GERHARD MICHAEL ARTMANN wurde 1951 in Uder im Eichsfeld geboren, studierte Physik in Dresden, wurde 1983 wegen Verweigerung des Dienstes an der Waffe inhaftiert und lebt seit 1985 im Westen. Nach Promotion und Habilitation ist er als Professor für Biophysik an einer deutschen Hochschule tätig. Er veröffentlichte Fachbücher und zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, aber während mehr als zwei Jahrzehnten Forschungsarbeit keine Literatur. Diese war ihm nie ein Hobby. Er schreibt ab 1980 Kurzgeschichten (z. B. in: Die Horen), ein Hörspiel (1988), einen Roman (1991), das Gedicht »Abschließende Worte eines Deutschen an seinen Herrn« (2010) und »Hàllo Ànn« (2014). Seine Texte versteht er nie als harmlose Gesellschaft von Worten. Er trägt sie, stehend, seinem Herrn vor, also sich selbst, und jetzt Ihnen. Er wünscht Ihnen Kraft für Glück, Liebe und Fülle.

Der Autor hat die konventionelle Rechtschreibung einzelner Worte bewusst gewählt und nur wenige unkonventionell chiffriert, so wahr ihm Gott dabei geholfen hat. Die erzählten Begebenheiten und vorkommende Personen, Sachverhalte oder Namen sind Fiktion und beruhen auf Unwahrheit. Textstellen mit sexuellem Bezug und Schweinereien sind für Leser über achtzehn Jahren freigegeben. Von Nachahmungen, insbesondere der Errichtung von Dicktaturen, der Entfellung von Hasen oder der fotografischen Dokumentation der hinteren Uterusinnenwand, sollte abgesehen werden.

Die Geschichte, insbesondere Deutschlands, wurde gefellscht. Die angegebenen Jahreszahlen stimmen, stimmen annähernd oder stimmen gar nicht. Einen Prof. Dr. h.c. mult. Dr. med. habil. Gotthilf Fürchtegoth-Nöthinger hat es nie gegeben, er war auch kein Proktologe und trug keine Penisprothese russischer Bauart …

Ànn, den jungen Mann, Aysha, die Anderen und die Freiheit gibt es wirklich.

Gerhard M. Artmann

© 2014 Gerhard M. Artmann

Satz und Layout: Buch&media GmbH, München

Umschlaggestaltung: Thomas Artmann
unter Verwendung eines Bilds von photocase.com © Marieanne

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH

Printed in Germany · isbn 978-3-7386-6398-3

Für Ays, unsere Kinder und Enkel. In Liebe. Immer.

Inhalt

»Freedom’s just another word for nothing left to lose.«

Wolga, 1413

Ignaz Ludogowitsch Rostov war Nachkomme deutscher Siedler, die in der Jungsteinzeit mit bloßen Händen gen Osten vorgedrungen waren. Sie siedelten sich seinerzeit in den frei gewordenen Gebieten entlang der Wolga an und warteten über Jahrhunderte auf die geordnete Übergabe ihrer eroberten Territorien an Deutschland. Ignaz vertrieb nebenberuflich aus China importierte Feuerwaffen an Kriegsherren und -damen, die zu seinen Zeiten noch mit Steinen oder Büffelknochen Touristen bewarfen oder den Kopf ihrer Feinde in den Wüstensand steckten, bis diese Fieber bekamen und mit der rechten Hand in den Sand schlugen.

Ignaz, ein freier deutscher Siedler, Bauer und Jäger vor dem Herrn, war eines Tages von der Jagd heimgekommen und hatte geäußert, kaum, dass er die Haustür zugeknallt hatte: »Wir gehen nach Hause, na Börlin, Tscheloveki, das hier wird nichts mehr!«

Er warf den schlaff über seinen Schultern hängenden Bauernjungen in der Mitte der Stube ab, klopfte sich das Blut von der Jacke und forderte seine Frau auf, den Burschen wieder zuzunähen und dem Fürsten zurückzusenden.

»Und lass ihm ausrichten, dass ich dem nächsten ein richtiges Loch mache.«

»Das war der letzte Bauer,« erwiderte seine Frau, »er sollte dir Suppe bringen.«

Ignaz trat mit dem Fuß nach dem Burschen.

»Lass ihn, Ignaz, er ist Gottes Kind. Die Dörfer sind leer. Alle Bauern sind abgehauen! Sie wollen lieber in Sibirien erfrieren, als von dir beim Pinkeln im Wald erschossen werden.«

Ignaz Frau, Natalja Sergejewna Rostov, beendete die Arbeit an ihrem Winterrock und begann die Nadel stattdessen durch das Fleisch des Bauern zu ziehen, welches dieser, an Kummer gewohnt, klaglos über sich ergehen ließ. Schon seit zwei Jahren brachte ihr Mann kaum noch Wildbret ins Haus, sondern angeschossene Bauern.

Sie war es leid.

Er behauptete jedes Mal, dass er bloß daneben getroffen habe, aber in Wirklichkeit wollte er seinen Grafen darauf hinweisen, dass das zwischen ihm und ihm getroffene Abkommen – Jagdrecht für Ignaz – Ignaz’ Frau für den Fürsten – nicht mehr galt. Ignaz hatte ehrlichen Herzens an den guten Tausch geglaubt, aber er fühlte sich fürstlich getäuscht. Sie war den Fürsten auch leid. Er war über die Jahre fett geworden und hatte an Manneskraft allzudeutlich verloren.

Heute Mittag waren Ignaz und der Fürst sich im Wald begegnet. Ignaz war über seiner Schrotflinte eingedöst, riss aber den Kopf hoch, als es im Geäst knackte. Er wusste sofort, wer da angetrampelt kam. Kein gescheiter Jäger machte solchen Lärm. Das bescheuertste Rebhuhn wäre in seinem Versteck geblieben, geschweige denn wäre ein erfahrener Keiler über die Lichtung getürmt. Es war er, der Fürst, wer sonst. Die Gelegenheit zur Zwiesprache kommen sehend, raunzte Ignaz ihn an, kaum dass der aus dem Gebüsch tretend und die Spinnweben von sich abklopfend sichtbar geworden war.

