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Stefan Maiwald

DIE TOTE IM STADL

Ein Bad-Kleinkirchheim-Krimi

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Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2020

Copyright dieser Ausgabe © 2020 Servus Verlag bei Benevento Publishing

Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH,

Wals bei Salzburg

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ISBN: 978-3-7104-0239-5

eISBN: 978-3-7104-5029-7

CHEFINSPEKTOR KERSCHBAUMER WIRD IM URLAUB GESTÖRT

INHALT

1.Weg mit dem Speck

2.Ernstls Skigruppe macht eine Entdeckung

TAG 1 DER ERMITTLUNGEN

3.Fastenbrechen

4.Blutige Spuren

5.Im ersten Haus des Ortes

6.Kleinere Nebengeschäfte

7.Schnipsel & Notizen

TAG 2 DER ERMITTLUNGEN

8.Der rasende Mirko

9.Journalistenauftrieb

10. Ein Sprung in die Adria

11. Pfeffersteak mit Hilde

TAG 3 DER ERMITTLUNGEN

12. Ein Waschbrettbauch aus dem Nichts

13. Die taffe Chefin

14. Besuch beim Verletzten

15. Der Besuch der alten Dame

16. Olegs Geheimnis

TAG 4 DER ERMITTLUNGEN

17. Werners Geständnis

18. Eine merkwürdige Begegnung

19. Hoch oben Richtung Maibrunn

20. Ernstls Gespür für Schnee

TAG 5 DER ERMITTLUNGEN

21. Auf ins Nobelhotel

22. Die schöne Chefin ist wütend

23. Ein verschwundener Yorkshire-Terrier

24. Ein Konflikt auf Russisch

TAG 6 DER ERMITTLUNGEN

25. Das nun aber endgültige Ende der Kerschbaumer’schen Diät

26. Ein Italiener ohne Alibi

27. Der Nerd aus dem Norden

28. Zischelnde Hoteliers

29. Es brennt!

TAG 7 DER ERMITTLUNGEN

30. Im Büro des Dorfvorstehers

31. Mirko redet, ein bisschen

32. Ordnung ins Schlamassel

33. Gewinner und Verlierer

34. Inspektion des Baugrundes

35. Eine unergiebige Zapfstation

36. Die Beerdigung in der Einkehr

TAG 8 DER ERMITTLUNGEN

37. Ein erster Verdächtiger

HORROR IM BERGIDYLL!

38. Anzès Mini-Geständnis

39. Trevisol mischt sich ein

40. Die taffe Chefin, plötzlich ganz zahm

41. Ein Geier der unteren Hackordnung

TAG 9 DER ERMITTLUNGEN

42. Wasser-Reich

43. Franz Ferdinand ziert sich

44. Der Hinterminator

45. Feiersinger hat Probleme und erklärt seine Cent-Theorie

46. Werner und die Reflexion

47. Ein sehr, sehr blutiges Steak

48. Der Anschlag

49. Die Rettung

TAG 10 DER ERMITTLUNGEN

50. Spuren im Schnee

51. Ein rätselhaftes Detail

52. Ein ganz illegaler Zugriff

53. Der Besucherstuhl als Hauptdarsteller

54. Ein Kaffee und ein Feuerkelch

ANHANG
eine kulinarische Tatortbegehung

NACHWORT

1.Weg mit dem Speck

Die Hantelscheiben waren rot, knallrot, genau wie Kerschbaumers Gesicht. Kerschbaumer machte »AAAAAAaaaaarrgh«, während Nieselregen sich an den von Schweiß und Narzissmus beschlagenen Scheiben abarbeitete. Links neben ihm turnte eine Frau, die mit ihrem Pferdeschwanz, dem Stirnband und den Stulpen aussah wie frisch aus einem Aerobic-Video der 1980er-Jahre. Allerdings legte sie einen einwandfreien Spagat hin, sie musste also neueren Jahrgangs sein. Außerdem war ihr Outfit, wie Kerschbaumer neulich beim Friseur gelesen hatte, jetzt wieder modern. Rechts neben ihm mühte sich ein mehr zeitgemäß gekleideter, dafür sehr übergewichtiger Mann ab. Als ob es ums Ganze ging, radelte er gegen seinen Kalorienüberschuss an, den er sich in jahrelanger, konzentrierter Arbeit in den Kärntner Wirtshäusern erarbeitet hatte.

