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Table of Contents

Titel

Impressum

Da sprach der Herr

Prolog

… drei Monate später

Carmen Baptista

Charly Anders

Nathanael

Beate Schön-Langleben

Rainer Frohsinn

Judas

Carmen Baptista

Nathanael

Rainer Frohsinn

Judas

Beate Schön-Langleben

Nathanael

Charly Anders

Judas

Doktor Michael Stubbe

Judas

Beate Schön-langleben und Carmen Baptista

Nathanael

Doktor Michael Stubbe

In der Ewigkeit

Nathanael

Rainer Frohsinn

Judas

Jesus

Nathanael

Marvin

Rainer Frohsinn

Marvin und Judas

Am Supermarkt

Auf dem Dach des Supermarktes

Im Supermarkt

Auf dem Dach des Supermarktes

Zurück auf der Erde

1. Epilog

2. Epilog

 

 

 

 

 

 

 

Ute Schwarz

 

 

 

 

 

Es tut uns leid,

bald sind Sie tot

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

Copyright by: Ute Schwarz

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2019

ISBN: 9783957537539

Grafiken Copyright by AdobeStock by spikee blue

 

Da sprach der Herr:

Mein Geist soll nicht ewig im Menschen bleiben, da er ja auch Fleisch ist.

Seine Tage sollen 120 Jahre betragen.

1. Buch Mose, Kapitel 6, 3

 

 

 PROLOG

 

Manchmal scheint es, als kommen gewisse Ereignisse überhaupt nur durch einen unerhörten Zufall zustande. Doch ist es eben das Verwunderliche, dass Ereignisse, sofern sie nur zusammengehören, stets zusammenkommen. Gerade so, als ob ein Puppenspieler die Figuren an unsichtbaren Fäden zueinander führt.

 Entsprechend wollte es der Zufall, dass am 25. März, um 18.59 Uhr, fünf Personen zu einer Schicksalsgemeinschaft der besonderen Art wurden. Tatsächlich begann alles mit einem lauten Schrei, gefolgt von einem Knall, als ein Mann vom Dach eines Supermarktes sprang und direkt vor den Füßen von fünf Personen landete, die dort gerade ihren Einkauf tätigen wollten. Unschwer zu erraten, dass der Tote keinen schönen Anblick bot. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen gewissen Gerd Rude, seines Zeichens Postbeamter im einfachen Dienst, der sich aus verschmähter Liebe umgebracht hatte. Auf den Schreck trank die Schicksalsgemeinschaft erst einmal einen Schnaps, den ihnen der Filialleiter des Supermarktes spendierte. Und dann noch einen. Und dann keinen mehr, denn die Ruhe des Toten wollte man nicht durch unbedachte Äußerungen stören. Obwohl es bitterkalt war und alle gerne nach Hause gegangen wären, nickten sie zu dem, was der Filialleiter sagte, und warteten neben dem Toten auf das Eintreffen der Polizei. Nur einer der fünf wandte ein, man habe doch eigentlich gar nichts gesehen und der Filialleiter arbeite schließlich vor Ort und könne der Polizei genauso gut, wenn nicht gar besser, Auskunft erteilen. Eine der Frauen pflichtete ihm bei, aber der blonde Mann neben ihr erwiderte prompt, das käme überhaupt nicht in Frage, und sie würden jetzt alle schön brav hier warten. Woraufhin der Filialleiter zustimmend nickte und unter dem Vorwand, ein wichtiges Telefonat führen zu müssen, im Supermarkt verschwand. Der jüngere der beiden dunkelhaarigen Männer fragte, ob schon mal jemand darüber nachgedacht habe, was denn eigentlich mit der Seele des Toten passiere. Die sei doch bestimmt traumatisiert. Und so bat er darum, jeder möge der Seele des Verstorbenen aufmunternde Gedanken schicken. Woraufhin die anderen vier innerlich die Augen verdrehten. Weil sie aber sowieso alle irgendwie durch den Wind waren und auch nicht recht wussten, wie sie die Wartezeit überbrücken sollten, kamen sie der Bitte des jüngeren der beiden dunkelhaarigen Männer nach. In dem Moment, in dem sie sich mit ihren dicken Winterjacken und Schals über den Verstorbenen beugten, wusste niemand so genau, was eigentlich geschah. Es gab nur sie, den Toten und eine winzig kleine Regung, geradewegs wie ein elektrischer Impuls, der das Blut an ihren Schläfen pochen und die Fingerspitzen kribbeln ließ. Diese Empfindung war so kurz und intensiv, dass alle in sich hineinhorchten und der blonde Mann sich unwillkürlich fragte, ob es am Ende etwa doch so etwas wie eine Seele gab, woraufhin sein Herz ein wenig ins Stolpern geriet.

    Tatsächlich startete in jenem Moment im Himmel der Testlauf für die von Jesus ins Leben gerufene SPD-App - Soft Peaceful Death-, welche mittels visuellem Scanner Sterbende ins Visier nehmen und einer Datei zuführen sollte. Dummerweise war im Falle Gerd Rudes die Sicht durch jene Personen verdeckt, weshalb die App den Überblick verlor und somit nicht nur den Toten erfasste, sondern kurzerhand auch den fünf Umstehenden einen Sterbetermin für den 25. Juni, um 18.59 Uhr eintrug. Es war auch nicht so, dass das niemand bemerkt hätte – zwei der Engel der himmlischen IT-Abteilung bemerkten es, und ein Mann, der in jenem Moment mit seinem Hund auf der anderen Straßenseite vorbeiging, bemerkte es auch. Sie alle sahen den winzigen Feuerblitz über den Köpfen der Menschen, und für den Bruchteil von Sekunden spürten sie die Anwesenheit des Todesengels. Gesagt hatte trotzdem niemand etwas, auch wenn der Mann mit dem Hund einen Versuch unternommen hatte. Aber seine Frau hatte danach so sehr geschwiegen, dass ihm richtig unwohl geworden war, und er sich fragte, ob er womöglich wie sein Vater, Gott hab ihn selig, unter Halluzinationen litt. Und selbst im Himmel hätten die beiden Engel dem Sohn des Allmächtigen ja schlecht auf den Kopf zusagen können, dass die neue App insgesamt nicht so rund verlief, wie sie es sich erhofft hatten. Zumal gerade bei nicht vorhersehbaren Todesfällen, wie im Falle Gerd Rudes, die App in gewisser Weise ein Eigenleben zu entwickeln schien. Und das war gar nicht gut. Zumindest nicht für die Menschen, die rein zufällig davon betroffen waren. Denn eine himmlische App merkt sich nicht nur alles, sie will ihr Programm auch um jeden Preis zu Ende bringen.

 

… DREI MONATE SPÄTER

DOKTOR MICHAEL STUBBE

 

 Obwohl ihr Haar ungekämmt und wirr vom Kopf abstand, war sie wunderschön in ihrem Zorn. Er versuchte ihrem Blick standzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Stattdessen sah er die Flammen, die sich aus den Fingerspitzen der Frau über die Fensterbank in das Zimmer drängten und nach seinen Beinen züngelten. Er kletterte auf den Schreibtisch, kauerte sich dabei wie ein Fötus zusammen und wollte nichts sehnlicher, als das es aufhörte. Sein Atem, stoßweise und rasselnd, sein Schrei, still und wundverängstigt.