»Meine letzten drei Kinder haben alle dein Pfannkuchengesicht, deine mongolischen Schlitzaugen und es sind alles Mädchen, verteidige dich!«

Der Fürst, als Offizier des russischen Zaren gewohnt, in feindliche Gewehröffnungen zu blicken und dabei nicht zu blinzeln, erwiderte: »Das war die meinige Seite der Erfüllung unseres Vertrags.«

»Unser Vertrag war, meine Frau kannst du haben, meine Kinder mache ich selbst.«

Ignaz bebte bei dem Satz, denn das hier war nicht allein eine persönliche Frage, die seine Beziehung zum Fürsten anging, sondern eine Frage der Durchmischung seiner Gene mit asiatischen Bio-Molekülen, von denen kaum einer wusste, was diese mit einer anständigen deutschstämmigen DNS-Kette erbgutmäßig eines Tages anstellen würden. Der Fürst kniff nun doch nervös das rechte Auge, denn was da zwischen den Bäumen winkte, war nicht Gutes. Wenn der Kerl nichts gesoffen hatte, dann konnte dessen rechter Zeigefinger ganz leicht ausrutschen. Auf die Weise war auch sein Koch letztes Jahr plötzlich verstorben. Er versuchte zu beschwichtigen

»Versetz dich mal in meine Lage, Ignaz. Die drei Mädchen waren Ausrutscher. Deine Frau, das weißt du, ist, bevor sie kommt, immer dermaßen wild, dass du es manchmal nicht rechtzeitig rausschaffst! Punkt und aus.«

Ignaz wusste, wovon der Fürst sprach. Um so aggresiver wurde er.

Dem Fürsten schwante Schlimmes. Er hätte jetzt lieber einen Keiler gegen sich gehabt. Da konnte man wenigstens auf einen Baum abhauen, aber hier gab es kein Entkommen. Ignaz drückte ab. Der Fürst sah noch, wie er den Rauch des verbrannten Pulvers wegblies, um besser sehen zu können. Er wollte sich eben tot umfallen lassen, als es hinter ihm rumste. Der letzte seiner fürstlichen Eber, ein Riese namens Siegfried, stürzte seufzend ins Gras und biss hinein. Er war nur elf Jahre alt und der einzige Überlebende seiner ehemals zu Hunderten zählenden Sippe von Don-Wolga-Schweinen, herrlichen schwarz-braunen Tieren mit leicht asiatischem Gesichtsausdruck und gelblichem Teint. Er gehörte nach Humboldt zur Familie der Sus scrofa, also den altweltlichen oder den echten Schweinen, den Suidae, aus der Ordnung der Paarhufer. Seit aber Ignaz mit dem Fürsten dieses Abkommen hatte, war einer seiner Verwandten nach dem anderen gefallen. Einer von Siegfrieds Cousins hatte sogar seinerzeit Selbstmord begangen, um der Tötung durch Ignaz zu entgehen.

Siegfried, das wusste der Fürst, war in friedlicher Absicht auf die Lichtung gegangen, um zu grasen. Er speiste nach dem grausamen Tod so vieler seiner Verwandten vegan und verkörperte den Geist der Don-Wolga-Armour-Friedensbewegung aus der russischen Jungsteinzeit stolz bis in seine letzte Borste und die heutigen Tage. Das Tier, das nun tot im Grase lag, war unschuldig und bis auf die beiden zwanzig Zentimeter langen Hauer unbewaffnet. Der Fürst wusste, dieser Mord würde Ignaz vor Gericht das Genick brechen. Siegfried gemeuchelt, der letzte Don-Wolga-Eber, der Winnetou der Wildschweine, der letzte seiner Gattung … so würde man Recht sprechen.

Aber zählte das heute? Es gab sowieso keine Weiber mehr und Wildschweine auch nicht. Zwar hatte er als Fürst und Landesherr sich für seinen Wildsaubestand verantwortlich gefühlt und seinerzeit zwei Säue aus dem Moskauer Raum kommen lassen, aber die waren beide versoffen, korrupt und total verhurt. Sie kassierten Geld für Fotoshootings, damals noch handgemalt, und für schweinischen Sex. Das stelle man sich mal vor: Für einmal Draufspringenlassen nahmen sie den Kerlen einen Monatslohn ab. Eber, die damals noch lebten, verarmten binnen Wochen. Ihnen ging das Geld aus, so als hätten sie am Tag der Entladung der Säue aus der transsibirischen Eisenbahn ein Loch in den Geldsack geritzt bekommen.

Als katholisch-orthodoxer Christ saß Siegfried für die Bauern der Umgebung seit geraumer Zeit im Gemeinderat und war dabei, sich für die Bürgermeisterwahl zu stellen. Er war ein weiser Mann, aber wenn’s um was ging, auch ein Hauer und Stecher. Alles in allem war er jedoch in seinem Schweinsleben ein kulturgewohnter zivilisierter Bürger geworden. Hätte er sich nur niemals mit den Moskauer Säuen eingelassen.

Die späte Reue änderte nun nichts mehr – denn er war mausetot.

Das kümmerte Ignaz Ludogowitsch Rostov wenig. Erstens hatte er einen Zeugen weniger, zweitens, was trieb sich das Vieh hier herum, wo er mit dem Grafen abrechnete; und drittens, Gefangene machte er prinzipiell nicht, schon gar nicht, wenn sie Wildschweine waren. Darin zeigte sich, welch dynastischer Zug die Gene der Rostovs durchzog. Ignaz hatte tatsächlich Siegfried durch die Beine des Fürsten hindurch erlegt. Nun lag dieser da, achselzuckend dahinscheidend auf der Seite, Gras im Maul; und streckte die Beine weg, so hingebungsvoll echt, als hätte er das lange geübt. Der Fürst hielt sich die Hände vor das Geschlecht.

»Zwei Zentimeter höher«, rief er jammernd »– nur zwei Zentimeter … schon der Luftzug hätte sie mir abreißen können!« Der Fürst nahm vorsichtshalber seine Hände über den Kopf.

Um den folgenden Dialog würdigen zu können, muss man wissen, dass Ignaz’ Gesicht von vorn aussah wie ein Flachbildschirm und von der Seite, als hätte einer beim Abhobeln einer Holzbohle vergessen, ein Aststück wegzuhobeln, und zwar da, wo andere die Nase haben. Des Fürsten Gesicht dagegen war ebenso platt, das war vermutlich eine Besonderheit der Gegend, wahrscheinlich lag das am Wasser, aber kreisrund wie der Vollmond im August. Nun waren die Gesichter von Ignaz’ Kindern nicht nur platt, sondern ebenso rund wie sämtliche Vollmonde im Jahreskreis – deren Augen waren auch schlitzförmig wie die des Fürsten und durchweg von schwarz-dunkelbrauner Farbe, eindeutig asiatisch. Ignaz hingegen vererbte »blau«, »quadratisch«und »deutsch«. Am liebsten hätte Ignaz dem Kerl nun doch die Dinger weggeballert. Er hielt sich hingegen im Zaum.