Doch Wendelin Kerschbaumer wusste, dass Häme fehl am Platz war. Als er die Olympia-Langhantel nach dem dritten Satz Schulterdrücken zu Boden ließ und dabei an sich hinabblickte, war das Problem allzu offensichtlich und nicht zu leugnen: Er hatte bäuchlings zugelegt nach der Scheidung. Dabei müsste es doch genau gegenteilig sein, hatte er immer wieder gelesen: Eine Scheidung sorge für einen Neuanfang, ein neues und besseres Ich. Man war wieder auf dem Markt, man musste sich präsentabel halten. Doch Kerschbaumer hatte sich ordentlich Kummer angefuttert.

Das, fand er, war keine vernünftige Strategie bei der Suche nach einer neuen Partnerin. Also hatte sich der Chefinspektor der Landespolizeidirektion Wien, dreiundvierzig Jahre alt, recht ansehnlich mit dem dichten Haar und der gesunden Gesichtsfarbe, zu einer zweiwöchigen Sportkur zurückgezogen. In die Berge von Bad Kleinkirchheim, jenes hübschen, etwas zerfasert an der Landesstraße B88 liegenden Ortes im Herzen von Kärnten, der mit viel Fleiß und Glück seit etwa zwei Generationen zu einem der touristischen Hotspots der Alpen geworden war. Es war Anfang Dezember und bereits kühl, und unten im Tal wollte sich der Nieselregen einfach nicht verfestigen. Immerhin lagen oben auf der Piste schon ein paar solide Zentimeter, während die Schneekanonen Tag und Nacht ihren monotonen Job erledigten.

Der Wintertourismus lief gerade an, doch der große Ansturm würde erst am achten Dezember kommen, der Maria Immacolata, jenem italienischen Feiertag, der in diesem Jahr besonders günstig auf einem Freitag lag und zu einer üppigen Brücke ermunterte.

Nun war aber ausgerechnet der Fitnessraum von Kerschbaumers Hotel wegen eines Wasserschadens gesperrt, und er hatte auf ein echtes Gym ausweichen müssen, das weiter unten in Radenthein lag, einem Ort, der sich bemühte, ein klein wenig von den Reiseströmen zu den Bergen umzuleiten und sich deswegen den fragwürdigen Slogan »Die facettenreiche GranatStadt« verpasste, nur echt mit dem Binnenmajuskel.

Werner, der freundliche Muskelberg im Fitnessstudio Ruckizucki Fit, mixte Kerschbaumer nach seinem Training einen Proteindrink. Der Shaker sah in Werners Pranken aus wie ein Playmobil-Modell. Kerschbaumer trank aus und hatte fertig.

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Auf der gewundenen Straße ging es vierhundert Höhenmeter und einige äußerst spitze Serpentinen zurück hinauf in den Wintersportort. Auf dieser Straße trafen saturierte 50-km/h-Schleicher aus holländischen Neubaugebieten auf aufgemotzte Dorfjugend-GTIs mit 110 km/h. Für letztere galt Mario Andrettis Motto: »Wenn du dein Fahrzeug unter Kontrolle hast, bist du nicht schnell genug.«

Die hiesigen Autofahrer trugen das SP im Nummernschild, denn die Gemeinde mit ihren eintausendsiebenhundert Einwohnern gehörte zum Bezirk Spittal an der Drau. In einem Tal der Gurktaler Alpen gelegen und von den Nockbergen umgeben, soll der erste Kurgast einer Legende nach schon im elften Jahrhundert hierhergekommen sein, nämlich der im Kampf verwundete Pfalzgraf Boto Graf von Ottenstein. Seine Wunden pflegte er erfolgreich im guten Bad Kleinkirchheimer Quellwasser, und weil die Quelle praktischerweise ihm gehörte, überschrieb er sie im Jahr 1070 an das Benediktinerkloster Stift Millstatt, was ebenfalls ganz einfach ging, war das Kloster doch seine eigene Gründung.

