Friedrich Hebbel: Die Räuberbraut

 

 

Friedrich Hebbel

Die Räuberbraut

und andere Erzählungen

 

 

 

Friedrich Hebbel: Die Räuberbraut und andere Erzählungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Carl Friedrich Lessing, Felsenschloss, 1828

 

ISBN 978-3-86199-996-6

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9351-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9352-1 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Die Räuberbraut

1.

Es war schon ziemlich spät, und Sturm und Regen vereinigten sich, das Wetter so schlecht zu machen, wie nur irgend möglich. Gustav, der junge Förster, ging langsam durch den Wald, wie es schien, in tiefe Gedanken versunken. Endlich rief er aus: »Ja, es sei! Gewißheit will ich haben, und wäre es auch die Gewißheit ewiger Vernichtung!« Damit schritt er rasch, bis ins nahe gelegene Dorf, vorwärts. Er stand still vor einem kleinen Hause, das am Eingange des Dorfes lag und von der alten Frau von Rosenheim – der Witwe eines in Armut verstorbenen Offiziers – nebst ihrer Nichte Emilie bewohnt ward. Mit zweifelndem Schritte ging er vor das niedrige Fenster, woraus noch Licht schimmerte. Er blickte hinein. Die Alte schien sich längst in ihr Zimmer zurückgezogen zu haben; Emilie aber las noch in einem Buche und war so eifrig mit dem Inhalte desselben beschäftigt, daß sie Gustavs leises Klopfen anfangs gar nicht vernahm. Er klopfte stärker. Da wurde das Fenster aufgemacht, und Emiliens engelmilde Stimme fragte, wer da sei? »Ich«, erwiderte Gustav. »Wem gilt Euer Besuch noch so spät?«, sagte das Mädchen, indem sie den Förster mit einem fast ängstlichen Blicke maß, »Euch«, entgegnete dieser, »ich bitte aufzumachen; Ihr habt hoffentlich keine Furcht vor mir?«

Emilie machte langsam die Tür auf, und Gustav ging mit ihr in die Stube. Hier schritt er eine Zeitlang heftig auf und ab, ohne ein Wort zu sagen, wie im Kampfe mit sich selbst begriffen; endlich trat er vor das Mädchen hin, ergriff ihre Hand, und sprach mit weicher Stimme:

»Emilie, bleibt es bei der Entscheidung, die Du mir gegeben hast? Spricht keine Regung Deines Herzens für den Armen, der vor Dir steht und seinen Himmel von Dir zu erbetteln sucht?«

»Gott, Gustav«, erwiderte das Mädchen, »fordert nicht von mir, was ich Euch ewig nimmer gewähren kann. Ihr werdet mir immer wert bleiben, wie ein teurer Gespiele meiner Jugend, wie ein Bruder, nur verlangt keine Liebe!«

»Das heißt«, rief der Jüngling, »sei mit einem Tropfen zufrieden, wenn kaum ein Weltmeer hinreicht, dich zu kühlen.« Heftig preßte er das Mädchen an seine Brust, verzweifelnd rief er aus: »Sprich nochmals, Du willst nicht!«

»Ich kann nicht!«

»Wohlan«, sagte er und stürzte fort, »Du wirst meiner gedenken!«

 

2.

Es war ein schöner Sommertag. Lustig zwitscherten die Vögel und hüpften von Zweig zu Zweig, freundlich, wie ein Auge Gottes, blickte die Sonne durch den dichten Wald, worin ein junger Mann, den wir Victorin nennen wollen, mit sichtbarer Unruhe auf- und niederwandelte. Sein Gesicht hatte die edelsten Züge; in freiem Schwunge flatterten die dunklen Locken um seine Schultern; er war eine vollendete Mannsschönheit, aber auf höchst abenteuerliche Weise gekleidet. Er trug ein langes, schwarzes Gewand, welches fast priesterlich zu nennen gewesen wäre, wenn nicht die blutrote Farbe des um seinen Leib geschlungenen Gürtels, und besonders die in demselben befindlichen Waffen – blankgeschliffene Dolche und Pistolen – zu grell dagegen abgestochen hätten. Diese, und der Degen, der an seiner Seite hing, hätten seiner Erscheinung in der Waldeseinsamkeit etwas Furchtbares geben können, wenn nicht der sanfte, obgleich ernste Ausdruck seines Antlitzes den widrigen Eindruck hätte verwischen müssen. Von Zeit zu Zeit, jedoch mit einer Art Ängstlichkeit, wand er sich durch die Gebüsche und trat auf den Waldsteig, sich sorgfältig auf demselben umsehend, als ob er etwas erwartete. Bei dem leisesten Geräusch indeß, das sich hören ließ, verschwand er wieder in das Dickicht.

 

3.