»Meine drei letzten Kinder sehen aus wie du, das sind deine und nicht meine, gib es zu! Ich mache, seit ich wichsen kann, nur Jungs!«, schrie Ignaz. Er zog blind durch und drückte ab.

Siegfried, obwohl mausetot, seufzte noch einmal kleinlaut auf, machte einen halben Meter hohen Satz in die Luft und ließ sich auf die andere Seite fallen. Er unterstrich und bestätigte mit bewusst gewählter und eindeutiger Körpersprache die Wucht des Einschlags von Ignaz’ Schrotladung. Ignaz grunzte zufrieden. Er wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass Siegfried unter den Borsten eine schusssichere Weste trug, weil die russischen Säue, wenn sie besoffen waren, auch manchmal wahllos zwischen die Birken geballert hatten. Im Angesicht seines nahen Todes reagierte der Fürst mutig. Er beschirmte sich nicht weiter, hielt seine Arme seitlich halb hoch und wies mit den flachen Händen dramatisch gen Ignaz, als hielte er die Bergpredigt.

»Schieß. Ich habe nichts gesagt, all die Jahre. Vor dreizehn Jahren hast du meinen letzten Zwölfender geschossen.«

Ignaz nahm das Gewehr halb herunter, sodass er es sich jederzeit anders überlegen konnte, und ging auf den Fürsten zu. Er gab ihm eine Ohrfeige.

»Die war für Ludowika!«

Dann noch eine.

»Die war für Joanna! Und wie hieß die Dritte gleich?«

»Henriette.«

»Und die war für Henriette. Dann ist die Sache jetzt für mich erledigt.«

»Eine Rechnung ist dennoch meinerseits offen. Du hast meinen Koch umgelegt – von hinten.« Der Fürst war wütend.

Ignaz erinnerte sich mühelos. Er war leidenschaftlicher Pilzsammler und der Koch des Fürsten auch. Das Unglück geschah, als sie im vorvorletzten Herbst beide fast gleichzeitig einen makellosen Steinpilz erblickt hatten. Ignaz ließ dem Koch, höflich wie er war, den Vortritt. Dieser bückte sich mit einem Messerchen dem Pilz entgegen und paff – Schuss in den Rücken aus nächster Nähe. Ignaz legte den Pilz in seinen Korb und ging heim. Er hatte damals wie heute nicht eingesehen, dass er irgendetwas zu dem Vorfall sagen sollte, nicht seiner Frau und nicht dem Fürsten. Erstaunlich war für ihn aber doch, dass der Fürst ihn verdächtigte.

»Wie hast du das rausgekriegt?«, fragte Ignaz.

»Benno hat angeschlagen … Du hast am Tatort gepinkelt.«

Nicht ganz unbeeindruckt vom Scharfsinn des Fürsten erwiderte Rostov: »Nur instinktlose Penner pinkeln auf der Jagd oder denkst du, irgendein normales Viech kommt noch auf die Lichtung, wenn alles weit und breit nach Mensch stinkt. Du erzählst Lügen – meine Frau ist übrigens schon wieder schwanger, damit du mir nicht vom Thema abweichst.«

»Dafür kann ich nichts, Ignaz! Das war Schuld deiner Frau. Sie hat Heu gemacht und als sie mich sah, hat sie mich vom Pferd gezogen. Ich konnte nichts machen, ich bin auch bloß ein Mann. Wenn du lange auf dem Pferd gesessen hast … Ich kam aus Moskau, denk mal, wie weit das ist, da schuckelt sich was zusammen … Als sie fertig war, hat sie sich den Rock geklopft und mich nicht mehr angeguckt, ich schwöre es. Sie liebt dich durch und durch.«

Ignaz trat zwei Schritte zurück und drückte erneut ab. Sein Move war nicht gänzlich überzeugend, sodass der Fürst erst gar nicht zusammenzuckte. Tatsächlich verriss Ignaz nach links unten und traf den Fliegenpilz neben dem Fürsten. Es stoben ursächlich zusammenhängend neben Pilz, Pilzmyzel und Eichenwurzel außerdem auf: die rechte Sohle des Fürstenstiefels, das Laub von fünf dahinter in Reihe stehende Buchenbäumchen, das Fell eines Nagehamsters und die Lesebrille von dessen Frau, die ihn zum Essen rief. Besagten angeschossenen Bauern, der die Konversation für das gerichtliche Nachspiel im Auftrag des Fürsten, in den Büschen versteckt, mitstenografierte, traf es zufällig. Der Fürst trat einen Schritt zur Seite, damit Ignaz seinen Schuss beurteilen konnte.

»Nicht den da!«, schrie der Fürst nun doch entsetzt, »das ist ein Riesenbovist, der ist essbar. Da essen wir ’ne ganze Woche dran, Du Blutreizker!«

Paff, der Bovist zerstob zu Dunst.

»Da hast du, was dich erwartet, wenn du nicht sofort in deine Pfalz abhaust. Ich zerschieße dein Schlosstor zu Sägespänen, damit du was zu fressen hast, Mondkarte.«

Der Fürst, tief beleidigt, kehrte um und entfernte sich grußlos.

Ignaz’ Frau war mit dem Bauern fertig. Sie wischte sich die Hände und schälte nun Kartoffeln für das Abendessen. Ignaz saß am Küchentisch und rechnete: Ein Zwölfender reichte gepökelt oder geräuchert maximal für ein Jahr als Fleischvorrat für die Familie. Ein Kind dagegen gerechnet lag ihm fünfzehn, zwanzig Jahre auf der Tasche. Ihm! Und nicht dem Fürsten. Hasen gab es keine mehr, Rehe, Rebhühner, Tauben auch nicht. Keinen Bauern, der Mehl machte, keinen, der Kartoffeln pflanzte. Nur noch seine Familie, der Fürst und der Wald waren geblieben. Alle Eber waren so gut wie erledigt.

