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Thorn in Westpreußen, 1910.

Der schüchterne Carl, der draufgängerische Artur und die freche Isi sind frohen Mutes, dass der Ernst des Lebens noch ein wenig auf sich warten lässt. Nicht einmal die Nachricht, dass ein Komet namens »Halley« die Menschheit zu vernichten droht, kann die drei Jugendlichen schockieren. Im Gegenteil – ungerührt verkaufen sie Pillen gegen den Weltuntergang, während Halley still vorbeizieht.

Doch das Erwachsenwerden lässt sich nicht aufhalten: Carl beginnt eine Ausbildung zum Fotografen, Artur und Isi werden ein Paar. Als 1914 die große Weltpolitik über sie hineinbricht, reißt es die Freunde auseinander. Artur und Carl werden eingezogen, fernab der Heimat werden die beiden Teil eines Kriegs, der jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil hat Isi zuhause in Thorn ganz andere Kämpfe auszufechten.

1918 ist der Krieg endlich vorbei. Nichts ist geblieben, wie es einmal war – und doch scheint ein Neuanfang möglich …

Mitreißend und mit viel Gefühl für seine Figuren erzählt Andreas Izquierdo die Geschichte dreier Jugendlicher, die in den Wirren des frühen 20. Jahrhunderts ihren Weg suchen. ›Schatten der Welt‹ ist Abenteuerroman, Coming-of-Age-Geschichte und spannender historischer Roman zugleich.

autor

© Katrin Lorenz

Andreas Izquierdo, geboren 1968, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Er veröffentlichte u. a. den Roman ›König von Albanien‹ (2007), der mit dem Sir-Walter-Scott-Preis für den besten historischen Roman des Jahres ausgezeichnet wurde, sowie den Roman ›Apocalypsia‹ (2010). Bei DuMont erschienen von ihm ›Das Glücksbüro‹ (2013) und der SPIEGEL-Bestseller ›Der Club der Traumtänzer‹ (2014). Zuletzt veröffentlichte er die Romane ›Romeo & Romy‹ (2017) und ›Fräulein Hedy träumt vom Fliegen‹ (2018).

Bitte beachten Sie auch die Website zum Buch:

www.schattenderwelt.de

FIGURENVORSTELLUNG

CARL FRIEDLÄNDER

Carl ist ein empathischer, zurückhaltender Bursche, der gerne etwas mutiger wäre. Seine Mutter verstarb bei seiner Geburt. Zusammen mit seinem Vater führt er eine kleine Schneiderei, doch als in Thorn ein Geschäft für Fotografie eröffnet, beginnt er von einem ganz anderen Leben zu träumen …

ARTUR BURWITZ

Artur ist das Gegenteil von Carl: groß, stark, voller Selbstvertrauen, der geborene Anführer. Artur findet immer einen Weg, immer eine Lösung und hasst alles Rückständige. Er will etwas aus sich machen und nicht nur Wagner sein, wie es in seiner Familie seit vielen Generationen Tradition ist. Artur will nach oben.

LUISE »ISI« BEESE

Isi ist blitzgescheit, frech, manchmal sogar tollkühn und mit großem schauspielerischem Talent gesegnet. Sie steht unter der Knute ihres gestrengen Vaters, aber Isi ist durch nichts und niemanden einzuschüchtern und bereit, jede Widrigkeit in Kauf zu nehmen, nur um sich nicht zu verbiegen.

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ANDREAS
IZQUIERDO

SCHATTEN
DER WELT

Roman

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Für Luis

DER GEBURTSTAG

1

Auf den Tod angesprochen, pflegte mein Vater zu sagen, dass alles bloß halb so schlimm sei, wenn man ihm denn nur in einem schönen Anzug entgegentrete. Natürlich, er war Schneider, und seine Einschätzung zeugte von einem gewissen Geschäftssinn, auch wenn er so etwas selbstredend nie vor Kunden gesagt hätte. Dennoch wusste er, dass es wahr war, und ich wusste es auch, weil er es mir auf unzähligen Beisetzungen bewiesen hatte.

Tatsächlich war ich in meiner Kindheit öfter auf Beerdigungen als auf Hochzeiten, Erntedankfesten, Gemeindefeiern oder Geburtstagen zusammen. Keiner von uns beiden mochte den Tod, obwohl er uns in gewisser Weise über Wasser hielt, aber zum großen Verdruss meines Vaters zog sich unsere Kundschaft eben nur zweimal im Leben gut an: bei ihrer Hochzeit und bei ihrem Begräbnis. Und da Hochzeitskleider in aller Regel weitervererbt wurden, blieben meistens nur die Beerdigungen.

Warum mir ausgerechnet die vom 23. Januar 1910 in besonderer Erinnerung geblieben ist, weiß ich nicht, vielleicht, weil der Kaiser ein paar Tage später Geburtstag hatte und Artur anlässlich dieses Ehrentags den übelsten Streich ausheckte, den Thorn in seiner Geschichte je über sich ergehen lassen musste. Was für Artur und mich der Anfang von allem war.

An diesem Sonntag jedenfalls war es bitterkalt.

Schnee stob in pudrigen, eisigen Wolken durch die Straßen, und lediglich die Frommsten kämpften sich, vermummt gegen den schneidenden Ostwind, dem Geläut der St.-Georgen-Kirche entgegen. Nach der Messe würden sie kommen, um Abschied zu nehmen, jetzt aber stand die Witwe mit ein paar verlorenen Gestalten um den kleinen Kohleofen der guten Stube herum und wärmte sich die Hände. Einfache Leute. Grobe Kleidung, vielfach geflickt, in mehreren Lagen übereinandergetragen, für einige bereits ihre gesamte Garderobe. Die Tür zum einzigen Nebenzimmer war verschlossen. Darin, klamm wie in einer Gruft: der Tote mit gefalteten Händen auf dem Bett.

In der dem Ofen gegenüberliegenden Ecke, im Halblicht eines stürmischen Wintertages: Vater und ich. Wir hatten schöne Anzüge an, mit Weste, Krawatte und Vatermörderkragen, und hielten genügend Abstand zu den anderen, sodass unser Wispern nicht weiter auffiel.

»Schau dir das an, mein Junge«, flüsterte Vater und nickte zu der Gruppe am Ofen hinüber. »Man möchte einen Schneider rufen.«

»Du bist Schneider, Vater!«, antwortete ich leise.

»Niemand hat einen schönen Anzug.«

»Sie sind alle arm, Vater.«

»Wir sind auch arm, mein Junge, und schau nur, wie wir aussehen.«

Inmitten des Grauen, Zerrissenen, Geflickten, Ausgeblichenen, Fleckigen und Derben wirkten wir wie Edelleute, die sich ins falsche Viertel verirrt hatten.

