Hallie Ephron

Hüte deine Zunge

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Meßner

Insel Verlag

 
 
 
 
 

Dieses Buch ist ein fiktionales Werk. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse sind von der Autorin frei erfunden oder werden ausschließlich im fiktionalen Sinn verwendet und sollen keine Wirklichkeit beschreiben. Jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, Örtlichkeiten, Organisationen sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

1
Samstag

Emily Harlow war nicht überzeugt, dass ihre Sockenschublade sie wirklich glücklich machte. Früher hatte sie ihre Socken wild durcheinander in die oberste Schublade ihres Mahagonischreibtischs gestopft, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Hatte sich bemüht, dem Mantra des Aufräumgurus zu folgen und nur Socken behalten, die »zu ihrem Herzen sprachen«. Stramm wie die Soldaten standen sie da, brav nach Anweisung paarweise zusammengelegt (die Zehen auf das Bündchen) und nach Farben aufgereiht. Monate später, frühmorgens an einem schwülheißen Augusttag, sie stand gerade in Shorts, Tank-Top und Flipflops im sonnendurchfluteten Schlafzimmer, flüsterten diese Socken ihrem Herzen zu, sie seien wohl eher Ausdruck ihres Privilegs als ihres Glücks. Wer brauchte denn so viele Socken?

Dennoch, das Sockensortieren hatte ihr Leben komplett umgekrempelt. Aus einer Laune heraus machte sie damals eine Reihe von Schnappschüssen, schnitt sie zu einem Stop-Motion-Video, einer ruckeligen Bildsequenz, die den Übergang vom Chaos zur Ordnung dokumentierte. Sie ließ Socken vor der Kamera salutieren, und zum krönenden Abschluss machte sie ein Selfie, wie sie grinsend eine Mülltüte mit ausrangierten Socken in den Altkleidercontainer warf. Überblende zum Schlussbild mit der frisch sortierten Sockenschublade. Dieses Video machte einen wirklich glücklich.

Das Bild postete sie auf Instagram. Später wurde es tausendfach gelikt und geteilt, und in der Sparte »Leute von heute« brachte der Boston Globe einen Beitrag über Emily und ihr Sockensortiervideo. Ein TV-Sender lud sie in die Talkshow des Morgenprogramms ein. Und ehe sie es sich versah, bekam sie Anfragen von Leuten, die Hilfe beim Ausmisten ihrer Schubladen und Kleiderschränke brauchten und den Prozess gern von ihr filmen lassen wollten.

Das war kurz vor Schuljahresende gewesen, als ihr jeder Vorwand recht war, um im darauffolgenden Herbst mit dem Unterrichten aufzuhören. Früher hatte sie gern unterrichtet. Hatte nichts lieber getan, als im September das Klassenzimmer einzurichten. Ihren Materialienschrank auszumisten und mit Tonnen von Papier und Kunstmaterialien auszustatten. Fünfundzwanzig rotwangigen Drittklässlern zu begegnen und sie mit den Wundern der Bruchrechnung vertraut zu machen, mit dem Sonnensystem und mit Schweinchen Wilbur und seine Freunde. Aber nachdem sie nun schon ganze acht Jahre das Schulsystem von East Hartwell ertragen hatte, in dem sich alles nur um Prüfungen drehte, und sie sich noch um die wohlmeinenden Eltern kümmern musste, denen Grammatik und Aussprache wichtiger waren als Kreativität und Problemlösungskompetenz, war das Unterrichten nicht länger etwas, das ihr wirklich am Herzen lag. Jedenfalls nicht auf die unkomplizierte Art des Sockensortierens.

Die überwältigende Reaktion auf ihr Video und die Aussicht auf viele zahlungswillige Kunden, deren Leben sie ausmisten durfte, fühlten sich an wie ein kleines Wunder. Emily reichte unverzüglich ihre Kündigung ein, verbrannte stapelweise Lehrpläne und Notenspiegel, verschenkte tonnenweise Lehrhandbücher und Unterrichtsmaterialien. Ihre große Hoffnung war es, nie wieder den Geruch von Whiteboard-Markern ertragen oder Wellpappe auf Pinnwände heften zu müssen.