Kerschbaumer schaffte es ohne Zwischenfälle bis nach ganz oben, bog im Ortskern nach rechts auf den Maibrunnenweg ab, fuhr den Italienerhügel hinauf, der so hieß, weil ab eintausendfünfzig Metern Höhe alle, wirklich alle Apartments im Privatbesitz italienischer Familien waren, und gelangte schließlich in sein Hotel Kirchheimerhof, wo er, den Bauch einziehend, noch kurz mit den beiden hübschen Rezeptionistinnen flirtete, bevor er ausatmete und auf sein Zimmer ging.

2.Ernstls Skigruppe macht
eine Entdeckung

Wer sich den unverständlichsten Kärntner Bergdialekt vorstellt und ihn mit zehn multipliziert, bekommt in etwa eine Vorstellung von Ernstl Tiefenhauer, seiner Ausdrucksweise und seiner Welt. Ernstl, blond und hager, war der beliebteste Ski- und Snowboardlehrer der Ski- und Snowboardschule Kraxler, die sich ein Monopol erarbeitet hatte und in der Hochsaison, die bald beginnen sollte, mit siebzig angestellten Skilehrern bis zu eintausendvierhundert Schüler pro Woche über die Pisten scheuchte.

Derzeit waren nur zwei Kindergruppen zu betreuen, und die Eltern wollten unbedingt Ernstl. Sein völlig unverständliches Gemurmel hatte etwas angenehm Sedierendes, und Skifahren, guter Gott, das konnte er wie kein zweiter. Selbst auf tiefschwarzen Pisten wie der Franz-Klammer-Abfahrt fuhr der Zweiundzwanzigjährige rückwärts vor seiner Gruppe her und gab Tipps und Korrekturen, die keiner verstand. Außerdem lächelte er immer freundlich. Also musste er auch schon in der Nebensaison ran, denn alle, die ihn noch vom Vorjahr kannten, verlangten nach ihm.

Dabei hatte es erst gestern ein kleines Malheur gegeben. Er war oben mit zwölf Kindern gestartet und unten mit elf Kindern angekommen. Einer der Kleinen musste mal Pipi und konnte es durch seine Sturmhaube nicht kommunizieren, und so war er einfach eigenmächtig ausgeschert. Die Aufregung war überall groß, außer bei Ernstl, der anschließend im Büro der Skischule meinte, man solle ihm einfach die jungen Holländerinnen geben statt kleiner Kinder. Die Sekretärinnen der Skischule verstanden, was Ernstl sagte. Aber nur ein bisschen.

Heute war es etwas besser, denn Ernstl hatte eine Kindergruppe bekommen, die schon sicherer auf den Skiern stand (keine »Pizza« und »Spaghetti« mehr – »Pizza« hieß Schneepflug, »Spaghetti« paralleles Fahren). Mit diesen fortgeschrittenen Rackern verließ er auf der Maibrunnabfahrt auf eintausendsiebenhundert Metern, wo bereits echter Schnee lag, die Piste und stieb durch die Wälder.

Zwei Kinder prallten gegen Bäume, ein drittes fädelte die Skispitzen ein und überschlug sich, ein viertes verkantete und rutschte einen Abhang hinab. Der übliche Schwund bei Ernstls Kindergruppen; alle hatten ihren Spaß. Ernstl schnallte sich die Skier ab, um Kind Nummer vier zu bergen, das unten zwischen zwei Baumstümpfen auf dem Rücken lag, aber dabei recht fröhlich winkte.

Während des Skischuh-Gestapfes hangabwärts blitzte ihm vom Waldrand etwas in die Augen: ein Stich Neon von links, ein ungewöhnlicher Farbblitz in diesem hochalpinen Ensemble von Weiß und Grün. Ernstl blinzelte und wandte den Kopf. In der offenen Holztür eines Stadls, der mittlerweile als Lagerschuppen einer nahen Almhütte diente, lag etwas – nein, das war … ja, das war zweifellos eine Person.

Genauer gesagt war es ein Mädchen mit langen blonden Haaren, die auf ihren teuren bunten Skianzug von Bogner fielen. Eintausendzweihundert Euro kostete so ein Skianzug, wusste Ernstl, denn damit kannte sich der Bergbauernbub aus.

