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Karin Peschka

Putzt euch, tanzt, lacht

Roman

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Die Drucklegung dieses Buches

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www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1274-0

© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Für
Christoph und Elisabeth

Inhalt

PROLOG

In der Ferne suchen

ERNST

Pinzgau

Hütte

SCHUTZHAUS ZUR ACCURSIA

Großer Sprung nach vor

Exkurs: Was Marek liebt

Monsieur Nuit

Sturmzeug, schräge Wiese

Flucht

TIPPI

Sprung zurück: Ottomane, Drachenbaum

Graues Fräulein

So gut es geht: die ganze Geschichte

U-Bahn und Kaffeehaus

Ich erzähle, aber eigentlich bin ich schon unterwegs

Fast ein Tod in Venedig

Tixo, Kürbis, schwarzer Hund

Frau Irmgard Rainer

Zitterwinken und Hühnersuppe

Flugzeug nach Bukarest

Sommermorgenröte

Flüsterkapitel

VELTEN

Pagare in contanti

Was Velten hasst

Sex

Paar?

Noch einmal: Velten

Ritterschritt, weit ins Rund

ELKE UND JULIUS
OHNEZWEIFEL

Brief eins

Brief zwei

Brief drei

MAREK

Fuchszahn, Vogel, Eichhörnchen

C’est la Angst

Glühpunkt, Arbeitsjacke

Fördermittel, Ansichtskarten

Über Marek, über Julius

Was wir wollen

Mimosen, Hummeln, Licht

Fünf Sätze und mehr

BERLIN

Zadar Family & Friends

Merlusine

Gewitter

ACCURSIA E.V.

The end, my friend

Parez-vous, dansez, riez.

EPILOG

Ein Buch, ein Tuch (Kleinigkeiten)

Dank

PROLOG

In der Ferne suchen

So hatte etwas Neues begonnen: Ich war nicht zur Therapie erschienen, zum vereinbarten Erstgespräch. Ich war einfach weitergefahren, hatte mich – im Wortsinn – unbemerkt von und aus meiner Familie entfernt. Sieben Jahre vor dem Ruhestand, ein siebenundfünfzigjähriges, ein altes Mädchen in einem alten Auto. Das Bernhard gut gepflegt hatte, mit Lackstiften die Rostschäden überdeckt, sich um den jährlichen Service gekümmert, den Ölwechsel.

Als ich damals auf der A1 Richtung Westen Ausfahrt für Ausfahrt ignorierte und damit jede Möglichkeit zur Umkehr, zum Abtun der Idee als idiotisch, ein dummer Ausrutscher, was hatte ich mir dabei nur gedacht. Stellte ich mir zur rechten Zeit vor, wie mein Mann an diesem feuchtkalten Tag nach Hause kam. Wie jeden Tag würde er seinen Autoschlüssel auf die Ablage im Vorzimmer legen. Die Schuhe hatte er bereits draußen ausgezogen, auf dem raufaserigen Abstreifer, um keinen Schmutz hereinzutragen. Um in Socken das Haus zu betreten, die Schuhe in der Hand, auf das Zeitungspapier würde er sie stellen, links, seine standen immer links. Es war frisches Zeitungspapier, vorbereitet von ihm (aufgefaltet, hingelegt) am Morgen, bevor er in die Arbeit gefahren war, die er noch siebeneinhalb Jahre zu ertragen hätte, so seine wiederkehrende Rede.

Denn gab es Regen, Schnee, Hagel, bereits fallend oder angekündigt, war die Einfahrt sandig wegen der Baustelle (was sie war, als ich dem Heim nicht mehr traute und ihm den Rücken kehrte, der Mann beschwerte sich damals oft, die Bauarbeiter würden keine Ordnung halten, zudem Material verschwenden), legte er am Morgen eine neue Doppelseite Zeitungspapier vor den Schuhschrank im Vorzimmer. Und warf die alte, beschmutzte Doppelseite auf dem Weg zu seinem Auto in die Papiertonne. Zuvor schüttelte er Erdbrocken und anderen Dreck in die Mülltonne, die daneben stand. Wahrscheinlich, ich nehme es an, tut er das alles immer noch: Mein Mann (der frühere, alte), liebte keine Veränderungen, und ich weiß genau, dass es bis heute so ist.

Als ich an jenem Abend nicht nach Hause kam, hatte er sich sein Essen selbst gemacht, hatte in der Küche gegessen, das Geschirr in die Abwasch gestellt und war gleich zu Bett gegangen. Das war vor etwas mehr als zwei Jahren gewesen, wir unterhalten uns gerade darüber.

Wir haben uns getroffen, um über uns zu sprechen, darüber, was passiert ist (mea culpa?). Wir sitzen in einer Pizzeria in der Nähe des Betriebes, in dem Bernhard seiner Pensionierung entgegenarbeitet. Es ist später Nachmittag, dunkel, weil Dezember, aber trocken, ich denke an die Zeitung. Als er mich nach dem Auto fragt, möchte ich ihm erzählen, es sei ohne seine Fürsorge einfach auseinandergefallen, in alle Einzelteile zerbrochen. Stattdessen bringe ich das Gespräch wieder zurück auf den Tag meiner – nun, was war es? Meiner Flucht?

„So früh bist du ins Bett gegangen?“

„Ich hatte Kopfschmerzen, das habe ich dir schon erzählt.“

„Und ich nicht daheim.“

„Ich hab gehofft, wenn ich was esse.“

„Was hast du gegessen?“

„Ein Butterbrot mit Honig, dazu schwarzen Tee.“

„Das klingt nach Frühstück.“

„Stimmt. Aber manchmal hilft der Tee und etwas im Magen zu haben.“

„Hat nicht geholfen.“

„Nein. Ist schlimmer geworden.“

„Und ich nicht daheim.“

„Ja.“

Er hatte ein starkes Schmerzmittel genommen, sich die Zähne geputzt, die Jalousien spaltdicht heruntergelassen, er, der Lichtempfindliche, und sich ins Bett gelegt, sein Tablet auf Nachtmodus gestellt, eine Radiosendung über

„Worüber?“

„Das weiß ich noch genau: Die lange Reise unserer Zugvögel.“

„Ausgerechnet.“

„Ausgerechnet.“

angehört, und war im schwachen Schein des abgedunkelten Tablets eingeschlafen.

