ALLTAG

oder

Leben zwischen Tragödie und Komödie

Erika Kuhn

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Alltag oder ein Tag ist mehr als nur ein Tag

Alter oder ich werde nicht alt, ich reife

Angst oder die Angst vor der Angst

Autoritäten oder Ungehorsam kann Leben retten

Beziehungen oder Narren streiten, Freunde besprechen ihre Meinungsverschiedenheiten

Chancen oder was man alles verpassen kann

Erfolg oder die eigene Bestimmung leben

Erwartungen oder ich bin nicht auf der Welt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen

Freiheit oder kann ich wirklich machen, was ich will

Geben oder Nehmen macht nicht so glücklich

Gedanken oder Freiheit beginnt im Kopf

Geduld oder das Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht

Gefühle oder der Verstand ist ein guter Diener aber ein schlechter Herrscher

Glauben oder Überzeugungen schaffen Wirklichkeit

Glück oder Wirklichkeit minus Erwartungen

Irrtümer oder Vorstellungen und Wirklichkeit stimmen nicht immer überein

Kommunikation oder ich weiß nie, was ich sage

Leben oder der Tanz zwischen Tragödie und Komödie

Lernen oder nicht für das Leben,für die Schule lernen wir

Liebe oder rote Rosen regnet es nicht immer

Loslassen oder die schönen Erinnerungen bleiben

Meinungen oder auch das Gegenteil kann wahr sein

Mitgefühl oder wir wollen alle glücklich sein

Mut oder nicht perfekt sein zu wollen, erfordert mehr Mut

Neid oder auf der anderen Seite ist das Gras auch nicht grüner

Opferrolle oder die anderen sind nicht immer schuld

Probleme oder das Problem mit dem Problem

Selbsterkenntnis oder im Leben stehen immer Leitern bereit, auf denen du hochklettern kannst

Spiritualität oder ein gesundes Misstrauen gegenüber letzten Wahrheiten

Tod oder wo es Leben gibt, da folgt der Tod als sein Schatten

Urteile oder Schubladen im Kopf

Vergebung oder Rache ist nicht immer süß

Wahlmöglichkeiten oder keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung

Wünsche oder die Jagd nach Bedürfnisbefriedigung

Zeit oder was nicht hinter uns liegt, liegt vor uns

Zufall oder was einem so alles zufallen kann

Zufriedenheit oder was fehlt uns wirklich

Zum Schluss oder weiter geht es immer

Danksagung

Anmerkung

Inspirationsquellen

Die Autorin

Suchet in euch, so werdet ihr alles finden.

Und freuet euch, wenn da draußen eine Natur liegt, die Ja sagt zu allem, was ihr in euch selbst gefunden habt.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Vorwort

„Das Leben ist eine Baustelle.“ Dieser Ausspruch wird seit der Erscheinung des gleichnamigen Films vor über zwanzig Jahre gerne verwendet, wenn es darum geht, den Alltag zu beschreiben. Einen Alltag, der sich für manche von uns gelegentlich – oder auch häufig – wie eine Wanderung zwischen Tragödie und Komödie anfühlt. Vor allem dann, wenn uns der Alltag wieder einmal als tägliches Einerlei, mühsam, chaotisch oder stressig erscheint. Auch wenn es so ist, bietet uns der Alltag dennoch vielerlei Gelegenheit, mehr über uns selbst zu erfahren. Warum uns etwas umtreibt, uns immer wieder ins gleiche Loch fallen lässt oder uns Stress verursacht. Vergessen wird dabei häufig, dass wir die Architekten unseres Lebens sind und dass wir selbst entscheiden, wo und wie wir leben wollen und wer oder was wir sind.

Ich mag in vielen Dingen eine ausreichende Kompetenz besitzen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch was den Alltag betrifft, habe ich so viel Ahnung wie der Leser. Was ich anbieten kann, sind Ideen.

Ich habe keine Antwort auf die Fragen des Lebens, sondern mir nur ein paar Gedanken zu den Bereichen gemacht, von denen ich glaube, dass sie sich, auch wenn wir uns alle in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden, wie ein roter Faden durch unser aller Leben ziehen.

Ich schreibe häufig in der Wir-Form, was nicht heißen soll, dass sich jeder Leser gleichermaßen davon betroffen fühlen muss. Wir, betrifft eine Auswahl dessen, was verschiedene Disziplinen zur Erkenntnis des Menschseins bis heute herausgefunden haben. Ein jeder möge selbst entscheiden, was für ihn zutrifft, teilweise zutrifft oder auch gar nicht, und was er für wahr oder richtig hält.

Ich verstehe dieses Buch eher als Denk- denn als Ratgeber. Es sind Ideen, Angebote oder vielleicht eine Inspiration, über die Geschehnisse des Alltags einmal anders zu denken, gängige Interpretationen zu hinterfragen, sich selbst zu erforschen und vielleicht eine Antwort auf die Frage zu finden, warum wir so reagieren wie wir reagieren. Denn „Kühner als das Unbekannte zu erforschen, kann es sein, das Bekannte zu bezweifeln“, meinte Alexander von Humboldt. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass unser gegenwärtiger Bewusstseinszustand das Ergebnis von Einstellungen, Erinnerungen und Konzepten ist. Auf diesem Gedanken aufbauend kann man also den Bewusstseinszustand ändern, wenn man Einstellungen, Erinnerungen und Konzepte ändert.

Ich habe meine Erfahrungen in Worte gefasst, wohl wissend, dass aus Worten keine Erfahrung werden kann. Erforschen Sie sich selbst, machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen und kommen Sie zu Ihren eigenen Erkenntnissen über das Alltagsleben. Sie haben Ihre eigene Weisheit bereits in sich, andere und vielleicht auch dieses Buch können Ihnen nur bei der Entdeckung helfen. Letzten Endes bleibt es immer Ihnen überlassen, Ihren eigenen Weg zu gehen, Ihren Alltag zu leben und das zu finden, was Sie glücklich und zufrieden macht und vielleicht – so ganz nebenbei – entdecken Sie hinter der Kulisse des Alltags das Wunder des Lebens.

Für den Text wurde die geschlechtsneutrale Personenbeschreibung gewählt, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Selbstverständlich richten sich die Texte gleichermaßen an alle Geschlechter.

Alltag oder ein Tag ist mehr als nur ein Tag

Es gibt Tage, da plätschert alles einfach so dahin. Alles gelingt nach Plan, es gibt keine unvorhergesehenen Ereignisse, mit anderen Worten: Es ist harmonisch. Dann gibt es Tage, an denen die Welt Kopf zu stehen scheint und es sich mehr nach Sturm als nach einem stillen Gewässer anfühlt.