Dass Frank, ihr Ehemann, sie darin unterstützte, hatte sie angenehm überrascht: Mach es einfach. Geh das Risiko ein. Gib dem Ganzen ein Jahr und schau, was passiert. Dabei zahlten sie immer noch die Kredite ab, mit denen Frank und sein bester Freund, Ryan Melanson III., eine Anwaltskanzlei eröffnet hatten. Die Höhen und Tiefen, die mit der Gründung des neuen Unternehmens einhergingen, waren ein Spaziergang im Vergleich zu der emotionalen Achterbahnfahrt, die sie und Frank gerade erlebten, weil sie sich beide ein Kind wünschten.

Allerdings war Frank nicht wohl dabei, dass sie zu fremden Leuten nach Hause ging. Man wusste ja nie. Daher hatte er auf ihrem Smartphone die Ortungsfunktion aktiviert, damit er nach ihr suchen konnte, falls sie nicht nach Hause kam, und ihr eine babyblaue Elektroschockpistole von der Größe einer TV-Fernbedienung besorgt. Erst ein Mal hatte sie sie ausprobiert, und die Funken und das Knattern der Lichtblitze hatten sie fast zu Tode erschreckt. In der Hoffnung, sie nie benutzen zu müssen, hatte sie die Pistole in der Tasche mit ihrer Ausrüstung verschwinden lassen.

Emily gründete das Unternehmen zusammen mit ihrer besten Freundin Becca Jain, einer ehemaligen Krankenschwester, die zunächst als Sozialarbeiterin und später als Coach tätig gewesen war. Sie besaß ein großes Talent, die Kunden an die Hand zu nehmen und bei Laune zu halten, wenn sie den persönlichen Besitz loslassen mussten, was für einige höchst schmerzhaft war. Erfahrungsgemäß trennten die Menschen sich leichter von der Herde heißgeliebter Plastikpferde, die sie als Achtjährige gesammelt hatten, oder von dem fließenden Chiffonkleid vom Abschlussball, wenn sie ein Bild davon behalten konnten, gespeichert in einem digitalen Archiv. Emily erstellte Stop-Motion-Videos, in denen sie das allmähliche Schwinden des Besitzes dokumentierte. Sie und Becca nannten sich selbst die Stop-Motion-Krempel-Kicker, ihr Logo war ein hochhackiger Stiefel, der einem kaputten Videotape einen Tritt versetzte.

Emilys Sockenvideo hatte ihnen einen erfolgreichen Geschäftsstart beschert. Jetzt wollte sie ein Video übers Kleiderschrankausmisten drehen, um weitere potenzielle Kunden anzulocken.

»Emmy, ich bin dann mal weg!«, rief Frank von unten. Als sie nach oben gegangen war, hatte er noch in der Küche gesessen und Gartenflohmarktanzeigen gelesen, die er sich von Craigslist und Facebook ausgedruckt hatte. Jeden Samstag legte er mit militärischer Präzision eine Route fest und verließ spätestens halb acht das Haus, denn wenn es hieß: keine Frühaufsteher, stimmte das angeblich nie.

Emily verließ das Badezimmer und durchquerte den Flur im ersten Stock, der recht schmal war wegen der mit Franks Büchern vollgestopften, wandfüllenden Regale. Weiter ging's durch die Tür in einen ursprünglich als Gästezimmer geplanten Raum, der sich jedoch in Franks Lagerraum verwandelt hatte.

Als sie zum Treppenabsatz trat, schickte Frank ein breites Grinsen zu ihr hoch. Wenn er zu Gartenflohmärkten ging, sah er in seiner abgerissenen Levi's und dem T-Shirt, das Emily ihm hatte fertigen lassen, höchst unanwaltlich aus. Das Shirt zierte ein Cartoon aus dem New Yorker: Ein älterer Mann liegt auf dem Pflegebett und sagt zu der Frau, die seine Hand hält: »Ich hätte mehr Krempel kaufen sollen.«

»Brauchst du was?«, fragte Frank und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

»Keine Schlafzimmer-Sets«, sagte sie.

Frank leckte den Zeigefinger und löschte es in der Luft wie von einer Tafel.

»Aber eine Salatschleuder könnte ich gebrauchen.«

Er salutierte und ließ die Hacken knallen.