»Alles weg, lieber Fürst.« sinnierte er, »alles sehr limitierte Zahlungen deinerseits, die du da noch machen kannst. Und mir dreieinhalb Kinder aufhalsen und meine Frau kostenlos bumsen, dass sie kaum noch das Nachtgebet sprechen kann.« Ignaz pfiff durch die Zähne. Jetzt sah er klar. Jagdvieh ist keines mehr da, aber mit den Bälgern bei ihm daheim ginge es noch jahrelang so weiter. Der Fürst würde höchstwahrscheinlich weiter um Ignaz’ Haus herumschleichen, denn Ignaz’ Frau alterte nur langsam. Ignaz brauchte praktisch bloß mal, grob gesprochen, ums Haus nach den Kaninchen sehen gehen und schon war er wieder Vater! Er hatte in diesem Moment nicht mehr und nicht weniger als den Feudalismus begriffen. Die Fürsten gaben dir was zu essen und du Bauer warst froh, was zu beißen zu haben. Dafür schwängerten sie deine Frau und legten dir ihre Bälger ins Nest. Du teilst, gibst den Bälgern als Christ, was du hast, und ziehst sie groß. Aber auch wenn die Bastarde anständige Christen werden, die Schlitzaugen kriegst du nicht weg, den Rundschädel auch nicht und schon gar nicht deren Kamelaugen. Du kannst beim Bier nicht mal behaupten, das wären nicht deine Kinder, sondern musst mitlachen und zugeben, dass du besoffen und völlig rund gewesen sein musst, als du auf deine Frau gefallen bist. Von wegen – wachset und mehret euch, lieber Herr Fürst Ludwig von Steinhausen, der du uns seinerzeit zu den Rossen ausgewandert hast. Ihr seid alle gleich. Bälger ziehen wir auf, Mongolenbälger. Missbraucht werden wir Deutschen in fremdem Land zur Züchtung und Aufzucht von Aliens! Unsere Gene werden verdünnt, unser deutsches Blut wird dünn wie Regenwasser! Ignaz bezweifelte plötzlich sehr die Mission Ludwigs von Steinhausen, der seine Ahnen einst mit gesalbten Worten nach Rossland gesandt hatte. Von wegen – wachset und mehret euch in fremden Land. Worte, Worte, die der Kerl seinen auswandernden Untertanen gesagt haben soll am Schlagbaum zu Polen. Von wegen! Leihmütter sind unsere deutschen Frauen geworden, Austräger fremder Brut, Mittäter am Fortbestand einer Rasse Mensch, zu denen wir nicht mal mit dem Zug in Urlaub fahren könnten, weil die keine Eisenbahn haben. Die fressen Jogurt und saugen an Yakeutern bei dreißig Grad minus und rammeln unsere deutschen Frauen beim Pilze sammeln ohne Vorwarnung von hinten. Und jetzt hielten diese Mondgesichte, diese körperbehinderten Dschingis Khane, an Wolga und Don Hof und spielten Fürsten. Die Deutschen gaben den Bauern und spielten Darwin mit mongolischen Genen.

Ignaz ging nach draußen. Seine Biohühner kannten das Spiel. Sie flüchteten ins Hühnerhaus, als sich auch nur die Türklinke regte. Ignaz erschoss zunächst die zugelaufene Katze. Wie ein Terroristenjäger feuerte er dann auf jeden Riesenschirmpilz im nahen Wald. Er schritt zur Lichtung aus, dem Entstehungsort seiner Nachkommen. Dort traf er erneut auf den Fürsten, wenn dieser auch im Gebüsch halbversteckt hockte und ganz offensichtlich auf Ignaz’ Frau wartete. Ignaz auf der freien Lichtung Schritt greifend und ganz der Jäger griff sich mit links ins Gehänge und rückte es zurecht. Gerade noch schaffte der Fürst es hinter die nächste Eiche. Denn nun knallte es ohne jene letzten Worte der Abrechnung, jene drohenden, auf die Zukunft weisenden Äußerungen des Schlächters dem zu Schlachtenden gegenüber. Nein, es knallte. Der Eiche fehlten fortan die unteren Äste und dem Fürsten fürderhin der Grund für Ignaz’ Eifersucht. Der Fürst winselte um die Eichenwurzeln herum. Ignaz aber wandte sich heldisch ab und kehrte ins Haus zurück. »Wir gehen nach Hause, na Börlin, Tscheloveki, das hier wird nichts mehr!«

Im Spätherbst 1413 betrat die Dynastie Rostov den Boden Deutschlands. Sie siedelten zunächst in einer waldreichen Gegend Thüringes, wo ein Onkel von Ignaz eingeheiratet hatte, und stieg in das Raubritterwesen ein.

Eine Merkwürdigkeit im Zusammenhang mit dieser Eindeutschung war, dass viel weiter im Westen etwa zu jener Zeit ein Eber, der sich Siegfried nannte, in Köln am Dom aufgegriffen wurde. Der Polizei gegenüber soll er sich zur Begründung seines Daseins geäußert haben, dass er im Auftrag des großen Siegfried und seiner Frau Brunhilde aus dem Burgenland bei Moskau nach Köln gereist sei, um Karl dem Großen eine persönliche Botschaft zu überbringen. Wahrscheinlich unter Folter soll das Subjekt sich geäußert haben, dass es sicher Krieg gäbe, und zwar zwischen West-Deutschland und Südafrika. Die beiden Polizisten konnten diese Nachrichten und das sprechende Wildschwein nicht komplett verarbeiten und gerieten traumatisiert in die lokale Irrenanstalt, das Hedwigsstift. Sie blieben sieben Jahre dort, von denen sie die letzen fünf unter der Aufsicht eines gewissen Siegfried verbrachten. Dieser tat als Keiler verkleidet seinen Dienst, den ihm die Einbürgerungsbehörde aufs Auge gedrückt hatte, sehr gründlich und machte seine »Bullen« jeden Morgen zur Sau. Sie blieben kinderlos. Das Trio ist bis heute als Denkmal auf dem Kölner Neumarkt zu betrachten. Ein lokaler Künstler soll sie in Stein gemeißelt haben, nachdem sie aus der Irrenanstalt entlassen worden waren.

Im rheinhessischen Raum waren etwa zur gleichen Zeit zwei Wildsäue aufgetaucht, die gebrochenes Deutsch mit stark russischem Akzent sprachen. Sie sollen sich in der dortigen Gegend sehr vermehrt und eine reichliche Nachkommenschaft gezeugt haben. Diese war so brutal, dass sich weder in der Hin- noch in der Rückrunde des Weltkrieges ein Soldat in jene Wälder gewagt hätte.

Die Dynastie Rostov entwickelte so viele Linien und Seitenlinien, wie ein Ölbaum Blätter trägt. Über die Eintragungen in Standesämter und geheime Kirchenbücher war einiges an den Tag gekommen, sodass man heute nach vorsichtigen Schätzungen davon ausgehen kann, dass halb Mecklenburg-Vorpommern, ganz Polen, Tschechien, die Sorbei, Ungarn aus irgendeinem komischen Grunde nicht, die Mainzer Region und auch Ostfriesland direkt oder über Ecken Besitzungen jener Herrscherdynastie wurden.