Nein, es war kein Mädchen, wohl eher eine junge Frau, erkannte Ernstl beim Näherstapfen. Es sah beinahe so aus, als ob sie schlief. Wäre da nicht das verstörende Detail eines Messers, das bis zum Schaft in ihre Brust gerammt war.

TAG 1 DER ERMITTLUNGEN

Dienstag, 5. Dezember

WETTER image

Kühle, graue, äußerst missmutige
Wolkendecke, mit vereinzelt nachteiliger
Auswirkung aufs Gemüt
.

PISTENBERICHT image

Eine belgische Mutter mit burschikoser
Kurzhaarfrisur beschwerte sich über
Ernstls Ausflüge mit der Kindergruppe
abseits der Piste. Wegen der Lawinengefahr.
Sie wollte »den Inhaber sprechen«
und zog erst wieder ab, als sie zehn
Prozent Ermäßigung bekam
.

3.Fastenbrechen

Im Hotel gibt es zwei Arten von Menschen. Die einen fragen, ab wann es Frühstück gibt. Die anderen fragen, bis wann es Frühstück gibt. Wendelin Kerschbaumer, sonst Frühaufsteher, ließ es sich hier nicht nehmen, die Disponibilität des Servicepersonals aufs Äußerste auszureizen. Zu einer guten Kur, befand er, gehörte ein guter Schlaf.

Leider gehörte zu einer guten Kur auch eine gesunde Ernährung. Müsli, Obst, Tee und ähnlich freudloses Zeug. Keine der köstlichen, warmen, duftenden Semmeln, keine der in allen Rottönen lockenden Marmeladen, und schon gar nicht Spiegelei mit Speck oder ein milchiger, extragroßer Cappuccino. Und während er noch einen letzten, verzweifelten Blick auf die Brotkörbe warf, führte sein Handy rund um den erbärmlichen Müslischleim, den er sich vorgesetzt hatte, einen lautlosen Vibrationstanz auf.

»Hallo?«

Nachdem das Telefonat zu Ende geführt war, hatte sich die Sache mit dem Kururlaub vorerst erledigt. Das änderte zwar nichts an dem trüben Blick aus dem Fenster ins erbärmliche Grau dieses Vormittags, es änderte aber wohl etwas am Müslischleim. Das Erste, was Kerschbaumer tat: Er ging zum Buffet und holte sich zwei Spiegeleier mit knusprigem Speck. Dann bestellte er sich einen milchigen, extragroßen Cappuccino. Schließlich mussten die Nachrichten aus Wien erst mal verdaut werden.

Am Telefon war der atemlose Isidor Kruschannig gewesen, der Abteilungsleiter der Landespolizeidirektion Wien. Der atemlose Kruschannig war Kerschbaumers Vorgesetzter. Er hieß überall nur Annig, denn am Telefon meldete er sich so hastig, dass man nur den letzten Teil seines Namens verstand. Sein Ruhepuls musste bei etwa hundertfünfzig Schlägen pro Minute liegen. Zum Sanguiniker fehlte ihm allerdings das heitere Gemüt, denn er trug schwer an seiner Verantwortung. Am Telefon hatte er gefiept und gejapst, und allen Kollegen – auch ihm selbst – war klar, dass ein fulminanter Herzinfarkt praktisch an der nächsten Straßenecke auf ihn wartete, in hochhackigen Schuhen und verführerischen Netzstrümpfen. Vielleicht nicht heute, und vielleicht auch nicht morgen, aber doch lange vor der Wiederkehr des Halleyschen Kometen.