Emily kehrte ins Schlafzimmer zurück. Ihre Bitte, kein Schlafzimmer-Set mitzubringen, war eigentlich kein Scherz gewesen. Sie hatte Frank im Verdacht, in der Garage und im Keller einige Kopfteile und Bettgestelle zu bunkern, ganz zu schweigen von den Schreibtischen und Frisierkommoden. Leichtere Fracht – also Radios und kleinere Geräte aller Art (er hatte eine Leidenschaft für klassische Metallföns und Soda- und Milchshake-Maker mit Porzellansockel) – schleppte er heimlich auf den Dachboden, wenn er dachte, dass sie nichts mitbekam. Zog Emily sich in ihr winziges Arbeitszimmer in ersten Stock zurück, mit weißen Plisseerollos, dem Becher mit frisch gespitzten Bleistiften (die sie nie benutzte, aber gern ansah) und den wohlgeordneten Aktenordnern, spürte sie trotzdem, wie Franks Fundstücke ruhelos zum Leben erwachten wie das Besen-Heer des Zauberlehrlings aus Disneys Fantasia, das aufmarschiert, um ins Haupthaus einzudringen.

Nicht alles war wertloser Kram. Vergangene Woche erst hatte er das Originalcover einer Ausgabe seines Lieblings-Horror-Comics Creepy ergattert. Das signierte Aquarell hatte sich zwischen den Seiten eines Sammelalbums für zwei Dollar versteckt. Emilys Geschmack traf es nicht gerade – ein haariges Monster mit gebleckten Zähnen und erhobener Faust, das eine vor ihm kauernde üppige Blondine bedrohte. Doch als Emily den Künstler recherchierte, entdeckte sie, dass einige der Originalcover mehrere tausend Dollar wert waren.

Wie aufs Stichwort begann das Haus zu erzittern. Emily hörte die Hintertür zuknallen. Sie ging zum Fenster und sah in die Auffahrt hinunter. Schwerfällig rumpelte Franks alter Chevy Suburban (zu Flohmärkten fuhr er nie mit dem BMW Z4) rückwärts auf die Straße hinaus.

Wähle deine Schlachten, lautete der weise Ratschlag, den ihre Mutter ihr am Hochzeitstag gegeben hatte, und genau das hatte sie versucht. Der Ironie, dass sie hier im ersten Stock Sachen aussortierte, während Frank zum Jagen und Sammeln in die Welt hinauszog, war sie sich durchaus bewusst. Sie betrachtete es gern als eine Art Nullsummenspiel, auch wenn die ausgemisteten Kleider nichts waren im Vergleich zu dem Krempel, den er bald wieder ins Haus schleppen würde.

Doch darauf herumzureiten war sinnlos. Es gab schlimmere Hobbys als Franks zwanghaftes Garten-Flohmärkte-Abklappern, und ändern würde er sich gewiss nicht. Außerdem musste sie in die Puschen kommen. Becca und sie hatten am Nachmittag einen Termin mit einer neuen Kundin, und die Fertigstellung dieses Videos würde sie noch einige Stunden kosten.

Zunächst musste eine Eingangsszene her. Durch den Kamerasucher warf sie einen Blick ins Innere ihres Kleiderschranks. Auf einer einzigen Stange drängte sich ihre Garderobe, Winterkleidung auf der einen Seite, Sommerkleidung auf der anderen. Schuhe und Handtaschen bildeten einen Haufen auf dem Boden. Selbst für Drillinge wären es mehr, als sie gebrauchen konnten.

Sie schoss ein Bild. Als Nächstes musste sie die Kamera fixieren, um die Stop-Motion-Serie aufzunehmen. Sie schraubte sie auf ein Stativ, das sie in die Ecke stellte, und brachte beidseitig am Bett LED-Lichter an, damit es keine Schatten gab. Ließ die Rollläden herunter. Zündete auf der Fensterbank eine Kerze an. Die Kerze sollte helfen, sich zu sammeln und inneren Frieden zu finden. Zudem wurde sie im Lauf des Filmens immer kleiner, sodass der Zuschauer eine Orientierungshilfe bekam.

Nachdem sie alles hergerichtet hatte, nahm Emily ein Kleiderbündel nach dem anderen aus dem Schrank und stapelte alles auf einer Seite des Kingsize-Bettes. Für die ausgemusterten Kleider breitete sie drei leere Plastikmüllbeutel auf dem Boden aus und warf die verwaisten Kleiderbügel außerhalb des Sichtfeldes der Kamera in eine Ecke.