Morgens verschlafe ich, das kleinere Kind legt schon beim Aufwecken einen lautstarken Wutanfall hin. Das andere weigert sich, überhaupt aufzustehen, aus welch unerfindlichen Gründen auch immer. Nach längeren Diskussionen, der Kaffee ist inzwischen kalt geworden, gebe ich resigniert auf. Also Schule anrufen, eine Krankheit erfinden, die erste Notlüge an diesem Tag. Kaum habe ich den Hörer aufgelegt, ruft einer meiner Auftraggeber an und wünscht eine Stellungnahme zu einer Prüfung, da ein Teilnehmer mit seinem Prüfungsergebnis nicht einverstanden ist. Am besten gleich und wenn nicht sofort, dann wenigstens im Laufe des Tages. Meine Erklärungen, wie viel ich an diesem Tag erst noch Wichtiges zu erledigen hätte, werden großzügig ignoriert.

Doch erst einmal die Wäsche in die Waschmaschine, die plötzlich beschließt, das Wasser nicht bei sich zu behalten, sondern in Bächen auf den Fliesen zu verteilen. Inzwischen hat der Hund Brechdurchfall, aber er entscheidet sich nicht für die Fliesen, sondern den Teppich. Ich habe am Vormittag einen Termin, zu dem ich letztlich zu spät komme. Wieder zu Hause – das Chaos wird ja nicht so weitergehen – lege ich mich, inzwischen total erschöpft, erst einmal für ein paar Minuten auf die Couch. Der dreijährige Sohn wird mit Dschungelbuch vor den Fernseher gesetzt, mit der strikten Anweisung, wenn jemand anruft, zu sagen, die Mama wäre nicht da. Dies, weil er gewöhnlich schneller am Telefon ist als ich. Es klingelt und noch bevor ich meine Augen öffnen kann, höre ich, wie er mit seinem zarten Stimmchen ins Telefon ruft: Die Mama schläft. Das Lügen hat er wohl noch nicht gelernt. Es war die Person vom Morgen, der ich vor ein paar Stunden erklärt hatte, wie beschäftigt ich sei …

Der Nachmittag ist noch lang und ich beschließe, den Auftrag nun doch als nächstes zu erledigen, als wiederum das Telefon klingelt. Dieses Mal ist es das Altenheim, um mir mitzuteilen, dass meine Mutter aus dem Bett gefallen sei, den Oberschenkelhals gebrochen habe, sich bereits im Krankenhaus befände und ich doch bitte umgehend dorthin kommen möchte. Meine Laune befindet sich im freien Fall. Also, ab ins Auto und zügig ins Krankenhaus. Nachdem alle Papiere ausgefüllt, unterschrieben, mit den Ärzten die notwendige Vorgehensweise nebst allen möglichen Komplikationen besprochen ist und die Mutter gut versorgt in ihrem Krankenhausbett liegt, fahre ich nach Hause. Zum Glück ist mir kein Gute-Laune-Mensch über den Weg gelaufen, mit der für mich am heutigen Tag unerträglichen Aussage, dass all die kleinen Katastrophen gewiss für etwas gut seien. Der Tag ist gelaufen und ich schließe ihn mit dem Gedanken ab, dass eben nicht immer alles wie geplant läuft, dass es chaotische und friedvolle Tage gibt, und dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Was manchmal tatsächlich so ist.

Wenn wir von Alltag sprechen, denken wir an routinemäßigen Ablauf und das tägliche Einerlei. Häufig wird der Begriff mit Alltagstrott, Tretmühle in Verbindung gebracht. Gemeinsam ist allen Bezeichnungen, dass sie in gewisser Weise abwertend sind oder etwas Abwertendes assoziieren. Wir vergessen dabei, dass es genau diese Tage sind, in denen wir unsere Erfahrungen machen und uns selbst erleben. So ist es letztlich das Alltägliche, was unser Leben ausmacht, denn wir haben nichts anderes. Und vielleicht geht es einfach nur darum, die Magie des Alltags immer wieder neu zu entdecken.

Der Alltag ist für jeden anders und wird größtenteils durch die Lebenssituation bestimmt, in der wir uns gerade befinden. Der Alltag ist ein Tag unseres Lebens, ob wir nun Straßenbahnschaffner, Handwerker, Friseurin, Hausfrau, Managerin und vieles mehr sind. Jeder hat seinen eigenen Alltag, gemäß der Rolle, die er gerade spielt. Mitunter sind wir in unseren Rollen in einer Tragödie oder Komödie so gefangen, dass wir darüber vergessen, dass wir sowohl die Schauspieler als auch die Regisseure sind. Auch wenn der Alltag jedem anders erscheint und wir meinen, dass der Ablauf unseres Lebens mit dem anderer Menschen nicht verglichen werden kann, so haben wir doch, wenn wir hinter die Kulissen blicken, viele Gemeinsamkeiten. Gemeinsamkeiten, die uns den Alltag verderben oder versüßen.

Eine grundlegende Gemeinsamkeit ist, dass sich unsere Gefühle, Gedanken, Sorgen und Ängste und alles, was es sonst noch gibt, sich an diesem Tag treffen. Der Alltag ist ein Tag unseres Lebens, egal, wo wir uns gerade befinden, und täglich wirft uns das Leben Anlässe in den Weg, die einen ein bisschen verstimmen, aber auch ein bisschen glücklich machen können.

Jeden Tag die gleiche Routine. Aufstehen, Körperpflege, Kaffeetrinken, Anziehen, in die Arbeit gehen, Einkaufen, Heimkommen, Haushalt, Waschen, Putzen, Freizeit, Schlafen und den Rest können Sie sich anhand Ihres eigenen Alltags selbst zusammenstellen. Gemeinsam ist dem Ganzen, dass es wiederholende Muster und gewohnheitsmäßige Abläufe sind, wenn auch von Mensch zu Mensch verschieden.

Sicherlich empfinden wir den Alltag mitunter als langweilig, anstrengend, chaotisch und stressig. Wir fragen uns, wo ist das Besondere, das Glück, was soll das Ganze, wozu lebe ich, weshalb passiert das gerade mir. Wo ist das Glück, das scheinbar immer nur da ist, wo kein Alltag ist.