Das Telefonat, dessen Inhalt hier in klarem Deutsch statt in hechelndem Wienerisch zusammengefasst werden soll: Es hatte einen Mord in Bad Kleinkirchheim gegeben. Übrigens den ersten seit elf Jahren – den Selbstmord eines störrischen Bergbauern nicht mitgerechnet, der ganz aus Versehen am Abend Rattengift im Obstbrand zu sich genommen hatte und dessen Grundstück danach von den Erben endlich gewinnbringend an einen ausländischen Investor verkauft werden konnte. Jedenfalls hatte sich der zuständige Chefinspektor von der Landespolizeidirektion Kärnten, ein gewisser Hartmut Trevisol, beim Gletscherskifahren überschätzt und lag nun mit einem Schien- und Wadenbeinbruch im Klinikum Klagenfurt. Die Landespolizei hatte auf seiner Dienstebene bei den Kollegen um Hilfe gebeten, denn die Sicherheitskräfte vor Ort hätten zwar Erfahrung mit falsch parkenden Eltern, die ihre Kinder nur mal schnell zum Kinderkurs bringen wollten, sowie mit betrunkenen Nordländern in Après-Ski-Hütten, aber zu einem waschechten Mord fehle ihnen dann doch die Kompetenz. Da habe Annig sogleich den Kerschbaumer ins Spiel gebracht, wo der doch, wie Annig zwischen zwei Atemzüge schob, seit der Sache mit dem Raubmord im vierten Wiener Bezirk gewissermaßen österreichweit ein Held der Sicherheitsexekutive sei, inklusive Auftritt bei den deutschen Freunden von »Aktenzeichen XY«.

Der Landespolizeidirektor aus Kärnten habe Annigs Vorschlag dankbar angenommen; Sonderzahlungen und großzügige Anrechnung von Kerschbaumers Urlaub seien selbstverständlich, versicherte Annig. Die Spurensicherer aus Klagenfurt seien schon unterwegs, und die Bad Kleinkirchheimer Kollegen erwarteten ihn noch am heutigen Tag.

4.Blutige Spuren

Ja, die Sache mit dem Raubmord im vierten Bezirk. Der Fall hatte Kerschbaumer monatelang ordentlich auf Trab gehalten. Ein stadtbekannter Juwelier war am Abend vor seiner Haustür überfallen worden, ausgerechnet als er seine teuerste Uhr trug, eine Patek Philippe Nautilus Sonderedition zum fünfzigjährigen Bestehen der Reihe, Listenpreis 275 900 Euro, unter Liebhabern wegen ihrer Seltenheit durchaus auch 400 000 Euro und mehr wert. Bei dem Überfall versagte vor Aufregung sein Herz, was die Staatsanwältin nicht als Totschlag, sondern als Mord einstufte, weil die Räuber außergewöhnlich brutal vorgegangen waren. Kerschbaumer hatte schließlich herausgefunden, dass zwei Angestellte des Juweliers hinter dem Überfall steckten und zwei Freunde zur Tat angestiftet hatten. Lange war ein Insiderjob vermutet worden, doch keinem Angestellten war etwas nachzuweisen. Erst ein Überwachungsvideo mit einem Detail, das die Forensiker übersehen hatten, brachte Kerschbaumer auf die Spur: Einer der Täter hatte eine Hose mit Camouflage-Aufdruck getragen. Diese Aufdrucke sind auch in der Massenproduktion nie genau gleich, und so fanden Kerschbaumer und seine Kollegen in der Wohnung eines der Verdächtigen tatsächlich eine Hose, die perfekt zur Aufnahme der Überwachungskamera passte. Alle vier Täter saßen nun in der Justizanstalt Wien Mittersteig, die den ganz schweren Jungs vorbehalten war. Die Uhr blieb allerdings verschwunden; vermutlich war sie über mehrere Hehler am Arm eines orientalischen Prinzen gelandet.

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Wiens Straßen waren so weit entfernt wie eine andere Galaxie hinter einem schwarzen Loch. Denn Kerschbaumer stand mitten im Wald. Tannen mit feinem Schneeüberzug ragten über ihm weit in den bleiernen Himmel. Und vor ihm lag etwas, was einmal eine Person mit Gefühlen und Träumen gewesen war. Wo immer diese Gefühle und Träume jetzt waren: In der Person waren sie jedenfalls nicht mehr. Die Frau lag auf dem Rücken im Eingang des Stadls und war außergewöhnlich hellblond, vermutlich färbte sie, aber der Ansatz war kaum zu sehen. Ihre Haare waren aufgeföhnt und elegant gewellt, selbst jetzt noch, wo sie sich auf der festgetretenen Erde ausbreiteten. Die Augen waren halb offen und blickten wie über ein Kochrezept sinnierend zur Seite. Der Mund war geschlossen, was auf einen Tod erst in den letzten vierundzwanzig Stunden hindeutete – die Kiefermuskulatur stand noch unter Spannung. Vom Brustbereich abwärts schillerte ihr Körper purpurn, und auch um sie herum hatte sich eine große, dunkle Pfütze gebildet. Sie musste nahezu ihr gesamtes Blut verloren haben. Hinter ihr stapelten sich leere Getränkekisten von der Unterwirt Hüttn, der nahe gelegenen Berghütte, die einmal pro Woche über den hier vorbeiführenden Versorgungsweg abtransportiert wurden.