„Einmal dachte ich, die Tür geht.“

„Dass ich heimgekommen bin?“

„Ja. Mir ist eingefallen, ich hätte einen Zettel schreiben sollen, von wegen, lieg schon im Bett.“

„Hast du nicht?“

„Nein. Aber du hättest meine Schuhe bemerkt.“

„Klar.“

„Und vorher das Auto.“

„Hast du es nicht in die Garage gestellt?“

„Ging nicht. Die Mischmaschine stand davor, und noch was, ich glaube, Paletten mit Ziegeln.“

„Stimmt, die sind geliefert worden. Ich hab vergessen aufzupassen, tut mir leid.“

„Schon gut.“

Am Morgen nach dieser Nacht war ihm das Kopfweh hinter die Augen geschlüpft, hatte eine leise Müdigkeit zurückgelassen, ein Lauern, jederzeit bereit, erneut heftig aufzupochen. Er war im Bett geblieben, im abgedunkelten Zimmer, schlief wieder ein. Was verschwunden war und trotzdem nicht fehlte, blieb ich. Nein. Umgekehrt: Was verschwunden blieb, war ich. War die Frau.

„Ich hätte dir einen Zettel schreiben sollen: Bitte sei leise, mir geht es nicht gut.“

„Oder: Bitte sieh nach mir, es geht mir nicht gut.“

„Mir war sehr übel. Hätte sein können, ich muss mich übergeben und erstick dran.“

„Aber du bist nicht erstickt.“

„Wenn ich bemerkt hätte, dass du nicht nach Hause gekommen bist, wäre ich vor Angst gestorben.“

„Du übertreibst. Du hättest mich angerufen, mein Telefon war immer auf Empfang.“

„Ich hätte mir zumindest große Sorgen gemacht, die Kinder auch.“

Unsere Kinder waren keine Kinder mehr, als ich das Erstgespräch beim Therapeuten versäumte, als ich am Gesundheitszentrum vorbeifuhr, nicht in dessen Parkplatz eingebogen war, als ich das Autofenster auf der Fahrerseite erst einen Spalt öffnete, dann ganz, dann auch das auf der Beifahrerseite, dann alle Knöpfe gedrückt hielt, bis vier Fenster geöffnet waren und ich schneller wurde, immer schneller, bis ich auf die Autobahn auffuhr, mich in die Rasenden einordnete, einem massigen LKW vor die Kühlerhaube schnitt, im Herbstdunkel sich grelles Scheinwerferlicht in die Autoinnenkälte blinkte und das Gehupe mir ins Ohr, die Finger ganz steif, das Gesicht eishart, trotz Mantelkapuze, trotz Schal.

Unsere Kinder waren da schon längst erwachsen gewesen.

Friedl, unser Sohn, hat seine Masterarbeit abgeschlossen und lebt mit seiner Familie in Bregenz, mit einem Fuß in der Schweiz, sagt er. Manchmal schreibt er mir. (Hallo Mutter, das Baby kommt bald, falls du es kennenlernen möchtest. Deine anderen Enkel scheinen dich nicht mehr zu interessieren. Komm nicht unangemeldet. F.)

Ines, unsere Tochter, mein früh verheiratetes Ebenbild, war ein Wir geworden aus freien Stücken. Zuerst bei den Schwiegereltern im Kinderzimmer ihres Mannes. Später auf zweiunddreißig Quadratmetern im Nachbarort, Wohnküche, Schlafzimmer, Bad. Schwor auf Verzicht, auf Minimalismus, auf Tiny Housing. Verachtete bei jedem Besuch alles, auch das früher Geliebte. Die Glasvitrine mit der gesammelten Keramik. (So viel Geschirr. Wann brauchst du das? Wann kochst du für mehr als zehn Leute?) Das große Bad mit Badewanne und begehbarer Dusche. (Stromverschwendung, Wasserverschwendung, Verschwendung von Lebensraum.) Die Bücherwand. (E-Books, Mama, E-Books! Was ist dir wichtiger? Wald oder Papier?) Und so weiter.

Der Sand in der Einfahrt war die Schuld unserer Tochter gewesen. Nicht des Schwiegersohns, der wäre in der kleinen Wohnung geblieben, drei Kilometer Wegdistanz zwischen ihnen und uns. Alles, was ihm fehlte, war ein Garten. Die Idee der Tochter: ihm ein Hochbeet schenken. (Ihr habt doch Platz. Und wir teilen.)

Aus dem Hochbeet war ein Rohbau geworden, aus dem Tiny Housing, aus der Idee der Reduktion, Sand in der Einfahrt und eine Mischmaschine vor der Garage, aus drei Kilometern Entfernung fünf Meter Nähe. Als ich das Gesundheitszentrum rechts liegen ließ, war das Hochbeet hinter dem Dixi-Klo für die Bauarbeiter längst verkümmert.

Ich frage Bernhard – weniger als fünfeinhalb Jahre hat er noch bis zum Ruhestand – nach dem Rohbau.

Denn zwei Monate, bevor ich unterkühlt einem LKW-Fahrer fast unter die Räder schlüpfte (das Gehupe und Geblinke riss mich aus der Starre, ich schloss die Fenster, beruhigte mich), zwei Monate davor hatten unsere Tochter und unser Schwiegersohn die Trennung erwogen.

„Ein hübsches Haus ist daraus geworden, so, wie sie es wollten.“

„Und sie haben sich nicht getrennt.“

„Sie streiten selten.“

„Selten?“

„Nur mit mir.“

„Wieso?“

„Zuerst haben sie sich einen Hund gekauft.“

„Du magst keine Hunde.“

„Genau. Aber ich hab mich an ihn gewöhnt.“

„Und dann?“

„Sie bringen ihn zu mir, wenn sie wegfahren.“

„Und dann?“

„Sie möchten anbauen.“

„Wieso?“

„Unsere Tochter will sich ein Atelier einrichten.“

„Wofür?“

„Kunst.“

„Kunst? Sie?“

„Ja. Sie sagt, sie hat zu wenig Platz. Will sich entfalten.“

„Entfalten?“

„Genau.“

Ich war also am Gesundheitszentrum vorbeigefahren. Hatte gefroren, war gerast, wäre beinahe mit einem LKW kollidiert, war aber nicht stehen geblieben. Erst nach Salzburg, die Tankanzeige knapp vor Null. Tankte, parkte das Auto, setzte mich in die Raststätte, dachte nach. Saß, drehte mein altes Telefon auf der glatten Tischfläche, sah den vorüberziehenden Scheinwerferketten zu. Das hatte etwas Weihnachtliches. Geh zurück, fahr weiter. Fahr heim, geh fort. Lasst mich in Ruh, lass sie in Ruh.