Täglich werden wir von den Medien und der Werbung damit konfrontiert, dass der Alltag etwas sei, dem wir entfliehen müssten. Reiseveranstalter werben mit der Aussage „nix-wie-weg“, andere damit, dass mit bestimmten Produkten, bestimmten Handlungen die Flucht aus dem Alltag möglich sei. Ein paar Wochen Urlaub, dann hat uns der Alltag wieder. Ziehen wir uns auf eine einsame Insel, in den Wald oder in ein Kloster zurück, ob wir nun auf der Flucht oder auf Sinnsuche sind, der Alltag verfolgt uns bis dorthin. Sicherlich verändert ein Umgebungswechsel den täglichen Ablauf, doch nach einer gewissen Zeit zieht in gleicher Weise, Routine und Gleichförmigkeit ein, wenn auch anders.

Wieso wird von vielen der Alltag als das graue Etwas betrachtet, dem es zu entfliehen gilt? So erscheint manchen der Alltag als etwas, in dem zwar Leben stattfindet, wobei das Außergewöhnliche, das wahre Leben und das Glück aber irgendwo außerhalb liegen. Vielleicht liegt es aber genauso in der vollkommenen Schlichtheit des Alltäglichen.

Viele Fragen lassen sich von Religionen und Weltanschauungen beantworten und doch bleiben wir im Alltag oft ratlos zurück. Wie kann ich im Alltag zufrieden sein, ohne auf eine übernatürliche Macht zu hoffen, die meine Wünsche erhört? Die einfachste Antwort wäre: Das Leben ist einfach so, wie es ist, und wir haben darin bestimmte Aufgaben zu erledigen. Was uns die Erledigung der Aufgaben häufig erschwert, ist die Bewertung hinsichtlich Bedeutung, Sinnhaftigkeit, Wertigkeit und Akzeptanz. Dabei orientieren wir uns häufig an dem, was von außen kommt, seien es nun andere Menschen, die Medien und im Besonderen Facebook & Co. Da wird uns dann eingeredet, wie der Alltag, das Leben, auszusehen hat und was sinnvoll, bedeutungsvoll und anerkannt ist. Jeder Tag, an dem wir morgens die Augen öffnen, ist ein Tag, an dem wir unser Leben spüren und erfahren. Der Ort, an dem wir lernen können, zufrieden und glücklich zu sein, denn „Die Entdeckung des Wunderbaren im Alltäglichen bedarf der Fähigkeit, mit den Augen des Herzens sehen zu können“, wie Ernst Ferstl, ein österreichischer Schriftsteller, es ausdrückte.

Wie oft rennen wir morgens zur Arbeit, abends nach Hause, sind beschäftigt mit unseren Plänen, unseren Sorgen, Ängsten, Erwartungen und allem, was uns sonst noch so beschäftigen kann. Vorbei an der Schönheit der Bäume, den blühenden Blumen und den Menschen, die uns begegnen. Wir sehen sie und sehen sie doch nicht. Wir sehen nicht das Wunder ihrer und auch unserer Existenz.

Alles was es gibt, ist vollkommen und vollständig. Schöpfung bewegt sich nicht von Unvollkommenheit zu Vollkommenheit, wie das Ego es wahrnimmt, sondern schreitet stattdessen von Vollkommenheit zu Vollkommenheit fort. Die Illusion einer Bewegung von Unvollkommenheit zu Vollkommenheit ist ein Gedankengerüst. So ist zum Beispiel eine Rosenknospe keine unvollkommene Rose, sondern vielmehr eine vollkommene Rosenknospe. Wenn sie halb geöffnet ist, ist sie eine vollkommene, sich entfaltende Blüte und wenn sie ganz offen ist, ist es eine vollkommene, offene Rose. Wenn sie verwelkt ist, ist es eine vollkommene, verwelkte Blume und schließlich wird sie zu einer vollkommenen, verdorrten Pflanze, die dann als vollkommene in Schlaf sinkt. Alles ist vollkommen, nur unsere Interpretationen sind es nicht.

Bei der Betrachtung menschlicher Erfahrungen und Ereignisse sehen wir, dass Ereignisse die eine Sache sind, doch wie wir wählen, damit umzugehen, ist etwas völlig anderes. Es kann sein, dass wir nicht fähig sind oder es uns aufgrund der vorherrschenden Lebensumstände nicht möglich ist, die in unserem Leben auftauchenden Ereignisse zu bestimmen, zu kontrollieren oder zu wählen. Wir können jedoch mitunter unsere Interpretationen und Einstellungen hinterfragen und unseren Blickwinkel auf die alltäglichen Geschehnisse ändern.

Häufig haben wir die Illusion, dass alles ganz anders sein müsse und jagen auf unserer Reise durch den Alltag diversen Idealen hinterher. Das Leben findet aber im Hier und Jetzt, in diesem Alltag mit allen seinen Höhen und Tiefen, statt. Nicht immer läuft alles glatt und dann stelle ich mir vor, eine Möwe zu sein. Sie schwimmt entspannt im Meer, nie weit vom sicheren Ufer entfernt, lässt sich vom Wasser tragen und kommt eine Welle, gleitet sie sanft darüber hinweg, um dann auf der glatten Wasseroberfläche weiter zu schwimmen. Kommt eine stürmische Welle, erhebt sie sich in die Luft, wartet, bis das Meer sich beruhigt hat und landet dann wieder sicher auf dem Wasser. Sie kämpft nicht gegen die Wellen an, denn instinktiv weiß sie, dass sie dann ertrinken würde.

Wir können, müssen aber nicht kämpfen. Es genügt schon, sich ab und an zu fragen, wie kann ich ein Leben leben, in dem ich mit mir im Einklang bin und meine eigene Macht und Kraft nutze? Wie kann ich verändern, was mir nicht mehr gut tut und mich unzufrieden macht? Die Macht liegt in uns, egal woran wir glauben, woher diese Macht kommt. Wir sind die Schöpfer unserer Wirklichkeit und der Alltag ist die beste Plattform, um mehr über uns selbst zu erfahren und zu erkennen, warum wir so sind, wie wir sind.