Dann sah sie sich den Haufen durch den Sucher an. Als die Kleider noch auf den Bügeln hingen, schien die Aufgabe fast nicht zu bewältigen, aber der Anblick des Haufens auf dem Bett war restlos entmutigend. Sie stellte Fokus und Belichtung ein und trat einen Schritt zurück, um sicherzustellen, dass sie nicht mit aufs Bild kam. Sie betätigte die Fernbedienung der Kamera und hatte gleich die erste Aufnahme ihrer Animation im Kasten – das große Chaos. Von jetzt an bis zu dem Moment, da sie den Kleiderstapel sortiert haben würde, musste die Kamera exakt an Ort und Stelle bleiben, und Emily durfte nicht an die Lampen stoßen.

Emily schnappte sich das oberste Kleidungsstück, eine gefütterte Wollhose mit Umschlag, ein Anachronismus in der heutigen Zeit der Leggings und Jeans. Sie breitete die Hose auf dem Bett aus. Machte eine Aufnahme. Fuhr mit der flachen Hand über die Oberfläche. Klick. Strich sie glatt. Noch mal klick. Behalten oder wegwerfen? Einfache Entscheidung. Mottenlöcher und eine sich allmählich auflösende Naht machten niemanden glücklich.

Sie kreuzte die Hosenbeine. Klick. Verkrumpelte sie. Klick. Warf die Hose in eine Mülltüte und machte eine letzte Aufnahme der leeren Fläche auf dem Bett. Dann sah sie sich die einzelnen Bilder der Sequenz an, um sicherzustellen, dass sie scharf und klar waren.

Nächstes Kleidungsstück: eine seidenartige weiße (Polyester-)Bluse mit einer Bohème-Schleife (allein das Wort ließ Emily zusammenzucken). Alljährlich zum ersten Schultag hatte sie diese Bluse getragen. Es war ihre Version einer Power-Krawatte, mit der Schleife sollte noch dem aufmüpfigsten Kind klargemacht werden, dass mit dieser Lehrerin nicht zu spaßen war.

Keine ersten Schultage mehr, kein Auftrumpfen vor Achtjährigen, somit auch kein Bedarf mehr für eine Bluse mit Bohème-Kragen. Und das Beste war, sie musste nicht mehr ihre Zeit damit verschwenden, die hohe Kunst des Ausfüllens von Sprechblasen auf Lösungsblättern zu lehren.

Zunächst machte Emily ein Bild von der Bluse mit ungebundener Schleife. Es folgten weitere – mit gebundener Schleife, mit aufgebundener Schleife, dann mit über der Brust gekreuzten Ärmeln, als wollte die Bluse sie auffordern, sich zu entscheiden. Und schließlich: weg damit.

Kurzen Prozess machte sie mit drei kastenförmigen, zweireihigen Blazern (einer rot, einer schwarz, einer marineblau). Erst reihte sie sie auf wie Soldaten. Klick. Dann ließ sie einen nach dem andern den Arm zum spöttischen Salut heben. So arbeitete sie sich durch den Kleiderstapel und warf auch das Brautjungfernkleid weg, das sie zu Beccas Hochzeit getragen hatte.

Gerade stopfte sie das Kleid in die Mülltüte, als sie den Kies auf der Auffahrt knirschen hörte. Sie trat zum Fenster und zog das Rollo hoch. Frank war wieder da. Der SUV parkte in der Auffahrt. Die Tür ging auf, und Frank stieg aus.

Von oben konnte sie die kahle Stelle erkennen, über die er immer sorgfältig die Haare kämmte. Offensichtlich hatte er etwas eingekauft, denn er beugte sich zum Griff der Kellerluke, die ins Untergeschoss führte. Quietschend öffnete er die Metalltür.

Auf dem Weg zurück zum Auto sah Frank zu ihr hinauf und winkte. Sie winkte zurück und ließ das Rollo hinunter. Was er da ins Haus schleppte, wollte sie gar nicht sehen.

Nach einem weiteren Bild des nur wenig geschrumpften Kleiderstapels griff sie nach einem türkisfarbenen Jumpsuit mit Reißverschluss, den sie in einem Second-Hand-Laden in Venice Beach gekauft hatte. Damals, frisch vom College und mit abgeschlossenem Lehrdiplom, war sie ein anderer Mensch gewesen. Und Frank ein idealistischer, frischgebackener Anwalt, der sich für Menschenrechte und Gleichberechtigung einsetzte und kurze Zeit später für zwei Jahre als Pflichtverteidiger in einem Anwaltsbüro in Massachusetts zu arbeiten begann. Venice Beach mit den alternden Hippies und Secondhand-Läden hatte sich zu einem Viertel der Hipster, Yoga-Studios und Sauerstoffbars gewandelt. Ob Frank sich wohl noch an den unglaublichen Sex erinnerte, den sie auf der überdachten Veranda eines Freundes gehabt hatten, mit Blick auf den Kanal? Gedankenfreien Sex. Sex ohne Blick auf den Kalender und ohne Temperaturmessen.

