Das Pegasosgen

Alte Himmelsrechte

 

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von Eve Grass

 

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Erste Auflage 2020

© Eve Grass

© Coverbilder: Fotolia vchalup, Juhku, depositphotos AchimHB, PhotosVac, SergeyNivens

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Bilder: Fotolia hywards (DNA), Svetlana Ivanova

(Silhouetten Pferd), jan stopka (Drachenflügel, Drachenflügel Veti), depositphotos DrPAS (Silhouette Velludo), yyanng (Flügel Velludo), PhotosVac (Silhouette Veti)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, D-74594 Kressberg-Mariäkappel

printed in Germany

ISBN: 978-3-946381-81-5

 

»Pegasos ist zurück! Und er wird sich das nehmen, was

wir ihm über Jahrhunderte genommen haben, seinen

Lebensraum!« (Doña Helena-Maria)

 

Werden die fliegenden Pferde ihre alten Himmelsrechte wieder einfordern? Und gab es im Eozän tatsächlich schon das geflügelte Eohippus, von dem die Wissenschaftler bisher nichts ahnen?

 

Die Zeit der Wesen des Himmels und der Sonne, die ihrer Flügel beraubt auf einsamen Höfen oder abgelegenen Inseln lebten, gehört der Vergangenheit an. Velludo, der sich in der Coto de Doñana mit dort lebenden Stuten alter Rassen paarte, erweckte das Pegasosgen wieder zum Leben.

Als beim alljährlichen Stutentrieb in El Rocío ein Fohlen mit Flügeln gesichtet wird, bricht eine Massenpanik unter den Menschen aus und das Drama nimmt seinen Lauf. Die Hüter des Pegasos haben keine Chance mehr, seine Existenz

weiterhin zu verheimlichen.

 

Band 3 der erfolgreichen Roman-Reihe »Das Pegasosgen« von Eve Grass entwickelt nicht nur ein für die Menschheit dystopisches Szenario, sondern gräbt auch sechzig Millionen Jahre alte Versteinerungen aus, die es vielleicht sogar gibt, aber noch nicht entdeckt wurden. Könnte Pegasos also

wirklich irgendwann auferstehen?

 

»Wir Menschen mischen uns seit Jahrhunderten in die Belange der Flora und Fauna ein. Wir betreiben Artenschutz, schützen eine Spezies, ohne darüber nachzudenken, ob wir damit eine andere schädigen.« (Abdai bin Nuhr)

 

Inhalt

 

Prolog

Herbst 2026 auf der Insel Alborán im Mittelmeer

 

Teil 1

Sommer 2016, Matalascañas an der Atlantikküste

Zur selben Zeit in »Centinar de los Reyes« nahe Madrid

Anfang September 2016 in Erlangen

Zur selben Zeit in Gaidovar, Sierra Grazalema

Zur selben Zeit in Erlangen

Oktober 2015, Bayerisch Eisenstein an der Grenze zu Tschechien

September 2016, Erlangen

September 2016, Gaidovar, Sierra Grazalema

Zur selben Zeit in einem Besprechungsraum in Acebuche

Zwei Tage später in Tarifa, Spanien

 

Teil 2

Oktober 2016, »Centinar de los Reyes«

nahe Madrid

26. Juni 2017, El Rocío

Zur selben Zeit in Gaidovar

Zur selben Zeit in El Rocío

Kurz darauf in Erlangen

Anfang August in der Coto de Doñana

Zwei Tage später in Madrid

Ende Oktober 2017, Coto de Doñana

November 2017, Sierra Grazalema

Februar 2018, bei Mijas, Andalusien

Zur selben Zeit in Gaidovar

Zwölf Stunden später in Arlington County, USA

Zur selben Zeit in einem Hotel in Mijas, Andalusien

 

Teil 3

Sommer 2019 in Südspanien

Zur selben Zeit auf dem Flugplatz Villamartin

Eine Woche später in Matalascañas

Herbst 2019 in Südspanien

Winter 2019 in einer Frauenarztpraxis in Wien

Herbst 2026 auf der Insel Alborán

 

Epilog

Spätsommer 2036 in Gaidovar

 

Autorenvorstellung

Danksagung

 

Prolog

 

Herbst 2026 auf der Insel Alborán im Mittelmeer

 

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Düstere Wolken zogen hastig über den Himmel hinweg, als seien sie auf der Flucht vor dem Unwetter, welches im Westen bereits seine Vorboten voraussandte. Eine grauweiße Walze wurde am Horizont sichtbar, und sie näherte sich rasch der kargen Insel zwischen dem spanischen Festland und der Küste Marokkos. Gespenstisch heulte der zunehmende Wind um das heruntergekommene rechteckige Gebäude, welches durch seine Bauweise wie ein Leuchtturm wirkte. Zwei junge Marinesoldaten gestikulierten wild mit ihren Händen in der Luft, um die Dame, die nur eine dünne Strickjacke um ihre bebenden Schultern gelegt hatte, vor dem Wetter zu warnen. »Señora, por favor, entre el edificio, rápido!« Aber die über Sechzigjährige reagierte nicht auf die Aufforderung, das Gebäude zu betreten. Kurz zog sie ihr ausgewaschenes blau-weißes Halstuch fester, als könne sie der Stoff vor der Kühle schützen. Sie kannte den Weg, und ihre Füße fühlten sich an, als seien sie durch eine unsichtbare Kraft ferngesteuert.

Es lag nun dreizehn Jahre zurück, dass sie hier gewesen war. Sie erinnerte sich. Zwischen dem Hubschrauberlandeplatz und den Wirtschaftsgebäuden befand sich ein kleiner Paddock mit einem Wellblechunterstand. Dort hatte sie damals eine alte, verwahrloste Stute entdeckt mit hässlichen, wulstigen Narben an den Schultern. Die Geschichten der blinden Greisin Maria waren beim Anblick der jämmerlichen Kreatur lebendig geworden. Sofort hatte sie erkannt, dass vor ihr ein einst stolzes fliegendes Pferd stand, welches man seiner Flügel beraubt hatte.

Wogen heftiger Emotionen spülten über ihren dürren Körper hinweg, und ein Windstoß entriss ihr die Strickjacke, die wie ein panisch flüchtender Vogel durch die Luft schoss und nach oben getragen wurde. Völlig unbeeindruckt marschierte sie weiter, während ein Seufzen ihrer Kehle entfuhr. Vor dreizehn Jahren hatte ihr Mann Hannes das klapprige Ross gekauft und es auf ihre Finca in die weit entfernte Sierra Grazalema bringen lassen. Die Stute mit dem Namen Rosinante hatte im Folgejahr Zwillingsfohlen geboren, von denen nur eines überlebte. Aber dieses winzige Pferdchen trug Flügel und war zu einem Prachtross herangewachsen.

Ihre Augen blieben trocken, als sie ein Krampf zu schütteln begann. Der Schmerz in ihrer Seele wütete wie ein Höllenfeuer. Ihre Arme schnellten nach oben, und sie presste die Handflächen auf ihre Ohren. Dennoch stahlen sich die Stimmen an ihr Trommelfell. Diesmal redeten sie Deutsch.