Alter oder ich werde nicht alt, ich reife

Gelegentlich besuche ich drei ältere Damen, die alle schon über achtzig Jahre alt sind. Sie kauften sich vor Jahren gemeinsam ein Haus, um in einer Wohngemeinschaft zu leben. Das Ziel war, dass sie, wenn sie älter und vielleicht auch gebrechlicher werden würden, sie sich gegenseitig unterstützen könnten. Zwei von ihnen sind Witwen, die Kinder in alle Winde verstreut, und eine war nie verheiratet. Obwohl die drei fast gleich alt sind, ist ihr körperliches und geistiges Befinden vollkommen unterschiedlich. Das Interessante dabei ist, dass die älteste, weit über neunzig, sowohl körperlich als auch geistig die fitteste und auch die fröhlichste ist. Kommt man vorbei, so sitzt sie häufig im Schneidersitz auf dem Bett, den Computer auf den Knien, ein Glas Sekt neben sich, in hellwacher und guter Stimmung. Sie interessiert sich für alles, was in der Welt um sie herum geschieht und hat meistens dazu sehr lebenserfahrene Kommentare übrig. Das Alter interessiert sie wenig, es ist halt einfach so. Sie ist zufrieden und dankbar für all das, was ihr in diesem Lebensabschnitt noch widerfährt. Sie, die einzige, die noch Auto fährt, kutschiert die anderen beiden zu deren Arztbesuchen und auf diverse Ämter. Dort hilft sie dann auch noch die nötigen Formulare auszufüllen.

Von den jüngeren Damen hat eine Schwierigkeiten mit dem Laufen, kann aufgrund einer Augenerkrankung nicht mehr Autofahren und ist auch häufig krank und bettlägerig. So, wie mich die älteste verblüfft, so sehr erstaunt mich die jüngste. Sie ist zwar körperlich noch fit, jedoch die meiste Zeit mehr oder weniger depressiv und die Lebensfreude ist ihr abhandengekommen. Sie ist der Überzeugung, dass es in ihrem Alter nichts mehr gibt, über das sie sich freuen könnte, dass Alter eine Strafe sei und dass früher alles besser war. Den Alltag durchlebt sie mit Jammern und Nörgelei und geht den anderen damit ziemlich auf die Nerven. Sie können sie nicht verstehen, denn alle haben in etwa die gleiche Lebensgeschichte mit alltäglichen Höhen und Tiefen und sind der Meinung, dass man damit ohne weiteres zufrieden sein könnte. Doch dies hilft nicht, sie von ihren schwermütigen Gedanken und ihrem Selbstmitleid abzubringen. Wenn es ganz schlimm wird, der nahende Tod das Hauptthema des Tages ist, ergreifen die beiden anderen schon mal die Flucht und machen sich woanders einen schönen Tag. Wenn ich mir eine von den dreien als Beispiel für meine Zukunft nehmen sollte, würde ich mir die älteste aussuchen. Natürlich hoffe ich, dass ich, wenn ich dieses Alter erreiche, so gesund bleibe, aber vor allem, dass meine Einstellung dazu auch positiv und lebensbejahend ist.

Bei Aussagen zum Thema Alter aus unserer Umgebung zucken wir jedes Mal zusammen wie die Auster, auf die man Zitrone träufelt. Es sind Sätze wie: In unserem Alter …; es ist doch normal, dass man sich nichts mehr merken kann; Gesundheit ist eher was für Jüngere; dicker wird man automatisch; man ist nicht mehr so beweglich.

Es lohnt sich zu hinterfragen, ob diese Annahmen wirklich stimmen oder ob unsere Einstellungen und unsere häufig ungeprüft übernommenen Überzeugungen letztendlich unseren Umgang mit dem Alter bestimmen.

Velma Wallis erzählt in ihrem Buch „Zwei Frauen“ vom Überleben zweier alter Frauen, die von ihrem Nomadenstamm zurückgelassen werden, als dieser weiterzieht. Eine Hungersnot zwingt diesen Stamm dazu und es ist Sitte, alte Menschen – also zwei überflüssige Esser – zurückzulassen. Die beiden alten Frauen, die sich damit begnügten zu nörgeln und unzufrieden zu sein, solange sie im Stammesverband lebten und deren Arbeit Jüngere übernahmen, blieben also alleine zurück. So mussten sie ihre ganzen Kräfte mobilisieren, um zu überleben und sich wieder sinnvollen Lebensaufgaben zuzuwenden. Durch die Besinnung auf altes Wissen gelang es den beiden Frauen zu überleben und anschließend damit sogar ihrem Stamm zu helfen.

Nicht nur in Nomadenstämmen, auch in unserer Gesellschaft werden Menschen alt. Doch bei uns rollt die Anti-Aging-Welle. Ob wir den Fernseher einschalten oder die Zeitung aufschlagen, die Zielgruppe der 55 plus oder Best-Ager ist entdeckt. Jeder, der etwas auf sich hält, versucht mittels der Angebote der Nahrungsmittel- und Kosmetikindustrie und anderer Ersatzteillieferanten seine Attraktivität und Aktivität auf hohem Niveau zu halten, mindestens jedoch dem Niveau von 30-Jährigen anzupassen. Vielleicht findet man ab einem gewissen Alter zwar keinen Job mehr, so bleibt man doch wenigstens als Konsumentenzielgruppe interessant. Es wird uns eingeredet, wenn wir dies oder jenes kaufen, bleiben wir jung und schön, bekommen vielleicht doch wieder einen Job, von dessen Einkommen wir uns dann die vielen Alterungsverhinderungsmittel kaufen können.

Das Alter ist in einer Gesellschaft, in der angenommen wird, dass der Prozess des Alterns mit geistigem Verfall, Krankheit und Siechtum verbunden ist, ein Gespenst. Auf die Idee, gesund zu sterben, kommen wenige und wir neigen dazu, dies einfach auf genetische Dispositionen zurückzuführen, die man möglicherweise aber selbst nicht hat.

Haben wir uns jemals gefragt, wie alt wir werden möchten, um unser ganzes schöpferisches Potenzial zum Ausdruck zu bringen? Und lässt sich durch eine Veränderung unserer Denk- und Verhaltensmuster möglicherweise auch unser Alterungsprozess verändern? Mit was verbinden wir Altwerden? Mit Gebrechlichkeit, Krankheit, abgeschoben werden, Einsamkeit, Demenz, Altersheim, eingeschränkter Freiheit und noch vielen anderen Glaubenssätzen. So bekommen wir im Grunde genommen, was wir erwarten. Viele Studien zeigen jedoch auf, dass unsere Einstellungen und unsere Glaubenssätze unseren Altersvorgang beeinflussen können und sogar körperliche Veränderungen möglich sind.