Zu Fürchtegoth, Rheinhessen, 1618

D er Landsitz derer von und zu Fürchtegoth lag hoch an den Ufern des Rheins, bot von da einen göttlichen Blick auf den Fluss. Das Leben hier oben geschah seit Generationen gut und reichlich. Mit Feinden war nicht viel. Vom Rhein her kam keiner hoch. Und wenn dann doch einer oben war, dann zog man dem Geschwächten den Helm vom Kopf und fragte ihn: »Voujevou sterben? Oder voujevou bei uns Bauer werden und Deutsch lernen?«

Kamen Feinde von landauswärts, von Westen her, waren es die Franzosen. Sie waren leicht zu schlagen, denn es gab klare Anweisungen an die rheinischen Ritter. Wenn man als ordentlich eingetragener Herrensitz im Verzeichnis »Herrensitze«, Greater Deutschland, London Library, 1603, beispielsweise von denen Von und Zu Nantes überfallen werden sollte, mussten diese zunächst einen Emissär schicken mit einer Kriegserklärung. Diese war in drei Sprachen abzufassen, Lateinisch, Deutsch und Französisch. Sie musste förmlich unterzeichnet werden, was gewöhnlich nach dem Dinner geschah, das zum Empfang der Emissäre ausgerichtet werden musste. Gegen Ende jenes Dinners musste dann der Emissär gegen sein Weinglas schlagen und für alle hörbar rufen: »Seine Majestät der Kaiser von Nantes erklären euch den Krieg, Inschallah.«

Ohne ein weiteres Wort der Erkärung wurde nun dem meist gegenübersitzenden Gastgeber der Fehdehandschuh ins Gesicht geworfen. Der Emissär wurde dann in die Folterkammer gebracht und gesundheitlich versorgt. In der Zwischenzeit brachte ein Bote die Kopie des Kriegsvertrages nach Rom zum Höligen Stuhl. Dieser bestätigte, dass die geplante kriegerische Handlung rein privater Natur sei und Gott und die Kirche sich von dem Akt lossagten. Der Sieger möge bitte den Sieg postwendend mitteilen, damit die Eintragung im Grundbuch geändert werden konnte. Auf diesen Eintrag wurden zehn Prozent Kirchensteuer erhoben. Wechselte im Verlaufe der Keilereien der Sieger alternierend, war jedesmal eine solche Steuer erforderlich. Außerdem wurde in besonders hartnäckigen Auseinandersetzungen, wo täglich die Sieger wechselten, die Kosten für das Papier, den Schreiber und die Krankenhauskosten für den Domprobst in Rechnung gestellt.

Nun konnten die Handlungen beginnen. Gott war mit allen fertig. Die Emissäre wurden mehr schlecht als recht, oft blind oder mindestens gehbehindert zurückgesandt, um das Dokument zu überbringen. Sie waren von beiden Parteien gehalten, im Angesicht ihres Auftraggebers beim Überreichen der Nachricht dahinzuscheiden. Dies war aus Gründen des Staatsschutzes notwendig und ein letzter Beweis ihrer Loyalität gegenüber ihren Herren.

Die rheinischen Kriege im beginnenden siebzehnten Jahrhundert fingen meist samstags nach dem Mittagsschlaf an. So auch am Nachmittag des zweiundzwanzigsten Mai, 1618. Gegen fünfzehn Uhr wurden vom Hochsitz derer von und zu Fürchtegoth Franzosen gesichtet. Zunächst glaubte man an Wildschweine. Dann aber erkannte man die blauen Hosen. Die Kerle kletterten lustlos den Burgberg von Westen her hoch. Zur Verteidigung der Burg wurden zunächst teergetränkte brennende Strohballen den Berg hinab gerollt. Das erschien manchem Franzosen zu beängstigend – einige kehrten sofort um. Der Rest kletterte weiter bergan. Etwa eine Stunde später folgten seitens der Burg Ein-Tonnen-Kugeln aus Sandstein. In der Ein-Tonnen-Technologie waren die Fürchtegoths Meister, denn sie hatten sie erfunden und sogar an die Amerikaner eine Lizenz verkauft. Es blieben dennoch auch dann noch Franzosen dabei, den Berg anzuklettern, so als hätten die keine Familie und nichts Besseres zu tun.

Der Fürst befahl in solchen Fällen, Fässer billigen Rieslings an Stricken vorsichtig den Berg hinunterzulassen. Man lauschte nun seitens der Fürchtegoth-Burg mit deutschen Hörgeräten auf Trinkgeräusche. Waren diese schließlich und endlich abgeebbt, schickte man den Nachtwächter der Burg auf das Schlachtfeld. Der haute mit einem Hämmerchen, mit dem er an sich seine Schuhe besohlte, einen jeden zum Garaus, der noch ein Glas mehr haben wollte. Es verloren immer die Franzosen.

Fürst von und zu Fürchtegoth hatte angesichts solch zahloser Siege seiner Gattin Edelgart ein Siegesschloss auf der anderen Rheinseite bauen lassen. Er hatte damit die innige Verbundenheit zwischen ihm und ihr in Gestalt zweier Trutzburgen demonstrieren wollen. Zwar waren sie durch einen reißenden Strom getrennt, die beiden Liebenden aber trennte er nimmermehr. Jeden Abend nach den Fernsehnachrichten sang der Fürst Minne gen Osten.

»Oh Edelgart, oh Edelgart, why du bist so hart. Voujevou une menage a trois?«

Seine Frau Edelgart erwartete den Anruf hinter den Zinnen der Burg und sang.

»Du kannst mich mal, du kannst mich mal, du kannst mich mal besuchen.«

Der Fürst blies daraufhin in sein Hirschhorn.

»Oh Edelgart, oh Edelgart, wie gern ich kommen würd – ich darf es nicht, ich darf es nicht. Ich bin der Herre hier – es is mei Pflicht.«

Damit war für Fürstin Edelgart klar, der Kerl kam heute Abend nicht überraschend rüber, und sie machte weiter mit ihren beiden Reitlehrern.