Die Schönheit des Tags hatte auch Emilie in den dichten Wald hinaus gelockt. Beschäftigt, einige Erdbeeren für die geliebte Muhme zu pflücken, hatte sie sich tiefer, wie gewöhnlich, in das Gesträuch verloren und war in eine wildfremde Gegend gekommen. Sie suchte umsonst den nach ihrem Dorfe führenden Weg wieder aufzufinden. Schon begann die Dämmerung ihre grauen Fittige zu entfalten, die Strahlen der Sonne fielen ins Rötliche, kühler wehte der Wind: da trat Gustav dem ängstlich besorgten Mädchen entgegen. Ach, es war nicht mehr der heitre Gespiele ihrer Jugend, von dem sie erwarten durfte, daß er sie zurechtweisen werde: tiefe Melancholie lag, wie eine Wolke, auf seinem Gesichte: sein Auge sprühte Flammen, wie er die wehrlose Jungfrau erblickte; ein entsetzlicher Entschluß schien in seinem Busen zu reifen.

Er trat näher. Stumm standen sich beide eine Zeitlang gegenüber. Da aber zuckte es, wie ein Wetterstrahl, über des Jünglings Angesicht; mit dumpfer Stimme rief er:

»Emilie, bleibt es bei dem, was Du gesagt hast? Darf ich nicht hoffen?«

Sie wollte antworten, er aber unterbrach sie:

»Ich sehe, Du willst mein Todesurteil sprechen; wohlan, Fühllose, es sei; aber Du sollst mit mir sterben!«

Damit zog er einen blanken Dolch hervor, den er, wie es schien, auf der Brust getragen hatte, und schwang ihn gegen das Mädchen. Sie sank mit einem Angstgeschrei zu Boden; Gustav aber fühlte sich im selbigen Augenblick stark von hinten angegriffen, und eine mächtige Stimme donnerte:

»Unglücklicher, was wolltest Du tun? Du bist verloren!«

»Das ist noch die Frage –«, entgegnete Gustav, indem er sich umkehrte und seine Waffe gegen den Unbekannten zückte.

»Du bist es«, rief dieser, entwand ihm mit leichter Mühe den Dolch, warf ihn zur Erde und setzte ihm den Fuß auf die Brust.

Da erwachte Emilie aus der Ohnmacht, worin sie bisher gelegen, aber nur, um mit einem wiederholten Schrei in eine neue zu fallen, als ihr Blick auf die beiden Männer fiel.

»Bei Deinem Leben, entferne Dich, Bube«, herrschte der Fremdling dem Förster zu.

Zähneknirschend verlor sich dieser in das Gebüsch.

 

4.

Emilie lag leblos da. Victorin – der war ihr Retter – eilte zu einem nahen Quell, schöpfte etwas Wasser und bespritzte das Mädchen damit. Aber sie gab kein Zeichen des rückkehrenden Lebens von sich; die Farbe war von ihren Wangen gewichen, kein Atem hob ihren Busen, ihre Augen waren geschlossen. Victorin stürzte sich in grenzenloser Angst über sie hin. »O, Geliebte«, rief er aus, »so muß ich jetzt Dich verlieren, jetzt, wo ein günstiger Zufall die ungeheure Kluft ausgefüllt zu haben scheint, welche zwischen uns befestigt war?« Er rief sie bei den zärtlichsten Namen, er raufte sich, da alles vergeblich blieb, das Haar aus und ballte wild seine Hand gegen die Stirn. Da schlug Emilie die Augen auf; mit sanfster Stimme lispelte sie: »Wo bin ich?«

»Bei einem, der Dich liebt!«, sagte Victorin, indem er sie aufrichtete.

Sie schaute ihn an, wollte ihm danken; aber ihre Lippen verstummten, nur ihr Auge sprach, – ach, es sprach mehr, als den innigsten Dank. Wie ein Engel war Victorin ihr in der Not erschienen; wie ein Engel stand er noch vor ihr da, bestimmt, die dunkeln Wolken ihres durch Gustav verfinsterten Lebens zu zerstreuen; sie wußte nicht, ob sie ihn lieben, ob sie ihn anbeten sollte. Er führte sie, ohne daß sie ihm ihren Wunsch erst zu erkennen gegeben hätte, auf den Weg in ihr Dorf zurück; stumm ging er neben ihr her; er hatte ihren Blick verstanden; er schwelgte in nie geahnter Seligkeit.

Der Wald war zu Ende.

»Wir müssen uns trennen«, sagte Victorin in tiefem Schmerz, »vielleicht auf ewig!«

»Für ewig?«, fragte Emilie ängstlich, und schauderte fast zusammen über ihre eigene, ihr unwillkürlich entschlüpfte Frage.

Victorin schaute sie an – ihre Blicke begegneten sich – er stürzte zu ihren Füßen, schwur ihr ewige Liebe, – sie erwiderte den Schwur nicht, – stumm sank sie an seine Brust, – ihre Seelen vermählten sich im ersten flammenden Kusse.

Ein Wagen rollte heran; erschrocken fuhren die Liebenden auseinander.

»Ich sehe Dich wieder!«, rief Victorin aus, preßte das Mädchen noch einmal an seine Brust und verlor sich sodann in die Gebüsche.

Emilie kehrte in die Hütte ihrer Muhme zurück: sie brachte keine Erdbeeren, aber einen Himmel mit.