Sie kennen bestimmt den Spruch: „Du bist so alt, wie du dich fühlst.“ Mit Anfang 50 fühle ich mich geistig fit, leistungsfähig und offen für alles Neue. Da erzählt mir das Arbeitsamt, ich sei zu alt für diesen oder jenen Job, die Medien und andere Dienstleister, dass ich meinen Führerschein auffrischen soll, zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, meine Sehfähigkeit überprüfen lassen und langsam darüber nachdenken soll, welches Altersheim einmal für mich in Frage käme. Eindrücklich wird erklärt, dass wir mit Sicherheit abbauen und ab einem gewissen Alter zu gewissen Dingen nicht mehr in der Lage sind. Es sei wichtig, über Inkontinenz, mangelnde Potenz, Pflegebedürftigkeit und beginnenden geistigen Verfall nachzudenken.

Jede Gesellschaft und jede Kultur teilt gewisse Überzeugungen, Glaubenssätze genannt. So kommen auch Vorstellungen über das Alter oder der Umgang mit diesem aufgrund kollektiver Überzeugungen zustande. Wenn Sie beispielsweise mit über 50 anfangen, Klavier zu spielen, den Motorradführerschein machen, oder etwas anderes, werden Sie möglicherweise die Erfahrung machen, dass Ihre Verwandten, Freunde und Bekannten die Augenbrauen hochziehen und mit der Bemerkung: „Was, in deinem Alter?“ reagieren. Ja, es gibt bewusste und viele unbewusste Überzeugungen, was in einem Lebensabschnitt angemessen ist und was nicht. Martin Buber meinte einmal: „Alt sein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.“

Viele Überzeugungen schränken uns so ein, dass wir gewisse Dinge gar nicht mehr anfangen. Andererseits ist es natürlich auch so, dass es für bestimmte Sachen altersmäßige Zutrittsbarrieren gibt. Doch nicht allein bürokratische und physiologische Barrieren schränken unseren Aktionsrahmen ein, begrenzend wirken auch unsere eigenen bewussten und unbewussten Überzeugungen hinsichtlich des Alters.

Die Wissenschaft teilt das Alter in drei Kategorien ein:

• Das biografische oder chronologische Alter. Das Datum auf der Geburtsurkunde. Dies sagt allerdings wenig darüber aus, wie jung oder wie alt sich jemand wirklich fühlt. Es ist eher so, dass dies als Raster genommen wird, was man einem Menschen noch zutraut und was nicht oder was er noch machen kann und was nicht.

• Das biologische Alter. Hier werden Vergleichsgrößen von verschiedenen Altersgruppen herangezogen, sogenannte Biomarker wie Bluthochdruck, Fett, Sauerstoffkapazität und vieles mehr. Anhand dieser Werte kann das biologische Alter um Jahre vom biografischen abweichen.

• Das psychologische Alter. Dieses gibt an, wie man sich subjektiv fühlt. Es gibt wohl 30-Jährige, die sich wie 70-Jährige fühlen, verhalten und umgekehrt.

Studien zeigen inzwischen, dass unsere Beziehung zum Thema Alter auch von unserer ganz persönlichen Einstellung, unseren Gedanken und unserem Fühlen abhängt. Wie stark lassen wir uns von den Denk- und Verhaltensmustern der Gesellschaft beeinflussen, die den Glauben bestärken, dass Alter etwas äußerst Unangenehmes sei? Da unsere Wahrnehmung Wirklichkeit erzeugt, könnten wir durch eine Änderung unserer Wahrnehmung auch unser psychologisches und biologisches Alter beeinflussen. Unsere Überzeugungen prägen die Beschaffenheit unseres Körpers und die Interpretationen, die wir für wahr halten, führen uns genau in den Zustand hinein.

Die moderne Wissenschaft und auch alte Weisheitslehren sagen, dass unser Körper keine physische Maschine ist, die Gedanken und Gefühle erzeugt, sondern ein Beziehungsnetz aus Energie, Intelligenz, Umwandlungsprozessen und dynamischem Austausch. Wir wissen heute, dass sich unsere Haut innerhalb eines Monats erneuert, Leberzellen innerhalb von sechs Wochen und die Magenschleimhaut alle fünf Tage. Innerhalb eines Jahres sind so 98 % aller Atome des menschlichen Körpers ausgetauscht. So betrachtet sind wir stets neu. Was jedoch häufig nicht neu ist, sind unsere Gedanken und unsere Gefühle. Denken Sie einmal darüber nach, was in Ihrem Körper passiert, wenn Sie Ihren Zellen ständig die Information alt, alt, alt eingeben.

Über Hundertjährige danach gefragt, ob sie sich ein Leben lang gesund ernährt haben, Sport getrieben, Tabak und Alkohol gemieden, führt zu keiner befriedigenden Antwort. Eines ist aber allen gemeinsam, sie begründeten ihr langes Leben auf ihre Fähigkeit, loszulassen. Sie klammern sich nicht an Erfahrungen, die ihnen nichts mehr nützen, sie lassen los und schreiten voran.

Sie besitzen somit eine grenzenlose Flexibilität und auch Kreativität. Flexibilität erfordert nicht, dass wir unsere Ziele und Absichten aufgeben, sondern dass wir unsere fixierten Erwartungen auflösen. Die Tatsache, dass jedes Ereignis zusammen mit einer Interpretation gespeichert wird, gibt der Erinnerung eine heimtückische Macht. Das Ego fürchtet Verlust und Tod, dies nimmt der Körper als Stress wahr und dieser lässt ihn schneller altern.

Warum sterben so viele Menschen, kurz nachdem sie in Rente gegangen sind? Dieser Rentnertod kann eine Folge der Ansicht oder des Glaubenssatzes sein, dass die Nützlichkeit dahin ist. Viele Menschen definieren sich über ihre Arbeit und schaffen sich damit eine eigene Identität. Mit dem Rentneralter ereignet sich dann ein Identitätsverlust. Die auf das Rentenalter vertagten Hobbies bringen die wenigsten noch auf die Reihe, sie verfallen in den sogenannten Winterschlaf, der nur noch von den Mahlzeiten, dem Fernsehprogramm und Busreisen unterbrochen wird.

Dr. Alexander Leaf von der Harvard Medical School bereiste in den 70er Jahren die Welt. Er besuchte den Kaukasus, Nordpakistan und die Anden in Ecuador. Dort waren viele Menschen noch mit 80, 90 und mehr Jahren aktiv und führten ein dynamisches Leben. Er entdeckte einen Faktor, der allen Bewohnern dieser weit entfernten Regionen gemeinsam war – ihre Einstellung zum Altern. Hier war das Älterwerden gleichbedeutend mit Besserwerden. Vitale Hundertjährige wurden wegen ihres Wissens, ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit und ihrer persönlichen Ausstrahlung verehrt. Sie waren nicht nur weise und erfahren, sie besaßen auch einen jugendlicheren Körper.