Ein Fremder sprach mich an. Als ich mich zu ihm umdrehte, blickte er mir ins Gesicht, entschuldigte sich und verschwand. Eine Frau legte eine Packung Papiertaschentücher neben mein Telefon, tätschelte mir die Schulter und verschwand. Ein altes Paar (es zwitscherte am Nebentisch wie Spatzen im Strauch) fragte, ob ich Hilfe brauche. Sie: weiße Dauerwelle. Er: ein schönes, glattrasiertes Greisengesicht. Ich dankte, verneinte, sie verschwanden.

Ich dachte an die Almhütte. Warum? Die rot-weiß-rote Verpackung der Taschentücher. Eine Sonderedition, stilisiert auf Tracht und Brettljause. Als ich sie in der Hand hielt, fiel mir der Pinzgau ein. Fiel mir ein, ich könnte hinfahren. Gleich. Einfach hinfahren, von hier nach dort. Alles Weitere würde sich ergeben.

Ich hatte an diesem Tag den Therapietermin verpasst, hatte es verabsäumt, nach Hause zurückzukehren, mein Auto auf seinen sandigen Platz zu stellen, das Küchenlicht

„Jetzt fällt es mir wieder ein: Du hast vergessen, das Licht in der Küche abzudrehen.“

„Stimmt.“

„Im ersten Moment hab ich mich geärgert und geglaubt, du bist nicht zur Therapie gefahren.“

„Aber mein Auto war nicht da.“

Mein Auto war nicht da gewesen. Als mein Mann mit Kopfschmerzen nach Hause kam, die Schuhe auszog und sie auf das frische Zeitungspapier stellte, war ich wahrscheinlich schon in Salzburg, hielt die Taschentücher in der Hand.

Ich kaufte im überteuerten Raststätten-Shop Lebensmittel ein und fuhr weiter. Vorrat für die Hütte, in der ich seit Jahren nicht mehr gewesen war, seit Ines und Friedl nicht mehr hinfahren wollten. Allein oder mit Bernhard? Nie. Anders als meine beiden Geschwister. Silvesterpartys, Sommertage, Wanderurlaub auf der Alm. War romantisch gewesen oder lustig, aber auch sie sind älter geworden, auch sie mögen den Verzicht nicht mehr, denn dort wird nichts geboten. Kein Warmwasser, gar kein Wasser drinnen, keine Zentralheizung. Dafür das herzförmige Loch in der Klotür, dafür ein kleiner Stadl. Dafür ein niedriges Obergeschoss und ein Balkon, der knarrte und schief war und Mut erforderte.

„Und du bist in den Pinzgau gefahren.“

„Ja.“

„Während ich dachte, du schläfst im Gästezimmer.“

„Verrückt, oder?“

„Ich hab’s nicht verstanden.“

„Und jetzt?“

„Was?“

„Verstehst du’s jetzt?“

„Verstehst du’s denn selbst, Fanni? Warum du weg bist?“

Ich erinnerte mich, als ich das Auto südwärts lenkte in dieser beginnenden Nacht, dass sich der kleine Balkon auf der hinteren Seite der Hütte befand, nahe am Hang. Er berührte fast die steile Wiese. Mit einem Sprung von einem knappen Meter war man hier oder dort. Vorausgesetzt, man sprang von einer bestimmten Stelle beherzt weg. Kletterte aufs breite Geländer und holte Schwung. Krallte sich dann in das kurze Gras, oder in eine Distel, was meinem Bruder passiert war, er nahm es wie ein Held, ein nicht weinender Indianer. Hätte er geweint, wäre die Schuld bei mir gelegen, der Aufsicht.

Nie bin ich gesprungen. Immer habe ich nur aufgepasst. Die Hütte ist kein Teil meiner frühen Kindheit, der erste Familienurlaub auf der Alm fand statt, als ich schon sechzehn war, die Geschwister aber noch verspielte Kinder, sie sind um einiges jünger als ich.

Die Bilder zogen an mir vorbei, im Rhythmus der Neonleuchten an den Tunneldecken. Ich sah uns am Hang hinter der Hütte, auf den muffigen Matratzen im ersten Stock, in der Stube, deren winzige Fenster keine Einladung für das Tageslicht waren. Sah die staubigen Sonnenstrahlen dennoch bis zum Holztisch greifen, denn das taten sie manchmal an späten Sommernachmittagen.

Ich sah in diesem flackernden Reigen auch den Tisch im geräumigen Rieder Elternhaus, ich ein Teenager in der Stadt meiner Geburt, alle Wände gewinkelt nach Norm und Form, die Statik ohne Zweifel, nichts dem Zerfall überlassend. Der Vater in dieser Ordnung mit einem großen, unförmig dicken Fotoalbum, Seidenpapier knisterte. Eine Totenparte daneben, ein aufgerissener Brief mit schwarzem Trauerrand, an diesem fernen Tag meiner Jugend mit der Post gekommen.

Sein Onkel Alois war verschieden, hatte ihn, den Vater, als Erben eingesetzt, da selbst kinderlos. Ein Zweig der väterlichen Familie war somit ausgestorben und der Laitn-Bauer-Hof im Pinzgau in unseren Besitz übergegangen. Die Mutter hatte in die Hände geklatscht (Urlaub im Pinzgau!) und uns das Bild des Toten gezeigt.

Der Vater musste nicht einmal zur Beerdigung fahren, sie war vom Verstorbenen vor Jahren vorbereitet worden, ein Sparbuch zur Kostendeckung angelegt, ein Sarg ausgesucht, die Messe bezahlt, sogar das Totenbeten am Vorabend, mit Wunschpsalm und Angabe jener Lieder, die der Verstorbene hören wollte beim Aufstieg an die Himmelstür. Eine Bedingung hatte der Alte zur Voraussetzung gemacht, um das Erbe antreten zu dürfen: Man pflege sein Grab, man stelle sich einmal jährlich anlässlich der Totensegnung an Allerheiligen davor, man schmücke es zu diesem Anlass mit weißen Erika und senke den Kopf, wenn der Priester die Segnung spricht.