»Das ist ja eine schöne Sauerei«, schimpfte Viktor Kriechnitz von der Abteilung Spurensicherung der Landespolizeidirektion Kärnten, während zwei Kollegen die Fußspuren fotografierten und die Umgebung nach verwertbaren Schnipseln absuchten. Kriechnitz hielt sich dabei auffallend zurück. Wie ein erfahrener italienischer Wirt in seiner Osteria dirigierte er die Untergebenen mit dem Kinn, das immer wieder hervorzuckte und in eine bestimmte Richtung wies. Er war verdammt stolz auf sich, auch beim Anblick einer Leiche den coolen Hund zu mimen. Revierinspektor Volker Feiersinger dagegen blickte betreten, und auch seine Kollegin, Inspektorin Hilde Hofgärtner, schluckte. Kerschbaumer ließ der Anblick ebenfalls nicht kalt. Feiersinger und Hofgärtner waren die beiden Polizeibeamten, die in Bad Kleinkirchheim ein beschauliches Leben führten, das nun auf so dramatische Art unterbrochen worden war.

»Sie hatte ihren Ausweis dabei. Eine Slowenin. Swetlana Kastelic. Einundzwanzig Jahre alt, das arme Ding«, erklärte Inspektorin Hofgärtner. »Sie arbeitete als Putzfrau im Hotel Pulracher.«

»Das heißt Zimmerservice«, verbesserte Revierinspektor Feiersinger.

»Das heißt graduierte Raumkosmetikerin«, schmunzelte Kriechnitz. Seine gute Laune hing so irritierend in der Luft wie WC-Spray. Kerschbaumer blickte ihn scharf an, doch der wütende Blick prallte an einer Mauer aus Arroganz ab und zersprang am Boden in tausend Stücke. Dann sprach Kerschbaumer mit Ernstl, dem Entdecker der Leiche, doch das Kärntnerisch schaffte ihn, und der Skilehrer hatte auch nicht mehr zu sagen als das, was er schon längst zu Protokoll gegeben hatte.

Notgedrungen wandte Kerschbaumer sich also wieder an Kriechnitz. »Schnee. Gut, oder?«, fragte er und deutete auf die Fußspuren, die vom Tatort wegführten und in denen sich ebenfalls Blut fand.

»Ja, vielleicht haben wir Glück und können sogar die Marke der Schuhe ermitteln.« Kriechnitz ordnete Fotos der Spuren an, und die digitalen Kameras klickten ihre monotone Melodie.

Kerschbaumer betrachtete Swetlanas Halbschuhe. »Nicht gerade geeignet zum Wandern, oder?«

»Nein.«

»Was wollte sie hier? Sie hatte doch sicher nicht vor, Pfandflaschen zu klauen.«

»Hmm, nein.« Die Assistenten bekamen ein Kinn von Kriechnitz und erweiterten ihren Radius.

Kerschbaumer blickte die Tote an. »Haben Sie Handschuhe gefunden?«

»Was meinen Sie?«

Kerschbaumer betrachtete die rosa lackierten Fingernägel der Leiche. »Sie trägt eine dicke Daunenjacke und einen mehrfach gewickelten Schal, aber keine Handschuhe. Finden Sie das nicht ungewöhnlich?«

»Hmmm«, machte Kriechnitz.

»Darf ich?«, fragte Kerschbaumer. Kriechnitz gab ihm ein paar Plastikhandschuhe. Damit tastete der Wiener Chefinspektor vorsichtig die teure Jacke ab. Die Handschuhe steckten in den beiden tiefen Außentaschen.