 Als er die Augen aufschlug, wurde er von einem grellen Licht geblendet. Es war so gleißend hell, dass es alles überflutete. Das war’s dann, dachte er. Wahrscheinlich schwebte er bereits mit Engelsflügeln über den Wolken und spielte Harfe. Blinzelnd drehte er den Kopf, um zu schauen, ob er mit seiner Vermutung recht hatte. Dabei fuhr ihm ein Schmerz vom Nacken bis zu den Ohren hinauf. Etwas, was ihm deutlich machte, dass er vielleicht doch nicht so tot war, wie er geglaubt hatte. Auf einmal begriff er auch, woher das Licht kam. Es stammte von dem Computermonitor auf dem Schreibtisch. Er beugte sich näher heran und berührte den Bildschirm. Sofort flammte sein Name in roten Buchstaben auf. Er berührte die Scheibe noch einmal, und diesmal öffnete sich sein E-Mail Account:

 „Lieber Herr Dr. Stubbe, wir möchten Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Sie ab Zugang der Nachricht innerhalb der nächsten 24 Stunden das irdische Leben verlassen werden. Bitte halten Sie sich zur Abholung bereit und weisen Sie sich durch ihre Papiere aus. Unterzeichnet Gott.“

 Hektisch drückte er einige Tasten der Tastatur und starrte nur Sekunden später auf den schwarzen Bildschirm. Michael wollte sich gelassen geben, aber alles, was er fühlte war Angst. Schreckliche, beschissene Angst, die ihm den Magen an die Kehle hob. Er würde sterben. Schon bald. Und das ausgerechnet kurz vor seinem 60. Geburtstag. Hatte er vielleicht irgendwo eine Weichenstellung verpasst? Wo und wann war die Sache mit seinem Tod beschlossen worden? Und gab es irgendwo jemanden, der ihm Aufschub gewähren würde? Schließlich sollte morgen seine große Geburtstagsfeier stattfinden. Er musste sich setzen. Dringend. Am besten auf eine Kloschüssel, denn er spürte inzwischen auch den Druck auf seiner Blase.

 Herr Doktor Michael Stubbe schreckte aus dem Tiefschlaf und setzte sich heftig schnaufend im Bett auf. Er tastete nach seiner Angst und fand das Asthmaspray nur Sekunden später auf dem Nachttisch. Mit nach hinten geneigtem Kopf setzte er das Mundstück an und betätigte den Sprühkopf. Anschließend hielt er kurz die Luft an, wie es ihm die Ärztin aus der Klinik erklärt hatte. Michael mochte keine Träume, erst recht keine Alpträume, in denen ihm erklärt wurde, dass er sterben würde. Sein Gehirn war offenbar völlig überlastet. Anders konnte er sich das Ganze nicht erklären.

 Während er langsam durch die Nase ausatmete, rasten durch sein Hirn Formulierungen, mit denen er auf die Nachricht aus seinem Traum antworten könnte: „Ich glaube, Sie müssen da etwas verwechselt haben“ oder „Hiergegen lege ich fristgerecht Widerspruch ein“ oder noch besser „Scheren Sie sich zum Teufel“. Als er merkte, dass die Luft in seine Lungen zurückkehrte, nahm er einen tiefen Atemzug und schloss andächtig die Augen. So musste es sich anfühlen, wenn man eine dieser Drogen nahm, die pures Glück verhießen. Mit einem Mal wurde ihm klar, wie sehr er sich ins Bockshorn hatte jagen lassen, und sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. In einem Zeitungsartikel hatte Michael einmal gelesen, dass das Gehirn beim Lächeln Impulse durch die Mimik empfängt und so die entsprechenden Botenstoffe ausschüttet, die für Wohlbefinden sorgen.

 Es war ein Traum gewesen. Nichts weiter. Wirre Phantasiebilder, die ganz sicher nicht der Wahrheit entsprachen, sondern sehr wahrscheinlich dem üppigen Abendessen Marthas zuzuschreiben waren. Sein Lächeln vertiefte sich.

 Man konnte es auf seine momentane Stimmungslage schieben, aber er ertappte sich tatsächlich dabei, wie es ihm beim Anblick seiner neben ihm schlafenden Frau warm ums Herz wurde. Eine Welle der Zärtlichkeit für Martha und der plötzliche Gedanke, dass sie beide schon lange nicht mehr … „Das darf nicht wahr sein!“, entfuhr es Michael just in dem Moment, in dem er sich dem Hals seiner Frau bis auf wenige Zentimeter genähert hatte. Er glaubte sich plötzlich daran zu erinnern, dass er dem Absender der E-Mail in seinem Traum eine Lesebestätigung geschickt hatte.

 „Kann das sein?“, murmelte er. Sollte er am Ende tatsächlich …? Einen Moment blieb er erstarrt sitzen, doch dann sprang er mit einer Behändigkeit aus dem Bett, die ihn selbst erstaunte, riss die Tür auf und rannte nach nebenan ins Arbeitszimmer.

 Beim Anschalten des Computers zog er hörbar an seinen Fingergelenken. Eine Angewohnheit, die er in all den Jahren seiner Ehe, sehr zum Verdruss von Martha, beibehalten hatte. Wie hätte er seiner Frau auch jemals erklären können, dass ihn das knackende Geräusch beruhigte?

 „Musst du so laut sein?“, hörte er Marthas Stimme durch den Flur bellen. Es war weniger das, was sie sagte, als die schiere Lautstärke ihres Organs und ein schriller Unterton, der seinen Gehörgängen wehtat.

 „Komm schon, komm schon“, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen, während er darauf wartete, dass der Rechner hochfuhr.

 „Kannst du zur Abwechslung nicht einmal Rücksicht auf mich nehmen?“ In ihrer Stimme schwang nun auch ein herrischer Unterton mit, den er nur allzu gut kannte, und der nichts Gutes verhieß.

 „Herrje, ich werde morgen grauenhaft aussehen. Das ist alles deine Schuld, weil du mich um meinen Schönheitsschlaf gebracht hast“, blaffte sie ihn an.

 Als ob an Martha noch etwas schön zu schlafen wäre, dachte er erbost. Martha war die Sorte Mensch, die jede Art von Liebreiz schon vor langer Zeit abgelegt hatte. Zu so jemandem hielt man am besten Abstand oder näherte sich ihm während des Schlafs.

 „Wie konnte ich nur so einen wie dich jemals heiraten?“ Michael seufzte, fest entschlossen, sich auch weiterhin nicht von ihr aus der Fassung bringen zu lassen.

 Als er sein Passwort eingab, stürmte sie plötzlich durch die Tür. Ihr Anblick erinnerte ihn unweigerlich an eine Seekuh. Einen Moment überlegte er, welchen Brust- und Taillenumfang seine Frau wohl haben mochte. Wann hatte er sie zum letzten Mal nackt gesehen? Vergangenen Winter, als sie in der Badewanne ausgerutscht war und ihn um Hilfe gerufen hatte? Vermutlich hatte sie überhaupt nie eine Taille besessen. Arme, Beine, Bauch - alles war unförmig dick. „Mistkerl.“ Sie schob die Schlafmaske über die Stirn und machte mit der Hand eine Bewegung, als ob sie etwas nach ihm werfen wollte.