»Rike, verdammt noch mal, du holst dir den Tod. Komm doch ins Gebäude und warte das Unwetter erst einmal ab.«

Das Pärchen, welches sie begleitet hatte, stand unschlüssig bei den Marinesoldaten. Die Schwarzhaarige schmiegte sich frierend an ihren Begleiter, dessen indianisch anmutender Zopf im Wind tanzte. Beide beobachteten mit betroffenen Gesichtszügen die Frau, welche momentan wie eine Achtzigjährige wirkte.

Rike beschleunigte die Schritte, während heftige Böen an ihrer Jeans und dem viel zu sommerlichen T-Shirt zerrten. Der ehemalige Marineoffizier Javier Capillo, der ihrem Mann die alte Stute damals verkauft hatte, genoss inzwischen seine wohlverdiente Pension. Dennoch hatte er ihr die Überfahrt auf die karge Insel ermöglicht, wenn er auch der Meinung gewesen war, der Weg zu diesem gottverlassenen Stück Felsen mitten im Meer würde sich für Rike nicht lohnen. Die spanische Marine, so meinte Capillo, hege kein Interesse mehr daran, irgendwelche mysteriösen Tiere auf der Insel zu verstecken. Allerdings wusste der Offizier außer Dienst bis heute nicht, welche Gattung Huftier genau das Militär auf Alborán zu verbergen versucht hatte. Zwar hatten die sagenumwobenen fliegenden Pferde in den letzten Jahren für großes Aufsehen unter den Menschen gesorgt, aber es gab nur wenige, die wie Rike über die Hintergründe informiert waren.

Offenbar hatte man den alten Paddock irgendwann abgerissen. Nur ein paar verwitterte Bretter lagen da, wo sie einst Rosinante entdeckt hatte.

Rike hob den Blick und sah sich um. Weiter unten, nahe den scharfen Klippen, die von schäumenden Wellen umspielt wurden, erkannte sie einen gemauerten Schuppen, den ein Zaun aus runden Stahlrohren umgab. Sofort beschleunigte sich ihr Puls. Sollte sie hier fündig werden? Barg die Insel doch noch ein Geheimnis? Erste Regentropfen trafen auf ihre nackten Arme und die grauen Haare. Wie sehr wünschte sie sich, Hannes wäre jetzt hier. Er würde sie lächelnd in seine abgeschabte braune Fliegerjacke hüllen, ihr einen Kuss auf die Wange drücken und sie ermutigen, weiterzugehen.

Rike verdrängte alle schlechten Gedanken an ihren Ehemann. Er hatte ihr viel Kummer bereitet, sie mit ihrer Freundin aus Deutschland betrogen. Dennoch überwogen die positiven Attribute: seine unvergleichlich lebensbejahende Art, sein unerschütterlicher Optimismus und die Gabe, jede verflixte Situation doch noch zum Guten zu wenden. Aber Hannes Bauer war nicht da. Dieses Mal würde er sie auf der kargen Insel nicht in den Arm nehmen, sie wärmen, wenn der Wind ihr Gänsehaut auf die Glieder trieb, ihre Tränen von den Wangen küssen, ihr Mut zusprechen. Einsamkeit sickerte durch ihre Adern wie eiskaltes Wasser.

Rike vernahm eilige Schritte hinter sich. Das Pärchen war ihr gefolgt. Aber sie war nur noch wenige Meter von dem düster wirkenden Schuppen entfernt, dessen vom Meer abgewandte Seite nur mit dicken Plastikvorhängen versehen war. Sie hörte, wie die lichtdurchlässigen Kunststoffbahnen im Wind aneinanderschlugen.

Sie drehte sich nicht um, riss aber die Arme nach oben und schrie: »Lasst mich allein!«

Die Schritte hinter ihr verstummten augenblicklich.

Frierend und kopfschüttelnd blieb das Pärchen zurück. Beide beobachteten Rike, wie sie zwischen den Stangen hindurchkletterte und den kargen Paddock betrat. Sie erkannten nicht viel, konnten nur erahnen, was sich hinter den pendelnden Plastikstreifen aufhielt. Außer der wilden Brandung, die gegen die Felsen der Insel schlug, war auch nichts zu hören.

Der magere Körper der Grauhaarigen schob sich zwischen den Vorhängen hindurch in die Düsternis des Schuppens und verschwand, als würde er für immer in einem unbekannten Universum verbleiben. Der Mann mit dem Zopf kniff die Augen zusammen und drückte seine Partnerin fest an die Brust.

»Tomás, du tust mir weh«, flüsterte die Schwarzhaarige, und sofort verminderte sich der Druck seiner Arme.

»Verzeihung«, murmelte er konzentriert, während seine Augen einem Schatten hinter den wild zuckenden Plastikstreifen folgten.

Sekunden wurden zu Minuten. Immer heftiger brandete die Gischt an die Felsen, als wolle sie den Schuppen von der zerklüfteten Insel fegen.

»Ich gehe ihr nach, Sabine«, murmelte Tomás. »Das dauert mir zu lange. Gott weiß, was Rike da drinnen entdeckt hat.«

Die Schwarzhaarige schälte sich aus seiner Umarmung, als sie antwortete: »Lass ihr noch ein wenig Zeit. Du weißt, in welchem Zustand Rike ist. Sie hat ja fast alles verloren, was ihr lieb war, und ich …« Sabine musste schlucken. »Ich trage eine gewisse Mitschuld.«

Tomás schüttelte den Kopf. Sein Zopf vollführte dabei einen lustigen Tanz. »Nein. Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Schatz. Das Schicksal lässt uns nie eine Chance. Wir müssen es nehmen, wie es uns vorherbestimmt ist.« Vorsichtig schob er Sabine in Richtung des Gebäudes, da der Regen inzwischen stärker geworden war.

In diesem Augenblick drang ein markerschütternder Schrei aus dem Bauwerk an den Klippen. Das Pärchen erstarrte mitten in der Bewegung.

Tomás zögerte nicht und spurtete los. »Rike!«, schrie er in den tosenden Wind. »RIKE, was ist passiert?« Doch noch bevor er die Metallrohre erreichte, torkelte die Grauhaarige zwischen den klatschenden verschmutzten Plastikstreifen ins Freie. Ihr Gesicht wirkte, als habe sie soeben einen Geist gesehen. Tomás kletterte durch den Metallzaun, aber Rikes hektische Gesten ließen ihn in der Bewegung erstarren.

»Komm nicht näher!«, rief sie ihm entgegen. »Lass mich in Ruhe!«

»Was ist denn geschehen?«, fragte Tomás nach. »Bist du verletzt?«

Die dürre Frau schüttelte nur den Kopf.

Ihm fiel sofort auf, dass sie kein Halstuch mehr trug. Das verwaschene blau-weiße Stückchen Stoff fehlte und enthüllte einen bleichen, faltigen Hals.

Rike schwankte leicht, als sie sich zwischen den Stangen hindurchschob und dann staksig auf das Wirtschaftsgebäude zumarschierte. »Ich … möchte nach … Hause«, stammelte sie mit brechender Stimme. »Hier … gibt es für mich … nichts mehr zu … entdecken.«

Inzwischen war auch Sabine näher gekommen. Sofort bemerkte sie den Zustand ihrer Freundin und schickte sich an, sie zu stützen. Aber Rike riss sich aggressiv von ihr los.