 

5.

Mit kochendem Blut hatte Gustav den Platz seiner unrühmlichen Niederlage verlassen. Eine Legion entsetzlicher Gefühle durchzog, wie eben so viel grausame Harpyen, seine Brust. Wie rasend rannte er ohne Absicht oder Wahl in die Tiefe des Waldes hinein, und bemerkte nicht, daß er sich dem als unsicher verrufenen Schloßgarten, wo ehemals eine Burg gestanden hatte und wo jetzt die Söhne der Hölle ihr Wesen treiben sollten, mehr, als rätlich, näherte. Ehe wir ihn indeß weiter begleiten, wollen wir sehen, was an und in ihm ist.

Gustav war kein kräftiger, aber ein sehr leidenschaftlicher Mensch, eine von denjenigen Naturen, die gut geblieben sind, weil keine Umstände sie schlecht gemacht haben, und deren Tugend um deswillen auf Sand gebauet ist. Er war mit Emilien – der Tochter eines Freundes von seinem Vater – aufgewachsen, und wie das schöne Mädchen schon auf den Buben einen starken Eindruck gemacht hatte, so war der Jüngling höchst natürlich durch die, wie liebe, blühende Jungfrau bezaubert worden. Wie aber von jeher Schüchternheit, und, man mögte sagen, hoffnungsvolle Hoffnungslosigkeit, die Pflanzen gewesen sind, welche der Anhauch wahrer Liebe zuerst im menschlichen Busen erzeugt, so hatte auch Gustav nie den Mut gewinnen können, sich Emilien zu entdecken, war vielmehr zufrieden gewesen, sich regelmäßig, nach Art vieler Verliebten, jeden Tag selbst ein Elysium oder einen Tartarus zu erbauen; ersteres auf einen freundlichen, letzteren aber auf einen gleichgültigen Blick des Mädchens gegründet. Es mogte gern sein, daß Emilie von allem, was in seiner Seele vorgegangen war, nicht das Mindeste geahnt hatte; da starb Gustavs Vater, und ihm wurde dessen Amt zu Teil. Nun endlich glaubte er, den Zustand seines Herzens entdecken zu dürfen. Nachdem er noch hundert gelegene Stunden unbenutzt vorbeistreichen ließ, wagte er zuletzt sein Geständnis. Allein, Emilie empfand nichts für ihn; nicht spröde und unbarmherzig, aber ernst und für immer wies sie ihn ab. Er sah das Glück seines Lebens für ewig vernichtet; noch einmal – an jenem Abend – wagte er, sein Geständnis zu wiederholen, aber eben so fruchtlos. Da – und bei seinem Mangel an Grundsätzen mußte er es – zerfiel er im Innersten mit sich selbst; Selbstmord war sein erster, Rache gegen das Mädchen sein zweiter Gedanke. »Eine Hölle ist mir zu Teil geworden – ich will sie verdienen!«, rief er aus, und trug sich seitdem mit dem Entschlusse, erst das Mädchen, dann sich zu töten. Victorin hatte seinen frevelhaften Vorsatz in der Stunde der Ausführung zunichte gemacht. Gedankenlos irrte er umher.

Plötzlich hörte er sich rauh anrufen: »Steh, Hund!« Eine lange dunkle Gestalt stand vor ihm, ein breites Messer in der plumpen Faust.

»Was willst Du von mir?«, erwiderte Gustav, als er den Räuber betrachtete. »Geld? Das hab ich nicht. Willst Du aber einen Kameraden? Topp, so bin ich Dein!«

Der Räuber sah Gustav zweifelhaft und mißtrauisch an, aber, er hatte nur einen Blick in sein verstörtes Gesicht, sein düster rollendes Auge getan, als er hastig die dargebotene Hand ergriff und Gustav mit roher Herzlichkeit in seine Arme schloß.

»Du bist ein Mann für mich«, sagte der Räuber, »ein Ohnefurcht, der es nicht so genau nehmen, der nicht gleich in Ohnmacht fallen wird, wenn er zufälliger Weise einmal ein bisschen Blut laufen sehen, oder selbst abzapfen sollte. Hier hapert's mit den meisten; sie scheinen aus korinthischem Erz gegossen zu sein, wenn sie im Loch sitzen, sind aber aus Papppapier zusammengeklebt, wenn ein Strauß zu bestehen ist. Komm, Bruder, trink!«

Damit reichte er Gustav eine lederne Flasche. Dieser aber warf sie zu Boden.

»Schaff mir Blut«, rief er aus, »Blut, sage ich, nur Blut ist im Stande, meinen Durst zu löschen.«

»Kamerad«, sagte der Räuber, »mäßige Deine Heftigkeit. Ich selbst freilich höre solche Reden sehr gern, aber der Hauptmann ist kein Freund davon. Über jedes Blutströpfelchen, das wir vergießen, müssen wir sorgfältiger Rechenschaft ablegen, als der Ladenbursch eines Schwefelholzverkäufers gegen seinen Herrn über die gehabte Einnahme nur immer kann. Ich sage Dir, Bruder, diese übertriebene Genauigkeit ist ein wahres Übel an unserm Hauptmann!«

»Was seid Ihr denn für Kerle«, brauste Gustav auf, »wagt Galgen und Rad, und laßt Euch dennoch von einem Einzelnen vor den Karren spannen? Was gewinnt Ihr durch Euer Leben, wenn Ihr nicht einmal Freiheit gewinnt?«

»Still, still! Ich bitte Dich«, sagte der Räuber, »folge mir!«

Gustav folgte.