Jahre war das her, damals hatte sie geglaubt, ein Baby bekäme man einfach so. Sie hatte sich keine Gedanken über Bohème-Schleifen und Blazer gemacht, und nicht im Traum wäre ihr eingefallen, Frank werde ihr Haus zunehmend mit Krempel füllen.

Würde er ihr doch nur ein Mal gestatten, ihren Aufräumzauber auf seinen Kram anzuwenden, dachte Emily beim Blick auf die überquellenden Schreibtischschubladen. Die Kleiderschranktür ließ sich auch schon nicht mehr schließen. Franks in Kleidertaschen gequetschte »Anwaltsanzüge« könnten viel mehr Raum zum Atmen haben, wenn er nur …

Sinnlos, den Gedanken zu vollenden. Beim Entrümpeln gab es eine eherne Regel: Du darfst nur deinen eigenen Scheiß ausmisten. Und lagen sie an einem faulen Sonntagmorgen Haut an Haut in der Löffelposition, schien ihr das auch gar nicht mehr wichtig.

Sie griff nach dem Jumpsuit und hielt ihn sich vor dem lebensgroßen Spiegel an der Tür unters Kinn. Er erinnerte sie an eine reizvollere und nicht ganz so mausgraue Version ihrer selbst. Dass sie ihr altes Ich auf ihrem Weg vom Freigeist zur Grundschullehrerin und anschließend zur professionellen Ordnungsexpertin in den Mülleimer geworfen hatte, war ihre große Hoffnung.

Den Jumpsuit warf sie aufs Bett. Machte ein Foto.

Hätte es sich verhindern lassen, dass Frank zum fanatischen Sammler mutierte? War es vielleicht sogar genetisch bedingt? Als sie vor Jahren bei der Auflösung des Zwei-Zimmer-Apartments von Franks Großvater geholfen hatte, waren sie auf Stapel von Zeitungsausschnitten gestoßen, die bis in die vierziger Jahre zurückreichten. Und was tat ein Mann, der sich, außer für die Hochzeit, nie herausgeputzt hatte, mit all den in zwei Reihen im Schrank hängenden Anzügen und Sportjacken? Wie sich herausstellte, waren die Taschen ein elaboriertes Ablagesystem. Nach einem beherzten Griff in die Brusttasche einer Sportjacke hatte Frank eine Handvoll solider Vierteldollarmünzen und Dimes herausgeholt. Eine Ein-Dollar-Note mit Fehlprägung steckte in der Hosentasche. Ein Penny, eingewickelt in ein Stück Toilettenpapier, trug einen doppelten Datumsstempel. Ansonsten zählten eine wertlose Sammlung von Topfhaltern der New Yorker Weltausstellung von 1964 sowie Berge von Hotelseifen und Shampoos zu den Schätzen seines Großvaters. Frank hatte das wahrscheinlich alles aufbewahrt, und nur Gott und Frank wussten, wo.

Bei ihrer Hochzeit hatte Franks Mutter ihr im Vertrauen erzählt, das erste Wort ihres Sohnes sei »meins« gewesen. Damals hatten Franks besondere Fähigkeiten den Ausschlag gegeben und sie über das, was Emily für eine skurrile Sammelleidenschaft hielt, hinwegsehen lassen. Er sah höllisch gut aus, hatte dieses Eine-Million-Dollar-Lächeln. Er war klug. Er lachte über ihre Witze. Und er hatte nicht tausend Affären wie sein Anwaltspartner Ryan, der seine neue Freundin, nachdem er sich erst kürzlich von Frau Nummer zwei getrennt hatte, auch schon wieder betrog.

Sie widmete sich wieder dem Jumpsuit. Strich noch einmal über den weichen Stoff, während sie sich vorstellte, es sei Frank. Zärtlich glättete sie ihn. Zog die Schultern gerade. Strich die Falten aus den Beinen. Behalten oder wegwerfen?