Ein kleiner Friedhof rund um ein Kirchlein, das auf einem Hügel hockt. Alles passte. Ende Oktober, ein paar Tage bis Allerheiligen und Allerseelen, die Geister flogen übers Land, und ich – älter als mein Vater bei Erbantritt – fuhr dem Grab des Erbonkels entgegen. Der Verkehr wurde spärlicher, der Himmel zeigte sein tiefes Dunkel und die Berge standen im Anthrazit davor. So, dass ich mich ducken musste in meinem Auto nach Kinderart, wo das Größere einen ins Kleinere zwingt, ins Kopfeinziehen und ins Schweigen.

Ausgerechnet bei jener Fahrt fiel mir der Trauerspruch wieder ein. Unter dem Bild dieses sehr, sehr alten Mannes, der fremd vorbei an der Kamera gesehen hatte beim Fotografiertwerden, der offensichtlich schon nicht mehr wusste zum Zeitpunkt der Aufnahme, wo er war und wer er war, der (so sagte es die Adresse) im Pflegewohnheim zur Guten Tochter seine vorletzte Ruhe fand. Der Spruch fiel mir zu und sagte und hieß

Haltet mich nicht auf,

denn Gott hat Gnade zu meiner Reise gegeben.

(Mose 24,56)

(Was war mit meiner Reise, wer gab mir Gnade?)

ERNST

Pinzgau

Ernst auf Ernst

Was macht der Ernst?

Ein finsters G’sicht,

wer lacht oder spricht

kriegt eine Watschen

ob er will oder nicht!

Summe ich in meinem Auto zwischen dem Anthrazit der mondbeschienenen Berge, kleinmächtig, wie ich bin. Habe gerade Mann und Tochter und Rohbau hinter mir gelassen samt sandiger Einfahrt und frisch gefaltetem Zeitungspapier. Will aber, während ich immer wieder nach den Gipfeln sehe (nach den Trennzacken zwischen Land und Weltenall), will aber keineswegs jemandem Böses antun. Keine Angst auslösen, keine Trauer, will das unbedingt vermeiden und nur ankommen, bevor ich anrufen werde daheim.

Möchte gut überlegen, wie ich was wem erklären kann, ob ich die Tochter vor dem Vater anrufen soll, sie bitten, nach ihm zu sehen, ihm beizustehen. Ich könnte Bernhard sagen: Ich brauche ein paar Tage, ich bin bald zurück, sieh es als Teil der Therapie.

Ich könnte mich (die Uhr sagt nein) in der Firma melden, Bescheid geben, ich wäre krank, ich wäre verrückt. Was nicht nötig ist, weil ich vorsorglich für die nächsten zwei Tage Urlaub genommen habe. Wer weiß, was die Therapie ausgelöst hätte, wenn schon der Versuch allein (die unpersönliche Konsultation) mich von der Familie entfremdet.

Biegen Sie rechts ab, sage ich mir. Folgen Sie dem Straßenverlauf die nächsten zwölf Kilometer. Dann befinden Sie sich noch immer nicht am Ziel. Aber an einem Ziel, dem ehemaligen Hof des Onkels, dessen Verpachtung letztlich in einen Verkauf mündete. Gutes Geld, meinte der Vater damals, sehr gutes Geld zum Schuldentilgen (die Renovierung des Stadthauses, Altbausanierung, das Übliche), zum Finanzieren der Ausbildung der Kinder (jener der Geschwister, meine war so gut wie abgeschlossen gewesen). Einzig die Alm war immer in Verpachtung geblieben, da Grundbesitz zur Absicherung in diesen unsicheren Zeiten als klug angesehen wurde und wird. Basta und Schnitt.

Schnitt herüber aus der Jugend in die Gegenwart des Tages, an dem ich mein Auto vor dem Hof parke, den Ernst uns abgekauft hatte als blutjunger Mann. Abbezahlt mit dem Kredit, den er sein halbes Leben lang bediente wegen des Wunsches, Bauer zu sein im Heimattal. Verliebt, verlobt, verheiratet, zwei Kinder, die Frau war ihm nicht davongelaufen, aber man hatte sich scheiden lassen und im Guten getrennt.

Ernst ist im Stall, als ich ankomme, gabelt dort den Kühen das Futter vor die sich senkenden Köpfe, ein großer, kräftiger Mann mit breiten Händen und Gummistiefeln. Er pfeift oder spricht mit den Tieren, die ihn anschnauben und ihre feuchten Mäuler ins Heu stecken. Für Grünfutter sei es zu spät im Jahr, wird er mir erklären. Nur an schönen Tagen können die Kühe noch auf die Weide hinterm Haus, sobald der Raureif weg sei, was man unbedingt abwarten müsse. Aber als ich in der offenen Stalltür stehe, vor mir der freundliche Mischlingshund, der mich wedelnd und ohne zu bellen begrüßt, ist Ernst in seine Arbeit vertieft, ich kann ihn beobachten. Wie er sich auf die Mistgabel stützt, einer Kuh Dreck von den Flanken klopft, sich streckt, die Kappe tiefer ins Gesicht zieht.

„Ernst auf Ernst, was macht der Ernst?“

Sage ich zur Begrüßung. Er dreht sich um und lächelt. „Kein finsteres Gesicht“, antwortet er. Wir haben uns ewig nicht gesehen und freuen uns. Immer noch ist es schön, neben Ernst zu stehen und ihm bei der Stallarbeit zuzusehen. Schade, dass er keine kleinen Kälber zum Füttern hat. Den Kübel mit dem Milchersatz muss man fest halten, so kräftig stoßen sie zu, so ungeduldig, eine Mutprobe für die Kinder, auch für meine.

Die vielen Tage hier, in den ersten Jahren nach Antritt der Erbschaft, der Hof noch nicht verkauft, nur verpachtet, an den Mienberg-Bauern, Ernsts Vater. Der – Teil des Pachtvertrags – den Verpächtern in den Ferien das Ausgedinge überließ. Semester, Ostern, Pfingsten, Sommer, Weihnacht. Alles, was Familien gemeinsam verbringen können, verbrachten wir im Pinzgau, weil schön und günstig.

Sechzehn, siebzehn, achtzehn. Ich war so gut wie erwachsen gewesen und urlaubte mit den Eltern, um auf Hans und Lisa aufzupassen, auf die kleinen Geschwister. Log ich den Freundinnen vor. Die es nach Griechenland, Kroatien, Südfrankreich gezogen hatte. Ich fuhr in den Pinzgau, damit Vater und Mutter ihre Ruhe und Erholung hätten. Damit sie auf den Bergtouren, die beide gerne unternahmen, die Quälgeister vom Hals hätten. Sagte ich.