Eine weitere interessante Studie zu diesem Thema führte die Psychologin Ellen Langer im Jahr 1981 in Harvard durch. Sie richtete ein altes Kloster in New Hampshire so ein, dass nichts darin jünger war als 22 Jahre. Möbel, Zeitungen, das Radio und dessen Sender, einschließlich das Essen, alles war wie im Jahre 1959. Sie lud eine Gruppe von Männern, die alle 75 Jahre oder älter waren, in das Kloster ein. Alle hatten vorher Tests durchlaufen, die ihre Beweglichkeit, ihr Seh- und Hörvermögen, ihre Denkfähigkeit und ihr Allgemeinbefinden maßen. Viele berichteten über Antriebs-, Lust- und Appetitlosigkeit. Sie wurden nun gebeten, sich so zu verhalten, als wäre das Jahr 1959. Im Kloster gab es keine Spiegel, niemand trug ihnen die Tasche oder brachte ihnen das Essen. Schon nach fünf Tagen zeigte sich bei ihnen eine Veränderung des Verhaltens. Sie servierten selbstständig ihr Essen, spülten ab, nahmen rege an den Diskussionen teil und spielten sogar Football. Die Tests ergaben, dass sie besser hörten und sahen, die Motorik und das Gedächtnis sich verbessert hatte, sie aufrechter gingen und mehr Punkte in einem Intelligenztest erzielten. Zudem sahen sie im Schnitt auch noch um zwei Jahre jünger aus. Diese Ergebnisse veränderten nicht nur Ellen Langers Vorstellungen vom Alter, sondern auch ihre Sicht auf Grenzen im Allgemeinen. Sie entdeckte den Einfluss des Denkens auf das körperliche Befinden, dass Biologie kein Schicksal ist, und dass es möglich ist, den Altersvorgang umzukehren. Nicht unser Körper setzt uns die Grenzen, sondern unser Denken über seine Grenzen.

Beide Untersuchungen sagen das Gleiche: Erwartungen haben einen Einfluss auf den Körper. Wir bekommen das, was wir erwarten, und das gilt nicht nur für das Alter, sondern auch für Gesundheit und vieles mehr.

Das Alter ließe sich auch als eine neue Entwicklungsphase im menschlichen Leben betrachten. Nicht als Verlust der Jugendlichkeit, sondern als eine Entwicklung mit offenem Ende und eigenen Gesetzen, die wir vielleicht selbst bestimmen. Wir könnten das Alter nicht als Begrenzung, sondern als Chance sehen. Als eine Chance, aus einem anderen Blickwinkel und vielleicht mit Weisheit, wie Konfuzius, zurückzublicken:

Mit 15 Jahren fasste ich den Entschluss, mich dem Lernen zu widmen.

Mit 30 Jahren stand ich fest auf dem Boden.

Mit 40 Jahren ließ ich mich nicht mehr von meinem Ziel abbringen.

Mit 50 Jahren erfuhr ich den Willen des Himmels.

Mit 60 Jahren schenkte ich den Geboten des Himmels ein gelehriges Ohr.

Mit 70 Jahren konnte ich nach Herzenslaune handeln, denn meine Absichten durchkreuzten nicht mehr den Willen des Himmels.

Angst oder die Angst vor der Angst

Ein warmer Sommertag an der französischen Atlantikküste. Wir waren nach unserem Wocheneinkauf und einem gemütlichen Abendessen auf dem Rückweg zu unserem Feriendomizil. Entspannt genossen wir den unbeschwerten Tag. Auf dem Rücksitz war unser damals knapp vierjähriger Sohn gut in seinem Kindersitz verstaut. Auf der Linksabbiegerspur, die auf die Straße durch den Wald zu unserem Feriendomizil führte, mussten wir anhalten, um den Gegenverkehr vorbeizulassen. Auf einmal ein Ruck. Ein Auto war uns hinten aufgefahren. Wir stiegen aus und aus dem hinteren kleinen roten Auto taten drei Männer das Gleiche. Sie sahen alle ähnlich aus, militärisch kahlgeschorene Köpfe und sehr jung. Sie fragten, so viel verstanden wir noch, ob uns etwas passiert sei, und meinten, dass wir unbedingt das Kind aus dem Auto holen müssten, denn es könnte ja verletzt sein. Wir überzeugten uns davon, dass dem nicht so war. Sie wiederholten die Forderung mehrmals, sodass wir schließlich unseren Sohn doch aus dem Auto holten. Sie lockten uns an den Straßenrand zwecks Austausches der Formalitäten und als wir dastanden, rannten sie zu unserem Auto zurück, sprangen hinein und fuhren davon. Den Schlüssel hatten wir in der ganzen Aufregung dummerweise stecken lassen.

Da standen wir nun, am Rand des Waldes mit einem barfüßigen Sohn, da er im Auto immer als erstes seine Schuhe auszog. Was wir noch hatten, war die Bauchtasche meines Mannes mit seinen Papieren, meine Tasche war im Auto verblieben. Während wir überlegten, was nun zu tun sei, radelte ein Ehepaar vorbei. Wir hielten sie an und erzählten, was uns gerade so widerfahren war. Sie erwiesen sich als sehr hilfsbereit, brachten uns zur nächsten Polizeistelle und da sie sehr gut Französisch sprachen, dolmetschten sie auch. Wir saßen noch da, als ein Polizist den Raum betrat und erklärte, das Auto, das uns aufgefahren war, sei gefunden worden und wir wurden gebeten, es zu identifizieren. Wir erkannten das Auto wieder, neu war für uns allerdings, dass es einen Einschuss in der Frontscheibe hatte. Von der Polizei erfuhren wir, dass die drei jungen Männer an diesem Tag versucht hatten, drei Autos zu stehlen und dass es bei einem der Versuche zu einem Schusswechsel mit der Polizei gekommen war. Da wurde uns richtig schlecht. Wir grübelten längere Zeit darüber nach, was wohl geschehen wäre, hätten wir unseren Sohn nicht aus dem Auto genommen. Da stieg die Angst verstärkt in uns auf.