»Lass mich in Ruhe. Lasst mich alle in Ruhe.«

Verwirrt hielt Sabine inne, und ihre Augen verfolgten die Frau, die mit nackten Armen dem Wetter trotzte. Die Kälte in ihrer Stimme schmerzte.

 


Teil 1

 

Sommer 2016, Matalascañas an der Atlantikküste

 

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»Adios Carina«, rief eine Frauenstimme über den Bartresen des Hotels, während ihre Kollegin die schwarze Schürze mit dem orangefarbenen Aufdruck »Hoteles Atlánticos« auszog. Das noble Haus direkt an der Küste des Lichts, wie die Spanier liebevoll diesen Landstrich betitelten, war besonders beliebt bei den Touristen aus England. Dadurch genoss die blonde Carina, die in Wirklichkeit Rike Bauer hieß, eine gewisse Anonymität. Spanisch und Englisch sprach sie inzwischen nahezu perfekt. Damit war sie im Vorteil gegenüber ihren einheimischen Kolleginnen, die sich mit Fremdsprachen nicht so leicht anfreunden konnten. Sie hatte keinerlei Probleme gehabt, hier, nahe der Coto de Doñana, eine Anstellung zu finden, obwohl sie sich eigentlich geschworen hatte, nie mehr als Angestellte in einem Betrieb zu arbeiten. Zu tief saß noch der Schock, als sie mit gerade einmal fünfzig Jahren ihren Job am Flughafen Nürnberg verloren hatte. Damals war die Firma von einem großen Konzern aufgekauft und zerschlagen worden. Rike hatte keine Chance gehabt, übernommen zu werden. Dies war auch der Grund gewesen, warum sie mit ihrem Ehemann Hannes nach Spanien ausgewandert war und ihrem Heimatland enttäuscht den Rücken gekehrt hatte. Wie riesig waren die Hoffnungen, im sonnigen Süden ein behütetes und ruhiges Leben zu führen, gewesen. … Es war anders gekommen. Andalusien hatte vieles auf den Kopf gestellt. Rike und ihr Mann, von dem sie sich im Februar getrennt hatte, weil er offensichtlich fremdging, waren in einen Strudel aus real gewordenen Märchen geraten. Seither glich ihr Leben einem Fantasyroman ohne Happy End. Mit klopfendem Herzen erinnerte sie sich an jenen Tag im Februar, als sie auf dem Rücken ihres geliebten fliegenden Pferdes Velludo von der gemeinsamen Finca in Gaidovar verschwunden war.

Rike seufzte, als sie die Schürze des Hotels säuberlich zusammenlegte. Hannes hatte ihr extrem wehgetan, dennoch vermisste sie ihren Mann und war des Öfteren nahe dran, ihm jegliche Untreue zu verzeihen. Trotzdem zog sie es vor, hier an der Küste des Lichts zu verbleiben, denn sie wusste, dass Hannes mit den Hütern in Kontakt stand, jenen Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die fliegenden Pferde vor der Öffentlichkeit zu schützen. Vor einem Jahr noch hätte sich Rike selbst als Hüterin bezeichnet. Aber dann hatte sie es gewagt, tiefer in die Welt dieser außergewöhnlichen Tiere einzudringen. Sie hatte Velludo trainiert und festgestellt, dass er mit ihr in einer bisher unbekannten Körpersprache kommunizieren konnte. Schließlich hatte sie sogar das Unmögliche gewagt und begonnen, ihn zu reiten. Die Erinnerung an den ersten Flug auf dem Pferd ließ sie noch heute wohlig erschaudern. Sämtliche Hüter, insbesondere der alte marokkanische Tierarzt Abdai bin Nuhr, hatten sie gewarnt vor einem Ritt durch die Wolken. Alle waren der Meinung gewesen, sie würde ihr Leben aufs Spiel setzen im Umgang mit dem beinahe zwei Meter hohen Velludo, der sich zu einem Urvater seiner Rasse entwickelte. Doch Rike war nichts geschehen. Der Rappe hatte ihr nach und nach seine geheime Sprache gelehrt. Sie konnte sich mit ihm perfekt verständigen. Aufgrund dieser Tatsache war sie von der jahrhundertealten Meinung der Hüter abgekommen. Rike war inzwischen fest davon überzeugt, dass solch intelligente, königliche Wesen in Freiheit leben sollten. Die Welt böte genügend Platz für Mensch und Tier. Leider teilten die Hüter diese Meinung nicht, denn sie kannten die Einstellung der Menschheit. Man würde sich zugunsten von Tieren nicht einschränken. Das war ihr jedoch zu jenem Zeitpunkt noch nicht klar.

Sie ließ die Schürze aus edler Baumwolle in ihren Rucksack gleiten, winkte den Kolleginnen zu und verließ das Hotel. Als sich die ausladenden Glastüren hinter ihr schlossen, traf sie die Hitze des andalusischen Sommers mit voller Wucht. Temperaturen um die vierzig Grad Celsius im Schatten waren um diese Jahreszeit normal. Besonders die Wildtiere in der Coto de Doñana litten unter der sengenden Sonne, die die Sanddünen beinahe zum Glühen brachte.

Rike lief zügig zum Personalparkplatz. Ihr klappriger Pick-up Truck, den ihr der alte José vererbt hatte, verfügte über keine Klimaanlage. Sie öffnete die knarrende Tür des Vehikels, stieg ein und kurbelte die Seitenscheiben bis zum Anschlag hinunter. Dann ließ sie den Motor an und drehte das Radio auf volle Lautstärke. Die betagten Boxen des Autos plärrten südliche Sommerhits durch die flimmernde Luft, während Rike das Gefährt Richtung El Rocío steuerte. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Rückspiegel, aber kein Wagen folgte ihr. Die staubige Landstraße schien völlig verlassen zu sein. Um diese Uhrzeit tummelten sich die ausländischen Touristen lieber am Strand von Matalascañas, wo sie im flachen Wasser der Sommerhitze zu entfliehen versuchten.

Rike parkte den Pick-up am Straßenrand. Das angerostete Fahrzeug wirkte, als habe es den Geist aufgegeben. Niemand würde sich beim Vorbeifahren darüber wundern. Ein letzter Blick in den Rückspiegel, dann ergriff Rike das alte Halfter, welches neben ihr auf dem Beifahrersitz lag, und huschte hinaus. Blitzschnell verschwand sie zwischen ein paar vertrockneten Büschen, die den durchlöcherten Drahtzaun verbargen, der das Naturschutzgebiet vor dem Zutritt der Sommertouristen schützen sollte. Das Betreten des riesigen Nationalparks war nur über die Station El Acebuche nahe Matalascañas möglich. Von dort aus konnten Naturliebhaber Touren mit Unimogs buchen, die von erfahrenen Rangern begleitet wurden. Rike musste die Zeit zwischen den Ausflügen nutzen, um nicht von den Guides entdeckt zu werden. Nahe dem maroden Zaun hatte der Wind den glühend heißen Sand zu einer Düne aufgehäuft, hinter der Rike sich verstecken konnte. Schweiß lief ihr die Wangen hinab. Sie wischte sich fahrig mit den Händen über die Stirn, als ihr Handy piepte. Der kleine Bildschirm verkündete ihr, dass eine SMS eingegangen war.