Fürst Fürchtegoth ging indes in seine Kapelle zum Beten. Dort probte abendlich der Knabenchor. Die Jungs sangen göttlich; Pimmel für Pimmel für Pimmel ein eigener Klang. Jeder so rein und so klar. Fürst Fürchtegoth setzte sich in die erste Reihe und spannte den Regenschirm vor sich auf. Nicht zu seiner Überraschung, denn er war schließlich Fürst und verfügte über Informanten, setzte sich sein Sohn namens »Boy« kurz darauf in die Reihe hinter ihm und grüßte:

»Hi Dad.«

»Hi Junior, wie geht es dir?«

»Mir ging es gut, bevor ich dich sah.«

»Boy, das könnten wir bald ändern.«

»Dad, ich will den Dritten in der zweiten Reihe oben rechts.«

»Das ist meiner und der war schon immer meiner, alles klar.«

»Nicht ganz, Dad, der hat neulich gesagt, er würde sich deine Faltenprimel nicht mehr lange ’reinziehn.«

»Hat er?«

»Hat er!«

Der Fürst stand daraufhin auf und unterbrach den Chor. Er winkte besagten Jungen in die Sakristei zum Vorsingen. Der Junge, bereits in jungen Jahren erfahren, war nach zwei Minuten fertig. Der Fürst zog seine Lederhose hoch und schickte den Jungen zurück, nicht aber ohne ihn zu ermahnen, dass er ihn nach der Vesper nochmal in seinem Schlafzimmer bräuchte. Der Junge nickte.

»So viel dazu«, sagte der Fürst später zu »Boy« und kniete sich nun neben ihn zum Beten, denn die Vesper war noch nicht beendet.

»… von wegen Faltenprimel!«

Während des »Vaterunser« beugte der Fürst sich zu seinem Spross hinüber und flüsterte: »Dein Boy kann heute nicht, morgen nicht und auch die restliche Zeit nicht, such dir ein Mädchen und heirate, da kannst du deinen Pimmel so oft du willst wegstecken und du störst keinen dabei.«

Der Fürstensohn lief hochrot an und griff zum Schwertknauf.

»Das würde ich nicht tun, Boy, denn als Erstes würde ich dir den Schwanz abschneiden.«

Bekniffen schlich daraufhin der Thronfolger durch einen Nebeneingang aus der Kirche hinaus. Das hölige Gemäuer war von einem Friedhof umgeben, auf dem hauptsächlich adelige Chorknaben sowie fürstliche Thronfolger begraben lagen, die alle in sehr jungen Jahren verstorben worden waren. Ein besonderer Fall, der für die moderne Gerichtsmedizin bis heute ein Rätsel blieb, war der Tod eines elfjährigen Jungen, der sich beim »Vaterunser« zu Ostersonntag im Jahr des Herrn 1612 an einer höligen Hostie verschluckt haben soll und erstickt war.

Von und zu Fürchtegoth war die Sache mit seinem Thronfolger schon lange zu bunt geworden, nicht nur, weil das besagte Chorkerlchen abtrünnig zu werden beabsichtigte, sondern weil ihn selbst die anderen Knaben seit Monaten komisch ansahen. Also hatte man über den Rhein hinweg beschlossen, den Spross zum Aufbau einer amerikanischen Fürchtegoth-Dynastie nach Amerika zu verschiffen. Die Fürstin auf der anderen Rheinseite wollte nämlich Söhnchen auch nicht haben, denn sie fürchtete um ihre Männer.

Der Fürst brachte seinen Sohn persönlich zum Rheinhafen. Er händigte ihm zwei Jutesäcke voll Mark Ost-Deutschlands in Hundertertmarkscheinen aus. »Damit hast du von Anfang an da drüben ausgesorgt, Boy, bedanke dich! Und schicke uns eine SMS, denn Mutti macht sich auch Sorgen um dich.« Die SMS wurde zwar erst knapp vierhundert Jahre später erfunden, das interessierte den trauernden Vater aber in diesem Moment des Abschieds überhaupt nicht. Der Fürchtegoth-Spross hängte seinen Beutel mit Essen für die nächsten zwei Tage an den Gürtel und schwang die Geldsäcke über. Als er fast an Bord des Rheinschiffes war, rief der Fürst ihm nach: »Arive derci, Boy, und mach dich nicht an die Indianerjungs ran, die verstehen keinen Spaß.«

Prinz von und zu Fürchtegoth ging, als sein Essen nach zwei Tagen zur Neige gegangen war, zum Kapitän des Rheinschiffes und bestellte das Menue für den kommenden Tag. Der Kapitän gab ihm eine Ohrfeige.

»Ich bin Prinz derer von und zu Fürchtegoth!«

Der Kapitän feuerte ihm noch eine.

»Ich habe Geld!«

»Zeig.«

Nach kurzem Blick in den Sack mit den Mark Ost-Deutschlands knallte er dem Jungchen noch eine und als Zugabe noch eine von der anderen Seite, denn die linke Backe war bereits dunkelrot.

»Das Klopapier da teilst du an meine Jungs aus zum Arsch abwischen. Dafür darfst du morgen mit dem Koch essen. Ab übermorgen arbeitest du in der Kombüse. Wo willst du denn weiter hin?«

»Nach Amerika.«

»Zeig mal deine Fahrkarte.«

»Da.«

»Das ist keine Fahrkarte nach Amerika, das ist ein Gutschein für den Puff in Antwerpen. Da, hast du noch eine!«

»Ich rufe jetzt meinen Vater an, das lasse ich mir nicht gefallen«, sagte Boy. Er zog sein geschnitztes Vokia I-phone aus der Tasche und wählte. Er hatte noch nicht zu Ende gewählt, da bekam er die nächste Ohrfeige. Das war sein einziges Gespräch mit dem Kapitän, jemals. Ab da hatte er jeden abend Besuch von jedem einzelnen Matrosen des Schiffes, bis auf Klaus.

Long Island, 1619

In New York, wo Prinz von und zu Fürchtegoth, völlig durch den Wind geschossen, dann doch klapperdürr und mit Syphillis befallen ankam, verlangte der Offizier der Einwanderungsbehörde dessen Pass.

