Soldat zu werden. Eine tröstliche, eine lächerliche, eine geradezu idiotische Vorstellung. Obwohl ihm sein Gesicht schon fast pervers doll weh tut, wenn er es auch nur ansatzweise verzieht, so muss er bei dieser Vorstellung, endlich ein brauchbarer Soldat zu werden, einfach nur lachen. Er lacht, erst leise, dann immer lauter, er kann dieses hysterische Lachen nicht zurückhalten. Er lacht so intensiv, dass ihm die Tränen über sein zerschundenes Gesicht laufen und, sozusagen als Dank, für diesen lächerlichen Gedanken, fangen nun seine Wunden wieder an, ganz fürchterlich zu brennen. Er wird schier verrückt. Dieses irre Lachen muss in dieser unendlichen Weite, auch unendlich weit zu hören sein! Vom Feind! Na und! Sollen sie doch kommen! Halb tot bin ich ja sowieso schon!

Davor, dass ihn ein russischer Feldsoldat findet, hat er eigentlich keine große Angst, da hegt er sogar die stille Hoffnung, dass die ihn nicht sofort erschießen. Was soll er denen auch noch tun?

Er kann nichts mehr sehen, er kann seinen rechten Arm nicht mehr bewegen und als Bewaffnung ist ihm nur noch seine Pistole geblieben. Und in dieser ausweglosen Lage sitzt er in seinem Loch und lacht, lacht entsetzlich laut, und dieses Lachen vermischt sich immer mehr zu einem heftigen Weinkrampf.

Er setzt also seine letzte Hoffnung darauf, dass die Russen ihn doch nur gefangen nehmen werden und er so wenigstens zu einem Arzt käme. Er weiß natürlich, dass das nur ein winziger Strohhalm ist. Wirkliche Angst hat er vor den russischen Panzern, den T34 zum Beispiel, die, das hat er schon öfter gesehen, einfach über einen Schützengraben fahren, einmal nach links drehen, einmal nach rechts drehen, und man ist man ganz schnell erledigt. Da lebt niemand mehr.

Er bräuchte schon gar nicht mehr hinsehen, so prägnant ist dieses Geräusch. Das typische Aufheulen des riesigen Panzermotors kennt jeder Soldat. Wenn er denn an der Ostfront war! Immer wenn er dieses Geräusch hört, weiß er, es hat wieder ein paar Kameraden erwischt. Das stellt er sich ganz fürchterlich vor, nein, er weiß es, er hat es oft genug gesehen, das ist nur noch entsetzlich! Davor hat er panische Angst!

Er kann aber nicht anders, er lacht immer noch. Ein brauchbarer Soldat, in diesem Loch. Das ist einfach lächerlich. Er muss einfach lachen und schreit diese verzweifelte Mischung aus Lachen und Weinen in den dunklen, russischen Winter hinaus. Und dieses irre Lachen, es beruhigt ihn sogar etwas.

Kurz vor Anbruch der fünften oder sechsten Nacht, als er sich seiner großen Hoffnungslosigkeit immer bewusster wird, spürt er plötzlich, dass sein Kopf immer klarer wird. Er fängt wieder an logisch zu denken, gleichzeitig breiten sich in seinem Kopf langsam panische Ängste aus. Er befürchtet immer mehr, neben der schweren Verletzung, hier in der Einsamkeit, neben seinem toten Kameraden, auch noch verrückt zu werden, zumal er sich gerade bewusst wird, dass er versucht festzustellen, wie viele Patronen er eigentlich noch in seiner Pistole hat. So weit war er noch nie. Er hatte ja schon einige kleinere Verwundungen ertragen müssen, aber Patronen gezählt, so weit war er noch nie.

Langsam, ganz langsam, kriechen nun auch noch Bilder aus seinen Kindertagen in ihm hoch. Immer wenn er als kleiner Junge abends zu spät nach Hause kam oder im Dunkeln alleine war, hat er ein kleines Liedchen vor sich hin gepfiffen, das nahm ihm etwas die Angst. Also fängt er an, leise vor sich hin zu summen, pfeifen kann er ja nicht. Erst nur so, er wusste selbst nicht, was er da summte, dann wurde es immer deutlicher, er summte Weihnachtslieder.

Singen konnte er ja genau so wenig wie pfeifen. Aber in seinem Kopf waren all die Texte noch gegenwärtig. Vor zwei Jahren hat er, bei einer Weihnachtsfeier zu Hause, sie zuletzt gesungen. Also summte er den Text im Kopf: „0, du fröhliche, 0, du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit, Welt die ging verloren...“ Da verstummte sein Summen. Welt ging verloren. Wie passend war dieser Text!