 Michael sprang auf und stieß dabei den Stuhl um, der mit einem lauten Aufprall auf dem Boden aufschlug. Jetzt war sie endgültig verrückt geworden.

 Er musste daran denken, wie er damals in den Sommerferien mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder nach Ligurien gefahren war. Er war gerade 17 geworden und hatte am Strand diese deutlich ältere Frau kennengelernt, die ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte. Er hatte ja gesagt, und der Rest war unglaublich gewesen. Bis sie ihn mitten in der Nacht mit Fäusten traktiert und aus der Wohnung geschmissen hatte.

 „Martha, was soll das?“ Er hätte gern laut geschrien. Richtig laut. Stattdessen riss er sich zusammen und holte tief Luft. Doktor Michael Stubbe gehörte nicht zu den Männern, die in einem solchen Fall ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Es gehörte vielmehr zu seinen Grundprinzipien, ein fähiger Jurist müsse schon vor der Schlacht, und sei es auch nur die Schlacht mit der Ehefrau, alles Erdenkliche tun, um die Kontrolle zu wahren. Kontrollverlust, da war er sich sicher, war der Anfang vom Ende.

 „Was das soll? Das müsste ich wohl eher dich fragen. Und erzähle mir bloß nicht, du hattest vor, mitten in der Nacht am Computer zu arbeiten. An wen schreibst du und wie lange geht das schon?“, brüllte sie, dass er glaubte, sein Trommelfell würde platzen.

 Also, das war doch … Wie konnte sie es wagen, ihm so etwas zu unterstellen? Als Anwalt hatte er schließlich ein Ansehen zu wahren. Niemals hätte er sich getraut fremdzugehen, obwohl er zugeben musste, dass es durchaus Augenblicke der Versuchung gegeben hatte.

 Manchmal, in seinen schlaflosen Nächten, wollte er ins Jahr 1975 zurück, um nicht zur Trauung eines besten Freundes zu erscheinen. Er wollte Martha nicht anlächeln und nicht seinen Namen nennen. Er wollte sie nicht mit zu sich nach Hause nehmen und auch nicht heiraten müssen, weil sie schwanger geworden war. Stattdessen wollte er eine andere Frau kennenlernen. Eine Frau mit einer Taille, die zu ihm aufblickte und mit der er guten Sex haben würde.

Mit den Jahren sickerte bei ihm die Erkenntnis durch, dass es gleichgültig war, was er wollte, solange er nur weiterlebte und nach außen hin alles unter Kontrolle hielt. Seitdem vergrub er sich in seine Arbeit und widmete sich dem Leben und den Streitigkeiten der Mitmenschen. Zugegeben, das war nicht immer einfach, aber verglichen mit den Launen seiner Frau geradezu ein Kinderspiel.

 Martha aktivierte den Bildschirm, der in den Ruhezustand übergegangen war und stellte sich dicht neben ihn.

 „Dieses Flittchen. Wage es ja nicht, sie morgen zu deiner Geburtstagsfeier einzuladen.“

 Einen aberwitzigen Moment lang dachte er, Martha würde ihn ohrfeigen. Doch sie tat es nicht.

 „Würdest du mir bitte sagen, was los ist?“ Michael versuchte, sich aufzurichten, und sank stöhnend zurück. Irgendetwas an seinem Rücken hatte sich verklemmt.

Als er die Augen wieder aufschlug, fiel sein Blick auf den Monitor. Da er seine Brille nicht aufhatte, beugte er sich näher heran. Dann begriff sein Verstand, was er las, und geriet ins Stolpern: Lesebestätigung um 18.59 Uhr erfolgreich versandt.

 „Ach du heiliges Kanonenrohr!“, stammelte er. Vor Michaels innerem Auge lief ein Film ab, in dem er in letzter Minute den Flammen der Frau entkam, bevor ihn die Nachricht von seinem bevorstehenden Tod erreichte. Ein bisschen fühlte es sich an, wie ein Schuljunge, der heimlich auf der Toilette rauchte und aus unerklärlichen Gründen bei den Lehrern verpfiffen wurde.

 „Ich sterbe. Ich werde sterben!“, schluchzte er.

Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden, aber die Haltung seines Kopfes und die Körperhaltung verrieten, dass er kurz davor war, seine gewohnte Kontrolle zu verlieren. 

 Als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, sah er Marthas entgeistertes Gesicht. Offensichtlich fragte sie sich, was sie von seiner Reaktion halten sollte. Zumindest sah sie ihn an, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Dann stand sie auf, strich ihr Nachthemd mit spitzen Fingern glatt und las ebenfalls die E-Mail.

Er hätte nicht sagen können, was zuerst kam: Der unvermittelte Donnerschlag von draußen oder Marthas höhnisches Lachen.

 „Und davon lässt du dich ins Bockshorn jagen? Da hat sich jemand einen Scherz mit dir erlaubt, nichts weiter. Als ob Gott den Tod per E-Mail ankündigen würde. Schwachkopf.“ Sie bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit erneut seinem E-Mail Postfach zu.

 Neugierige Kuh! Wenn ihm nicht so elend zumute gewesen wäre, hätte er sich ein solches Verhalten von Martha verbeten. Zumindest in der Theorie, denn Martha etwas vorzuenthalten hieß, mit Wörtern plattgewalzt zu werden und einem endlosen Fluss von Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt zu sein.

 Wieder donnerte es laut, diesmal dicht über dem Haus.

„Jede Ursache hat eine Wirkung und jede Wirkung eine Ursache“, schoss es ihm durch den Kopf. Doch was hatte er falsch gemacht, dass er morgen schon sterben sollte? Nichts. Nichts war falsch an seinem bisherigen Leben, abgesehen von seiner Ehe und einigen seiner Mandanten. Natürlich war er nicht mehr der Jüngste und die Rückenschmerzen stellten keinen Zustand mehr dar, sondern waren selbst zu einem festen Bestandteil seines Körpers geworden, aber verglichen mit anderen Kollegen seines Alters hielt er sich doch sehr passabel. Er redete fast nie schlecht über andere, und wenn, dann nur aus gutem Grund. Er desinfizierte sich immer die Hände, selbst nach dem ehelichen Beischlaf. Das Leben war eine aufreibende Angelegenheit, aber das hieß doch nicht gleich, dass er es in diesem seinem Leben nicht mehr aushielt! Seit er das Trinken zu seinem Hobby auserkoren hatte, (niemand - nicht einmal Martha - ahnte etwas davon), war es vielmehr so, dass sich in seinem Kopf ein Schalter umlegte, der ihn vor inneren Temperaturstürzen schützte und das Alter und die gelegentliche Sinnlosigkeit seines Daseins in weite Ferne rückte. Momentan musste er sich allerdings eingestehen, dass ihm die Zukunft eher Angst machte. Und zwar verdammte Angst. Michael presste die Lippen aufeinander und schluckte schwer. Tapfer widerstand er dem Bedürfnis, in den Keller zu gehen, sich eine oder auch zwei Flaschen Rotwein zu holen und sie in einem Zug zu leeren.