 

Ich liebe dich noch immer, mein Engel. Den Pferden geht es prächtig. Carlos hat sie nicht geholt. Ich versorge alle Tiere hier in Gaidovar. Rike, denk dran, dass El Rocío ein Wallfahrtsort ist. Velludo wäre dort nicht erwünscht. Pass auf dich auf, tapfere Pilotin, und du weißt ja … ;-) … zu Hause bist du jederzeit herzlich willkommen, dein H.

 

Rike schloss die Nachricht und steckte das Handy in die Hosentasche. Sie konnte den eigenen Herzschlag in ihren Schläfen wahrnehmen. Hannes wusste also, wo sie nun wohnte, sonst hätte er den kleinen Wallfahrtsort am Rande des Naturschutzgebietes nicht erwähnt. Widerstreitende Gefühle kribbelten in ihrem Bauch. Irgendwie fühlte sich die Erkenntnis beruhigend an, dass es da einen Mann gab, der an sie dachte und sie im Notfall auch finden würde. Auf der anderen Seite hatte sie lernen müssen, Verantwortung für sich selbst und das fliegende Pferd zu übernehmen. Dinge, die ihr mit Hannes schwergefallen waren, erledigte sie nun mit Leichtigkeit. Ihr Selbstbewusstsein war um hundert Prozent gestiegen. Rike hatte die Finanzen gut im Griff, engagierte sich in ihrem Hoteljob und kümmerte sich um das Wohlergehen des fliegenden Pferdes. Man hätte ihr Leben beinahe als perfekt bezeichnen können, wäre da nicht die Sehnsucht nach ihrem Ehemann.

Dass ihr das Schicksal sehr bald weitere Steine in den Weg werfen würde, ahnte sie noch nicht.

Entschlossen schob sie sämtliche Gedanken an ihre Ehe zur Seite und hastete tiefer in das sandige, mit niedrigen Büschen und Bäumen bewachsene Gebiet. Ausgedörrte Pampasgrasbüschel streckten ihre Halme wie Schwerter in die heiße Luft und bremsten Rikes Lauf. Sie hatte nur drei Stunden Zeit, dann würden die Wildhüter wieder die Route kontrollieren.

Zwei Reiher flogen nicht weit von ihr entfernt entsetzt auf und krächzten alarmiert. Ein Schmunzeln legte sich auf Rikes Lippen. Sie konnte die Unruhe der Vögel verstehen und ging in die Hocke. Dann stieß ihr Mund einen schrillen Ruf aus. Sie lauschte in die flirrende Luft, und einen Augenblick lang hätte man meinen können, die Natur halte den Atem an. Drei Sekunden verstrichen, in denen nicht einmal mehr die Zikaden ihr Konzert zum Besten gaben, dann stoben rings um sie herum Dutzende von Vögeln in die Luft. Stieglitze und Ammern verließen ihr Versteck in den Büschen und schwangen sich in den Himmel hinauf. Selbst die pfeilschnellen schwarzen Milane mit ihren glänzenden Schnäbeln schienen es eilig zu haben, von hier zu verschwinden.

Rike griff in die Tasche ihrer Jeans und holte einige zerbrochene trockene Mehlwürmer hervor. Sie musste kein zweites Mal rufen. Sein ruhiger, tiefer Atem verriet ihn sofort, und wenige Momente später erschien der monströse Rappe zwischen den Sandhügeln. Immer noch war Rike von dieser imposanten Erscheinung beeindruckt. Das Pferd überragte mit über zwei Metern Widerristhöhe bei Weitem jedes spanische Hauspferd. Sein mächtiger Schädel mit der lockigen Mähne wirkte wie der Kopf eines Urtieres aus lang vergangenen Zeiten. Doch das alles verblasste, als das Wesen die Flügel zu öffnen begann.

Starke Oberarme, die aus den Schultern ragten, spreizten mit ihren Muskeln Unterarm und Finger aus, zwischen denen sich eine dunkle, schillernde Haut spannte, die so stabil war, dass sie ein Pferd von enormem Gewicht in der Luft halten konnte. Im Laufe der Zeit hatte sich Velludos Flughaut dunkelviolett verfärbt und gab ihm ein dämonisches Aussehen.

»Na, mein Liebling?«, säuselte Rike entzückt und hielt dem Riesen ihre offene Handfläche mit den Mehlwürmern entgegen. »Wie geht es dir heute?«

Velludos Verhalten spottete seinem eigentlich Furcht einflößenden Aussehen. Unendlich sanft senkte sich die Pferdenase und schleckte genüsslich die Würmchen von der menschlichen Hand.

Rike ließ ihren Blick über das glänzende Fell des Pferdes gleiten. Das Tier machte einen entspannten Eindruck, obwohl sie auf seiner Brust eine tiefe, blutverkrustete Bisswunde erkannte. »Was hast du denn da gemacht?« Vorsichtig strichen die Finger ihrer linken Hand über die Wundränder. Dabei verscheuchte sie einige Mücken, die sich darauf niedergelassen hatten. Velludo schnaubte und stampfte mit dem Vorderhuf auf. Die Berührung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Rike runzelte die Stirn. »Die Wunde ist ganz schön tief. Ich werde sie morgen reinigen müssen.« In diesem Moment entdeckte sie eine zweite Verletzung nahe dem Schultergelenk. Das schwarze Fell hatte sich über dem blutenden Muskel gelöst und hing wie ein schmutziger Lappen herab. »Velludo, um Himmels willen, was treibst du nur?« Sie erhob sich rasch und streifte ihm das Halfter mit dem langen Führstrick über. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich dich mal komplett durchchecke.« Sie näherte sich der Schulterwunde, und ein böser Verdacht formte sich in ihrem Gehirn.

Noch bevor sie die zweite Verletzung berühren konnte, fuhr Velludos Kopf in die Höhe, während er zischend Luft durch seine Nüstern stieß. Rike erschrak und versuchte blitzschnell den Führstrick zu greifen, der vom Pferdehalfter baumelte. Doch der Rappe war schneller. Er wirbelte auf der Hinterhand herum und galoppierte mit kräftigen Sprüngen davon. Noch im Spurt begann er, die Flughäute leicht abzuspreizen. Das Tier hatte in seiner kurzen Zeit hier im Naturschutzgebiet gelernt, wie man lästigen Gegnern und auch Menschen entkommen konnte. Die Flügel würde der Hengst erst komplett öffnen, wenn er die breite Sandpiste erreicht hätte, auf der die Allradfahrzeuge durch das Gebiet fuhren. Dann würde er dem Wind entgegenrennen und sich in die Luft schwingen.

Rike blieb keine Zeit mehr, sich über das Verhalten des Tieres zu wundern. Das unverkennbare Motorengeräusch eines Jeeps drang an ihr Ohr. »Verdammt!«, schrie sie auf. »Was machen die Aufseher schon hier?« Eilig ließ sie sich auf die Knie sinken und krabbelte im Schutz der verdorrten Grasbüschel tiefer in das unwegsame Gelände hinein. Zwischen zwei dichten Wedeln aus Pampasgras presste sie sich in den Sand und lauschte angestrengt. Die scharfen Grashalme schnitten ihr in die Wangen.