Unseren Urlaub setzten wir trotzdem fort. Nach drei Tagen erschien die Polizei und erklärte uns, dass das Auto wieder da sei, in einer Werkstatt stehen würde, und dass wir es dort abholen könnten. Wir fuhren hin, es war tatsächlich unser Auto. Die Scheiben waren mit einem Baseball-Schläger eingeschlagen worden, die Gurte durchschnitten, damit das Lenkrad fixiert und sie hatten das Auto einen Abhang hinunterrollen lassen. Totalschaden. Der uns nicht gehörende Baseballschläger war noch da, der Einkauf auch. Dieser war aufgrund der sommerlichen Temperaturen nicht mehr brauchbar. Alles andere, der Kindersitz, meine Handtasche und sonstiger Kleinkram waren weg. Nicht weg war meine Angst und die sollte mich noch geraume Zeit verfolgen.

Wieder zu Hause schafften wir ein neues Auto an. Lange Zeit verursachten mir Autos hinter mir, besetzt mit mehreren jungen Männern, Panikgefühle. Ich hätte in dieser Zeit auch immer Vollgas gegeben, wenn mir einer hinten drauf gefahren wäre. Unser Sohn stieg mit seinen auf Jahrmärkten erworbenen Spielzeugwaffen ins Auto und fragte ich ihn, warum, so erhielt ich die Antwort: „Falls Räuber kommen.“ Seinem Beispiel folgend wollte auch ich nicht mehr unbewaffnet ins Auto steigen und ich erinnerte mich an die Gaspistole, die mir ein Freund in Studienzeiten gegeben hatte. Der Grund war mein damaliger Wohnsitz in einer etwas unwirtlichen Gegend nebst diversen Vorkommnissen gewesen. Die Waffe fand sich nach längerem Suchen wieder, was sich nicht wiederfinden ließ, waren meine Kenntnisse darüber, wie das Teil funktionierte und wie man es mit der erforderlichen Munition bestückte.

Beim nächsten Besuch in meiner Heimatstadt begab ich mich also in ein Waffengeschäft, um mich diesbezüglich beraten zu lassen. Ich legte die Waffe auf den Tresen und erläuterte mein Problem. Der Verkäufer sah mich mehr als erstaunt an und fragte, ob ich denn einen Waffenschein besäße. Wieso denn nun einen Waffenschein, es ist doch nur eine Schreckschusspistole, war mein Argument, welches aber durch die Auskunft, dass man auch für dieses Modell nun einen Waffenschein benötigte, zunichte gemacht wurde. Na dann, meinte ich, lasse ich sie einfach hier und kaufe mir eine waffenscheinfreie Waffe, wie vielleicht ein Abwehrspray oder was es sonst noch gibt. Der Verkäufer meinte jedoch, dass ich das Teil wohl schön wieder mitnehmen solle und es ordnungsgemäß entsorgen müsse, wenn ich mir nicht eine Strafe für unerlaubten Waffenbesitz einhandeln wolle. So geschah es dann nach den dafür notwendigen Regeln mithilfe eines Rechtsbeistands.

Die Jahre zogen ins Land, die Erinnerungen an den Autoklau verblassten, waren meistens vergessen und ich fahre auch schon lange wieder ohne unangenehme Gefühle. Doch viele, viele Jahre später stand ich bei Dunkelheit wartend an einer Ampel, als plötzlich ein Mann an die Scheibe klopfte. Ich erschrak zutiefst und alle Gefühle der Angst, inklusive der körperlichen Reaktionen von damals kamen schlagartig wieder hoch. Ich öffnete das Fenster nicht, der Mann schrie durch die Scheibe, dass mein Rücklicht nicht ginge. Ich war so von meinen Gefühlen überwältigt, dass ich sogar vergaß, mich zu bedanken. Erst nach einigen Minuten, als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, wurde mir bewusst, dass diese Reaktion mit dem damaligen Erlebnis zusammenhing. Ich dachte den weiteren Abend darüber nach, wie lange ein solches Erlebnis wirken kann.

Ich würde es eine begründete Angst aufgrund einer angsteinflößenden Situation nennen. Wir haben jedoch auch viele Ängste, die nicht durch ein bestimmtes Erlebnis ausgelöst wurden. Albert Camus, ein französischer Schriftsteller, nannte unsere Zeit das Jahrhundert der Angst. Doch es ist nicht die Angst, die beim Höhlenmenschen auftrat, wenn ein Tiger vor ihm stand, sondern es sind Ängste und Sorgen, die auf der Angst vor Ungewissheit, Versagen und anderem beruhen. Es soll hier nicht von den von der Psychologie als krankhaft definierten Ängsten gesprochen werden, sondern von jenen, die uns in unserem Alltag begleiten.

Wenn wir merken, dass die Winterreifen abgefahren sind, dann ist es sinnvoll, Furcht vor den möglichen Ergebnissen zu haben und sie zu wechseln. Das ist eine gesunde Art von Furcht. Ebenso wenig müssen Situationen provoziert werden, die möglicherweise gefährlich sind. Da ist eine natürliche Angst angebracht. Was uns häufig befällt, ist eher eine unbestimmte, unheimliche Angst, die nicht genau zu beschreiben ist.

Ängste sind so facettenreich wie die Menschen selbst. Ein Bergsteiger, der es wagt, ohne Sauerstoffmaske mehrere tausend Meter hohe Berge zu erklimmen, kann ohne Weiteres Angst vor Spinnen haben.

Manche Menschen suchen regelrecht die Gefahr und kommen dabei auf die ausgefallensten Ideen. So beschloss ein Brite, das unliebsame Bügeln unter freiem Himmel zu erledigen. Das leuchtet ja noch ein, frische Luft. Doch das genügte ihm wohl nicht, denn er beschloss, samt Bügelbrett und Bügeleisen auf einen Berg zu steigen oder sich andere Schauplätze wie Klippen, Seen oder belebte Straßenkreuzungen zu suchen. Solche Menschen scheinen entweder keine Angst vor dem Tod zu haben oder klammern diese Möglichkeit bei ihren manchmal lebensgefährlichen Aktionen einfach aus. Nicht alle, doch viele Menschen, danach befragt, haben Angst vor dem Tod, wobei sich die Frage stellt, ob ich, wenn ich tot bin, noch Angst haben kann.

Angst hat zum einen physiologische Aspekte und zum anderen psychologische. Angst ist eine sinnvolle Reaktion aller Lebewesen, um das Überleben zu sichern. Sie signalisiert Gefahr, aktiviert den Organismus und ermöglicht drei Reaktionen: Flucht, Kampf oder Totstellen.