»Die Leiche sieht gut aus«, versicherte ich ihm.

»Ganz genau, junger Mann, und warum tut sie das?«

»Weil sie einen schönen Anzug anhat!«

»Der morgen vergraben wird!«, gab Vater zurück, und ich konnte die Kränkung darüber in seiner Stimme hören.

Er seufzte, genauso, wie er es immer tat, wenn die Hinterbliebenen in unsere Schneiderstube eintraten und hektisch ihre Hüte oder Kappen abnahmen. Niemand nahm beim Schneider die Kopfbedeckung ab, es sei denn, jemand war gestorben. Dann drehten sie ihre Hüte verlegen in den Händen und fragten zögerlich, ob Vater nicht mal mitkommen könnte, um Maß zu nehmen.

Später kehrte der dann zurück und klagte, dass diese vermaledeite Stadt die einzige auf der ganzen Welt sei, in der man nach dem Priester gleich den Schneider rufe: Er verstand einfach nicht, warum erst im Tod wichtig wurde, was dem Verblichenen im Leben sehr viel mehr genutzt hätte.

»Gott wird deinen Anzug zu schätzen wissen«, tröstete ich.

»Gott interessiert sich nicht für Anzüge.«

Ich blickte zu der Witwe, die sich gramgebeugt an den einzigen Tisch eines ansonsten überaus kargen, aber sauberen Raumes gesetzt hatte, gestützt von einer Nachbarin, während die anderen vor dem Ofen weiter zusammenrückten. Verhaltenes Flüstern und unterdrückte Schluchzer füllten das Zimmer mit erstickender Andacht, und nur das Geflacker von Kerzen ließ Schatten tanzen in den bleichen Gesichtern, aus denen dann und wann Tränen mit Taschentüchern getupft wurden.

Mein Vater beugte sich zu mir herüber, und noch bevor er etwas sagte, wusste ich, was kommen würde, denn wir führten diese Beerdigungsgespräche auf die eine oder andere Art schon seit Jahren.

»Weißt du, wie viele Stiche ich früher geschafft habe?«, fragte er mich.

Natürlich tat ich das, aber ich gab mich ahnungslos und antwortete: »Wie viele?«

»Sechzig Stiche in der Minute!«

»So viele?«

»Nicht einer weniger! Und wie viele Stiche haben die besten Schneiderinnen damals geschafft?«

»Wie viele?« Ich spielte dieses Spiel gern mit.

»Fünfzig Stiche! Bloß fünfzig Stiche!«

»Donnerwetter!«

»Heute habe ich meine kleine Amerikanische. Die schafft dreihundert. Aber mit der Maschine ist das ist nicht mehr dasselbe.«

»Wieso ist es nicht mehr dasselbe?«, fragte ich, wie ich es schon oft getan hatte, und hoffte dabei, aufrichtig neugierig zu klingen.

»Die Liebe!«, rief mein Vater.

Die Leute sahen zu uns herüber, doch als wir beharrlich schwiegen, wandten sie sich wieder dem Ofen zu.

»Die Liebe«, flüsterte mein Vater. »Es gibt keine Liebe mehr. Früher hast du den Stoff gehalten, ihn zwischen den Fingern gefühlt, verstehst du? Heute ist alles anders.«

Die Wohnungstür öffnete sich, zwei graue, schneebedeckte Gestalten strichen herein. Und mit ihnen die eisige Luft des Treppenhauses, noch bevor einer der beiden die Tür wieder schließen konnte. Einen Moment standen sie unschlüssig dort, dann grüßten sie mit einer kleinen Geste in die Runde und kondolierten der Witwe flüsternd. Die nahm die Tröstung mit zusammengepressten Lippen entgegen und blickte ihrerseits zur Tür, hinter der ihr toter Mann lag. Die beiden nahmen die Hüte ab, begannen, sie unschlüssig in ihren Händen zu drehen, und traten schließlich wie auf Zehenspitzen in das Zimmer.

Ich erhaschte einen Blick hinein: Drinnen herrschte Dunkelheit, die Fensterläden waren fest verschlossen, und nur ein kleines Grablicht auf einem schäbigen Nachttisch tanzte im Durchzug undichter Fenster. Ich sah sie an das Bett treten, die Köpfe zum Gebet senken, sich anschließend bekreuzigen und wieder herausschleichen, die Tür hinter sich schließend.

Eine Weile noch starrte Vater sie an, als erwartete er, dass sie etwas sagten, aber sie schwiegen, und nachdem sie sich am Ofen etwas aufgewärmt hatten, verließen sie die Wohnung genauso verstohlen, wie sie gekommen waren.

Vater seufzte erneut.

Er war furchtbar stolz auf sein Handwerk, aber nicht allein deswegen pries er seine Vergangenheit bei jeder Gelegenheit. Er beugte sich erneut herüber und nahm unser leises Gespräch wieder auf: »Die haben jetzt neuerdings Konfektionsware! Hast du das schon gehört?«

»Konfektionsware?«

»In Fabriken gemacht. Ich hörte, dass es da in Berlin ein riesiges Kaufhaus gibt …«

»Wertheim.«

Er sah mich erstaunt an: »Hatte ich das schon mal erzählt?«

»Was? Nein, also, ich glaube nicht.«

»Jedenfalls gibt es in diesem Kaufhaus Tausende von Anzügen. Und noch mehr Kleider. Ganze Etagen soll es davon geben!«

»Berlin ist weit weg.«

»Gerade mal einen Tag mit der Ostbahn!«

»Aber das ist doch nicht dasselbe wie ein schöner handgemachter Anzug von einem Schneider.«

Vater zückte ein Taschentuch und tupfte sich die Stirn: »Aber wenn so etwas auch bei uns kommt?«

»Hier im Osten zählt Handwerk noch etwas, Vater!«

Er nickte beruhigt und sagte: »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

Plötzlich funkelten seine Augen, und ich atmete tief durch, denn ich wusste, was er im Begriff war, mir ins Ohr zu flüstern: Riga.

»Wenn ich da an Riga denke …«

»Riga?«

»Ich war der beste Schneider in Riga!«

»Wirklich?«, rief ich scheinbar erstaunt.

»O ja, mein Junge! Gleich am Domplatz hatte ich meine Schneiderei: Friedländer. Alle sind sie zu mir gekommen: Deutsche, Russen, Letten, Juden, Christen. Alle sind sie zum Friedländer.«

»Es war sicher ein sehr großes Geschäft?«, fragte ich pflichtgemäß.