»Na, da haben Sie Ihre Handschuhe«, lächelte Kriechnitz.

Kerschbaumer nickte, aber es kam ihm trotzdem seltsam vor. »Was ist mit ihrem Handy?«

»Bislang noch nix.«

»Sie geht am Abend aus dem Haus und hat ihren Ausweis dabei, aber nicht ihr Handy. Eher ungewöhnlich für eine Einundzwanzigjährige.«

Kriechnitz blickte Kerschbaumer verschlagen an. Augenscheinlich mochte er keine klugen Menschen. »Wir haben ihre Nummer im Hotel erfragt, bereits eine Handyortung beantragt und aufgrund der Dringlichkeit genehmigt bekommen.«

»Und?«

»Leider ohne Ergebnis.«

»Das ist mysteriös.«

»Entweder es ist ausgeschaltet, der Akku ist leer, es liegt in einer Höhle oder es wurde äußerst gründlich und fachmännisch mit einem Hammer zerstört.«

Kerschbaumer erinnerte sich an den Haschischdealerring in Wien, der seine alten Handys stets in kochendes Wasser warf. »Das heißt dann vermutlich, dass es absichtlich, nun ja, entsorgt wurde. Versuchen Sie es mit einer Funkzellenabfrage. Das sollte kein Problem sein.« Mit dieser Abfrage konnten die Ermittler mit etwas Glück den Weg eines Handys über die letzten Tage nachverfolgen.

»Schauen S’ mal hier, wir haben noch etwas gefunden.« Kriechnitz holte ein bereits in Zellophan verpacktes potenzielles Asservat hervor. Es war ein dunkelbrauner Aktenkoffer aus Leder im Börsenmaklerstil der 1980er-Jahre mit vergoldetem Zahlenschloss.

»Offen, leer und nass«, erklärte der Chef der Spurensicherung. »Wir wissen allerdings nicht, ob er etwas mit dem Mord zu tun hat.«

»Wo lag er?«

»Da hinten, unter den beiden Fichten.« Kriechnitz zeigte auf eine Stelle in etwa zwanzig Metern Entfernung vom Tatort.

»Fußspuren?«, fragte Kerschbaumer.

»Nein. Aber er könnte auch dorthin geschleudert worden sein. Lange liegt er jedenfalls noch nicht im Freien.«

»Dann untersuchen Sie ihn mal auf Fingerabdrücke und alles Sonstige.«

»Selbstverständlich.« Kriechnitz verdrehte ungeniert die Augen. Wollte dieser Wiener ihm etwa erklären, wie Ermittlungsarbeit funktioniert?

Über den Waldweg hatte sich inzwischen eine Ambulanz bis auf zweihundert Meter genähert. Die Sanitäter mussten den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen, um die Trage heranzubringen. Mit etwas Mühe legten sie den Körper darauf. Und Kerschbaumer fiel dabei auf, dass Swetlana recht groß war, bestimmt an die eins achtzig.

Dann kam ein weiteres Fahrzeug herangefahren, ein Lieferwagen. Auf den Seitentüren stand: »Der flinke Fischer – Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereinigungsmeister, Inh. Horst Fischer«.

Auch nach zwanzig Jahren im Beruf und unzähligen Begegnungen zuckte Kerschbaumer immer noch zusammen, wenn diese Menschen mit Kriminalfällen zu schaffen hatten. In Österreich durften ausgebildete Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereiniger mit Meisterbrief nämlich auch Tatorte reinigen.

»Wir brauchen hier noch eine Weile«, rief Kriechnitz, als sich der Fahrer näherte.

»Ich hab Zeit, die Arbeit läuft ja nicht weg«, entgegnete Inh. Horst Fischer fröhlich, ging zum Wagen zurück und öffnete die Hintertüren, um erste Gerätschaften hervorzuholen.

»Bis wann können wir mit den Ergebnissen rechnen?«, fragte Kerschbaumer.

»Die Todesursache kann ich Ihnen auch sofort sagen«, schmunzelte Kriechnitz, der verfluchte Spaßbolzen.