Viele Ängste von uns Menschen entstehen jedoch im Kopf. Wenn ein Löwe vor uns steht, ist es angebracht, abzuhauen und nicht mehr viel zu überlegen. Dann denken wir nicht mehr darüber nach, was die Schwiegermutter, der Nachbar oder die Familie dazu sagen könnten.

Angst tritt in allen Variationen auf. Angst vor dem Leben, Angst vor Verlust, Angst, man könnte etwas falsch machen, Angst vor Krankheit, Angst vor Unfällen, Angst vor dem Tod. Angst in allem und vor allem. Dazu kommt eine ganze Flut von Schuldgefühlen. Ich kenne Teilnehmer in meinen Kursen, die aus Angst vor Prüfungen schon gar nicht zu dieser erscheinen, obwohl sie im Grunde bestens vorbereitet sind. Nicht jeder hat Angst vor Prüfungen, sondern nur jene, die die Prüfung als Bedrohung sehen. Diese ist nicht physischer, sondern psychischer Natur. Es erfolgen aber die gleichen physiologischen Reaktionen als ob ein Löwe vor uns stehen würde. Die Bedrohung ist psychischer Art, es geht um die ganze Person, um Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Angst vor Versagen kann dazu führen, dass sich das Individuum der Entwicklung von sozialem Vertrauen widersetzt. Angst vor sozialer Abwertung führt zu Rückzug und Vorsicht oder emotionaler Bedürftigkeit.

Viele Ängste werden im Verlauf unserer Sozialisation vermittelt. Kindliche Konditionierungen durch die Eltern oder andere Bezugspersonen können zum Beispiel dazu führen, dass wir als Erwachsene Angst vor Spinnen, Schlangen und ähnlichem haben. Dies haben Untersuchungen ergeben, wenn Eltern ihrem Nachwuchs entsprechendes vorleben und irrationale Ängste unterstützen.

Neben den instinktiv und evolutionär bedingten Ängsten sind viele ein Konstrukt unseres Gehirns, die in der Realität so nicht existieren. Denn was kann einem tatsächlich passieren, abgesehen vom Verlust des Lebens, an dem wir so hängen. Wir entwickeln eine ungeheure Kreativität, wenn es darum geht, uns Situationen auszumalen, vor denen wir uns dann fürchten können.

Häufig sind es nicht die objektiven Gefahren, sondern die subjektiven. Ein schönes Beispiel hierfür ist die unter Schülern, Studenten und auch sich weiterbildenden Erwachsenen grassierende Prüfungsangst.

Auch Versicherungen spielen mit unseren Ängsten und dem, was so alles passieren kann. Da spielt sich vor unserem inneren Auge alles Mögliche ab. Wie wir unter der Brücke sitzen, finanziell ruiniert sind und überhaupt.

Zweifelsohne sind gewisse Versicherungen für den Alltag wichtig. Doch was man heute alles versichern kann, bedarf vielleicht einmal einer realistischen Überprüfung durch uns. Wenn ich mir die Versicherungswerbung ansehe, fühle ich mich urplötzlich nicht mehr wohl, bekomme Angst, weil ich den betreffenden Versicherungsschutz nicht habe. Soll ich jetzt eine Versicherung abschließen?

Wir können Angst immer dann ignorieren, wenn wir uns bewusst machen, dass sie gerade nicht real existiert. Wenn wir Schöpfer unserer Wirklichkeit sind, was von Philosophie und Psychologie postuliert wird, dann sind wir auch Schöpfer unserer Ängste.

„Rette dich, das Leben ruft“ die Autobiografie des französischen Resilienzforschers Boris Cyrulnik beschreibt, wie es gelingen kann, große seelische Qualen aus der Kindheit zu überwinden. Er verliert seine Eltern im Konzentrationslager, wächst in Heimen, Pflegefamilien und Internaten auf. Heute bezeichnet er sich als glücklich und ist ein erfolgreicher Wissenschaftler.

Neben ihm sind heute auch andere Experten der Meinung, dass die Einstellung, die ein Betroffener zu seinem Leid und seiner Angst hat, eine wichtige Rolle spielt. Menschen mit einer hohen Resilienz besitzen die Fähigkeit, sich auch bei schweren Schicksalsschlägen nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Erstmals entdeckt und erforscht wurde dies in den 50er-Jahren als Emmi Werner 700 Kinder einer Gemeinde auf Hawaii untersuchte. Sie wuchsen alle in schwierigen Lebensverhältnissen auf. Einige von ihnen wurden später beruflich erfolgreich und gründeten Familien, während andere die Schule abbrachen und straffällig wurden.

Inzwischen liegen zahlreiche Forschungsergebnisse zu diesem Thema vor. Allen Ergebnissen gemein ist, dass die Menschen, die eine Selbstwirksamkeitsüberzeugung besitzen und nicht so schicksalsgläubig sind, besser geschützt sind. Zu den weiteren Schutzfaktoren zählen eine intakte Familie, Menschen, auf die man sich verlassen kann, wie etwa Freunde, und auch Religiosität spielt eine Rolle. Auch jene Menschen, die fähig sind, Distanz und Humor zu entwickeln und Hilfe annehmen, zerbrechen seltener an einer traumatischen Erfahrung und der häufig damit verbundenen Angstentwicklung. Das Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit lasse sich trainieren, so die Forscher, und wir müssten unseren Erlebnissen nicht hilflos ausgeliefert sein und uns von diesen nicht überwältigen lassen. Das Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit rettete Boris Cyrulnik das Leben und machte ihn für die Zukunft seelisch widerstandsfähiger.

Glücklicherweise bleiben die meisten von uns von traumatischen Erfahrungen verschont. Nicht verschont bleibt der eine oder andere von uns von Ängsten, die, wie bereits erwähnt, ein gedankliches Konstrukt sind. Es erfordert Mut, seine Gedanken zu ändern und sie loszulassen.

In Indien wird zum Thema Angst die alte Fabel von einer Maus erzählt, die in ständiger Sorge lebte, weil sie Angst vor Katzen hatte. Ein Zauberer hatte Mitleid mit ihr und verwandelte sie in eine Katze. Als sie eine Katze war, hatte sie Angst vor dem Hund. Der Zauberer half ihr wieder und verwandelte sie in einen Hund. Da bekam sie plötzlich Angst vor dem Panther und so verwandelte sie der Zauberer in einen Panther. Da bekam sie Angst vor dem Jäger. Der Zauberer war verzweifelt und gab auf. Er verwandelte sie wieder in eine Maus und sagte: „Nichts, was ich für dich tun kann, wird dir helfen, denn du hast das Herz einer Maus.“