Noch während sie darüber nachdachte, vernahm sie einen dumpfen Knall. Wahrscheinlich war die stählerne Kellerluke zugefallen. Sie blickte aus dem Fenster und sah Frank gerade noch ins Auto steigen. Gleich darauf erschallte im Haus ein lautes, misstönendes Krachen. Das Echo schickte einen Schauder Emilys Rücken hinunter. Was um Himmels willen hatte er dieses Mal angeschleppt?

2

Emily stand auf dem oberen Treppenabsatz und lauschte. Es gab einen leiseren, fast musikalischen Nachhall, doch ein Klirren wie von zerschellendem Glas ließ sie die Treppe hinuntereilen. Sie durchquerte die Küche, ihr Reich, mit den weißen Wänden, den Schränken mit Glasfront und den marineblauen Resopal-Arbeitsplatten. In dem langen, schmalen Regal standen die Gewürze in alphabetischer Reihenfolge. Selbst die Putzmittel, unterm Spülbecken versteckt, waren ordentlich in die beiden Fächer eines Drahtgeflecht-Regals einsortiert. Es roch nach Kaffee und Spüli.

Durch den kleinen Waschraum ging Emily weiter bis zur Tür zum Keller. Zögernd blieb sie stehen. Sie hatte keinen Grund, in den Keller zu gehen, es sei denn, die Sicherung war durchgebrannt. Sie öffnete die Tür, starrte in die unergründliche Dunkelheit und lauschte. Stille und Feuchtigkeit. Ein kalter Lufthauch wehte zu ihr herauf. Sie drehte das Licht an und wartete, bis die Energiesparlampen flackernd aufleuchteten und langsam heller wurden.

Auf den ersten Blick war klar, dass Frank diese Treppen nicht als schnellen Zugang zum Kellergeschoss nutzte: Sämtliche Stufen waren mit Kisten und Taschen vollgestellt. Ein »MAD-Spiel« des MAD-Magazins lugte aus einer Box. Frank hatte eine Schwäche für Alfred E. Neumann. Emily griff in eine der Taschen und zog einen alten Horror-Comic heraus, Geschichten aus der Gruft. Vorsichtig legte sie ihn wieder zurück. Jetzt roch ihre Hand nach Schimmel.

Nachdem sie einen schmalen Durchgang freigeräumt hatte, bahnte sie sich einen Weg durch den Keller, hinüber zur Wand mit der Lukentür. Dabei kam sie an einem kufenlosen Schaukelstuhl vorbei, auf dem das Skelett saß, das sie immer an Halloween vor die Tür stellten. Eine Tischtennisplatte mit gestapelten Bilderrahmen, zwei lebensgroße Keramikkatzen, die ein Schüler ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, ein grinsender grellbunt kolorierter Glasclown, ihr Gewinn bei einer Tombola, und ein Stapel 3-Ring-Binder. Die Bilderrahmen hatte Frank auf privaten Flohmärkten gekauft, aber die Binder, den Clown und die Katzen hatte Emily eigenhändig für die Sammlung einer Hilfsorganisation vors Haus gestellt. Offensichtlich hatte Frank damit andere Pläne.

Bisher hatte sie nichts entdeckt, womit der Krach hätte erklärt werden können. Sie war beinahe schon auf der anderen Seite angelangt, als ihr eine Art lebensgroße, golden angemalte Harfe ins Auge fiel. Bei näherer Betrachtung erwies es sich als der gusseiserne Rahmen eines Klaviers. Um von einem Flügel zu stammen, war er zu klein, aber doch recht eindrucksvoll. Sogar sie wusste die Schönheit des anmutig geschwungenen Rahmens zu schätzen, der größere und kleinere kraterartige Löcher aufwies. Am Rand waren die Buchstaben muskegon mich eingeprägt. Das arme Ding war weit weg von zu Hause. Der Rahmen lehnte an einem Beistelltisch, der Boden ringsum war übersät mit zerbrochenem Glas und Porzellan. Sie versuchte ihn zu verrücken, doch für sie allein war er zu schwer. Frank würde sich darum kümmern, wenn er zurück war. Oder auch nicht. Es war nicht ihr Problem.