Das Allradfahrzeug bremste ab. Autotüren öffneten sich und wurden wieder zugeschlagen. Rike hörte hastig gesprochene spanische Worte. Was hatte das alles zu bedeuten? Vorsichtig hob sie den Kopf und erkannte drei Männer. Zwei davon trugen die blauen Shirts der Wildhüter, der dritte ein bunt gemustertes Freizeithemd. Jeder der Typen hatte ein Gewehr umhängen. Ob es sich nur um Betäubungswaffen handelte, konnte sie nicht erkennen. Rike stockte beinahe der Atem. Was führten die Männer im Schilde?

Ein braun gebrannter junger Kerl im blauen Shirt deutete aufgeregt nach Osten, in die Richtung, in die Velludo geflohen war. Die anderen beiden schüttelten den Kopf.

Blitzschnell drückte sich Rike wieder zwischen die scharfen Grashalme. Sie konnte nicht sehen, dass der schlanke Mann im Freizeithemd mit der Hand in ihre Richtung wies. Kurz darauf machten sich die drei Bewaffneten auf den Weg. Sie spürte die Vibrationen, die die schweren Stiefel im Sand verursachten, an ihrer Gesichtshaut, und Angst kroch ihr durch den Bauch nach oben. Die murmelnden Stimmen der Typen kamen immer näher. Sie würden sie unweigerlich entdecken.

Dann übernahm das Adrenalin die Kontrolle über ihren Körper. Rike sprang auf die Beine und spurtete kopflos ins Nirgendwo.

»Da, die Frau, lauft!«, rief einer der Wildhüter, der nur wenige Meter von ihr entfernt stand. Er forderte seine Kollegen auf, der Frau zu folgen. Doch in diesem Moment schrie ihr der Mann im bunten Hemd barsch hinterher: »Bleiben Sie stehen, wir holen Sie ohnehin ein.«

Was hatte sie für eine Chance gegen das Allradfahrzeug? Intuitiv stoppte sie ihren Lauf, hob die Hände und drehte sich langsam um.

»Was machen Sie hier?«, fragte der Typ mit dem bunten Hemd in lautem Befehlston und in spanischer Sprache. »Dieses Gebiet ist für Wanderer gesperrt.«

Einen kleinen Augenblick überlegte Rike, blitzschnell in Richtung Zaun zu flüchten. Bis die Wildhüter wieder in ihrem Jeep sitzen würden, wäre sie durch das Loch gekrabbelt und von der Bildfläche verschwunden. Spanien war ein zivilisiertes Land. Kein Wildhüter würde ernsthaft auf eine unbewaffnete Frau schießen. Aber irgendetwas Unheimliches lag in der Miene dieses Mannes, der sie düster anstarrte. Deswegen entschloss sie sich rasch für eine alternative Strategie.

»Ich … Ich kann sie nicht verstehen«, stammelte sie in Deutsch und knetete scheinbar verlegen ihre Hände vor ihrer heftig atmenden Brust. »Vermutlich habe ich mich verlaufen.«

Nun lächelte sie, denn der aufgebrachte Mann seufzte irritiert. Sekundenlang musterte er sie, dann signalisierte er seinen beiden Begleitern zurückzubleiben und stapfte durch den heißen Sand auf sie zu. Kurz vor Rike verschränkte er die Arme vor der Brust und fuhr sie in scharfem Ton an: »Ich weiß, dass Sie aus Deutschland sind. Sie sprechen aber die Sprache dieses Landes.«

Die Augen der Blonden flackerten leicht, dann zuckte sie unschuldig mit den Achseln und antwortete in ihrer Heimatsprache: »Wie gesagt, ich verstehe Sie nicht. Habe ich etwas Falsches getan?«

»Ich kann auch gern die Polizei rufen, Frau Bauer. Das ist doch Ihr werter Name?«, setzte der Bewaffnete ungerührt in astreinem Castellano fort. »Aber ich bin mir sicher, dass wir vernünftig miteinander reden können. Kommen Sie bitte mit uns, wir bringen Sie erst mal aus dem Naturschutzgebiet raus. In Acebuche erwarten uns ein klimatisierter Raum und kühle Getränke. Vamos!«

»Mein Name ist Carina … Carina Müller«, stammelte sie, aber der Typ im Freizeithemd drehte sich bereits um und signalisierte ihr mit der Hand, ihm zu folgen. Er hatte ihr überhaupt nicht zugehört. Mit zitternden Knien lief sie dem fremden Mann hinterher. Wusste er etwas über Velludo? Woher kannte er ihren Namen? Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Gehirn.

Wenig später saß sie auf dem Rücksitz eines muffigen grünen Geländewagens, der sie nach Acebuche brachte. Von dort aus, das wusste Rike, wurden die Touren in die Coto de Doñana organisiert und gestartet.

Die Station war um diese Uhrzeit nicht mehr stark besucht. Der Jeep rollte hinter das Gebäude und parkte dort. Rike folgte den Männern durch einen leeren Souvenirladen ins Innere. Fauchende Luchse beobachteten sie von zahlreichen Postern an der Wand. Sie fühlte sich verunsichert, dennoch genoss sie die Kühle der Klimaanlage. Ihre Gesichtshaut brannte wie Feuer.

»Nach Ihnen«, forderte der Spanier im Freizeithemd sie auf, nachdem er sie durch einen Flur geleitet hatte und ihr nun die Tür zu einem Besprechungszimmer aufhielt.

Rike betrat zögernd den spärlich eingerichteten Raum. Ein großer, länglicher Tisch und ein Dutzend Stühle standen in der Mitte, ansonsten präsentierte sich das Zimmer kahl. Die Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen. Obwohl sie das Gefühl hatte, von innen heraus zu verglühen, bildete sich spontan Gänsehaut auf ihrem Rücken.

»Nehmen Sie doch Platz«, setzte der Mann fort. Sein fröhlich wirkendes buntes Hemd wollte absolut nicht zu seinen versteinerten Gesichtszügen passen. Ohne auf Rikes Antwort zu warten, ließ er sich auf einen der stapelbaren Stühle fallen. Die beiden Wildhüter, die sie begleitet hatten, waren im Souvenirladen zurückgeblieben. Zögerlich setzte sich Rike.

»Gut, Frau Bauer«, begann der gut aussehende Fremde das Verhör. »Jetzt verraten Sie mir mal, was Sie wirklich hinter dem Zaun gesucht haben.« Sein Spanisch klang wie aus einem Lehrbuch. Inzwischen hatte sich auch sein Tonfall geändert. Er lächelte entspannt. »Verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Alberto Roldarón.«

Rike verschränkte ihre leicht zitternden Finger ineinander und erwiderte seinen Blick. Sie kaute auf den Lippen, bevor sie ihre Taktik von vorhin einfach wiederholte. »Wie erwähnt, ich heiße Carina, komme aus Deutschland und verstehe Sie nicht. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass …«

Die Tür öffnete sich nahezu lautlos, und eine dunkelhaarige Frau huschte ins Innere. Sie trug ein Tablett mit verschiedenen Erfrischungsgetränken darauf. Mit flinken Bewegungen stellte sie das runde Metallteil auf den Tisch und zückte einen Flaschenöffner. Höflich wandte sie sich an Rike und fragte: »Agua mineral con gas ó sin gas?«

Überrascht von der Gastfreundlichkeit der jungen Dame, die ihr zwei verschiedene Mineralwassersorten anbot, antwortete sie ohne nachzudenken: »Prefiero el agua sin gas, pero muy frio.« Dabei lächelte sie.