»Sehr groß, mein Junge, ich hatte fünf Untergebene! Fünf! Kannst du dir das vorstellen?«

»Die größte Schneiderei von Riga?«

»Ganz genau!«

Glockenklang kam auf, tanzte gegen Schnee und Wind bis an die Wohnungstür heran. Die Kirche war aus – die braven Thorner würden bald hier sein.

»Die feinen Herren und Damen hättest du sehen sollen!«

»Die waren sicher sehr elegant?«

»Elegant?«, fragte er fast empört zurück. »Herrlich waren die anzuschauen! Herrlich! Und weißt du, wer die Herrlichste von allen war?«

Natürlich wusste ich das, aber ich sah in fragend an: »Wer?«

»Deine Mutter, mein Junge, deine Mutter! Sie sah aus wie eine Romanow! Wie eine Romanow!«

»Sie war sehr schön, nicht wahr?«

Vater schüttelte fast schon verärgert den Kopf: »Ach, Junge, was du wieder redest! Sie war unbeschreiblich schön! Alle haben sie bewundert! Einmal hat ihr ein echter Graf den Hof gemacht! Ein echter Graf! Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein!«

»Doch! Sie hatte dieses Kleid an. Oh, was für ein Kleid das war! Meine beste Kreation! Burgundrote Seide, acht Reihen Volants. Und das Mieder! Man konnte ihre Taille mit bloßen Händen umgreifen, dazu dieser kecke Cul de Paris. Die Männer waren verrückt nach ihr! Und dieser Graf erst! Er wollte sie vom Fleck weg heiraten!«

»Aber sie hätte dich doch niemals verlassen?«

Vater lächelte versonnen: »Natürlich nicht.«

Einen Augenblick lang war ich guter Hoffnung, dass ihn die Erinnerungen nicht wieder in den düsteren Keller der Schwermut sperren würden, aber schon in der nächsten Sekunde schimmerten Tränen, und er griff rasch zum Taschentuch, um es sich vor sein Gesicht zu halten.

»Sie hat dich nie kennenlernen dürfen, mein Junge«, schluchzte er bitterlich. »Dein erster Atemzug war ihr letzter.«

Vorsichtig versuchte ich, ihn mit Gesten zu beruhigen, aber ohne Erfolg: Er weinte stumm in sein Taschentuch. Mir blieb nichts weiter, als beschwichtigend seinen Rücken zu streicheln. Doch je länger ich ihn zu trösten versuchte, desto heftiger bewegten sich die Schultern unter meinen Fingern, bis ich aus den Augenwinkeln sah, dass die Witwe auf uns aufmerksam wurde, vom Tisch aufstand und zu uns herüberkam. Im nächsten Moment stand sie neben uns und berührte vorsichtig Vaters Arm.

»Mein lieber Friedländer«, sagte sie gerührt.

Doch dann übermannte auch sie die Trauer, und mit gütigen Augen und überlaufendem Herzen nahm sie ihn in den Arm, ihn, der immer noch das Taschentuch vor sein Gesicht gepresst hielt, als ob er sich seiner Tränen schämte.

So standen die beiden zusammen und weinten.

Nickten wissend und hielten sich.

Dann löste sie sich wieder, strich ihm mütterlich über die Wange und brachte dann halb lächelnd, halb weinend hervor: »Dass Sie mein Verlust so mitnimmt, ist mir so ein großer Trost. Ich danke Ihnen dafür.«

Mein Vater nickte erneut, die Lippen aufeinandergepresst.

Ein letzter anerkennender Blick, dann kehrte sie um und wärmte sich am Ofen.

Vater trocknete seine Tränen, raffte sich wieder zusammen und raunte mir schließlich zu: »Da siehst du, was für eine Heilige deine Mutter war! Selbst im Tod tröstet sie die Untröstlichen.«

Ich schluckte und antwortete: »Ja, es ist ganz erstaunlich.«

Wenig später flog die Wohnungstür auf. Ein Pulk Kirchgänger drängte hinein, ähnlich grau und vermummt wie die anderen auch. Obwohl sich alle bemühten, gedämpft zu sprechen, kam große Unruhe auf, die Witwe verschwand hinter ihren Rücken, und die Luft im Zimmer kühlte merklich ab von den eisigen Mänteln und Jacken.

Wieder wurde die Tür zum Schlafzimmer geöffnet, nacheinander verschwanden die Besucher darin, kamen wieder heraus und ließen die nächsten eintreten, bis irgendwann jeder dem Toten seine letzte Aufwartung gemacht hatte. Jetzt verließen auch wir unsere Ecke und drängten uns zwischen die Trauernden.

Und endlich geschah das, weswegen wir überhaupt hier waren.

Wir standen neben einer Frau und hörten sie leise sagen: »Sieht er nicht gut aus?«

Da blickte mich mein Vater mit stillem Lächeln an, und ohne Mühe konnte ich in seinem Gesicht lesen, was er mir in Gedanken zurief: Siehst du? Siehst du? Denn alle um uns herum stimmten ihr zu, dass er noch nie so gut ausgesehen habe, gerade so, als ob er schliefe. Und die Art, wie sie es sagten, verwandelte ihre sorgenvollen Gesichter in friedvolle.

Mein Vater nahm das alles mit stiller Genugtuung auf, denn mochten sie seine Kreationen auch vergraben, so freute er sich doch über die Anerkennung. Aber vor allem war er zufrieden, weil er mir mal wieder bewiesen hatte, dass der Tod bloß halb so schlimm war, wenn man ihm nur in einem schönen Anzug entgegentrat.

2

Der Wind schlug mir förmlich ins Gesicht, als wir aus der grauen Mietskaserne nach draußen traten und uns auf den Heimweg machten. So ungemütlich, ärmlich und klamm die Wohnung im dritten Stock auch gewesen sein mochte, verglichen mit dem, was uns vor der Tür erwartete, war sie so behaglich wie ein Platz vor einem knisternden Kamin. Es gab weder Straßenbeleuchtung noch befestigte Wege noch Bürgersteige, und die einzigen Geräusche, die wir vernahmen, waren das Geklapper morscher Läden und Türen und das eisige Pfeifen der Böen. So klappten wir unsere Mantelkragen hoch, rafften mit der einen Hand die Revers vor der Brust zusammen und hielten mit der anderen unsere Hüte auf dem Kopf. Vornübergebeugt kämpften wir uns knapp drei Kilometer die Graudenzer hinab Richtung Culmer Tor, während unsere Finger in den Minusgraden langsam taub wurden.

Schneider froren oft.