Emily stieg die Treppe hinauf und kehrte zurück in die Küche. Im Trockenständer auf dem Tresen lag eine blaue Salatschleuder aus Plastik. Wahrscheinlich hatte Frank sie ihr mitgebracht. Er hatte sie sogar gewaschen. Sie setzte den Deckel auf und ließ sie ein paar Umdrehungen machen. Ein stechendes Schuldgefühl überkam sie. Wenn Frank eine Salatschleuder für sie erbeuten konnte, wäre den Dreck im Keller aufzufegen doch das Geringste, was sie für ihn tun konnte. Das dürfte in einer Minute erledigt sein.

Mit Besen, Kehrschaufel und einer Papiertüte bewaffnet kniete sich Emily neben den Klavierrahmen und begann, die Scherben aufzukehren. Es war eine Mischung aus Glas und Porzellan, vielleicht von einer Vase und Weingläsern. Sie warf eine Schaufelvoll in die Mülltüte, dann watschelte sie in der Hocke weiter. Nieste, kehrte noch mehr Scherben auf, warf sie ebenfalls in die Tüte.

Sie streckte sich, presste die Schulter gegen den Beistelltisch, und während sie versuchte, die letzten Scherben zu erreichen, ging die Kellerluke auf. Licht strömte herein, und eine angenehme Brise. Emily hob den Blick und erkannte Franks Umriss. Er kam die Treppe herunter, das helle Haar ein lichter Heiligenschein, und duckte sich unter dem Türrahmen hindurch. Der Blick war in eine sehr große, braune Mappe gerichtet. Diesen gierigen Blick kannte sie. Er hatte etwas ergattert.

»Hey, Frank«, sagte Emily.

Überrascht sah er auf und linste in ihre Richtung. »Emily?«

»Was hast du gefunden?«

»Was machst du da unten?«, fragte er, klappte die Mappe zu und verschloss sie. Emily schien, als wollte er sie verstecken. Vielleicht hatte er zu viel bezahlt.

Sie stand auf. Oder versuchte es vielmehr, kam aber ins Straucheln und kippte nach hinten. Sie ließ die Tüte fallen und stützte sich auf den Beistelltisch, um wieder ins Gleichgewicht zu gelangen. Das hielt der Tisch nicht aus. Er zerbrach und knickte in der Mitte ein. Wie in Zeitlupe rutschte der Rahmen, der daran gelehnt hatte, zur Seite weg. Emily warf die Arme über den Kopf und kauerte sich hin, zuckte bei dem Krach zusammen, dem eine ohrenbetäubend laute Version des lange nachhallenden Misstons folgte, den sie schon oben gehört hatte.

Der Staub legte sich wieder, und Emily hob den Blick. Stumm und verdutzt starrte Frank sie an. Schließlich sagte er. »Himmel, Arsch und Zwirn! Bist du verletzt?«

»Ich glaube nicht.« Emily richtete sich langsam wieder auf. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie einen Flip-Flop verloren hatte, und dass der nackte Fuß zwischen dem Klavierrahmen und etwas, das unter dem Beistelltisch gestanden hatte und aussah wie eine Kirchenbank für vier Personen, eingeklemmt war. Sie versuchte, ihren Fuß freizubekommen, erreichte aber nur das Gegenteil. »Autsch! Verdammt!« Sie sah zu Frank hinüber. Dieser durchwühlte die Scherben, die sie in die Tüte gekehrt hatte. »Frank, kannst du mir helfen? Ich stecke fest.«

Franks Telefon meldete sich mit einem Pling. Er zog es aus der Tasche und sah aufs Display. Wahrscheinlich ein Alarm, der ihn erinnern sollte, nicht zu spät zum nächsten Flohmarkt aufzubrechen. Er lächelte.

»Frank! Ich bitte dich! Ich komme einfach nicht …« Emily versuchte, den Fuß ein Stück freizubekommen, doch der Klavierrahmen rutschte weiter, prallte auf die Kirchenbank und ihren nackten Fuß. Emily schrie vor Schmerz auf und zog den Fuß heraus. Der Klavierrahmen krachte auf den Betonfußboden und brachte mit donnerndem Getöse einen Stapel Kisten zum Kippen.

»Autsch, autsch, autsch.« Emily hüpfte herum und hielt sich ihren verletzten Fuß.

»Emmy.« Frank ließ die Mappe fallen und eilte zu ihr, packte sie unter den Armen und zog sie von dem Gussrahmen und dem zerbrochenen Beistelltisch weg. »Geht's dir gut?«

Nein. Emily schüttelte den Kopf. Ihr Fuß pochte.