»Was für einen Pass? Ich bin Prinz derer von und zu Fürchtegoth, Rheinhessen, Deutschland. Mich kennt da jeder.«

»Wachmann, abführen, schon der zwanzigste Prinz aus Deutschland heute, wie viele Königreiche haben die eigentlich?«

Der Wachmann, Armbrust lässig, aber geladen nach unten haltend: »In Deutschland, Sir, Sir, ist jeder ein König, jedes Arschloch, Sir, Sir, sei es auch noch so winzig und zu nix zu gebrauchen.«

»Was meinen Sie, Wachmann, mit ›zu nix zu gebrauchen‹? – Ich bin Ire, Sie Arschloch.«

»Sir, Sir, ich meine, die können nicht mal normal scheißen, die kriegen bei jedem Risiko, das sie eingehen sollen, Dünnschiss und wenn sie’s doch mal eingegangen sind, sitzen sie danach stundenlang auf dem Klo wegen Verstopfung. Und wenn einer wie wir einfach so gemütlich vor sich hinscheißt und nach fünf Minuten fertig ist und fröhlich aufsteht, werden die neidisch und bekämpfen einen bis zum Rest ihrer Tage – Sir, Sir, das sind Waldmenschen. Sir, Sir. Der Senat in Washington hat kürzlich im Teuteburger Wald, wo wir schon vor tausendsechshundert Jahren das erste Mal gegen die verloren haben, amerikanische Marines stationiert. Bei der Gelegenheit haben wir auch zwei Einheiten Indianer mit verschifft und sie im teutonischen Wald ausgesetzt. Seitdem ist Ruhe in Deutschland. Die trauen sich nicht mal mehr zum Scheißen in den Wald, auch nicht zum Pilze sammeln, Sir, Sir.«

»Woher wissen Sie das mit den Indianern, das ist Staatsgeheimnis!«

»Ich war da, Sir, Sir, im Wald, ich hatte Durchfall. Da flog ein Tomahawk an meinem Ding vorbei. Ein Indianer mit nur einer Feder am Kopf rief aus dem Busch: ›Das eine Warnung, Yankee, nächste Mal ab.‹«

»Und wo waren die Deutschen?«

»Versteckten sich draußen in den Wiesen, Sir, Sir. Ich musste ja doch weiter scheißen. Einen Durchfallanfall abzubrechen, Sir, Sir, das geht nicht ohne Weiteres, Sir, Sir, da bin ich raus in die Wiesen …«

»Mich interessiert Ihr Durchfall einen Scheißdreck – was haben die Deutschen gemacht?«

»Ich habe mich natürlich auf den Durchfall konzentriert, deswegen erwähne ich ihn ja Ihnen gegenüber, damit Sie verstehen, Sir, Sir, die haben sich angeschlichen, Sir, Sir.«

»Und?«

»Sir, Sir.«

Der Wachmann öffnete seinen Hosenlatz, wohinter nichts zu sehen war.

Der Officer blickte den Wachmann fragend an.

»Abgebissen, Sir, Sir, ich hatte mich auf hinten konzentriert und nach vorn nicht, Sir, Sir. Passen Sie auf, wenn Sie zu denen fahren. Im Dunkeln verstehen die Indianer kein Englisch und hacken einem den Pimmel am Schambein ab.«

»… und die Deutschen … die Deutschen?«

»Krabbeln in den Wiesen ’rum, wie ich sagte, Sir, Sir, sprechen aus Prinzip kein Englisch, schämen sich wegen ihres TieÄtsch. Dann aber – happ – weg sind die Eier. Danach konnte ich meine Mistress vergessen, Sir, Sir, die zu Hause gewartet hat. Sie hat einen Klempner aus Kansas City geheiratet. Mit Geld konnte ich sie auch nicht halten, Sir, Sir, die Versicherung hat nichts gezahlt. Sie zahlt nur bei Kriegsverletzungen, nicht für Freizeitunfälle. Außerdem haben sie was von Sado Maso gefaselt. Ich weiß nicht mal, was das ist, Sir, Sir, wissen Sie das vielleicht?«

»Ich bin Ire, Sie Arschloch!«

Boy, Prinz derer von und zu Fürchtegoth, hatte alles mitgehört. Es gab für ihn nur eine Schlussfolgerung. Inzwischen ausgestattet mit Englischkenntnissen, erkannte er sogleich, dass dem Kerl keine andere Möglichkeit blieb, als sich hinzuknien. Er intervenierte bei dem Wachmann:

»Do you like to knee down and come-on?«

»Jess, Jess, off course.«

»Senn let’s go to se toilet right away.«

»Aber nur fünf Minuten«, rief der Officer hinterher.

»Sir, Sir, was denken Sie von uns?»

»Dann kommen Sie sofort mit dem Kerlchen hierher zurück, ›Boy von Fürchtegoth‹ ist echt. Mir liegt ein Brief seines Vaters vor. Er schreibt, wenn jemand einreisen will und sich als ›Boy von Fürchtegoth‹ ausgibt und der nicht sofort den Wachmann vögeln wollte, dass der nicht echt sei. Sein Sohn würde das zumindest versuchen. Sein Vater hat ihm hundert Goldtaler geschickt, ein ungeheures Vermögen, fast zehn Kilo reines Gold. er soll danach zu mir kommen.«

»Siehste«, sagte Boy zum Wachmann, »das ändert alles – was zahlste»?

Der Wachmann zog fünf Dollar raus, übergab sie pikiert, weil augenscheinlich auch in dieser sich anbahnenden zarten Beziehung die Liebe fehlte, und ging schon mal voran.

Vom Geld des Vaters kaufte Prinz von und zu Fürchtegoth sich einen schwarzen Boy zum Servieren, einen Indianer als Bodyguard, eine Nögerin zum Kochen und für den Fall, dass Not am Mann war, weil einer der Boys seine Tage hatte, einen Pianisten aus Paris sowie einen Gärtner aus Sri Lanka. Er erwarb Long Island und Immobilien in benachbarten Bundesstaaten fast umsonst, das Grundstück, auf dem das NIT und die Howard University heute stehen, auch. Arizona, Nevada und Kalifornien bekam er hinterhergeworfen, weil die damals nix kosteten.

Der Notar, 1623

B oy von Fürchtegoth erwies sich als Typ, zu einer besonders resistenten und verständigen Rasse gehörend, die im Laufe der kommenden Geschichte im letzten Moment immer in der Lage gewesen war, den Ernst einer Lage zu erkennen und auch immer gleich gewusst hatte, wer an ihrer Statt ins Gras beißen sollte. Boy wurde schnell wohlhabend und sein Leben geschah gut und reichlich.

Vier Jahre nach Boys erstem Landgang in Long Island bekam er Post von einem angesehenen Notar. Boy war leger gekleidet und setzte sich erst nach höflicher Aufforderung dem Notar gegenüber. Der trug Frack, eine Fliege und einen schwarzen Zylinder, der nach links nicht ganz ausfaltbar war. Gute Zylinder waren auch für gut betuchte Bewohner Long Islands kaum zu haben.