„Hast du keinen Freund?“, fragte Ernst mich eines Tages, er Anfang zwanzig, ich – in ihn verliebt seit Anbeginn, seit dem ersten Kennenlernen – schüttelte den Kopf. Ein Tag im August vor mehreren Jahrzehnten. Nie hatte ich die Kälber gefüttert, nur zugesehen, wie andere es taten.

Familiengründung und -zerfall. Dieser Ernst hier, nun sechzig, führt mich ins Haus. Ob ich einen Kaffee wolle, oder etwas zu essen, ob ich es eilig hätte, ob ich. Er müsse duschen, er fände es wirklich großartig, wenn ich warten würde. Die Stiefel hat er ausgezogen und vor der Haustür stehen gelassen. Denn manches ändert sich nicht. Es gibt einen Raum mit eigenem Eingang, eine alte Waschküche, für das Stallzeug, für das Arbeitsgewand, für die dreckigen Schuhe, von dort kommt man verwandelt durch eine weitere Tür in den Wohnbereich.

Die Waschküche ist weiß gefliest, rundum ein schmaler Saum kleinerer schwarzer Fliesen knapp unter der Decke, in deren Mitte ein verstaubtes Stalllicht. Eine schmale Trennwand mit Haken für Gewand und Handtücher, dahinter die Dusche ohne Vorhang, der Abfluss ein Gitter, und ein Schlauch griffbereit neben dem blechernen, riesigen Waschbecken. Damit kann man den Dreck von den Stiefeln spritzen. Kernseife. Eine Drahtbürste. Graue Sprünge in den Fliesen. Zwei Fenster hoch oben, dickes, undurchsichtiges Glas, auf dem Fenstersims (ich muss auf den Schemel steigen, um sie zu greifen) eine Dose mit Ringelblumensalbe.

Eine Schleuse. „Gehst rein als Bauer, kommst raus als Mensch“, hatte Ernst damals oft gesagt, kräftig und voll guter Dinge für seine Zukunft. Selten hatte ich ihn den anderen, offiziellen Hauseingang benutzen sehen. Eine schöne schwere Tür aus dunklem Holz, kein Kitsch, keine seltsamen Einsätze aus buntem Glas. Die Tür zur Waschküche, zur Schleuse, ist aus grün lackiertem Metall, nachlackiert jedes zweite Frühjahr. Einmal von mir, Osterferien, siebzehn, mein letztes Jahr an der Handelsschule.

„Gehst rein als Jungfrau, kommst raus als…“ (Sang der ältere Mienberg-Bauernsohn und grinste mich an.)

„Still bist.“ (Fuhr ihm Ernst, der jüngere Bruder, übers Maul.)

Ist nicht viel geschehen damals, nur das Verliebtsein, das geflackert hat von meinem sechzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr, und dann gab es einen Kuss und ein Aufflammen, ein paar Wochen, ein paar Pläne und Verwerfungen, ein Erlöschen, einen Abschied und es war vorbei.

Die Wohnung sieht anders aus, vor allem wir sehen anders aus. Siebenundfünfzig bin ich, Ernst ist sechzig, die Jahre sind uns eingeschrieben in alle Zellen.

Ich warte in der Küche, während er sich duscht, und greife, als er zurückkommt, nach seinen Händen. Sie sind mit einem dünnen, etwas klebrigen Film überzogen, ich sehe ihm nah ins Gesicht: Wie früher hat Ernst sich nach dem Duschen, nach dem Tagwerk, Hände und Wangen eingecremt, wie früher riecht er nach einer Mischung aus Kernseife und Ringelblume. Und dass es so ist, ist die Bestätigung, die ich an diesem Tag brauche, die Rechtfertigung für den Entschluss, nicht zu halten, sondern weiterzufahren. Wie und warum, kann ich nicht sagen.

Nach Mitternacht wird mir einfallen, dass ich weder Mann noch Tochter angerufen habe, wobei die Tochter erst im Lauf des kommenden Tages sich Sorgen machen wird. Sie hat sich angekündigt, um auf der Baustelle „nach dem Rechten zu sehen“. Als Bauherrin, die sie ist. Ein Amt, das sich Ines teilen soll mit ihrem Mann, was sie nicht gerne tut. Meine Tochter hält die Zügel straff. Und liest die richtigen Bücher. Mit Plan und Ziel zum smarten Traumhaus. So baut man im 21. Jahrhundert. Pfusch vermeiden, glücklich bleiben.

„Das reimt sich nicht wirklich“, sagt Ernst, als ich ihm in seiner Küche die Titel jener Bücher aufzähle, mit deren Hilfe meine Tochter den perfekten, makellosen Neubau erzwingen will. „Und was sich nicht reimt, ist schlecht“, antworte ich, und wir lachen, wobei ich vergesse, darüber nachzudenken, ob ich dazu berechtigt bin angesichts der Schuld, die ich im Begriff bin, mir aufzuladen. (Die biblische Schuld, das bösliche Verlassen des Ehebundes.)

Wir lachen auch über die Listen, die sie mir einmal wöchentlich vorlegt, denn sie könne nun wirklich nicht jeden Tag alles im Blick behalten, und du, Mama, arbeitest doch nur Teilzeit, wenn du heimkommst oder bevor du in die Arbeit fährst, je nach Dienstbeginn, wäre es ein Leichtes, mit den Listen kurz einen Sprung auf die Baustelle zu machen. Für manches musst du nicht einmal wirklich hingehen, ein Blick genügt, und du siehst, ob ja oder nein, wenn nein, sag den Arbeitern – und nimm dafür einen bestimmten Ton an –, sie sollen das zeitgerecht erledigen, weil sonst Pönale, weil sonst Beschwerde beim Baumeister, weil sonst Arbeitsgericht und Landesverweis und Exekution.

Ernst holt Vogelbeerschnaps und zwei Gläser, um auf die Todeskandidaten anzustoßen.

Die Tochter bringt regelmäßig ihre Listen vorbei und kontrolliert die Foto-Dokumentation, die ich und mein Mann – Das macht Euch nichts aus, oder? – zu führen haben in unserem Garten, am besten von jedem Arbeitsschritt in drei, vier unterschiedlichen Perspektiven. Abzuspeichern unter diesem und jenem Namen und Ordner auf dem eigens zur Verfügung gestellten und zweckgemäß konfigurierten Notebook, Sicherungsdatei, ab in die Cloud. Auf die habe sie Zugriff, und ihr Mann auch, aber der vertraue auf sie. Voll, Mama, voll vertraut der auf mich.