Der Räuber – der sich Bernhard nannte – führte ihn durch Schluchte und Gründe, bis sie vor einen Strom kamen, der mächtig vom nahen Felsen herniederrauschte.

»Du kannst doch schwimmen?«, fragte er Gustav, »ich meine, ein ganz klein wenig?«

Als Gustav dies bejahte, bat Bernhard ihn, sich zu entkleiden, was er selbst gleichfalls tat, und dann mit ihm in den Strom zu steigen.

Dies geschah, und kaum hatten sie eine kleine Strecke geschwommen, als Bernhard schnell, wie in den Bauch des Felsen, verschwand. Gustav schwamm ihm nach, und wie erstaunte er, als er plötzlich in eine große unterirdische Grotte gelangte, die sich meilenweit in den Felsen hineinzudehnen schien und vor dem Eindringen des Wassers durch ungeheure, senkrecht liegende Granitblöcke gesichert war. In der Tiefe der Grotte brannte ein helles, lustiges Feuer, um welches Männer, Weiber und Kinder in buntem Gemische herumsaßen. Speisen waren an das Feuer gesetzt; blinkende Waffen hingen oder standen an den Wänden; Tierfelle zum Lager waren an den Seiten auf die Erde gebreitet; alles bezeichnete die, wahrscheinlich ihrer Sicherheit halber gewählte, Wohnung der Kinder der Nacht und der Verworfenheit. Erstaunte Gustav über den Anblick, der sich ihm darbot, so erstaunten die Bewohner der Höhle nicht weniger über seinen Eintritt. Die Männer, lauter hohe, mächtige, aber bleiche und abgerissene Gestalten, griffen nach ihrem Dolche; allein Bernhard, der eben seine durchnäßten Kleider am Feuer zum Trocknen aufgehängt hatte, faßte Gustav bei der Hand und stellte ihn als einen neuen Kameraden vor, der bereit sei, Leid und Freud mit ihnen zu teilen und sein Leben für sie zu wagen. Da drängten sich alle zur freundlichen Bewillkommnung an ihn: die Männer schüttelten ihm die Hand, die Weiber boten ihm Speise und Trank.

Ein alter Mann, der unter allen ein besonderes Ansehen zu genießen schien, und der von dem Ankömmling bis jetzt noch nur wenig Notiz genommen hatte, stand, nachdem alles wieder ruhig geworden war, auf und trat langsam und gemessen, mit feierlichem Ernste auf den Jüngling zu.

»Willst Du«, so sprach er, »in Wahrheit unser Bruder werden, so mußt Du mir zuvor eine Frage beantworten. Sage mir, was treibt Dich aus der Welt?«

»Ein Weib«, entgegnete Gustav und sah den Alten mit einem Blicke an, der zugleich die kälteste Selbstverachtung und den glühendsten Rachedurst ausdrückte.

»Ein Weib«, sagte der Alte, »war es, welches der Menschheit ihr Paradies raubte; Weiber sind es noch immer, welche jedem Menschen sein Paradies zerstören und den Engel mit flammendem Schwerte hineinrufen. Du bist würdig, aufgenommen zu werden. Leiste mir im Namen des Hauptmannes, der während seiner Abwesenheit mir das Kommando übertragen hat, den Eid der Treue.«

Gustav schwur.

Dumpf, wie warnende Geister, pochten die Wogen an das Felsengemach, brausend erhob sich ein Sturm; aber lärmend tranken die Bewohner der Grotte auf die Gesundheit des neu errungenen Bruders.

 

6.

Emilie saß eines Abends noch spät in ihrem Zimmer.

Die Muhme war längst zu Bette gegangen, das Licht war erloschen, der Mond blinkte hell und klar in die Stube hinein.

Da wurde leise ans Fenster gepocht. Aus ihren stillen Träumereien aufgeschreckt, blickte Emilie hinaus und gewahrte mit Befremden eine Kutsche, die nahe vor ihrem Hause hielt.

Sie hatte darüber das Pochen fast vergessen, allein es wurde wiederholt. Eine lange, schlanke Gestalt sah sehnsüchtig zu ihr hinauf – es war Victorin – sie öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Victorin umschlang sie mit leidenschaftlicher Innigkeit: »O, folge mir, Geliebte«, rief er aus, »folge mir!«

Sie schaute ihm stumm und verwirrt ins Gesicht.