 Auf einmal durchzuckte ihn ein weiterer Gedanke, der ihn aufheulen ließ, wie ein verwundetes Tier. Mit Zugang der Nachricht, hatte in der E-Mail gestanden. Oh mein Gott, wenn das tatsächlich stimmte und die Lesebestätigung, wohin auch immer, übermittelt worden war, dann lief der Countdown bereits seit … Michael sah auf die Wanduhr und rechnete fieberhaft nach. Ihm blieben noch genau neunzehn Stunden, vierundzwanzig Minuten und ein paar Sekunden.

 Zum zweiten Mal in dieser Nacht verlor Doktor Michael Stubbe die Kontrolle, indem er bewusstlos zusammensackte, und als er nur wenige Sekunden später mit dem Kopf auf den Boden aufprallte, wusste er nicht genau zu sagen, ob er noch lebte oder schon tot war.

 

CARMEN BAPTISTA

 

Weil eine Kollegin krank geworden war, musste Carmen heute an der Kasse aushelfen. Zwischen Milchtüten, Wurstpaketen und Nudelpackungen wagte sie einen Blick auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde bis Ladenschluss, und trotzdem herrschte noch reger Betrieb. Leute eilten durch die Gänge, um mit dem Einkauf fertig zu werden und nach Hause zu fahren. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit den Kunden mehr als ein paar Worte wechselte, wurden von Herrn Heinrich von Pulla, seines Zeichens Filialleiter und Sklaventreiber, mit schöner Regelmäßigkeit abgepasst, indem er hinter den Regalen hervorschoss und seine langen knochigen Finger in ihre Schulterblätter drückte.

 „Sehen Sie die Warteschlange an dieser Kasse, Frau Babtista? Kein Mensch wartet gerne. Und lange schon gleich gar nicht.“ Obwohl der Schmerz in ihre Schulter schoss, wohnte sie äußerlich unbeteiligt der Szene bei, was Heinrich von Pulla nur noch gereizter werden ließ.

 „Sorgen Sie, verdammt noch mal, dafür, dass die Leute endlich drankommen!“ Der Schmerz zog ihr den Magen zusammen und fast hätte sie aufgeschrien.

 „Oder glauben Sie allen Ernstes, Sie sind zum Privatvergnügen hier?“ Seine geflüsterte Stimme an ihrem Ohr. Ein Schauer aus feinen Speicheltropfen traf ihr Gesicht.

 „Als ob ich das jemals vergessen könnte“, dachte Carmen.

„Na dann lassen Sie mich mal in Ruhe weiterarbeiten“, sagte sie stattdessen und lächelte den Kunden, der ihr gerade einen Zwanzig-Euro-Schein reichte, an, obwohl sie sich in diesem Moment am liebsten umgedreht hätte, um Heinrich von Pulla eine Ohrfeige zu verpassen, die er seinen Lebtag nicht mehr vergessen würde.

 Carmen konnte von Pullas Anblick nur schwer ertragen, wie er dort stand, ein schmächtiges Männchen mit überlangen Armen, die aus dem zerknitterten Jackett herausstachen, als wäre der Konstruktionsfehler alleine der Jacke zuzuschreiben und nicht seiner Person selbst.

Eine Kollegin hatte ihn einmal als hässliche Spinne bezeichnet, und Carmen fand, dass der Vergleich nicht treffender sein konnte. Seitdem war er für sie nur noch die Spinne.

 Als sie eine Linsendose über den Scanner zog - Linsen waren diese Woche im Angebot und verkauften sich demzufolge prächtig -, griff sie mit der anderen Hand nach ihrer Kaffeetasse, die sie neben der Kasse platziert hatte und nahm einen großen Schluck von dem lauwarmen Getränk. Die Zufuhr von Koffein und Zucker war dringend erforderlich, wenn sie schon keine Pause machen durfte. Sofort traf sie der Blick der Spinne.

 „Fick dich“, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen und lächelte ihn dabei an.

 „Also das ist doch …“, empörte sich eine Kundin, die gerade das Band belud und Carmen missbilligend betrachtete.

Noch bevor die Spinne zum Angriff übergehen konnte, holte Carmen tief Luft und wandte sich der Frau zu:  „Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl etwas undeutlich ausgedrückt. Viel Milch, die sie da einkaufen. Wirklich viel Milch. Sie haben für heute Gewitter gemeldet. Da kann die Milch schon mal sauer werden.“

 Ein paar Sekunden starrten sie sich an, die Kundin im knallroten Oberteil und Spinne, beide gleichermaßen unschlüssig, was sie mit Carmens Aussage anfangen sollten. Dann packte die Frau die Milchtüten ein, und Spinne, durch einen Telefonanruf gestört, lief an dem Kassenband vorbei Richtung Büro.

 „Einen schönen Abend noch“, rief sie dem letzten Kunden hinterher, der, mit Einkaufstüten bepackt, durch die automatische Tür nach draußen lief. „Geschafft!“, dachte sie. Endlich Feierabend.

   Als sie die Autotür zuschlug, war es kurz nach halb neun und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass es länger hell blieb. Der Sommer war längst da und sie hatte es noch nicht einmal geschafft, die LED-Lichterkette vom Balkon zu entfernen. Andererseits war es auch egal, denn das nächste Weihnachtsfest würde früher oder später sowieso kommen, also konnte sie sich die Mühe, zumindest was das betraf, getrost ersparen.

 Noch bevor Carmen eine der Tüten abstellen konnte, um den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, öffnete sich die Tür, und ein muskelbepackter Hüne im marineblauen Trainingsanzug marschierte mit einem Chihuahua auf dem Arm nach draußen. Das Halsband des Hundes blinkte in grellen Farben, und Carmen wunderte sich einen Moment lang, wie das arme Tiere so etwas aushalten konnte, bevor sie einen Gruß murmelte und sich an dem Mann vorbei ins Innere des Hauses drückte.

 Kaum daheim, verriegelte sie hinter sich die Tür, streifte ihre Klamotten ab und stolperte zur Dusche. Das war das, was sie immer zuerst tat, um das eklige Gefühl von Spinnes besitzergreifenden Fingertentakeln auf ihrer Haut loszuwerden.