Wir kontrollieren den Hausbau der Tochter, die uns beim Kontrollieren kontrolliert und zudem einen Ehemann hat, der darauf vertraut, dass sie ihm am Ende die Controller in die Hand drücken wird, ihm die Apps zur Steuerung des Hauses (Heizung, Licht, Garagentor, Kühlschrank, Videoüberwachung) auf seinem Telefon installiert. Er weiß, sie hat alles im Griff, auch uns, ihre Eltern: Vor Kurzem schickte sie an die Familien-Gruppe einen Link, eine Ankündigung, das schlüsselfreie Haus werde nur per Fingerabdruck seine Pforten öffnen, die Fingerabdrücke seien rechtzeitig abzugeben, dazu käme dieser und jener Herr von der Firma Soundso am Soundsovielten vorbei, bitte Termin vormerken. Man könne aber auch, und diese Option sei gut zu überlegen, sich gegen geringen Aufpreis und organisiert von der Firma Soundso einen Mikrochip installieren lassen, falls man nicht ohnehin schon einen hätte, dieser würde entsprechend programmiert. Falls bereits implantiert und in Verwendung, wäre die zusätzliche App selbstredend kostenfrei.

„Natürlich müsst ihr Zugang zu unserem Haus haben“, sagte unsere Tochter, die nicht der Grund für meine Flucht ist, die meiner Mutter sehr ähnlich wird, die mit Anfang dreißig endlich mit großer Sicherheit weiß, was sie möchte.

„Führt ein strenges Regiment, dein Mädel.“ Ernst mit neu vertieften Lachfältchen rund um die Augen. „Oh ja“, sage ich und hebe mein frisch gefülltes Schnapsglas. „Nur mich hat sie nicht mehr im Griff. Ich bin desertiert.“ „Prost“, sagt Ernst, „auf ex.“

Wir sind still geworden. Ernst öffnet ein Fenster und lauscht hinaus. Kühle Nachtluft kriecht mir in den Ausschnitt, ich wickle mir den Schal um den Hals und stelle mich zu Ernst ans offene Fenster. Er dreht sich um und löscht das Licht. „Schau.“ Das Haus auf dem Hügel vor dem Berg. Die Küche talseitig ausgerichtet. Unter uns die Lichter des Dorfes, vor uns im Bergland verteilt ab und zu ein einzelnes, einsames Leuchten. Almen, Berghütten. Über uns der aufgeklarte Himmel, der Mond verschwunden, funkelt und gleißt es.

„Und, was ist nun?“, fragt Ernst in diese Nacht hinaus. „Bist du vor deiner Tochter davongelaufen oder vor deinem Mann?“ Ich schweige. „Und wohin wirst du gehen? Zu deinem Sohn? Wo sagtest du, lebt der?“ „In Bregenz.“ „Ah. In Bregenz. Die Richtung würd passen.“ „Ich weiß nicht“, sage ich.

Wovor laufe ich davon? Vor dem Zeitungspapier im Vorzimmer, vor den wöchentlichen Listen der Tochter, vor dem Sand in der Auffahrt? Vor der Panik, die mich anrührt in immer engeren Abständen?

„Nein“, sage ich.

Wohin will ich, zu meinem Sohn nach Vorarlberg, nach Südfrankreich, nach Uruguay, ans Ende der Welt?

„Ernst, was ist mit der Alm?“

„Sie gehört immer noch deinen Eltern.“

„Und du hast sie in Pacht?“

„Nicht wirklich. Ich schau ab und zu nach, ob sie noch da ist, und manchmal findet sich jemand, der sie nutzen will für einen Sommer.“

„Du schaust nach, ob sie noch da ist?“

„Weglaufen wird sie nicht, aber zuwachsen, verwildern, der Wald ist schon näher bei der Hütte. Das geht schnell.“

Ernst schließt das Fenster und dreht das Licht wieder auf, wir kneifen die Augen zusammen vor der neuen Helligkeit.

Im Winter sei er öfter oben, wegen der Holzarbeit, ein fixer Auftrag meines Vaters. Der, mittlerweile ist er sehr alt, bis vor wenigen Jahren regelmäßig mit meiner Mutter ein paar Tage im Spätsommer oder Frühherbst auf der Alm verbringen wollte, der Gesundheit wegen, in der guten Luft. Dann war es vorgekommen, dass Ernst in der Hütte übernachtet hatte, um alles zu richten, aber Spaß sei das keiner gewesen. Denn einerseits musste ihm sein Sohn, den es als gelernten Koch raus in die Welt zog, das Vieh versorgen. Und dann ging es nicht nur darum, zu lüften, die Möbel abzustauben, Brennholz zu hacken, es zu schlichten und den Generator zu überprüfen.

„Nein?“, frage ich. „Nein“, antwortet Ernst. Wir sitzen nicht mehr am Tisch, sondern im Wohnzimmer. Er auf der Couch, ich ihm gegenüber in einem Ohrensessel, der mit einem fadenscheinigen roten Stoff überzogen ist, rosafarbene Stickereien verzieren ihn, Ranken und Blüten, deren Verlauf ich ohne hinzusehen an den Armlehnen mit den Fingern ertaste. „Von Onkel Alois?“ Ernst nickt.

Nein, es war kein Spaß, im Gegenteil. Die Hütte verfalle zusehends, das Geld, das der Vater für die Instandhaltung zu überweisen bereit war, reiche nicht aus. Zudem seien viele Schweine unterwegs. „Schweine?“ „Ja.“ Obwohl die Alm nicht an einem ausgewiesenen Wanderweg läge, käme es immer öfter zu Vandalismus. „Mit W?“, frage ich. „W?“ „Wie Wandalismus. Unfug, beim Wandern ausgeübt.“ Ein Lächeln. (Ich will zurück ans offene Fenster, ohne mich aus dem Ohrensessel zu bewegen.) Jedes Jahr würde das schlimmer werden, besonders im Winter, in der Silvesternacht. Die Tür aufgebrochen. Fensterscheiben eingeschlagen, Geschirr gestohlen, Möbel zerstört, alle Räume vermüllt, ein Tisch zersägt und verheizt, und, Ernst gähnt: „Einmal haben die sogar reingeschissen. Entschuldige. Aber so war’s.“ Die. Wer? Jugendliche aus der Umgebung? Möglich. Oder Erwachsene, es gäbe genug Deppen. „Männer wie Frauen“, ergänze ich.