»Folge mir«, wiederholte er dringender, »zu Deinem und meinem Glücke, folge mir! O, zaudre nicht, meine Stunden sind gezählt; ein Priester ist bereit; Du darfst Dich mir vertrauen.«

»Nein, nimmermehr!«, rief sie aus, indem sie sich seinen Armen zu entwinden suchte, »nimmermehr – in dieser Stunde!« –

»O Gott, Mädchen, folge mir! Ewig niemals mögte diese Stunde sich wiederholen!«

Emilie hatte Victorin in vier Wochen nicht mehr gesehen, aber die ganze Zeit über an ihm, nur an ihm, mit all ihren Gefühlen und Gedanken gehangen. Der Geliebte drang in sie – sie konnte nicht widerstehen. Zitternden Schritts trat sie noch einmal in das Schlafgemach ihrer Muhme, küßte der alten Frau mit nassen Augen die Stirn, und verließ alsdann das Haus, worin ihre Wiege nicht gestanden, worin sie aber so viel Gutes genossen, so manche glückliche Stunde verlebt hatte.

Selig hob Victorin sie in den Wagen und setzte sich an ihre Seite. Vier muntre Rappen zogen die Kutsche, wie im Fluge, fort.

Es war eine schöne Nacht. Kaum regte sich ein Blatt am Baum; der Himmel war heiter und unbewölkt; wie eine silberne Insel schwamm der Mond in dem unendlichen Blau. Aber Emilie saß stumm an der Seite ihres Geliebten; je weiter sich das Haus ihrer Muhme in die Ferne verlor, je tiefer fühlte sie, was sie verlassen, was sie gewagt.

Die Kutsche rollte in den dichtesten Wald hinein. Bald kamen sie in eine grauenhafte, Emilien ganz unbekannte Gegend. Der Weg führte bald durch dichtes Gestrüpp, bald an schwindelnden Felsabhängen entlang.

Endlich hielt die Kutsche an.

»Wir sind zur Stelle«, sagte Victorin und hob das ängstliche Mädchen aus dem Wagen. Sie befanden sich vor einem prächtigen, aber seltsam gestalteten Gebäude, das äußerst romantisch mitten in einem Felstale gelegen und von den schroffesten Abgründen umgeben war. Victorin klopfte dreimal an die riesenhafte Pforte, die den Eingang zum Gebäude bildete. Eine kurze, hagre Gestalt mit einem Gesichte, das sich im Mondschein fast grüngelb ausnahm, und kleinen schielenden Augen, machte auf. Grauend schritt Emilie an Victorins Hand durch all die langen, dunklen, sonderbar verzierten Gemächer, die sich, wie in unermeßlicher Reihe, auftaten. Zuletzt gelangten sie in ein hell erleuchtetes, festlich aufgeputztes Zimmer. Darin befand sich ein Priester im Ornate, dem Furcht und Angst auf die Stirn geschrieben war. Victorin zog Emilie sanft vor den zitternden Sohn der Kirche hin, und sagte zu diesem: »Pfaff, verrichte Dein Amt!«

Der Priester sprach mit wankender Stimme die Trauungsformel.

Als diese geendigt war, drückte Victorin das Mädchen feurig an seine Brust; sie erwarmte zu neuem Leben, wie in einem Strahl himmlischer Seligkeit.

Victorin klingelte. Dieselbe häßliche Gestalt, welche die Pforte aufgeriegelt hatte, trat ein.

Victorin deutete auf den Priester und sagte: »Der Herr wird sogleich sicher zurückgebracht; man verbinde ihm aber die Augen!« Letzteres setzte er leise hinzu, ohne daß Emilie es vernehmen konnte.

Der Priester ward abgeführt.

 

7.

Gustav war schon ein Vierteljahr bei den Räubern gewesen. Er hatte sich ihrer aller Vertrauen durch sein tapferes und mannhaftes Wesen, ihre Liebe durch seine Genügsamkeit bei der Beute und Verteilung erworben. Auffallend war es ihm, daß er den Hauptmann der Bande, von dem kein Einziger sprach, ohne eine an knechtische Furcht streifende Scheu zu verraten, noch gar nicht gesehen. Er konnte sich dieses nicht erklären. Eines Abends, als er mit Bernhard noch allein im Walde streifte, brachte er das Gespräch auf den Hauptmann.