 Beim Einseifen fragte sie sich bestimmt zum hundertsten Mal, wieso sie überhaupt auf das Inserat geantwortet hatte. Als das Wasser auf sie niederprasselte, kam die Antwort so deutlich, dass sie die Worte vor sich hin murmelte: „Weil ich das Alleinsein satt habe.“

 Etwas, was sie in all den Jahren nach ihrer nervenaufreibenden Scheidung von Hans-Jürgen geglaubt hatte, aus ihrem Leben gestrichen zu haben, war wieder zu ihr zurückgekehrt. Und zwar etwas, dass ihr schon in der Zeit mit Hans-Jürgen gefehlt hatte und für das sie keine Worte fand. Sex fehlte ihr natürlich auch, aber das allein war es nicht. Schuld daran trug Agnes, ihre Nachbarin, mit der sie sich kürzlich diese Schnulze im Kino angesehen hatte. Carmen konnte sich im Nachhinein nicht erklären, warum dieser Film sie so dermaßen mitgenommen hatte, dass sie sich nur wenig später bei einer Online-Partnervermittlung angemeldet und dann auch noch leichtsinnigerweise einem Wolfgang Meier, 58 Jahre, verwitwet, geantwortet hatte. Witwer, dass hatte sie schon oft gehört, sollten die Schlimmsten sein. Zwar zeigten die Bilder, die er ihr geschickt hatte, einen glatzköpfigen Mann mit Bart, der freundlich in die Kamera blickte, aber man konnte ja nie wissen. Trotz ihrer Bedenken, schrieben sie sich nun schon mehrere Wochen, in denen Sie auch ab und an miteinander telefoniert hatten. Und obwohl sie seine Witze nicht immer verstand, musste sie doch zugeben, dass es durchaus einige Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. Sowohl was die Form der Freizeitgestaltung betraf: Fernsehen vor Sport vor Verwandtschaftsbesuchen, als auch die Art der Nahrungsaufnahme: Es war nicht so, dass sie beide Gemüse nicht mochten, aber was war Gemüse schon im Vergleich zu einer Sahnetorte. Wie sich zudem herausstellte, hegte Wolfgang die gleiche Leidenschaft für Preisausschreiben und Quizsendungen.

 Und anderntags sollte es so weit sein. Sie wollten sich treffen. Carmen fühlte sich bei dem Gedanken daran ein bisschen wie eine 15-Jährige vor ihrem ersten Date. Wolfgang würde mit dem Zug gegen Mittag am Bahnhof eintreffen und sie würde ihn von dort abholen.

 Sie trocknete sich mit dem Handtuch ab und blieb an ihrem Spiegelbild hängen. Oh Gott, war sie das wirklich? Diese Frau, die auf das Doppelte ihres früheren Gewichts angewachsen war? Ratlos stand sie da, und obwohl sie sich wegdrehen wollte, blieb sie stehen. Forschte mit den Augen über den nackten Körper, als suchte sie nach etwas, das ihr vertraut vorkam, bei dem sie sagen konnte: „Seht her, das ist die Person, die ich seit 47 Jahren kenne.“

 „Wenn Sie sich jetzt mal zur Seite drehen würden, Frau Babtista“, murmelte Carmen.

 Ihr Spiegelbild tat ihr den Gefallen, guckte gelangweilt. Guckte, als hätte das alles nichts mit ihr zu tun. So ein gesichtsfaltiges Ding mit Doppelkinn und einem großen Muttermal auf der linken Pobacke.

 „Ha!“, schrie Carmen. „Der Fleck da, das ist meiner.“ Sie drückte den Finger gegen die Pobacke ihres Gegenübers, dann streckte sie sich die Zunge raus, verhängte den Spiegel mit dem Badelaken, zog das Nachthemd an und verließ das Bad.

 Wie sollte sie Wolfgang begrüßen? Ob er sie küssen würde? Bei dem Gedanken daran wurde ihr etwas mulmig zumute. Schließlich hatte sie schon lange niemanden mehr geküsst. Ob man so etwas verlernte? Was, wenn er Mundgeruch hatte? Und die wichtigste Frage überhaupt: Was sollte sie morgen anziehen?

 Eine Stunde später waren alle ihre Klamotten auf dem Bett verteilt und Carmen saß verzweifelt auf dem Boden. Das konnte doch nicht sein, dass sie nichts Passendes fand. Da fiel ihr Blick auf den Kleiderhaken an der Tür. Ihre Miene erhellte sich. Das rauchblaue Chiffonkleid. Es würde ihre Figur schön kaschieren. Dazu noch die neuen Lackpumps, und zumindest das Problem war gelöst. Trotzdem war und blieb sie aufgeregt.

 Um sich abzulenken, stellte sie sich in die Küche und kochte eine heiße Milch, in die sie zu viele Löffel Kakaopulver rührte, was sie aber erst beim Trinken bemerkte. Sie seufzte, holte sich eine Packung Schokoladenkekse und füllte die halbleere Tasse mit Rum auf. Wenn schon süß und kalorienhaltig, dann richtig. Als sie gerade die letzten Kekskrümel mampfte, ertönte in der Wohnung nebenan das langgezogene Jaulen des Chihuahuas. Die Pfoten kratzten auf den Dielen, als versuchte der Hund sich unter der Tür durchzugraben.

 „Scheißköter“, murmelte Carmen, obwohl sie insgeheim weniger dem Hund als dem Besitzer einen Vorwurf machte, weil er das Tier so oft alleine ließ. Ob sie der Hausverwaltung einen Brief schreiben sollte? 

 Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als über ihr die Toilettenspülung mit einer Lautstärke losbrauste, dass sie sich fragte, ob die Leitungsrohre dabei waren zu platzen.

 Und dann erst die Musik unter ihr. Carmen kapierte nicht, warum Mischke die Bässe immer so laut aufdrehen musste, dass einem die Ohren schmerzten. Manchmal passierte so was mehrmals am Tag, und es trieb sie jedes Mal zur Verzweiflung. Sie hätte gute Lust gehabt, die Treppen hinunterzurennen und gegen Mischkes Tür zu hämmern, aber wahrscheinlich hätte er sowieso nichts gehört. Also schnappte sie sich die Fernbedienung und stellte den Fernseher auf eine Lautstärke, von der sie hoffte, weitere Geräuschkulissen ihrer Nachbarn auszuschalten.

 Jemand hustete. Durchaus möglich, dass das Frau Ortleb aus dem ersten Stock war. Dann hörte Carmen das Rattern des Fahrstuhls, der altersschwach vorwärts kroch. Es dauerte dreiundfünfzig Sekunden, bis er unten angekommen war. Sie wollte eigentlich nicht mehr zählen. Zehn Sekunden, bis sich die Türen wieder schlossen. Jemand lachte. Diesmal kam es allerdings aus dem Fernseher. Die Musik dagegen, die kam weiterhin von unten, nur dass sie jetzt zusätzlich von einer lautstarken Auseinandersetzung begleitet wurde.

Carmen schnappte sich eines der Couchkissen und stülpte es über ihren Kopf. Wie lange konnte ein Mensch so etwas ertragen? An dieser beschissenen Lage war einzig und allein Hans-Jürgen schuld. Nicht, dass sie ihm auch nur eine Sekunde nachgeweint hätte, denn die Zeit mit ihm kam ihr im Nachhinein so blass und aufgedunsen vor, wie eine Dampfnudel. Trotzdem hatte er, wie sie fand, ihr Leben verhunzt. Sie war immer noch wütend auf ihn und schämte sich, dass sie sich von ihm hatte über den Tisch ziehen lassen. Von ihm und dieser Tussi, die sich nur wenige Wochen nach der Trennung bei ihm eingenistet hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können, auf sämtliche Unterhaltszahlungen zu verzichten? Dabei hatte ihr der Anwalt noch versichert, der Vertrag sei in Ordnung und sie könne bedenkenlos unterschreiben.