Das galt nicht nur für den Winter, sondern auch für Herbst und Frühjahr mit ihrem unsteten, oft stürmischen Wetter. Saß man an der Arbeit, fühlte man die Kälte unter dem Türspalt oder durch die Fensterrahmen hereinkriechen und war ihr dann in der beinahe bewegungslosen Konzentration des Nähens oder Absteckens ausgeliefert, bis sie langsam, aber sicher vollkommen Besitz von einem ergriff.

Wir erreichten den kleinen Viktoriapark, an dem sich mehrere Straßen kreuzten und hübsche Fassaden von gutbürgerlichem Wohlstand kündeten. Wir dagegen bogen in den Hinterhof des unscheinbarsten Hauses, das mit der Nummer 24, über dessen fensterlosem Erdgeschoss Friedländer & Sohn, Schneiderei auf den Putz gemalt worden war.

Mit blauen Händen und steif gefrorenem Gesicht suchte mein Vater nach den Schlüsseln. Ob er auch an Riga dachte, während er die morsche Eingangstür aufschloss? An die Altstadt mit ihren Prachtbauten, den Schützengarten und den Domplatz, an dem sein Geschäft gestanden hatte? Das große Schaufenster, auf dem sein Name in goldenen Buchstaben gestrahlt hatte, und die fünf Angestellten, die im Laden bedient oder mit gekreuzten Beinen Kleidung genäht hatten? An meine Mutter in ihren prächtigen, von ihm selbst entworfenen Kleidern?

Die Wahrheit war, dass er oft betrachtete, was aus den Tiefen seiner Erinnerungen zu ihm auftrieb und an die Oberfläche stieß. Immer wieder fuhr er dabei förmlich zusammen und hatte diesen kurzsichtig anmutenden Ausdruck im Gesicht, den er sonst nur bekam, wenn er konzentriert auf die dahinfliegende Naht unter seiner Amerikanischen starrte. Dann begann er mit einer seiner Episoden von damals. Aus einer Zeit, als seine Welt noch in Ordnung war und Mutter noch lebte. Und in gewisser Weise auch er selbst. Und es war nicht allein das, was er erzählte, was es so amüsant machte, sondern auch, wie er dabei aussah.

Wir traten ein, entzündeten drei Petroleumlampen, deren gelblicher Schein viele Schatten warf und die über die Jahre die Wände so verrußt hatten, dass selbst an schönen Sommertagen das Licht diffus blieb. Der einzige Platz mit guter Sicht war der vor den Seitenfenstern mit Blick in den Park. Dort stand auch Vaters geliebte Nähmaschine: eine etwas in die Jahre gekommene schwarze Singer mit Fußantrieb, die tadellos funktionierte und von der er immer behauptete, heutzutage würde solche Qualität gar nicht mehr gebaut.

Im hinteren Teil der Stube gab es noch eine kleine Küche mit einem Tisch, einem Stuhl und einer Bank, auf der ich nachts schlief. Die Kochstelle war auch gleichzeitig unser Ofen, sodass es lange dauerte, bis die Wärme den Schneiderraum erreicht hatte. Und raus aufs Klo zu müssen, quer über den Hof, in einem Winter wie diesem, vor allem nachts … Wie gesagt: Wir froren oft.

An diesem Tag jedenfalls assistierte ich ihm bei einem Kleid, bei Weitem nicht so prachtvoll wie jenes, das er einst für meine Mutter gemacht hatte, aber deutlich herrschaftlicher als das, was üblicherweise geordert wurde: ein hübsches Empirekleid mit freundlichen Blauverläufen. Noch wusste ich nicht, welche Rolle dieses Kleid spielen würde, noch war es nur ein wichtiger Auftrag, der endlich wieder einmal etwas einbringen sollte.

Wir arbeiteten bis zur Dämmerung, dann packten wir alles zusammen, und während ich Ordnung schuf in der Schneiderstube, bereitete mein Vater das Abendessen zu: Kartoffeln.

Es gab immer Kartoffeln.

Kartoffeln mit Sauerrahm, Kartoffeln ohne Sauerrahm, Bratkartoffeln mit und ohne Zwiebeln, Bouillonkartoffeln, Kartoffelpüree, Kartoffelpuffer, Kartoffeln mit Essiggurken und am Schabbes Kartoffeln mit Fisch. Wenn ich denn in der Weichsel einen fing, was im Winter selten genug vorkam. Ansonsten eben Kartoffeln. So viele, dass ich als Kind eine unbestimmte Furcht vor Kartoffelkäfern entwickelte und die Felder während der Blüte- und Erntezeit mied.

Wir saßen in der Küche und aßen bedächtig, als Vater plötzlich aufsah und fragte: »Was macht die Schule? Sie ist bald vorbei, nicht?«

»Ja, nach den Osterferien, 6. April.«

»Ach, mein Junge«, seufzte er, wobei sein Ausdruck sentimental wurde und seine Augen verdächtig zu schimmern begannen. »Eben hab ich dich noch auf dem Arm, und im nächsten Moment bist du schon ein Mann.«

»Ich bin dreizehn.«

»Im März wirst du vierzehn! Du beginnst zu arbeiten, heiratest, gründest eine Familie …«

»Ich bin dreizehn, Vater!«

»Poussierst du schon mit einem Mädchen?«

»Vater, bitte!«

»Was denn? Als ich vierzehn war, war ich ständig verliebt.«

»Ich bin nicht verliebt!«

»Warum nicht? Immerhin wirst du bald heiraten und eine Familie gründen!«

Ich schwieg lieber.

Eine Weile kauten wir auf unseren Kartoffeln herum, dann beschloss mein Vater: »Am Mittwoch wird es auf dem Artillerie-Schießplatz eine große Feier zu Ehren des Kaisers geben. Dort wirst du hingehen und ein Mädchen kennenlernen, in Ordnung?«

Ich nickte: »In Ordnung.«

»Muss auch keine Jüdin sein. Deine Mutter war auch keine Jüdin.«

»In Ordnung.«

Mein Vater atmete zufrieden durch: »Ach, das wird herrlich werden! Du, ich und deine wunderschöne Verlobte.«

Und ich sagte nur: »In Ordnung.«

Vielleicht wusste Artur Rat.

3

Im Gegensatz zu Artur liebte ich die Schule, selbst wenn dorthin zu gehen bedeutete, jeden Morgen mit gut fünfzig weiteren Kindern der Jahrgänge 1896 bis 1904 in einen kahlen Raum mit einer großen Schiefertafel und vielen engen Holzbänken eingezwängt zu werden. Morgens um acht trat Lehrer Bruchsal ein, befahl: Setzen!, und wir setzten uns, er befahl: Auf!, und wir sprangen auf, grüßten ihn und wandten uns dann dem Bildnis des Kaisers zu, das von seinem Platz über der Tafel aus auf den ganzen Raum herabsah.