»Ja«, sagte Bernhard, »mit dem ist es eine eigene Sache. Zuweilen weit milder, als es sich für ihn geziemt, kann er auch hart sein, wie der Teufel. Er verläßt uns oft eine lange, lange Zeit, ohne daß wir – mit Ausnahme des Alten, der in seiner Abwesenheit das Kommando führt, – wissen, wo er sich aufhält. Wenn aber einmal die Zeit der Not und Gefahr für uns einbricht, so ist er so schnell wieder unter uns, als ob der Sturmwind ihn herbeitrüge, so daß man ihn füglich mit einer Spinne vergleichen könnte, die sich oft bis ans äußerste Ende ihres Netzes zurückzieht, in demselben Augenblick aber, wo ihr Gespinnst irgendwo berührt wird, an dem gefährdeten Punkte sich einfindet. Von seinen Lebensschicksalen weiß ich übrigens nichts; was kümmern sie mich! Doch habe ich einmal gehört, daß er früher ein gar ansehnlicher Herr an irgend einem fürstlichen Hofe gewesen sein und die Gunst seines Gebieters in besonders hohem Grade besessen haben soll. Freisinnige Äußerungen über die Durchlaucht – hauptsächlich aber wohl seine übergroße Dummheit, das ihm angebotene große Los in der Staatslotterie, nämlich die, mehr als eben nötig, fruchtbare Maitresse des Fürsten, auszuschlagen – haben ihm jedoch so sehr das Mißfallen des Allergnädigsten zugezogen, daß er ihm, Hochverrats halber, das Leben hat absprechen lassen. Wie er indeß gerettet, und zu uns gekommen ist, kann ich nicht sagen; er war schon Hauptmann, als ich unter die Kameradschaft ging. Der Alte, der noch jetzt so sehr bei ihm in Ansehen steht, soll sein Retter gewesen sein.«

Plötzlich erscholl eine gellende Pfeife durch den Wald.

»Das ist der Alte, der uns sucht«, sagte Bernhard, indem er das Zeichen erwiderte.

Bald kam auch wirklich der Alte durch das Gebüsch mit schnellen Schritten heran.

»Der Hauptmann begehrt mich mit zwei der Besten von der Bande. Ich habe Euch auserlesen, mir zu folgen. Sattelt also ohne Säumnis Eure Pferde, bringt auch das meinige mit, und begebt Euch dann wieder hieher. Ich werde Euch hier erwarten. Sorgt gleichfalls für die nötigen Waffen.«

Gustav und Bernhard taten, was ihnen geheißen war, und bald ritten die drei Räuber in die finstre Nacht hinein; der Alte als Führer voran. Lange, lange ritten sie fort, immer dunkler ward die Nacht, immer abschüssiger der Weg, der über Felsen zu führen schien. Endlich sahen sie aus einem, wie es ihnen däuchte, sehr hohen Gebäude, dem sie sich bereits ziemlich nahe befanden, ein Licht erglänzen. Bernhard hatte den Alten gefragt, was der Hauptmann wolle, aber ein kurzes, trocknes: »Ich weiß es nicht!«, zur Antwort bekommen. Nun gelangten sie vor das hohe Haus. Der Alte befahl seinen beiden Begleitern, auf ihn zu warten, und klopfte an die ins Haus führende Pforte. Ihm wurde sogleich aufgemacht. Er verweilte sehr lange drinnen.

Gustav ward ungeduldig. Im blassen Schein der Lichter sah er eine weibliche Gestalt einem im zweiten Stock befindlichen Fenster vorüberhuschen. Seine Neugier ward rege. Er klimmte die steile Mauer mühsam hinan und sah hinein; wäre aber fast rücklings wieder herabgefallen, als er dies getan.

Er sah – Emilie. Sie war blaß und saß in einem sehr schon möblierten Zimmer auf einem Sofa, den Kopf in ihre Hand gestützt. Ihre Züge hatten nicht den Ausdruck des Kummers, aber auch nicht des ungestörten Glücks. Es schien, als ob sie sich im Wohlsein befinde, als ob sich eben irgend eine Erinnerung oder Furcht, wie eine die Sonne umschattende Wolke, über ihr Antlitz gezogen hätte.

Es dauerte nicht lange, und – Victorin, den Gustav auf den ersten Blick wiedererkannte, trat hinein. Ihm folgte der Alte. Wie Emilie Victorin erblickte, eilte sie ihm in schwärmerischer Freude entgegen. Entzückt schloß er sie an seine Brust. Gustav wußte genug. Er stieg wieder herunter.

Bald darauf wurde die Pforte geöffnet. Ein Diener trat mit einer Laterne heraus, die nur einen sehr schwachen Schimmer gab. Ihm folgten der Alte und Victorin. »Das ist der Hauptmann!«, sagte Bernhard zu Gustav mit leiser Stimme, indem er auf Victorin deutete.

»Das ist er!«, sagte Gustav zähneknirschend vor sich hin. »Das ist er! O ich elender Bube! Meinem Todfeinde habe ich den Eid der Treue geschworen!«

Victorin trat näher heran. Gustav rückte sich die Mütze tiefer in das Gesicht und wickelte sich dichter in seinen Mantel, um nicht erkannt zu werden. Ach! Es war unnötig, wer hätte in diesem sonneverbrannten Gesicht, was halb von einem schwarzen Barte verdeckt war, den schönen stolzen Jüngling wiedererkennen sollen, der er ehemals gewesen. Victorin warf einen flüchtigen Blick auf ihn und Bernhard, welcher nicht verfehlte, einen devoten Bückling zu machen, und wandte sich dann gegen den Alten.

»Ihr müßt hier zusammen bis morgen Abend bleiben«, sagte er zu diesem; »früher kann nicht begonnen werden. Ihr wißt, wohin Ihr Euch zu wenden habt!«

»Ich weiß!«, antwortete der Alte.