„Wissen meine Eltern davon?“

„Deine Eltern sind alt. Die brauch ich damit nicht zu belasten. Falls sie noch mal kommen, wird die Hütte in Ordnung sein.“

„Das ist Hüttenfriedensbruch, sollte man anzeigen, oder?“

„Ja, klar. Und deinen Vater aufregen. Der hat’s doch mit dem Herz.“

„Hast du wenigstens mehr Geld von ihnen verlangt?“

„Nein.“

„Aber.“

„Nein, schau. Ohne deine Eltern wär ich kein Bauer geworden.“

Das stimmt. Ohne die Fürsprache meines Vaters hätte der Mienberg-Bauer dem Kaufvertrag nie zugestimmt. Er wäre der Pächter geblieben, hätte eventuell die Pacht dem Sohn angetragen, nur gleich den Hof zu kaufen, mit Grund und Vieh und Werkzeug, das war eine Idiotie gewesen. Aber soll der Bub doch in sein Unglück rennen, wenn er alles besser weiß. Der Bub wusste nicht alles besser, da irrte der Altbauer. Aber einiges schon. Förderungen, neues Saatgut, er versuchte den Anbau von Senf und Hanf und diesem und jenem. Eine andere Rinderrasse, widerstandsfähig, fester im Fleisch? Zumindest neu für den Markt, etwas Besonderes für übersättigte Konsumenten. Schweine und Enten versorgte die Frau, seine Partnerin in dieser ersten Zeit. Gemeinsam schufen sie sich eine Existenz in der Hinterlassenschaft des Onkels Alois, der sich einen Nachkommen wie den Ernst gewünscht hätte.

„Hast ihn gekannt?“, frage ich. Erinnere mich nicht mehr daran. Hängt ein Bild von ihm an der Wand hinter der Couch, auf der Ernst nicht mehr sitzt, sondern liegt, lang ausgestreckt, die Arme über der Brust verschränkt. Der Schlaf steht ihm in den Augen. „Ihn?“ Das Bild, querformatig und in blassen Farben, zeigt im Vordergrund den sehnigen Mann mit schmalem Gesicht und ausgeprägten Wangenknochen, ein Filzhut, die fröhliche Verschmitzung in der Miene, ein sehr wacher Blick. Im Hintergrund der Hof, in schönster Ordnung, in wohlwollender Pflege. Fällt mir dazu ein.

„Ja“, murmelt Ernst, „hab ich. War als Bub oft … helfen …“ Und weg, eingeschlafen, der Kopf sinkt ihm auf die Brust.

Hütte

Auch ich bin eingeschlafen. Im Ohrensessel, diesem ersten Thron meiner Inauguration, ihm steht eine Karriere bevor, eine Übersiedlung.

Als ich aufwache an jenem neuen Tag, liege ich auf der Couch, voll bekleidet und unter einer warmen Decke, erinnere mich an eine Halbwachsequenz, an ein Flüstern, einen Wechsel, an das Aussperren der Morgendämmerung durch das Zuziehen der Vorhänge und an das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Tür.

Nun ist später Vormittag. Ich greife sofort zum Telefon, um meinen Mann anzurufen. Beim fünften Klingeln:

„Hallo?“

„Ich bin’s, tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“

„Dass ich nicht nach Hause gekommen bin.“

„Bist du nicht?“

„Nein.“

„Um Gottes Willen. Ich hatte Migräne, bin gleich ins Bett.“

Mein Mann ist noch nicht aufgestanden, er liegt im abgedunkelten Schlafzimmer, die Jalousien bis auf den letzten Spalt geschlossen. Das weiß ich, weil immer so in Migräne-Nächten. Gerädert von den überstandenen Schmerzen und den Nachwirkungen des schweren Medikaments, hat er sich nach dem Weckerläuten krankgemeldet, sich umgedreht, weitergeschlafen und sich zudem getäuscht in der Annahme, ich hätte, um ihn nicht zu stören, im Gästezimmer übernachtet. Und sei dann leise aus dem Haus, um zur Arbeit zu fahren. Das übliche Prozedere bei den sich häufenden Anfällen, die den Beginn unserer Ehe geprägt hatten, im Lauf der Jahre verschwunden waren, zurückkamen, seltener wurden und sich, zuletzt, erneut verstärkten.

„Das wusste ich nicht. Oje.“ (Sage ich.)

„Ich dachte… stimmt. Wie auch. Ich habe dir ja keinen Zettel geschrieben.“

Ich hätte, so meint er, wobei seine Stimme stärker und deutlicher wird, denn mit den ersten Worten am Morgen spricht man sich den Schlaf aus dem Leib, ich hätte die Schachtel mit den Medikamenten sehen müssen, er hat sie in der Küche liegen gelassen, das sei Hinweis genug, oder? Dem kann ich nicht widersprechen.

Ein durchaus logisches Szenario: Die Frau kommt am späten Abend heim, sieht sein Auto, seine Schuhe, alles ist dunkel im Erdgeschoss, auch in der Küche brennt kein Licht. Die Küche, der erste Weg einer Frau, wenn sie nach Hause kommt, sagt der Stammtisch, weil sie immer etwas mitbringt, mindestens einen Gelegenheitskauf für den Kühlschrank, Milch, Brot oder Käse.

Ist nicht eine Bäckerei im Erdgeschoss des Gesundheitszentrums, in dem der Therapeut auf mich wartete, eine Bäckerei mit einem Kühlregal für den kleinen Einkauf, den unvernünftigen, weil außerhalb der Zeit getätigt, und diese Zeit hatte der Samstag zu sein? (Verzettelung.) Die Frau geht in die Küche, stellt die Tasche auf den Tisch, obwohl diese Kontakt hatte mit Oberflächen aller Art. (Du stellst deine Schuhe auch nicht auf den Tisch, aber die Tasche auf den Boden, das ist unhygienisch, das macht man doch nicht, also manchmal, wirklich!) Nimmt aus der Tasche den halben Liter Milch, zur Sicherheit gekauft im Kühlregal der Bäckerei, denkt sich, sie hätte Käse mitnehmen können oder drei Stück Plundergebäck, da morgen die Tochter kommt, vielleicht Semmeln für die Bauarbeiterjause. Und sieht auf dem Weg zum Kühlschrank die Packung Migräne-Tabletten, die Tropfen gegen Übelkeit, ein halbleeres Glas Wasser. Benutztes Geschirr – Teller und Becher –, in der Abwasch statt im Geschirrspüler. Und reimt sich den Rest zusammen.