Bruchsal rief: Ein Lied!, und schon sangen alle aus voller Kehle: Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin. Wilhelm II., unser Schutzpatron, nahm die Huldigung wie jeden Morgen mit steil aufstehenden Bartenden und blitzendem Blick entgegen, die singenden Kleinen standen vorne mit Schiefertafel und Schwämmchen, die knatternden Großen hinten mit Stahlfeder und Tintenfass.

Nach der Würdigung dann die Inspektion.

Bruchsal kontrollierte, ob alle gewaschen, ordentlich gekämmt und sauber gekleidet waren, und in aller Regel erhielt Artur um zehn Minuten nach acht seinen ersten Verweis. Meist waren es die Fingernägel, oft die Haare, aber es lag auch mal am schmutzigen Hemdkragen oder seinen löchrigen Hosen – ich glaube, er sammelte mehr Tadel als alle anderen Schüler zusammen, und er nahm sie ebenso gelangweilt entgegen, wie unser Lehrer sie aussprach. Bruchsal, sonst von akribischer, aber keineswegs boshafter Natur, war mittlerweile deutlich anzumerken, dass er heimlich dafür betete, Artur möge doch nur endlich die Schule abschließen. Bei mir hingegen bedauerte er es außerordentlich, dass ich nicht die Möglichkeit hatte, auf das Realgymnasium zu gehen, weil ich meinem Vater helfen musste.

Aber Artur brach nicht nur bei Tadeln alle Rekorde, er war auch unerreicht im Kassieren von Strafen. Das lag zum einen an seinem unbeugsamen, rebellischen Charakter, zum anderen an seinem Temperament, das ihn förmlich dazu zwang, keinem Händel aus dem Weg zu gehen. So erlebte er die ersten Schuljahre weitestgehend mit dem Rücken zum Lehrerpult, den Blick stur auf die Wand des Klassenraums gerichtet, später dann oft über das Lehrerpult gebeugt, während der Rohrstock über seinem Hosenboden tanzte. Bei jedem anderen hätte das früher oder später zu größerer Vorsicht geführt, bei Artur hingehen waren alle Strafen sinnlos.

Möglicherweise hatte Bruchsal sie deswegen in unserem letzten Schuljahr eingestellt, möglicherweise aber auch, weil er beschlossen hatte, Artur einfach zu ignorieren, um seine eigenen Nerven zu schonen. Doch obwohl Bruchsal beileibe kein Feigling war, beschlich mich der Verdacht, er könnte die Strafen aus einem dritten Grund aufgegeben haben: Artur war mit seinen vierzehn Jahren bereits über einen Meter achtzig groß, hatte Schultern wie ein Hufschmied und Handgelenke, die nicht einmal mehr er selbst umfassen konnte. Gut möglich, dass Bruchsal zu der Überzeugung gekommen war, Artur werde ihm diese Strafen, so verdient sie auch gewesen sein mochten, eines Tages nachtragen. Unschöne Gedanken, die selbst einen kräftigen Erwachsenen beunruhigen konnten. Einmal sah ich Artur zwei massive Holzstühle an deren Füßen mit ausgestreckten Armen waagerecht in der Luft halten. Später versuchte ich diesen kleinen Trick ebenfalls und stellte fest, dass ich bereits größte Schwierigkeiten hatte, einen Stuhl mit beiden Armen länger als eine Sekunde ausgestreckt vor die Brust zu heben.

Vom ersten Moment an waren Artur und ich beste Freunde, obwohl wir kaum hätten verschiedener sein können: ich, der schmächtige Jude, argwöhnisch betrachtet von den Konfessionellen, und er, der grobe Klotz, der Konflikte gerne mit einem Schwinger löste. In jedem Fall ergänzten wir uns perfekt, denn Artur wachte über mich, und ich half ihm beim Rechnen, Schreiben, Lesen und ließ ihn großzügig bei allen Prüfungen abschreiben.

Doch damit nicht genug. Artur war auch der Liebling aller Mädchen, sie himmelten ihn förmlich an. Groß, stark und unbeugsam, wie er war, erkannten sie in ihm das Idealbild eines Ehemannes. Nicht nur weil er optisch so viel hermachte, sondern auch weil sie in ihm jemanden sahen, der sie in ihrem zukünftigen Leben, das wie ihr bisheriges auch vom täglichen Überlebenskampf geprägt sein würde, beschützen konnte. Artur würde ein Mann sein, der dafür sorgen würde, dass es einem Mädchen, dessen kühnste Lebensfantasie es war, bis zu ihrer Heirat als Dienstmagd gearbeitet zu haben, an nichts mangeln würde.

Da ich mir mit Artur eine Bank teilte, spürte ich jeden Tag die heimlichen Blicke von der linken Seite des Klassenraumes. Rechts saßen wir, die Jungs, weil sich dort die Fenster befanden und damit die Lichtverhältnisse zum Schreiben und Rechnen deutlich besser waren. Im Allgemeinen hielt man wenig von der Ausbildung eines Mädchens, aber es war des Kaisers Befehl, alle Armen zu unterrichten, und das schloss den weiblichen Teil der Bevölkerung mit ein. Im Gegenzug dafür bekamen sie die schlechteren Plätze im Klassenraum.

Ich gebe zu, ich wünschte mir schon, dass vielleicht eines von ihnen auch einmal meinetwegen herüberschielte, aber so war es leider nicht. Wer wollte schon mit einem Judenbengel zusammen sein? Schneiderssohn noch dazu! So tröstete ich mich damit, dass Artur mir von seinen Abenteuern erzählte und mich so wenigstens theoretisch teilhaben ließ an seinen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht.

So war ein Schultag wie jeder andere, sogar als der Kaiser Geburtstag hatte, seinen einundfünfzigsten, um genau zu sein. Niemand hatte eine Ahnung, was Artur ausgeheckt hatte, selbst ich nicht. Auch später hat er mir nie verraten, wie er auf die Idee gekommen war. Möglicherweise hatte ihn der fünfzigste Geburtstag Seiner Majestät im Jahr zuvor inspiriert, der mit großem Getöse und komplettem Aufmarsch aller Kasernen vollzogen worden war: Ulanen, Infanterie, Artillerie, Pioniere. Alle präsentierten sich zu Ehren Seiner Majestät im vollen Wichs, und die Salutschüsse aller Waffengattungen ließen Thorn förmlich erzittern.

Möglicherweise war es aber auch doch nur eine spontane Eingebung Arturs. Es wäre nicht seine erste gewesen, aber keine davon hatte Thorn je so in Aufruhr versetzt.