»Was machst du überhaupt hier unten?«

»Ich war oben. Da habe ich einen lauten Krach gehört und wollte nachschauen, was passiert ist.«

Kurze Stille. »Und was ist … passiert?« Sein Blick wanderte von dem Besen, der auf der Seite lag, zu der Tüte mit den Scherben und weiter zu den zerbrochenen Teilen überall auf dem Boden. Dann zurück zu Emily. Behutsam untersuchte er ihren Fuß. Er sah übel aus, war über dem Rist bereits blau angelaufen.

»Das tut höllisch weh.« Sie jaulte auf bei dem Versuch, ihren Fuß anzuwinkeln. Wenigstens hatte sie nicht das Gefühl, es sei etwas gebrochen.

Frank half ihr hoch. Vorsichtig stellte sie den verletzten Fuß auf und verlagerte ein wenig das Gewicht darauf. Kein Schmerz, der ins Bein schoss. »Das musst du sofort mit Eis kühlen«, sagte Frank. Er schob die Kisten von der Treppe, um Platz zu schaffen, schlang den Arm um ihre Taille. Sie lehnte sich an ihn und erklomm vorsichtig die erste Stufe. Dann noch eine.

»Ich habe den Lärm gehört«, sagte Emily. »Da bin ich runter, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist. Als ich das Chaos sah, habe ich nur …«

»Ich weiß. Saubergemacht. Ordnung gemacht«, sagte er und half ihr noch eine Stufe hoch. »Das machst du immer. Genau wie meine Mutter.«

Emily hielt mitten im Schritt inne. Franks Mutter war wirklich eine nette Person, aber im Grunde war Frank das Einzige, was sie und Emily gemein hatten. Wie dem auch sei, immer wenn sie in einem Streit an diesem Punkt angekommen waren, lenkte Frank das Thema auf die arme Frau. Sobald er aufs College ging, hatte seine Mutter in seinem Zimmer klar Schiff gemacht. Hatte seinen Kleiderschrank ausgemistet. Seine Schubladen. Hatte seine heißgeliebten Comics weggeworfen. X-Men #1. Spider-Man. Miracleman. Sie hatte seine Spielfiguren von Voltron, He-Man und StarWars in den Müll gekippt, zusammen mit einem ganzen Haufen Transformers-Bauklötzen.

»Deine Mutter …«, wollte Emily schon loslegen.

»Ich weiß«, sagte Frank mit einem nachsichtigen Lächeln. »Sie kann nicht anders.«

»Du bist es, der nicht anders kann«, schoss Emily zurück. »Du hast dieses … dieses … nutzlose Monster hier runtergeschleppt und einfach irgendwo abgestellt. Völlig ungesichert. Das musste ja zu einem Unfall führen.« Sie drehte sich um und starrte auf den gestapelten Plunder auf den Treppenstufen und im Kellergeschoss. »Welcher vernünftige Mensch braucht denn so viel Krempel? Hier liegt so viel Zeug rum. Und du kommst nicht mal dran. Wozu ist das gut? Das ist doch krank.«

Frank war fassungslos. »Ich bin also krank?« Er ließ sie los und ging weiter. »Mit mir ist alles in bester Ordnung. Du bist diejenige, die allergisch …« Er verstummte.

Hätte er tatsächlich die Ergebnisse ihres Fruchtbarkeitstests als Argument für seinen Plunder angeführt? Während Emily sich mit eigener Kraft die letzten Treppenstufen hinaufschleppte und Frank in die Küche folgte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Er öffnete den Kühlschrank, nahm einen Eiswürfelbehälter und knallte ihn in die Spüle. Einige Stücke schlitterten über den Fußboden. Er sammelte eine Handvoll davon auf und packte sie in ein Geschirrtuch.

»So, jetzt weißt du's«, sagte Emily. »Ich kann dein Gerümpel nicht ausstehen. Ohne Ausnahme. Ich finde es grauenvoll, dass du nichts wegschmeißen kannst. Oder weiterschenken. Dass du immerzu den Krempel anderer Leute anschleppen musst. Und es macht mich wahnsinnig, zu wissen, was du alles auf unserem Dachboden gebunkert hast. In unserer Garage. In unserem Keller. Ich habe das Gefühl, das wächst alles, immerzu. Vermehrt sich!« Sie holte in abgehackten Atemzügen Luft. »Im Gegensatz zu uns.«