 „Aufhören“, schrie sie ihren Ärger heraus. „Ihr Spinner! Ihr gottverdammten Irren.“

 Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn von irgendwo klopfte jemand gegen die Wand und drohte mit der Polizei. Obwohl Carmen normalerweise nicht rauchte, befand sich in ihrer Handtasche immer ein Päckchen Zigaretten. Rauchen gehörte zu den Dingen, die einem in Notsituationen, und die gab es in ihrem Leben zur Genüge, durchaus gute Dienste leisteten. Als sie mit einer Zigarette auf die Couch zurückplumpste, nahm sie gierig den ersten Zug, verschluckte sich dann allerdings beim Inhalieren und musste so heftig husten, dass ihr die Tränen aus den Augen schossen.

 „Oh Gott“, japste sie und riss halb blind das Fenster auf. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Es war ihre Freundin und Nachbarin Agnes. Carmen, die sich außerstande fühlte, ranzugehen, ließ die Mailbox anspringen.

 „Hi, Carmen, alles in Ordnung bei dir?“ Wahrscheinlich hatte sie Carmens Hustenattacke durch die dünnen Wände mitbekommen. „Ich hab mir überlegt, wir könnten am Sonntagabend mal wieder ein Glas Wein zusammen trinken.“ Aha, daher wehte der Wind. Agnes platzte jetzt schon vor Neugierde und würde nicht eher Ruhe geben, bis sie jedes noch so kleinste Detail über das Date mit Wolfgang aus ihr herausgequetscht hatte. „Ruf kurz zurück, okay? Und … viel Spaß morgen.“ Sie lachte anzüglich, dann legte sie auf.

 Obwohl Carmens Lungen brannten und ihr Körper sich taub anfühlte, konnte sie nicht umhin zu grinsen. Agnes war zwar manchmal neugierig, aber ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie die Wohnung und den Job im Supermarkt bekommen hatte.

 Irgendwann trat im Haus eine Art Ruhemodus oder wenn man so wollte, Standby in Kraft. Und obwohl unklar war, wie lange das so bleiben würde, döste sie im Sessel ein, um nur wenig später mit einem stummen Schrei hochzuschrecken. Sie hatte geträumt. Von flammenden Blitzen. Es war ein Albtraum mit verstörenden Bildern.

 Carmen richtete sich auf und starrte auf den Fernseher, in dem ein Nachrichtensprecher von der Explosion eines Hochhauses berichtete. Gut möglich, dass ihr Traum auf den Bildern im Fernsehen beruhte. Andererseits … Sie atmete tief durch und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Am Ende des Traumes, kurz bevor sie aufgewacht war, war da nicht noch etwas anderes gewesen?

 In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf das blaue Signallämpchen am Laptop, der neben der Telefonbuchse stand. Seltsam. Sie hätte schwören können, dass das Notebook ausgeschaltet und abgesteckt war, bevor sie sich in den Sessel gesetzt hatte.

 Schlagartig setzte die Erinnerung ein. Die E-Mail in ihrem Traum! Hatte ihr nicht jemand eine Nachricht von ihrem bevorstehenden Tod geschickt? Und wenn es gar kein Traum gewesen war?

 Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre Mundwinkel zuckten.

 „Ach, du Scheiße“, entfuhr es ihr schließlich.

Carmen, die bisher jedwede Art von Glauben abgelehnt hatte, wünschte, sie hätte in diesem Moment darauf zurückgreifen können, um wenigstens eine Erklärung für das zu haben, was sie gerade zu begreifen versuchte. Dann, als ginge es um ihr Leben, und in gewisser Weise stimmte das auch, kam sie mit einem Satz auf die Beine und hechtete zum Laptop.

Als die Kirchturmuhr zwei Uhr schlug, starrte Carmen immer noch auf die E-Mail, und sie wusste nicht, ob sie entsetzt, ungläubig, denn daran hatte sich auch in den letzten zwanzig Minuten nichts geändert, oder einfach nur belustigt reagieren sollte. Obwohl, belustigt wohl eher nicht.

Die Polizei! Eigentlich sollte sie die Polizei benachrichtigen. Wenn sich hier jemand einen schlechten Scherz mit ihr erlaubt hatte, dann fand sie das jedenfalls nicht besonders lustig. Ihr den Tod innerhalb der nächsten 24 Stunden anzukündigen, war schon dreist. Und erst die Aufforderung, sich mit einem Pass bereitzuhalten! Als ob es auf dem Weg ins Nirwana einen Check-in gäbe, dachte Carmen, die nach der Adresse hinter dem mysteriösen Absender suchte, doch da war nur eine Ansammlung von Buchstaben und Zahlen. Unmöglich, herauszufinden, wer tatsächlich dahinter steckte.

 Sie stand auf, nahm die Flasche mit dem Orangenlikör aus der Vitrine. Und ein Glas. Das sie randvoll schenkte und in einem Zug austrank. Bitter und fruchtig, der Geschmack ihres ersten Urlaubs mit Hans-Jürgen im Jahr 2003, in einem italienischen Badeort an der Adria. Strahlender Sonnenschein, badewannenwarmes Wasser im Meer, die Gesichter vom Alkohol und von der Sonne gerötet, hatten sie auf einer Decke gelegen und Pläne geschmiedet. Doch während ihre Beziehung von Anfang an einen schalen Beigeschmack besessen hatte, die Wahrheit war, sie war bei ihm geblieben, weil sich niemand Besseres gefunden hatte, brannte das Getränk noch genauso wie damals in der Kehle.

Sie überließ sich der Wirkung des Alkohols, lehnte den Kopf zurück und wollte nichts mehr denken. Nicht einmal an ihr Date mit Wolfgang - doch dann kam ihr unvermittelt ein schlimmer Verdacht: Was, wenn ER ihr diese Nachricht geschrieben hatte? Sei nicht albern, schalt sie sich. Wieso sollte er so etwas tun? Vielleicht war er ein Perverser, ein Mann, der Jagd auf alleinstehende Frauen machte, um sie in seine Gewalt zu bringen und zu quälen. Oder im schlimmsten Fall, um sie umzubringen. Mit einem unterdrückten Schrei kauerte sie sich auf dem Sessel zusammen und blickte ängstlich zur Tür. Sie sehnte jetzt schon das Ende der Nacht herbei, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch nur eine Sekunde schlafen würde.

 

CHARLY ANDERS

 

Im Grunde seines Herzen war Charly froh, den Job los zu sein, auch wenn er jetzt schon wusste, wie seine Mutter auf diese Nachricht reagieren würde.

 Er drehte sich einen Joint, sank rauchend auf die Matratze und spürte der Entspannung nach.

 „Gott will dich prüfen“, würde seine Mutter sagen, „er weiß, dass du vom rechten Weg abgekommen bist, aber er wird dich auffangen und läutern.“

 Bei ihr drehte sich immer alles um Gott. Um den großen Schöpfer, der niemanden im Stich ließ. Nicht einmal ihn, den verlorenen Sohn. Oh, wie er es hasste! Wie er die Stimme seiner Mutter hasste, die niemals laut wurde, doch jedes einzelne Wort war wie ein Nadelstich, der seine Haut wundpiekste.