Victorin sagte ihnen allen gute Nacht und kehrte mit seinem Diener ins Haus zurück. Die Pforte ward sogleich wieder verriegelt.

Der Alte führte Gustav und Bernhard in eine ganz in der Nähe befindliche Hütte, worin sie Brot, Wein und sonstige Erfrischungen fanden. Bernhard und der Alte ließen es sich wohl schmecken, Gustav aber schützte eine ungeheure Müdigkeit vor und warf sich, wie zum Schlaf, auf die Erde nieder. Es kochte in ihm. Er dachte nur an Rache. »Jetzt oder nie!«, sagte er dumpf vor sich hin.

 

8.

Kaum graute der Tag, als Gustav aufsprang und ins Freie hinaus eilte. Wie er eine Weile gegangen war, erblickte er, ganz in der Ferne, einen Wanderer, der ihm vorauf ging. Anfangs wollte er einen andern Weg einschlagen, dann aber beschleunigte er seine Schritte, den Wanderer einzuholen. Wie er näher heran kam, gewahrte er fünf Soldaten, die plötzlich aus einem Hinterhalt hervorbrachen, über den Wanderer herfielen und sich, seiner verzweifelten Gegenwehr ungeachtet, fast zum Herrn über ihn gemacht hatten, als Gustav, wie ein Todesengel unter sie stürzte und zwei von ihnen zu Boden streckte, wodurch die übrigen so erschreckt wurden, daß sie sich eiligst auf die Flucht machten.

»Hauptmann«, sagte nun Gustav zu Victorin, denn dieser war der Wanderer, »ich will nicht länger unter Euch dienen; ich habe Euch das Leben gerettet; bin ich meines Eides entbunden?«

»Du bist es, tapfrer Kamerad«, entgegnete Victorin, der Gustav auch jetzt nicht erkannte, »aber warum –«

»So begehe ich in diesem Augenblick keinen Meineid«, unterbrach ihn Gustav, und stieß, ohne daß Victorin ausweichen, oder an Widerstand auch nur denken konnte, ihm den Dolch bis ans Heft in die Brust, indem er ausrief:

»Denkt an den Buben!«

Victorin sank entseelt zu Boden.

 

9.

Es war stockfinstre Nacht, Emilie saß in ihrem Zimmer und wartete sehnlichst auf Victorins Zurückkunft, der einen Freund zu besuchen, wie er ihr gesagt hatte, ausgegangen war. Auf einmal wurde das Fenster stürmisch eingeschlagen und eine, in einen dichten Mantel gehüllte Gestalt stieg von außen herein. Es war Gustav; er trug ein weißes, zusammengeknüpftes Tuch in der Hand, worin etwas gewickelt zu sein schien.

Emilie erkannte ihn nicht und sah erschrocken zu ihm auf. »Ich bin hier wohl sehr unbekannt?«, fuhr er sie mit schrecklicher Stimme an, »doch bringe ich etwas, was vielleicht bekannter ist.«

Mit diesen Worten knüpfte er das Tuch auf, welches er in der Hand trug und legte ein blutiges Haupt auf den Tisch.

»Sieh es recht an«, fuhr er fort, »sieh es recht an, teuerste Emilie. Ich bin Gustav, und bringe der Geliebten das Haupt des Geliebten. Ihm selbst habe ich den Himmel oder die Hölle geschenkt. Ich hoffe, Du wirst dankbar sein!«

Emilie erstarrte.

»Ich hoffe, Du wirst dankbar sein!«, wiederholte Gustav, indem er ihr näher trat. »Deine Liebe begehre ich nicht mehr, aber ihre Frucht!«

Er wollte sie umfassen. Da erwachte sie aus der Betäubung, worin sie versunken war. Mit übermenschlicher Kraft der Unschuld stieß sie ihn zurück.

»Räuberdirne, Du weigerst Dich? Ob die Dirne des Hauptmanns, oder des Geringsten seiner Untergebenen – das ist einerlei! Räuberdirne, Du entgehst mir nicht!«

»Unmensch«, rief Emilie aus, »Du entstehst Dich nicht, den Edlen, den Du gemordet hast, noch im Tode durch gemeine Schimpfreden zu lästern?«

»Ha, ha, Schätzchen, der Edle wird durch diese gemeinen Schimpfreden nicht gelästert. Was er im Leben gewesen ist, das nenne ich ihn im Tode. Ich bin ein Räuber und er war mein Hauptmann!«

»O Gott im Himmel«, sagte die verzweifelnde Emilie, »seine geheimnisvolle Lebensweise – ich wagte nicht, es zu ahnen!«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

Gustav drang hitziger auf sie ein. Da aber zog sie sich plötzlich gegen das eingeschlagene Fenster hin und stürzte sich, ohne daß er es verhindern konnte, hinaus.

Ein dumpfer Fall – ein ächzender Schrei – dann war alles still.

Da packte die Verzweiflung auch Gustav; er blickte hinaus in die sternenlose Nacht; er ballte die Hand gegen den Himmel, und stürzte sich Emilien nach.