»Sehen Sie, Frau Bauer«, nahm Roldarón den Faden auf. Diesmal sprach er akzentfreies Deutsch. »Sie haben die Frage meiner Assistentin, ob Sie das Mineralwasser mit oder ohne Kohlensäure wünschen, anstandslos verstanden.« Er grinste süffisant. »Und Sie haben ihr sogar erklärt, dass Sie das Getränk sehr kalt genießen wollen.« Sofort wurde er wieder todernst. »Einigen wir uns jetzt darauf, dass Sie mich sehr gut verstehen und meine Fragen beantworten werden?«

Rike hätte sich ohrfeigen können. Warum war sie auf so einen simplen Trick hereingefallen? Sie sollte sich künftig besser konzentrieren. Wütend packte sie die geöffnete Mineralwasserflasche und nahm einen großen Schluck. Einfach würde sie es diesem arroganten Señor Roldarón nicht machen.

»Sie hätten mir gleich sagen können, dass Sie auch Deutsch sprechen«, schleuderte sie ihm entgegen. »Ich werde mich nicht wiederholen, denn Sie haben demnach auch verstanden, was ich Ihnen in den Dünen erklärt habe.«

Der Spanier im Freizeithemd lehnte sich entspannt zurück, als habe er alle Zeit der Welt. »Aber Sie haben mich dreist belogen. Jetzt wäre Zeit für die Wahrheit.« Spontan ließ er seinen durchtrainierten Oberkörper nach vorn schnellen und starrte sie an. »Da draußen in den Weiten des Parks haust ein Ungeheuer, Frau Bauer.« Einen kurzen Moment ließ er die Worte auf sein Gegenüber wirken. Er sah Rikes Augenlider zucken und wusste sofort, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Unmittelbar setzte er mit hart klingenden Fakten nach: »Das Ungeheuer sieht aus wie ein zu groß geratenes Pferd.«

»Was ist daran so ungewöhnlich?«, fragte Rike nach. Ihr Tonfall sollte desinteressiert klingen, aber das leichte Zittern der Stimme verriet ihre Unsicherheit. »In der Coto de Doñana leben jede Menge Wildpferde.« Mit niedergeschlagenen Augen trank sie erneut aus der Mineralwasserflasche und stellte sie dann ab.

»Sie fragen mich allen Ernstes, was daran ungewöhnlich ist? Das Wesen überragt jedes normale Reitpferd. Es wandert auf einer Fläche von fünfzigtausend Hektar umher, als seien die Entfernungen für seinen Körper nicht existent. Es gab Sichtungen in den Pinienwäldern, den Dünen und auch den Wassergebieten.« Alberto beobachtete die Frau aus Deutschland ganz genau. Er war sich sicher, dass sie das Geheimnis um das seltsame Tier in der Coto de Doñana mit wenigen Sätzen aufklären könnte. Nicht umsonst lautete sein Auftrag von höchster Stelle, sie zur Kooperation zu bewegen. Aber die Frau mit den langen blonden Haaren wirkte total verstockt.

»Es gibt Pferderassen, die weite Strecken zurücklegen«, konterte sie. »Vielleicht handelt es sich um ein entlaufenes Tier. Rings um El Rocío wimmelt es nur so von Reitställen.«

Alberto seufzte. Immer noch haftete sein Blick auf der Frau gegenüber, die sich die Arme rieb, als sei ihr kalt. Er konnte ihre Unsicherheit spüren. »Sie machen es mir wirklich nicht leicht, dabei will ich nur Ihr Bestes«, murmelte er. »Aber da Sie keinerlei Bereitschaft zeigen, zur Aufklärung beizutragen, lassen Sie mir keine Wahl.« Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf, fuhr sich mit den schlanken Fingern über den Dreitagebart und begann im Raum auf und ab zu gehen.

Rikes Nervosität wuchs sprunghaft an. Dieser unbekannte Spanier wusste etwas über Velludo. Sollte sie ehrlich zu ihm sein? Noch im Februar hatte sie sich geschworen, alles dafür zu tun, dass diese wunderschönen Tiere künftig in Freiheit leben konnten. Aber die Art und Weise, wie Roldarón von einem Ungeheuer im Naturschutzgebiet sprach, ließ sie weiterhin zögern. Solange die Menschen Velludos Geheimnis nicht kannten, würden sie ihn in Ruhe lassen. Da rannte zwar ein großes schwarzes Pferd durch die Coto de Doñana, über welches man reden konnte, doch schon morgen gäbe es neue interessante Themen und Velludo würde in Vergessenheit geraten. Diese These durchkreuzte Alberto Roldarón allerdings mit wenigen Worten.

»Man hat innerhalb der letzten zwei Monate im Nationalpark ein seltsames Tiersterben beobachtet«, berichtete er ausdruckslos. »Zwei kräftige Marismeño Hengste wiesen Verletzungen auf, die über einen normalen Rangkampf unter den Pferden hinausgehen. Man hat sie an unterschiedlichen Orten gefunden. Also haben sie nicht miteinander gekämpft.« Roldarón umrundete den Tisch und stellte sich neben Rikes Stuhl. Von oben herab fixierte er sie mit den Augen. »Aber dem nicht genug! Mehrere tote Hirsche und Hirschkühe lagen an der Wasserstelle. Die Bisswunden, die sie trugen, haben deren Tod verursacht.«

Rike starrte auf die Tischplatte. Nervös kaute sie auf ihren Lippen. Der Spanier hatte ihr gerade die Erklärung für Velludos seltsame Wunden geliefert. Der Hengst suchte also den Kampf mit weiteren Bewohnern der Schutzzone.

»Doch den außergewöhnlichsten Fund machten wir in den Dünen ganz nahe an der Atlantikküste«, setzte Roldarón fort, und seine Stimme wurde leiser. »Dort lag ein männlicher Luchs. Wir nannten ihn El Rey, den König. Rey war bereits sieben Jahre alt und sehr beliebt im Park. Die Ranger haben ihn lange beobachtet. Die Katze wäre niemals so nahe an den Strand gewandert.«

Rike hob den Kopf und suchte den Blick des Spaniers. »Das ist traurig«, sagte sie, bemüht ihre Anteilnahme auszudrücken. »Aber was hat das alles mit mir zu tun?«

»Der Luchs wies Bisswunden auf, die von einem Pflanzenfresser stammen«, fuhr Roldarón fort. »Ich möchte Ihnen die Einzelheiten nicht vorenthalten.« Alberto atmete ein paarmal tief ein und aus, dann zog er sich den Stuhl neben Rike heran und setzte sich. »Man hat den Kater seziert und festgestellt, dass seine Knochenverletzungen von einem Sturz aus großer Höhe stammen.«

Rikes Kopf ruckte erschrocken herum.