So würde, falls die Frau nach Hause gekommen wäre nach den Vorstellungen des Mannes, dieses Bild weitergehen: Sie leise die Treppe hinauf, das Spiegelschranklicht im Badezimmer aufdrehen, jedes andere löschen, bei halb offener Badezimmertür die Tür des Schlafzimmers öffnen, sehr vorsichtig, prüfen, ob der Mann schläft, ob er atmet, ob er sich nicht übergeben hat, ob er etwas braucht, ob sie etwas für ihn tun kann, abgesehen davon, ihn in Ruhe zu lassen. (Manchmal bist du so grob, immer, wenn ich Migräne habe, hör ich dich durchs Haus trampeln, dabei ist mir, als steige mir jemand auf dem Kopf herum, bitte merk dir das doch endlich, das kann doch nicht so schwer sein.)

Ein Vorteil der auslaufenden Migräne, die im Zurückziehen lauert, was wir beide wissen, mein Mann und ich: Es gibt, um sie nicht erneut zu befeuern, keinen Vorwurf, keinen Streit. „Wir reden noch“, sagt er, die Stimme schwächt sich ab. Er will nur wissen, wo ich bin. „Ah, beim Ernst.“ Das beruhigt ihn, denn der Ernst – er kennt ihn von der fortgesetzten Familientradition, Urlaub auf dem Bauernhof mit den Kindern – der Ernst sei ein feiner Kerl, er erinnere sich gut, ich solle ihn grüßen, wann waren wir das letzte Mal dort, vor fünfzehn, vor zwanzig Jahren?

Zwei Fragen noch, den Rest in Ruhe, er wird sich melden, sobald er fit ist, am frühen Nachmittag wahrscheinlich (ich erwähne die Tochter nicht): „Erstens: Muss ich mir Sorgen machen? Und zweitens: Wann kommst du zurück?“

Ob er sich Sorgen machen muss? Nie fahre ich von daheim weg ohne einen Hinweis, immer ist alles gerichtet und vorbereitet. Drei Tage mit Freundinnen nach Venedig: Der Kühlschrank voll, die Wohnung geputzt. Eine Woche der Mutter helfen, weil der Vater mit Herzschwäche im Krankenhaus liegt: Zettel mit allen Infos. Hier bin ich, dort werde ich sein, dann bin ich wieder da.

Unsere Kinder sind aus dem Haus. Der Sohn hat seinen Master gemacht, eine Familie gegründet und ist ans andere Ende Österreichs gezogen, die Tochter lebt mit ihrem Ehemann nicht mehr in dessen Kinderzimmer (eine Kinderehe, eine Ehe, die halten würde, trotz/wegen/weil Kinderlosigkeit), aber nach wie vor kümmere ich mich um jedes Detail. Kann nicht loslassen, ist nicht mein Ding, loszulassen, habe mich – nach einer großen Krise in meinen Dreißigern – wieder eingefunden im Alltag und seinen Regeln.

Folglich ist die Frage logisch: Sag du mir, ob ich mir um dich Sorgen machen muss.

„Erstens: Nein“, antworte ich. Am Fenster stehend, wie Stunden zuvor. Kein Zauber mehr draußen, nur der oktobergraue Pinzgau mit Bergen, die drohen, und Tälern, die sich verzweigen. Mit einer Puppenkirche auf einem Hügel, das rote Dach glänzt herüber zwischen den Bäumen. Das Bild des Erbonkels an der Wand.

„Zweitens: nach Allerheiligen“, sage ich. Eine Woche Zeit schinden, denn ich ahne schon, dass es ein Heimkommen nicht mehr geben kann. Und nun doch der Ansatz einer Diskussion, der Vorwurf, ich lasse ihn allein mit dem Rohbau der Tochter. Und mit der Arbeit, was mit der Arbeit sei. Sein Seufzen durch das Telefon in mein Ohr, in mein Hirn, in meine Ungeduld hinein. Seine Erkenntnis, jetzt sei ich endgültig verrückt geworden. Sein: „Ok, später, alles später. Ich ruf dich an.“

Das muss im Detail nicht genau erzählt werden. Wer was sagt, wer wie argumentiert. Fakt ist: Ich möchte das Grab des Onkels schmücken, dann mit gesenktem Haupt bei der Totensegnung davor stehen, möchte ein paar Gebete mitleiern, ich will und brauche und schenke mir selbst diese Frist.

Faust auf Faust, was macht die Faust.

Ein kleines Gewicht,

will wissen von dir,

ob du dich traust oder nicht.

Reimt es in mir. Wo kommt sie her, die Vehemenz, oder wär sie eh da gewesen die längste Zeit und ich, ich Kuh, ich Rind, ich dummes Kind, hab’s nicht erkennen wollen, das deutliche Drängen. „Shhh“, mache ich, immer noch am Fenster stehend, die kleine Kirche im Blick, das rote Dach, „shhh, Fanni, shhh. Alles gut, alles gut.“

Atmen soll ich, meinte mein Hausarzt, wenn sich etwas ankündigt, aus dem ein Anfall werden könnte, setzte gestisch den Anfall in Anführungszeichen, atmen. Ein leichtes Schlafmittel verschrieb er mir, rein pflanzlich, natürlich. Bernhards Mutter gab dem Sohn Baldriantropfen für die Schwiegertochter mit, es regnete nach den ersten nervlich bedingten Krankenständen freundliche Ratschläge, es regnete Flugzettel und Notizen und Mails und Qigong und Yoga und Notfalltropfen und Achtsamkeitskurse in der Volkshochschule.

Atmen am Fenster, die Berge, das Tal. Das Glas beschlägt, so nah steh ich davor. Ich zeichne mit dem Finger ein Fragezeichen, ich zeichne daneben ein Rufzeichen. Es bleibt dabei, ich brauche diese Frist.

Auch, rede ich mir ein, um für Ernst die Sache mit der Alm zu klären, eine Bestandsaufnahme zu machen, den Eltern Klarheit abzuverlangen, denen die Reise hierher zu beschwerlich geworden sein wird mit der Herzschwäche des Vaters.

Die Bereinigung meiner Verhältnisse beginnt mit der Restaurierung einer verlassenen, zerfallenden, nicht ordnungsgemäß genutzten Hütte. (Steht da, der Satz. Steht da und fühlt sich richtig an.)