In jedem Fall spielte ihm das Wetter an diesem 27. Januar in die Karten.

Der schneidende Ostwind war abgeflaut, aber seit Tagen schneite es wie verrückt. Menschen verschwanden schon nach wenigen Metern im Schneegestöber, sodass man auf den Straßen höllisch aufpassen musste, nicht von einem Fuhrwerk oder gar der Elektrischen überfahren zu werden. Die war Thorns ganzer Stolz. Keine Pferdewagen mehr, sondern eine richtige Straßenbahn! Genau genommen waren es mittlerweile drei Straßenbahnlinien, die durch unsere schöne Stadt schaukelten.

Wie an vielen anderen Tagen auch lauerten wir an einem der hübschen Unterstände, geformt wie ein übergroßer verzierter Sonnenschirm. Ein dumpfes Rumpeln verriet uns das Herannahen der Linie drei, die die Culmer Vorstadt mit dem Altstädtischen Markt verband. Schon durchbrach sie die Flockenwand, hielt und fuhr dann erneut los. Doch dieses Mal mit uns beiden als blinde Passagiere. Zu dieser Zeit gab es noch keine Schaffner, und so hielt uns auch keiner davon ab, die gut zwei Kilometer ins Zentrum Thorns zu fahren, auf der prächtigen Breiten Straße mit ihren barocken Häuserfronten der Linie eins aufzulauern und mit ihr durch die Altstadt bis zur Endstation Stadtbahnhof zu fahren, an den die gewaltige Eisenbahnbrücke reichte. Sie spannte sich von dort in mehreren erhabenen Stahlbögen über die Weichsel zum gegenüberliegenden Flussufer, wo sie an zwei Wachtürmen vorbei den Hauptbahnhof erreichte. Dort überquerten wir den Fluss, vorbei an der Rudakerkaserne, Richtung Barackenlager, wo die Feierlichkeiten stattfinden sollten.

»Ich glaube, die Grete hat ein Auge auf dich geworfen«, begann Artur.

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich zurück. »Grete schielt.«

»Bin mir ganz sicher. Soll ich ein gutes Wort für dich einlegen?«

»Nein danke.«

»Sie ist die einzige Tochter von Maurer Drechsel. Das gibt bestimmt eine schöne Mitgift.«

»Was?«

»Ist nie verkehrt, einen Maurer in der Familie zu haben!«

»Hör bloß auf damit. Mein Vater sitzt mir auch schon im Nacken.«

Artur nickte zufrieden: »Na, dann passt es ja.«

»Passt was?«

»Ich habe ihr gesagt, dass du heute auf sie wartest«, antwortete Artur unschuldig. »Du bist ja zu schüchtern dazu.«

»Bist du verrückt geworden? Du kannst doch nicht einfach hinter meinem Rücken ein Rendezvous einfädeln. Und dann auch noch mit der Grete! Sonst ist dir keine eingefallen?«

»Doch«, gab Artur ungerührt zurück. »Frieda, Erna, Trudi, Wilhelmine, Käthe, Agnes …«

Ich schluckte entsetzt: »Jetzt sag nicht, dass du die alle gefragt hast?!«

Artur zuckte gelangweilt mit den Schultern: »Ich dachte, ich helf dir mal ein bisschen. Schadet ja nicht.«

Hoffnung flackerte auf, es schien, als hätte Artur gute Nachrichten für mich. Also fragte ich vorsichtig: »Was haben sie denn gesagt?«

»Also, die Trudi hat gelacht …«

»Und die anderen?«

»Die anderen waren nicht so gut gelaunt.«

Ich starrte ihn an.

»Schadet ja nicht?«, wiederholte ich fassungslos.

Artur sah mir ganz ungerührt ins Gesicht, so als hätte er gerade vom Wetter gesprochen und nicht von der größten Demütigung meiner Schulzeit: »Totales Desaster, wenn du mich fragst. Aber das Gute ist, dass du dir jetzt über die blöden Puten keine Gedanken mehr machen musst. Und die Grete ist kein schlechter Fang. Hat ganz schön was zu bieten, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Lass mich in Ruhe!«

Mürrisch steckte ich die Hände in die Hosentaschen und stapfte weiter durch den knirschenden Schnee.

Wir erreichten das Gelände des Lagers.

In einem rot-weiß gestreiften winzigen Wachhäuschen stand ein zitternder feldgrauer Rekrut, um den ebenfalls rot-weiß gestreiften Schlagbaum hoch- und runterzudrücken. Vor uns lag das Barackenlager, einfache Langhäuser aus Holz in Reih und Glied, jedes mit Zuwegung zur befestigten Teerstraße, die geradewegs zum Schießplatz führte. Mit uns kamen noch eine ganze Reihe Thorner Bürger, nicht allein, um den Kaiser zu feiern, vielmehr lockte auch ein reichhaltiges Büfett.

Artur redete noch den ganzen Weg über auf mich ein. Ihm, dem weder die Sinnhaftigkeit von Diplomatie einleuchtete noch deren Nutzen, weil er zutiefst davon überzeugt war, wenn man schlicht sagte, was man meinte, würde es auch keine mäandernden Erklärungen darüber geben, dass man eigentlich etwas ganz anderes gewollt hatte. Dementsprechend war ihm auch nicht beizubringen, dass zwischen gut gemeint und gut gemacht in aller Regel ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte.

Dunkelgrau, fast schwarz verdunkelten weitere Wolkenwände Thorn, und die Sicht wurde so schlecht, dass man selbst aus nächster Nähe nur noch vage die zu Pferde sitzende Haubitzenbatterie in Paradeaufstellung sehen konnte, während die Karren, auf denen die Geschütze von den Tieren hergezogen worden waren, losgemacht und in Position gerollt wurden.

Irgendwo vorne hatte man eine kleine Bühne aufgebaut, gleich daneben ein Zelt, in dem das Festessen hergerichtet worden war. Wie schon im letzten Jahr waren die ersten Reihen ganz dem Militär vorbehalten. Stramm standen sie dort im dichter werdenden Schneegewitter, die stolzgeschwellten Brüste eingepudert, die Gewehre geschultert, die Pickelhauben spitz gen Himmel zeigend.

Dahinter zunächst die Höhergestellten, dann das einfache Volk, geduldig auf die Festrede des Bürgermeisters wartend, die, so die Hoffnung aller, kürzer ausfallen würde als im letzten Jahr.