»Jemand hat einen männlichen Luchs mit dreißig Kilogramm Körpergewicht aus circa einem Kilometer Höhe fallen lassen, Frau Bauer!« Er brachte sein Gesicht nah an das Ohr der Deutschen. »Es gibt keine Raubvogelgattung auf der ganzen Welt, die so ein Gewicht in diese Höhe tragen kann.«

Rike konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Hemmungslos kullerten ihr salzige Perlen die Wangen hinab. »Das klingt wirklich sehr bewegend, Herr Roldarón. Aber ich fühle mich nicht gut und möchte jetzt gern nach Hause fahren.« Sie machte Anstalten, aufzustehen, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Spanier so weit gehen würde, ihre Schulter zu berühren und sie auf den Stuhl zurückzudrücken.

»Das ökologische Gleichgewicht im Naturschutzgebiet ist gefährdet«, sagte er sanft. »Die Regierung ist besorgt wegen der Entwicklung. Ich bin nicht umsonst mit der Aufgabe betraut worden, diese seltsamen Vorgänge aufzuklären.« Er griff in die Brusttasche seines bunten Hemdes und reichte ihr ein Papiertaschentuch. »Bitte kooperieren Sie mit mir, Frau Bauer. Sie können das Tier nicht schützen, wenn Sie schweigen.«

Die Blonde fuhr sich mit dem Taschentuch über die verheulten Augen. Nun hatte sie Gewissheit. Alberto Roldarón wusste von den fliegenden Pferden, und er war von offizieller Seite beauftragt, Velludo aufzustöbern. Sie erinnerte sich an Maria und ihre Geschichten. Die alte Dame hatte ihr erzählt, dass es in Regierungskreisen immer wieder Hüter gegeben hatte, denen das Wohl der fliegenden Pferde am Herzen lag. Berühmtestes Beispiel war die Gattin des Generals Franco, mit der Maria lange Zeit eine Freundschaft verband. Allerdings hatten sich die damaligen Hüter immer nur mit geflügelten Rössern befassen müssen, die gar nicht fliegen konnten. Über Jahrhunderte hinweg waren diese Wesen zwar mit Flügeln geboren worden, dennoch hatte ihnen die Evolution ein Leben auf der Erde verordnet, da ihre Schwingen sich mehr und mehr zurückgebildet hatten. Der marokkanische Tierarzt Abdai bin Nuhr hatte ihr mehrmals erklärt, die Tiere seien durch die Haltung in Ställen zu Landtieren mutiert. Einzig Velludo schien aus dem Schema auszuscheren. Er hatte sich zu einem Urvater seiner Rasse entwickelt und das Fliegen erlernt, weil er dem kleinen Flugzeug ihres Ehemannes gefolgt war und dadurch den Einsatz der Schwingen trainiert hatte. Die meisten Hüter konnten mit dieser Tatsache nicht umgehen. Lediglich Rike hatte begonnen sich mit dem Verhalten eines fliegenden Pferdes zu beschäftigen und festgestellt, dass in den vermeintlichen Fabelwesen sehr viel mehr steckte als vermutet. Doch nicht einmal Alberto Roldarón würde ihr glauben, würde sie ihm jetzt berichten, dass sie auf dem Rücken des schwarzen Ungeheuers schon mehrmals durch den wolkenlosen andalusischen Himmel geschwebt war. Deswegen schwieg sie.

»Sie kennen wesentlich mehr Hintergründe als ich«, sagte sie mit gespieltem Selbstbewusstsein. »Ich gebe zu, ich war neugierig, weil mir Hotelgäste von dieser mysteriösen Geschichte erzählt haben. Die Hoffnung war groß, das riesige Pferd zu Gesicht zu bekommen, aber leider habe ich nur Sie und Ihre beiden Begleiter kennengelernt.«

»Die Hotelgäste können Ihnen das niemals erzählt haben«, konterte Roldarón. »Die Vorkommnisse unterliegen strengster Geheimhaltung.« Dreist legte er seine Hand auf Rikes Faust, die das Taschentuch umklammerte wie einen Rettungsring. »Ich bitte Sie, verraten Sie mir, ob Sie in der Lage sind, das Tier anzulocken. Dann können wir es einfangen und von hier wegbringen.«

»Wegbringen?« Rikes Stimme wurde schrill. »Ich weiß nicht, von welchem Wesen wir hier reden, Herr Roldarón. Aber wegbringen klingt für mich nach Entsorgung. Haben Sie schon einmal überlegt, ob das komische Riesenpferd, von dem Sie mir hier in den Ohren liegen, ein Recht hat, hier auf dieser verdammten Welt einfach nur zu leben, so, wie es geschaffen wurde?« Sie schluchzte ungehindert.

»Frau Bauer«, erwiderte Roldarón sanft und reichte ihr ein zweites Taschentuch. »Wir beobachten Sie schon etwas länger. Ihr geflügelter Freund, für den Sie hier solch polemische Reden schwingen, kann nicht im Naturschutzgebiet bleiben.« Er schaute ihr tief in die Augen. »Man wird ihn irgendwann vom Himmel schießen, wenn er weiterhin geschützte Tiere angreift.«

Rike sprang auf. »Sie dürfen das Pferd doch nicht einfach abknallen wie einen Hasen«, fauchte sie. »Ich werde Sie den Behörden melden. Sie können mir viel erzählen von wegen Regierungsauftrag, lächerlich!« Ohne auf den Spanier zu achten, wandte sie sich der Tür zu. »Kann mich einer Ihrer Wildaufseher bitte nach Hause bringen?«

»Selbstverständlich«, tönte die ruhige Stimme Alberto Roldaróns hinter ihr. »Wir werden Sie zu Ihrem Fahrzeug zurückbringen, welches an der Landstraße in Richtung El Rocío parkt.« Galant überholte er sie und hielt ihr die Tür auf. »Vergessen Sie nicht, Frau Bauer, dass wir dieses Problem nur gemeinsam lösen können. Niemand will, dass so ein außergewöhnliches Pferd getötet wird. Also helfen Sie uns.«

Die Deutsche lief durch den Flur zurück zum Souvenirladen. Ohne sich umzudrehen, murmelte sie mit monotoner Stimme: »Mein Name ist Carina Müller, nicht Bauer. Ich arbeite im Hotel ›Atlánticos‹, und ich bin aus purer Neugierde durch das Loch im Zaun geklettert.« Wieder starrten sie die Luchse von den Wandpostern an.

Roldarón bemerkte ihren kurzen Seitenblick. »Der hier war übrigens El Rey, Frau Bauer! Und er hatte auch das Recht, hier auf dieser verdammten Welt einfach nur zu leben, wie er geschaffen wurde«, belehrte er sie.

 

Wenig später saß Rike schwitzend in ihrem alten Pick-up und lenkte das Gefährt Richtung El Rocío, wo sie seit der Trennung von ihrem Mann im Februar wohnte. Das Ferienhaus war heruntergekommen und ließ sich nicht mehr gut an Touristen vermieten. Die Hotels an der Küste boten den vielen vor allem Engländern wesentlich mehr Komfort. Sie konnte froh sein, denn diesem Umstand verdankte Rike, das Häuschen auf Dauer zu einem Spottpreis mieten zu können.