Als die Sonne am andern Morgen aufging, fiel ihr erster Strahl auf zwei zerschmetterte Leichname.

 

Eine Nacht im Jägerhause

»Kommen wir denn nicht bald nach D.?«, rief Otto ungeduldig seinem Freude Adolf zu und fuhr heftig mit der Hand nach seiner linken Wange, weil er sich an einem Zweig geritzt hatte. »Die Sonne ist längst hinunter, die Finsternis kann kaum noch größer werden, und die Beine wollen mich nicht mehr tragen.« – »Ich glaube, daß wir uns verirrt haben«, entgegnete Adolf übermütig, »wir müssen uns wohl darauf gefaßt machen, die Nacht im Walde zuzubringen!« – »Das habe ich längst gedacht«, versetzte Otto ärgerlich, »aber du weißt allenthalben Bescheid, auch da, wo du nie gewesen bist. Hungrig bin ich auch wie der Wolf, wenn er ein Schaf blöken hört.« – »Ich habe noch eine Semmel in der Tasche«, erwiderte Adolf, indem er darnach zu suchen begann, »doch nein«, setzte er sogleich hinzu, »ich habe sie dem ausgehungerten Schäferhunde zugeworfen, der an uns im letzten Dorf vorüberschlich.«

Eine lange Pause, wie sie nur dann unter Studenten möglich ist, wenn sie bis aufs Blut ermüdet sind, trat ein. Die Freunde wanderten, sich beide gereizt fühlend und sich beide dieser Kleinlichkeit schämend, bald stumm, bald pfeifend, nebeneinander hin. »Nun fängt's auch noch zu regnen an!«, begann Otto endlich wieder. »Wer eine Haut hat, fühlt es«, versetzte Adolf, »aber wenn mich mein Auge nicht täuscht, so seh' ich drüben ein Licht schimmern!« – »Ein Irrlicht, was wohl anders!«, sagte Otto halblaut. »Es wird hier an Sümpfen nicht fehlen!« Dessenungeachtet verdoppelte er seine Schritte. »Wer da?«, rief Adolf und stand auf einmal still. Es erfolgte keine Antwort. »Ich meinte, Fußtritte hinter uns zu hören!«, sagte der dann. »Man verhört sich leicht!«, entgegnete Otto.

Währenddessen waren sie an ein einsam gelegenes Haus gelangt. Sie traten unter die Fenster und schauten hinein. Ein weites, ödes Zimmer zeigte sich ihren Blicken; die schlechten Lehmwände hatten ihre ehemalige Kalkbesetzung zum Teil verloren, einige Strohstühle standen umher, und über dem halb niedergebrochnen Ofen hingen zwei Pistolen nebst einem Hirschfänger. Im Hintergrund saß an einem Tisch ein altes Weib, zahnlos und einäugig, zu ihren Füßen lag ein großer Hund, der sich mit seinen ungeschlachten Pfoten zuweilen kratzte.

»Ich denke«, begann Adolf nach vollbrachter Musterung, »wir nehmen unser Quartier lieber unter einem Busch als in dieser Höhle. Es sieht ja ganz verflucht darin aus!« Otto hatte dieselbe Äußerung auf der Zunge gehabt. Wie aber in solchen Stunden des äußersten Mißbehagens der Mensch sich zu beständigem Widerspruch aufgelegt fühlt, setzte sich seine Meinung schnell in ihr Gegenteil um, und er erwiderte spöttisch, daß er ein altes Weib nicht eben furchtbar fände und in der Tat nicht wisse, warum sie nicht hineingehen sollten. »Es beliebt dir«, versetzte Adolf scharf, »mich mißzuverstehen. Die Alte sitzt gewiß nicht unsertwegen da, sie wartet auf Gäste, und welcher Art diese sind, ist schwer zu sagen. Sieh nur, wie sie sich das Auge, das ihr von der letzten Schlägerei her übrigblieb, reibt, um den Schlaf, der sie beschleicht, zu verscheuchen, und wie sie das zahnlose Maul verzieht! Eine Schenke ist's ohnehin, denn drüben in der Ecke stehen Flaschen und Gläser. Aber wie du, so ich.«

Bevor Otto etwas erwidern konnte, erscholl hinter beiden ein scharfes »Guten Abend!«, und eine Mannsgestalt wurde in dem schwachen Lichtschimmer, der durchs Fenster drang, sichtbar; kurz, gedrungen, mit Augen, die verschlagen und listig von dem einen zum andern wanderten, den Jägerhut tief in die Stirn hinabgedrückt. »Sie haben sich ohne Zweifel verirrt«, fuhr der Unbekannte fort, »und suchen ein Unterkommen für die Nacht. Danken Sie dem Himmel, daß ich gerade von meiner Streiferei zurückkehre, meine alte Mutter hätte Sie nicht aufgenommen. Wenn Sie vorliebnehmen wollen, so folgen sie mir; etwas besser als hier draußen werden Sie's in der Bodenkammer finden, die ich Ihnen einräumen kann. Bier und Brot steht zu Diensten, und eine Streu zum Schlafen läßt sich aufschütten!«