All die Jahre seiner Kindheit hatte Charly im Schatten eines imaginären großen Bruders zugebracht und dabei stets ein unbestimmtes Gefühl der Leere empfunden. Als hätte man ihm etwas vorenthalten, worauf er ein Anrecht hatte. Natürlich war er auch eifersüchtig gewesen. Welches Kind wäre das nicht? Doch weil es keine Möglichkeit gegeben hatte, sich kräftemäßig mit Gott zu messen, hatte er irgendwann damit begonnen, seine Wut an den Mitschülern auszulassen. Als er eines Tages einen Jungen so heftig verprügelt hatte, dass dieser nicht nur kurzzeitig das Bewusstsein, sondern auch die vorderen Schneidezähne verlor, war er von der Schule geflogen. Das passierte insgesamt fünfmal. Die Nachbarn begannen zu tuscheln, sobald sie ihn sahen.

 Der Rattenkadaver am Küchenfensterbrett seiner Mutter mochte noch Zufall gewesen sein. Nicht aber die Sache mit seinem Fahrrad. Jemand hatte die Reifen seitlich mit einem Messer aufgeschlitzt und einen Zettel mit der Aufschrift „Hau ab! Solche, wie dich brauchen wir nicht!“ hineingesteckt. Zufall ist nur eine Ausrede für jemanden, der zu faul ist, den Dingen auf den Grund zu gehen. An diesen Satz seiner Lehrerin hatte Charly denken müssen, als er den Zettel zerknüllt und ihn zusammen mit dem Fahrrad gegen eines der parkenden Autos am Straßenrand geschmissen hatte.

 „Okay, du da oben!“ hatte er gerufen. „Wenn du Gott bist und nicht nur irgendein Zufallsprodukt, dann zeig doch mal, was du drauf hast und mach das hier rückgängig.“

 „Das ist ja nicht zu fassen!“, hatte ein Mann aus dem Fenster eines mehrstöckigen Wohnhauses gebrüllt. Charly war zurückgetaumelt, weil er einen Moment lang tatsächlich geglaubt hatte, Gott habe zu ihm gesprochen. Doch beim Blick nach oben hatte er seinen Irrtum erkannt und war lachend fortgerannt. Bis zur Straßenbiegung, wo er sich mit der Hand an der Laterne um die Kurve geschwungen hatte und eher unbeabsichtigt in einen Rosenstrauch geschlittert war, an der ein Hund gerade sein Geschäft erledigte. Ein ziemlich großer Hund. Ein furchteinflößender Hund, den er, wie ihm beim Drehen eines weiteren Joints, wieder einfiel, mit dem Stein eigentlich nur hatte verjagen wollen. Dummerweise war just in dem Moment die Hundebesitzerin hinter der Hecke hervorgetreten, weshalb der Stein gegen den Kopf besagter Dame geflogen war. So hatte er das natürlich nicht gemeint. Charly hatte nur stumm und reglos dagestanden und eine unerklärliche Panik verspürt, als die Frau ohne einen Laut von sich zu geben, umgefallen war.

 Der schwere, süßliche Geruch des Joints, der zwischen seinen Lippen steckte, verbreitete sich im Zimmer. Charly wurde erneut breit und spürte die Wirkung der Droge noch stärker, als er Wein dazu trank. Die Vergangenheit war mit einem Mal nur noch ein Gedanke, rein assoziativ. Berauscht lehnte er sich zurück und versank für einige Zeit in seiner Traumwelt.

 Glücklicherweise hatte die Frau nur leichte Verletzungen davongetragen und keine Anzeige gegen ihn erstattet.

 „Wen Gott liebt, dem erlegt er Prüfungen auf“ war die Reaktion seiner Mutter gewesen.

 „Mutter“, hatte er geschrien. „Kannst du nicht einmal von etwas anderem reden als von Gott?“

 Woraufhin sie ihn entgeistert angesehen und mit vor der Brust gefalteten Händen geflüstert hatte:

 „Und David griff in die Tasche, nahm einen Stein, schleuderte ihn und traf den Riesen Goliath an seiner Stirne, dass er niederfiel auf sein Angesicht.“

 Natürlich war der übertriebene Hang seiner Mutter, alles mit Gott in Verbindung zu bringen, nichts Neues für Charly, aber dass sie so weit ging, ihren eigenen Sohn mit David zu vergleichen, machte ihn fassungslos. Und weil er auf den ganzen Scheiß keinen Bock mehr hatte, beschloss er nur wenige Tage nach seinem 16. Geburtstag, dem Dreckskaff für immer den Rücken zu kehren und seinen leiblichen Vater in Berlin aufzusuchen. Wie sich allerdings schon beim ersten Kontakt herausstellte, wollte sein Vater ihn nicht nur nicht bei sich aufnehmen, sondern lehnte es schlichtweg auch ab, ihm finanziell unter die Arme zu greifen.

 „Ich glaube, es ist besser, wenn du gehst.“ Der Vater hatte mit den Fersen gewippt und ungeduldig auf die Armbanduhr gesehen. Doch Charly war beharrlich vor seiner Tür stehengeblieben. Dann schlug die Tür zu, und ein bisschen war er sich vorgekommen wie ein lästiges Insekt, das man gegen die Wand klatschte.

 Das war vor fast zwei Jahren gewesen. Glücklicherweise hatte er Matze kennengelernt, einen Sprössling aus reichem Elternhaus, dessen Vater Vorstandchef eines großen Autokonzerns war und der seinem Sohn großzügig Schecks und Geldüberweisungen ausschrieb. Matze hatte ihn nur allzu bereitwillig in seinem Zwei-Zimmer-Loft einziehen lassen, solange Charly ihm nur die Hausarbeit abnahm und die leeren Weinflaschen durch Neue ersetzte.

 Nachdem er eine weitere Weile dagelegen und in die Leere gestarrt hatte, kramte er, einem sentimentalen Impuls folgend, das Handy heraus und rief Björn-Ole, so der bescheuerte Name seines Erzeugers, an. Normalerweise musste er es mehrmals versuchen, wenn er ihn in seinem Büro erreichen wollte. Auch jetzt war er darauf eingestellt, dass ihn die Sekretärin abwimmeln würde und erschrak, als sich Björn-Oles Stimme meldete.

 „Hallo, hier ist Charly. Ich …“ Er verstummte und starrte durch die verschmutzte Fensterscheibe hinaus in den Abendhimmel, weil ihm einfach nichts einfiel, was er sagen könnte.

 „Was willst du von mir?“, fragte Björn-Ole abweisend, und schließlich: „Hör zu, damit du es ein für alle Mal kapierst: Was auch immer das Problem ist, es ist dein Problem. Ich mag zwar dein Vater sein. Das war´s dann aber auch mit den Gemeinsamkeiten. Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Geh zurück zu deiner Mutter. Sie und ihr barmherziger Gott werden dich bestimmt mit offenen Armen empfangen.“ Er lachte scheppernd und beendete das Gespräch mit dem unausgesprochenen Hinweis, dass er ab sofort nicht mehr von ihm belästigt werden wollte.

 Charlys benebeltes Gehirn brauchte eine Weile, um das Gehörte zu sondieren und einzuordnen.