»Um gleich zum Punkt zu kommen, Eure Hochlaucht«, begann der Notar. Er sei über alles unterrichtet. Man brauche sich nicht in der Vergangenheit verstricken. Persönlich sei ihm das Gender eines Klienten gleichgültig. Den Vornamen »Boy« könne er als für den Distrikt verantwortlicher irischstämmiger Notar allerdings nicht länger akzeptieren. Er werde ihn in »Bestehjev« umschreiben lassen. Beides beginne mit »B«. Da brauche er die Initialen auf Servietten, Besteck und Krawattennadel nicht ändern lassen. Boy setzte den Kaffee ab und protestierte.

»Wie soll sich das denn anhören – Bestehjev von Fürchtegoth.«

Der Notar blieb freundlich, aber unerbittlich: »Das ›von Fürchtegoth‹ brauchen Sie hier auch nicht, Hauptsache, Sie haben Geld. Die Amerikaner reden sich stets mit Vornamen an. Alle Nach- oder Vorsätze zu einem Namen deuten sie, als hätte man Armut zu verbergen. Der Titel Doktor steht allerdings hoch im Kurs. Da kann ich Ihnen eine Adresse nennen, die sind nicht gar so unverschämt bei den Preisen. Welchen Titel möchten Sie tragen?«

Boy zögerte nicht einmal: »Doktor der Politik.«

»Das wäre dann Dr. pol., ich trage das in Ihre Unterlagen ein. Ich gratuliere Ihnen für Ihren exzellenten politischen Instinkt. Das tun alle, die Präsident werden wollen. Ich muss leider noch einmal auf des gnädigen Herrn Geschlecht zurückkommen. Ist der Fall bei Ihnen sehr ernst?«

»Welcher Fall?«

»Äh, hmm, ich meine …«

»Ob ich bi bin? Was denken Sie von mir?«

»Nun gut, ich sagte ja, ich verstehe, nur dann hätte noch Hoffnung bestanden, Jungs also, nun gut, dann trage ich bei Ihnen unter Religion nichts ein. Nun«, er hob den Kopf und blickte Boy sehr ernst an, »ich sagte bereits, obwohl mein Mandant von hohem Geschlecht ist und nicht geringen Reichtum vorweisen kann, verbietet es mir meine irische Herkunft, und sei es auch nur im Vornamen, jede Andeutung auf das Geschlecht des Klienten anzuerkennen. Das kann zu peinlichen Missverständnissen führen – stellen Sie sich vor, Sie annoncierten im ›Nju Jork Independent‹: ›Boy sucht Boy zum Silber putzen‹ – was dächten Sie denn, was dann passierte. Halb New York bewürbe sich um die Stelle und noch Monate später kämen die Kutschen aus San Franzisco von den Indianern gebeutelt am Times Square an und fragten nach Ihnen. Wollten Sie die alle abweisen? Wie wollten Sie das machen? Die den Weg von Kalifornien überlebt hätten, fingen bei Ihrem ersten Wort, Eure Hochlaucht, an zu ballern, ob sie Indianer sind oder nicht. Nachgucken tun die erst, wenn Sie erledigt sind.«

»Bestehjev«, wiederholte Boy zögernd und gab klein bei. So weit hatte er nicht gedacht.

»Und wenn wir schon mal dabei sind – wem wollen Sie denn Ihr Eigentum vererben? – dem Staat etwa? Dann lasse ich Sie einsperren. Bei unserem Einkommen zahlt man noch nicht mal Steuern. Keinen Cent dem Government! Ist hier die Grundregel im Geldverkehr. Wenn Sie mit Ihrem Besitz und Ihrem Einkommen aus Versehen Steuern zahlten, dann denkt das Finanzamt zu recht, mit Ihnen sei etwas nicht in Ordnung, und fordert alles nach, auch die Vergnügungssteuer, die Sie bei Ihrem hohen Geschlecht und Ihren Neigungen auch nicht abdrücken sollten. Oder? Sehen Sie. Nein, nein, nein. Ihr Name sei Bestehjev und Sie leben aus der Mülltonne, zweiundfünfzigste Straße, Ecke Broadway. Wo Sie hingehen, nachdem die Polizei Sie gefilmt hat, interessiert keinen, aber an die Regeln müssen Sie sich halten. Hummer essen, zehn echte boys abschleppen in Ihr zweiundzwanzig-Bett-Ruhm-Appartment am Hydepark, alles drin, aber …«

»… Central Park.«

»Was?«

»Das ist der Central Park, Sir.«

»Sehen Sie, Sie machen mich ganz nervös … Also wer soll jetzt erben? Sie brauchen einen Erben. Staat geht nicht, bei denen beantragen sie nur Sozialhilfe und Kindergeld. Aber nun, woher Kinder nehmen? Männer wollen keine Kinder und die unbefleckte Empfängnis hat es bisher nur einmal gegeben. Ich empfehle eine Sqaw. Ich kenne eine, die hat schon wieder ein Baby, einen hübschen blonden Jungen, zwei Monate alt. Der ist von einem Army Officer, ich meine sogar einem Deutschen aus Hessen. Kennen Sie Hessen?«

»Natürlich kenne ich Hessen, aber mein Vater war es nicht.«

»Woher wissen Sie das? Die Touristen fliegen auf Squaws. Noch zwei Generationen so weiter und die Indianer sind alle blond, blauäugig und fahren BMW, wenn der Alte gut zahlt.«

»Mein Vater reitet einen Hengst aus dem Gestüt Hadschi ben Jussuv.«

»Um so besser, dann kann er es nicht gewesen sein, denn sie meinte, er sei aus einem BMW gestiegen und sie wäre ausgerutscht und auf die Rückbank gefallen.«

Boy begann an der Echtheit des Notars zu zweifeln.

»Den BMW erfinden unsere Leute erst in dreihundert Jahren.«

»In dreihundert Jahren, wenn Sie da heute Ihr Geld in einen soliden Erben anlegen, können sie in dreihundert Jahren die halbe Welt kaufen. Also lass mal sehen …«

Er blätterte in seinen Unterlagen. »… nein, nur den einen, die Übrigen sind alle andersfarbig oder haben rote Haare.«

»Und was mache ich mit einem Kind?«

»Lieben, Vaterliebe! Erziehen, groß und stark und schön werden lassen. Das können Sie, das sieht man Ihnen an, da habe ich keine Sorge, also im Hydepark spazieren gehen« (Boy gab es auf) »viel frische Luft. Ziehen Sie Ihrer Reinigungskraft ein schönes Sommerkleid an. Dann denken alle, Sie seien die glücklichste Familie der Welt. Wir stehen hier auf Familie.«

»Ich stehe auf Jungs und Männer und nichts anderes.«