Fast schon wie durch ein Wunder fand Artur in der Menge Grete, die mich scheu anlächelte und hallo sagte. Ich seufzte und grüßte knapp zurück, verweigerte aber jede weitere Unterhaltung: Nicht nur, weil ich schüchtern war, sondern auch, weil ich meinen Stolz hatte. Ich wollte weder bedürftig wirken noch den Eindruck erwecken, in irgendeiner Form dankbar zu sein, dass sich wenigstens die schielende Grete für mich interessierte. Grete dagegen war wohl eher praktischer Natur, denn als sie bemerkte, dass es mir an rechter Begeisterung mangelte, wandte sie sich Artur zu und hielt ihm die offene Hand unter die Nase. Artur griff in die Hosentasche und gab ihr einen Groschen. Zufrieden tapste sie davon und ließ mich mit der Erkenntnis zurück, dass meine Demütigung erst jetzt vollendet worden war.

Endlich betrat Bürgermeister Reschke das Podium, der Applaus der ersten Reihen verriet es, denn zu sehen war er nicht, aber eine Sprachtrompete sorgte dafür, dass seine Rede bis in die letzte Reihe schallte. Es folgten Begrüßung und ein kurzer Abriss des Lebens Seiner Majestät, die jedem aufrechten Deutschen leuchtendes Vorbild sein musste, weil sie ein ganzes Volk aus den Niederungen humanitärer Bildung und zuchtloser Weltanschauungen emporgeführt habe an die Spitze Europas, ja an die Spitze der ganzen Welt! Die Freude und Bewunderung in seiner Stimme waren nicht gespielt: Reschke war ein glühender Verehrer des Hohenzollern, und seine Bemühungen, es ihm in Ausdruck und Gesten gleichzutun, nahmen zuweilen unfreiwillig komische Züge an.

»Er hat uns erweckt!«, rief Reschke, und ohne ihn sehen zu können, ahnte man, wie sehr seine hochgewichsten Bartenden dabei freudig zitterten. »Was Seine Majestät beschließt, dem wollen wir jubelnd folgen! Ihre Majestät: HURRA!«

Aus dem Schneegestöber erscholl die etwas lustlose Antwort: »Hurra!«

Artur packte mich am Ärmel und zog mich unauffällig weg von den Zuhörern. Schon ein paar Schritte weiter war vor lauter Schneegestöber nichts mehr zu erkennen, und ich wäre mit Sicherheit gegen eines der wartenden Pferde gelaufen, wenn Artur mich nicht rechtzeitig festgehalten hätte.

Reschkes Stimme war noch dumpf zu hören, undeutlich verfluchte er gerade England und den französischen Erbfeind. Dabei überschlug sich seine Stimme vor Begeisterung, und es brauchte wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie seine Augen dabei nach Kaiserart blitzten, wenn es bei diesem Wetter auch niemand sehen konnte, nicht einmal die Ulanen in der ersten Reihe.

»Ihre Majestät: HURRA!«, rief er verzückt.

Es folgte ein halb erfrorenes: »Hurra!«

Wir erreichten die drei Haubitzen, deren eingeschneite Rohre ins Schussfeld ragten. Die Soldaten waren in dem Gestöber nicht zu sehen, weit weg konnten sie aber nicht sein.

»Was hast du vor?«, fragte ich leise.

»Hilf mir mal gerade!«, antwortete er flüsternd.

Noch ehe ich begriff, was wir da gerade anstellten, hatten wir auch schon die erste Haubitze um etwa neunzig Grad gedreht.

»Artur!«, rief ich entsetzt.

Doch der war schon beim zweiten Geschütz angelangt: Abermals half ich, es zu drehen. Und auch die dritte Haubitze folgte, bevor wir wieder wie Geister im Schnee verschwanden und uns unauffällig unters Volk mischten.

Während alle um mich herum froren, brach mir der Schweiß aus. Ich rupfte an meinem Kragen und rang nach Luft: Was hatte ich nur getan? Wieso hatte ich Artur auch noch geholfen? Die Mündungen zielten jetzt ins Barackenlager, das zwar menschenleer war, weil alle zum Schießfeld befohlen worden waren, aber man musste kein militärisches Genie sein, um zu erahnen, was geschehen würde, wenn zu Ehren Seiner Majestät die Kanonen donnerten.

Was, wenn sie unsere Fußspuren entdeckten? Allerdings ließ der mittlerweile absurd dichte Schneefall weder Orientierung zu, noch würde binnen kürzester Zeit irgendetwas zu sehen sein, was auf uns hätte zurückfallen können.

Reschke redete. Und redete. Und redete.

Er sprach vom Deutschsein, von Ehre, Treue und rief: »Zerschmettern!«

Und meinte damit nicht nur England, sondern selbstredend auch Frankreich und alle anderen, die sich Deutschlands Größe nicht unterwerfen wollten. Offenbar gefiel ihm die lustvolle Ausgestaltung des Wortes mit seinem rollenden R und dem peitschenden T, denn er wiederholte es noch fünfmal, mal mit dem Kaiser als Zerschmetterer, mal mit seinen Untertanen als Zerschmetterer, mal als ein ganz allgemeines Zerschmettern. Und die ganze Zeit wusste ich, das Einzige, was hier gleich zerschmettert werden würde, waren nicht des Kaisers Feinde.

Während Bürgermeister Reschke also Worte blitzend wie Schmiedehämmer auf rot glühenden Patriotismus sausen ließ, stand Artur in diesem nationalen Funkenregen einfach da, die Hände tief in den Hosentaschen versenkt, auf den Lippen ein rätselhaftes Lächeln. Ich konnte gar nicht anders, als seine Haltung zu bewundern. So sehr, dass ich darüber sogar meine eigene Furcht vergaß und um ein Haar das Ende der Rede verpasste.

»So will ich schließen mit den allerherzlichsten Glückwünschen an Unsere Majestät und der Versicherung, dass gerade hier des Kaisers treueste Untertanen auch weiterhin hoffen, an seiner Persönlichkeit emporranken zu dürfen wie Efeu an einem Turm. Und so bitte ich nun Major von Brock, unserem geliebten Kaiser Salut zu entbieten. Möge das Donnern der Kanonen den glutvollen Schlägen unserer Herzen gleichkommen! Ihre Majestät: HURRA!«

Die erste Haubitze rummste im Hintergrund.

»Ihre Majestät: HURRA!«

Die zweite Haubitze ging los.

Plötzlich kam Unruhe auf, denn schon dem ersten Schuss war, wie dem zweiten auch, eine verdächtig laute Explosion gefolgt. Im nächsten Moment schimmerte plötzlich ein gelblich flackerndes Licht im Grau und Weiß der vor uns liegenden Schneewand.