 „Fick dich. Fickt euch alle!“, schrie er schließlich. Dann packte er die Rotweinflasche, trank sie in einem Zug leer und umklammerte den Flaschenhals mit beiden Händen. Mit einer plötzlichen, ausladenden Bewegung zertrümmerte er sie auf dem Boden. Splitter flogen durch die Luft, trafen ihn am Arm und Gesicht.

 Charly betrachtete den kaputten, scharfkantigen Flaschenhals, den er noch immer in der Hand hielt. Dann bohrte er die Glaskanten tief in die Haut und zog sie langsam am Unterarm entlang. Kurz vor den Pulsadern stoppte er und schleuderte die restliche Flasche weg.

 Als er das Blut herabströmen sah, schrie er auf vor Schmerz und Fassungslosigkeit - vor allem vor Fassungslosigkeit - und taumelte, die blutende Hand nach oben haltend, ins Bad. Dort ergriff er eines von Matzes Handtüchern und drückte es fest auf die Wunde. Binnen Sekunden hatte sich der Stoff vollgesogen, weshalb er zusätzlich nach dem Hemd über der Wanne langte und daraus einen notdürftigen Druckverband machte. So viel Blut. Ihm war übel.

 Was um Gottes Willen hatte er sich nur dabei gedacht? Einen Moment lang starrte er in den Spiegel und erschrak. Er sah krank aus. Aufgedunsene blasse Haut, Schweißperlen auf der Stirn, blutunterlaufene Augen. Er war krank. Konnte man mit so einer Schnittwunde sterben? Wahrscheinlich schon. „Reiß dich zusammen“, rief er sich zur Ordnung und griff nach dem Handy, um Matze anzurufen.

 „Hey, Charly-Boy, du alter Hurensohn!“, drang Matzes Stimme dumpf an sein Ohr. Das war ihre Standardbegrüßung am Telefon, auf die er normalerweise mit einem „Tschaka, tschaka“ antwortete. Nur gerade eben war ihm nicht danach, und so platzte es aus ihm heraus:

 „Matze, ich sterbe.“ 

 Am anderen Ende herrschte Stille, absolute Stille, als läge das Handy unter einem Kissen vergraben.

 „Hallo?“, schrie Charly, aber bis auf das Atmen am anderen Ende blieb alles still. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte er, wie Matze tief Luft holte und zum Sprechen ansetzte.

 „Hast du zu viel gekifft oder was?“ Es folgte eine kurze Pause, bevor er weitersprach: „Weißt du, Charly, mit Drogen löst man auf Dauer keine Probleme.“

 Wenn es ihm nicht so beschissen gegangen wäre, hätte er fast darüber gelacht, dass ausgerechnet Matze, der sich jeden Abend mit Alkohol zudröhnte, ihn eines Besseren belehren wollte. Aber so brachte er nur ein klägliches Schluchzen zustande, das seine Tränen im Keim erstickte.

Unvermittelt sackte Charly zusammen, schlug auf dem Boden auf und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Er hätte später nicht sagen können, ob Verzweiflung oder ob Schmerz der Grund dafür gewesen war. Vielleicht war es auch einfach nur der Anblick des dunklen Flecks auf dem Teppich gewesen, der sich bei näherer Betrachtung als Blutlache entpuppte.

 „Hallo? Hörst du mich, Charly? Ich bin sofort bei dir. Beweg dich nicht von der Stelle.“, dröhnte Matzes aufgeregte Stimme an sein Ohr.

 „Witzbold“ war das Letzte, das Charly dachte, bevor er das Bewusstsein verlor.

 Als er wieder zu sich kam, lief klare Flüssigkeit durch einen Tropf in seinen Arm. Neben ihm schnarchte ein älterer Mann durch eine Nasensonde. Matze saß an seinem Bett und betrachtete ihn stumm.

 „Okay, bevor zu fragst: Nein, ich wollte mich nicht umbringen.“

 Charly traf ein zweifelnder Blick.

 „Ey, wenn ich’s dir doch sage. Ich war einfach angepisst von dem Gespräch mit meinem Alten, deshalb hab ich mich zugedröhnt und … na ja, da waren auf einmal die Glassplitter und irgendwann war dann überall dieses Blut.“ Bei dem Gedanken daran zuckte er mit den Schultern und blickte auf seinen dick bandagierten Arm, der in einer Schlinge hing.

 „Sorry, Mann. Ich hab Scheiß’ gebaut“, flüsterte Charly. „Es tut mir leid“, versuchte er es erneut, als keine Reaktion kam.

Wieder verstrichen Sekunden des Schweigens zwischen ihnen.

 „Ey, bist du taub oder was? ES TUT MIR LEID!“ Charly hatte die letzten Worte so laut geschrien, dass sein Bettnachbar erschrocken auffuhr und sich dabei die Sonde aus der Nase riss. Nach einem Moment der Verblüffung, was für alle Anwesenden gleichermaßen galt, setzte das Schrillen des Alarms fast zeitgleich mit dem Keuchen des Mannes ein.

 Mit einem Knall, der Charly und Matze zusammenzucken ließ, schlug die Tür gegen die Wand, als eine Krankenschwester hereinkam. Überraschend flink für ihren voluminösen Körper eilte sie zu dem Patienten, legte die Sonde wieder an, wartete eine Weile, bis sich dessen Atmung beruhigt hatte, und startete dann den Monitor neu. Mit Blick auf Charly zischte sie leise:

 „Auf jemanden wie dich kann die Welt gerne verzichten.“ Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum.

 „Ey, was sollte das denn?“, entfuhr es Charly.

 „Sie ist offenbar nicht gerade ein Fan von dir“, antwortete Matze trocken. Jetzt war es an ihm, mit der Schulter zu zucken.

 „Na, egal. Um unser Gespräch von vorhin wieder aufzunehmen“, fuhr er fort, „ich nehme deine Entschuldigung an. Aber wenn ich schon hier sitzen muss und mir nach deinem Anruf vor Angst fast in die Hose gemacht habe, wollte ich dein ’Es tut mir leid’ wenigstens ein paar Mal hören. Und“, fügte er hinzu, „ich kann dir nicht garantieren, dass ich nicht noch andere Wege finden werde, dich in den kommenden Wochen für den Schreck, den du mir eingeflößt hast, büßen zu lassen.“ Zum ersten Mal huschte ein angedeutetes Lächeln über Matzes Gesicht. Wäre das hier ein Film, dann müsste an dieser Stelle der Abspann laufen, dachte Charly.

Der Hauptdarsteller, in diesem Fall er selbst, wird gerettet, erfährt eine Läuterung und schafft es dadurch, seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Aber das hier war kein Film, bei dem man einfach weiterspulen konnte, wenn einem eine Stelle nicht gefiel. Das hier war sein Leben. Oh, Mann! Wie gerne hätte er jetzt was zum Rauchen gehabt. Ob Matze wohl was für ihn dabeihatte?

 Als hätte Matze seine Gedanken vom Gesicht abgelesen, schüttelte er den Kopf.

 „Vergiss es. Oder willst du, dass sie dich aus der Klinik werfen?“