Sie parkte das Auto im Schatten eines alten Olivenbaumes und sperrte die verwitterte Haustür auf. Ihr neues Domizil bestand nur aus zwei winzigen Räumen, einer Küche und einem Bad. Aber Rike hatte ihr Reich liebevoll hergerichtet. Hinter der Eingangstür verbarg sich das Wohnzimmer, welches die Deutsche nun betrat. Sie warf sich auf das alte, grüne Sofa und betrachtete die zahlreichen Landschaftsaufnahmen, die in dunklen Holzrahmen die weiß getünchte Wand verzierten. Auf dem Hoteldrucker hatte sie Fotografien aus der Coto de Doñana ausgedruckt und in Rahmen gesteckt. Auf dem Couchtisch stand ein Tongefäß mit blühenden Kräutern. Doch die Idylle auf zehn Quadratmetern erreichte Rikes Geist nicht. Ihr Blick schweifte zu dem Metallhaken neben der Haustür. Dort hing heute Morgen noch Velludos Halfter. Vermutlich würde sie ihn die nächsten Tage nicht besuchen können. Zu hoch war die Gefahr, erneut erwischt zu werden. Sie konnte nur hoffen, dass er sich nirgends verhedderte, denn er trug das Lederhalfter mit dem Führstrick daran noch immer.

Fieberhaft dachte sie nach. Würde sie Velludo an die Küste locken können? Circa zwei Kilometer südwärts der Ortschaft Matalascañas präsentierte sich der breite Strand beinahe menschenleer. Zwar patrouillierten dort auch die Wildhüter mit ihren Allradfahrzeugen, aber weiter oben in den hohen Dünen gab es perfekte Versteckmöglichkeiten.

Das Grübeln machte sie müde. Immer wieder schlossen sich ihre Augenlider, obwohl sich ihr Körper noch in Aufruhr befand. Bilder von Velludo mischten sich mit Eindrücken vom Häuschen am See, welches ihr José vererbt hatte. Das Gebäude hoch oben über dem Embalse de Zahara stand nun leer, und sie hoffte, dass sich jemand um die Ziegen kümmerte, die seit vielen Jahren dort friedlich lebten. Wie gern wäre sie in der schroffen Bergwelt der Sierra Grazalema geblieben. Aber die dortigen Hüter, zu denen auch Marias Sohn Carlos Villanueva und die Schwestern Rosa und Carmen zählten, hatten beschlossen, Velludo sicherheitshalber in das einsame marokkanische Rif Gebirge umzusiedeln. Auch das war ein Grund für Rike gewesen, ihr gesamtes Leben noch einmal auf den Kopf zu stellen und hier an der Atlantikküste neu anzufangen. Sie hätte es nicht ertragen, Velludo auf der anderen Seite der Meerenge zu wissen.

Während sie langsam wegschlummerte, überlegte sie, Hannes von der seltsamen Begegnung mit Alberto Roldarón zu berichten. Ihr Ehemann hätte sicherlich gleich gewusst, ob Roldarón eine ernsthafte Gefahr für sie und Velludo darstellen würde. Aber während sie im Geist mit Hannes telefonierte, schlossen sich ihre Augen und ihr Atem wurde ruhiger.

 

Alberto Roldarón saß noch im Besprechungszimmer der Station Acebuche. Er war mit dem Stuhl an das Sideboard aus grauen Möbelplatten herangerückt, hinter dessen zerkratzten Türen sich ein antik anmutendes Telefon befand. Er zog den Apparat heraus, hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Während es am anderen Ende der Leitung klingelte, dachte er nach: Hatte er die Deutsche richtig eingeschätzt? Rike Bauer machte auf ihn einen zähen Eindruck. Sie würde ihm so schnell nicht die Wahrheit über das eigenartige Pferd erzählen, welches in der Coto de Doñana für Unruhe unter den Wildtieren sorgte. Doch die Aufgabe war klar umrissen. Er sollte die Hintergründe um ein fliegendes Pferd lückenlos aufklären. Seine Auftraggeberin hatte ihm emotionslos erklärt, es existiere vermutlich wieder eines dieser seltenen Tiere, und es würde sogar seine Flügel einsetzen, um vom Boden abzuheben. Alberto konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als ihm Doña Helena-Maria die Tatsache um die Ohren geschlagen hatte. Im ersten Moment hatte er geglaubt, sie wolle ihn verhöhnen. Aber die Doña machte ihm unmissverständlich klar, dass es sich mitnichten um einen Scherz handle. Vielmehr sei Eile geboten, und sie betraue ihn mit einer höchst brisanten Angelegenheit. Das Pferd, so war er belehrt worden, stelle eventuell eine große Gefahr für das gesamte Land dar, da es nicht unter der Obhut von Menschen lebe. Erst auf behutsames Nachfragen hatte Alberto erfahren, dass es in Spanien bereits seit Jahrhunderten fliegende Pferde gab, diese aber nicht flugfähig waren. Nun würde es augenscheinlich ein Exemplar geben, welches unkontrolliert zu Flügen aufbreche. Selbstredend wolle man verhindern, dass die zahlreichen Touristen an der Costa de la Luz davon erfuhren. Von seiner Auftraggeberin wusste er letztendlich auch den Namen der Zielperson: Rike Bauer. Diese Frau, eine Einwanderin aus Deutschland, habe ziemlich sicher etwas mit dem Auftauchen des geflügelten Rosses zu tun und Roldarón solle sie nicht mehr aus den Augen lassen. Als enger Mitarbeiter der Privatgarde des spanischen Königshauses hatte er gelernt, nur relevante Fragen zu stellen. Er wusste bis heute nicht, in welchem Verhältnis Doña Helena-Maria zur königlichen Familie stand. Man munkelte zwar, die Doña sei die uneheliche Tochter des Altkönigs, aber daran glaubte er nicht. Helena-Maria umwehte ein wesentlich tieferes Geheimnis. Doch sein exzellentes Gehalt und die hohe Stellung am Hof in Madrid hatten ihn gelehrt, einfach zu funktionieren. Nicht umsonst war Alberto Roldarón unter Dutzenden von Bewerbern ausgewählt worden zum persönlichen Gardisten der Doña aufzusteigen.

Seine Auftraggeberin meldete sich mit ihrer klaren Stimme, und er berichtete kurz von den Verhandlungen mit Rike Bauer. Die Doña schien nicht gerade erfreut über die Neuigkeiten per Telefon, aber sie beherrschte sich meisterhaft.

 

Zur selben Zeit in »Centinar de los Reyes« nahe Madrid

 

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Sie legte den Hörer aus feinstem Porzellan und Messing zurück auf den Telefonapparat, der aus dem letzten Jahrhundert stammte. Helena-Maria war vernarrt in das hauchfeine weiße Material des Telefons, welches ein zartes Rosenmotiv zierte. Sie besaß darüber hinaus Tassen, Kannen, Teller, Püppchen und Glocken aus Porzellan, die ihren riesigen Wandschrank im Wohnzimmer problemlos füllten.