5.Im ersten Haus des Ortes

Swetlana hatte ein Zimmer in einer Pension bewohnt, gemeinsam mit ihrer Kollegin Martina, einer stämmigen Belgierin mit tschechischem Vater, die im Spa des Pulracher als Masseurin arbeitete. Die Pension war von der einfacheren Sorte und ganzjährig vom Hotel fürs Personal angemietet worden. Es war ein karger, aber sauberer Raum mit zwei Betten und zwei Nachttischen, einem großen Schrank und einem WC mit, immerhin, Badewanne. Von dem kleinen Fenster konnten die beiden Bewohnerinnen den Ausblick auf ihre Arbeitsstelle genießen. Wie romantisch. Beide hatten sich etwas wohnlicher eingerichtet, mit Postern und Fotos über ihren Betten. Bei Swetlana waren es italienische und amerikanische Schauspieler mit einem deutlichen Tom-Holland-Schwerpunkt, dem aktuellen Spider-Man. Über Martina, die mit verheulten Augen auf ihrem Bett saß, hingen jede Menge Familienfotos.

»Es tut mir sehr leid um Ihre Kollegin«, sagte Kerschbaumer.

»Freundin«, verbesserte Martina und schluchzte auf.

»Ich weiß, es ist jetzt sehr schwer, darüber zu sprechen. Aber können Sie sich vorstellen, wer zu einer solchen Tat fähig wäre?«

Martina schüttelte energisch den Kopf. Kerschbaumers Hand bekam eine Träne ab.

»Ist Ihnen in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen? War Swetlana irgendwie verändert?«

»Sie war wie immer«, brachte Martina mit erstickter Stimme hervor.

»Hatte Swetlana einen Freund?«

Martina schüttelte den Kopf. Und Kerschbaumer erkannte, dass hier und heute wenig zu holen war.

»Die Spurensicherung wird gleich da sein«, sagte er. »Ich bitte Sie, das Zimmer zu verlassen und nichts mitzunehmen. Hier ist noch meine Karte. Melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«

Martina blickte verdutzt auf Kerschbaumers Visitenkarte, eine Reaktion, die er in den letzten Jahren immer wieder bei jungen Leuten beobachtet hatte, denen Visitenkarten mit aufgedruckten Namen und Telefonnummer drauf wie ein geheimnisvolles Relikt aus der Zeit der Pyramiden vorkamen.

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Hinter dem Rezeptionstisch des Hotels Pulracher kam ein serviler Kerl hervorgeschossen (Krawatte, Siegelring), der sich als »Guest Manager« vorstellte. Den Kopf unter dem gegelten und scharf zurückgekämmten Haar permanent schräg haltend, entschuldigte er die Abwesenheit der Chefin: »Frau Pulracher ist auf einem wichtigen Termin in Wien«, hechelte er. »Sie ist soeben von uns unterrichtet worden und kommt gleich morgen Vormittag zurück.«

Kerschbaumer nickte. »Ich würde gern mit einigen Ihrer Mitarbeiter sprechen.«

»Aber selbstverständlich, selbstverständlich. Sie haben nichts dagegen, wenn ich dabei sein werde?«

Kerschbaumer hatte etwas dagegen.

Doch auch hier zeigte sich schnell, was Kerschbaumer schon von vielen Ermittlungen kannte: Unter dem Schock einer schweren Straftat stehend, gab das Umfeld nur Gestammel und Banalitäten von sich. Er sprach mit den Mitarbeitern des Zimmerservice, mit Köchen und mit einer weiteren Spa-Mitarbeiterin, mit der Swetlana in der letzten Saison zusammengewohnt hatte. Sie war, bestätigten alle, fröhlich und beliebt gewesen (niemand sagte je etwas anderes über eine frisch Ermordete), niemand könne sich auch nur irgendetwas erklären. Kerschbaumer seufzte. Hier war nicht viel zu holen. Er würde ein paar Tage vergehen lassen müssen. Und er wusste jetzt schon, dass dieses Zeitfenster niemandem schmeckte. Nicht den Vorgesetzten, nicht den Medien, und genau genommen nicht einmal ihm selbst.

6.Kleinere Nebengeschäfte