Bürgermeister Reschke war allerdings nicht zu bremsen – ebenso wenig wie der Geschützmeister –, und bevor er davon abgehalten werden konnte, rief er ein drittes Mal: »Ihre Majestät: HURRA!«

Auch die dritte Granate verließ die Haubitze, eine dritte Detonation antwortete Unheil verkündend. Jetzt war das gelblich flackernde Licht sehr deutlich zu sehen. Das frierende Volk wandte sich murmelnd und rufend den Geschützen zu, als ein junger Leutnant seinem Major atemlos Meldung machte: »Herr Major, melde gehorsamst: Es brennt!«

Augenblicklich löste sich die gesamte Gesellschaft auf. Soldaten wurden zum Löschzug befohlen, das Volk lief neugierig zu den brennenden Baracken, nur Artur und ich nutzten die Gunst der Stunde, schlichen dem Zelt entgegen, das – völlig verwaist – mit herrlichen Würsten, Käse und Lebkuchen, den guten Thorner Kathrinchen, lockte.

Blitzschnell stopften wir uns Jacken und Hemden voll.

Dann liefen wir unerkannt davon.

Erst viel später machten wir Pause – das Feuer und die große Aufregung hatten wir weit hinter uns gelassen. Da nahm sich Artur eine Wurst aus der Tasche, biss herzhaft hinein und murmelte zufrieden: »Ihre Majestät: Hurra!«

HALLEY

4

Wochenlang beherrschte ein einziges Thema die Debatten und Artikel unserer Stadt: der Thorner Baracken-Bumms. Eine Wortschöpfung der Gazeta Toruńska, der Zeitung der polnischen Einwohner Thorns. Es schien, als hätten sie nur auf einen Vorfall wie diesen gewartet, der ihnen unter vielen anderen Dingen als Beweis dafür diente, dass der berühmteste Sohn der Stadt, Nikolaus Kopernikus, natürlich Pole und kein Deutscher gewesen sein musste. Genau wie die Deutschen darauf bestanden, dass er selbstredend Deutscher und kein Pole war. Ein Streit, der jedes Jahr dazu führte, dass beide Volksgruppen unabhängig voneinander im Februar seinen Geburtstag feierten und ihn in Festreden als Musterbeispiel für den Fleiß, die Intelligenz und den Forschergeist der jeweils eigenen Nation hochleben ließen. Ich muss wohl nicht weiter betonen, wie schnell dieser Streit nach unserem Streich wieder aufflammte.

Die Thorner Zeitung wütete gegen die Urheber des feigen Anschlags und fragte beinahe täglich nach den Schuldigen, was Polizei, Militär und Bürgermeister gleichermaßen unter Druck setzte. Dabei war es weniger der angerichtete Schaden (es hatten gerade mal zwei Langhäuser Feuer gefangen und waren zügig wieder gelöscht worden), der Verantwortliche wie Patrioten so aufbrachte, die Verletzung reichte viel tiefer: Das Bombardement hatte die deutsche Seele verwundet. Ausgerechnet Preußens Stolz, das Militär, sonst präzise, effizient und unbesiegbar, hatte einen himmelweiten Schießplatz verfehlt und praktisch das eigene Heim in Schutt und Asche gelegt. Die Sieger von Sedan hatten sich zum Gespött gemacht. Sicher war die Geschichte schon längst über die nahe Grenze von Russisch-Polen bis nach Petrograd gedrungen und sorgte im Winterpalast gerade für große Heiterkeit.

Dazu kamen natürlich die unerträgliche Beleidigung Ihrer Majestät sowie die satte Blamage aller beteiligten Würdenträger, über die sich vor allem die Gazeta mit ihrem boshaften Gestichel lustig machte. Das alles zusammen führte dann betrüblicherweise doch noch zu einem Todesopfer, sodass aus einem üblen Streich eine echte Tragödie wurde.

Es traf den bedauernswerten Major von Brock, den leitenden Offizier der Geburtstagsfeier, ein Mann von deutschnationaler Gesinnung und stolzer westpreußischer Aristokratie. Er hegte Ambitionen auf eine große Militärkarriere, und die Chancen dafür standen gar nicht schlecht: Er war nicht bloß adliger Herkunft, seine Familie besaß zudem genügend Geld und Ländereien, und es gab weit und breit kein jüdisches Blut in der Ahnenfolge der von Brocks.

Nicht nur für ihn selbst, sondern auch für seine gesamte Familie, stellte der hinterhältige Anschlag eine grobe Kränkung dar, und obwohl er die Vorfälle mit standesgemäßer Grandezza zu ertragen versuchte, brachte ihn doch die Bemerkung eines Thorner Polen völlig aus der Fassung. Dieser fragte sich nämlich, wie zwei runtergebrannte Baracken eine Beleidigung Ihrer Majestät darstellen könnten, es sei denn, jemand erhöbe sie ernsthaft zum Sinnbild der Regentschaft. Diese geschickte Formulierung schrammte nicht nur an einer Majestätsbeleidigung vorbei, sondern kehrte diesen Vorwurf auch gegen alle, die in dem Vorfall eine sahen.

Major von Brock jedenfalls fühlte sich zum Majestätsbeleidiger degradiert und in seiner Ehre verletzt. Also forderte er den Polen, einen Mann namens Piotr Zielínsky, zum Duell. Ein solches war auch damals schon verboten, aber es wurde selten verfolgt, und einer Fehde aus dem Weg zu gehen galt als unehrenhaft und bedeutete für jede Offizierskarriere ein vorzeitiges Ende. Als von Brock die Aufforderung aussprach, tat er das jedoch in der Annahme, dass Zielínsky ohnehin nicht satisfaktionsfähig sei, was die Angelegenheit elegant gelöst hätte. Unglücklicherweise konnte Zielínsky aber ebenfalls auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken und war damit sehr wohl satisfaktionsfähig. Und er nahm die Herausforderung an.

Noch bevor Sekundanten bestellt werden konnten, erfuhr von Brock, dass Zielínsky als grandioser Schütze galt, und da er als Beleidigter die Waffe wählen konnte, entschied er sich lieber für den Säbel.

Sie trafen sich im Morgengrauen in der idyllischen Bazar-Kämpe links der Weichsel, ganz in der Nähe der Badeanstalt, aber dank der dichten Auwälder vor neugierigen Blicken geschützt.

Es wurde ein sehr kurzer Kampf.

Denn Zielínsky war nicht nur ein grandioser Schütze, er war ein noch besserer Fechter. Nach ein paar Hieben flog von Brocks Säbel durch die Luft, und im nächsten Moment fügte ihm Zielínsky eine Wunde am Arm zu. Keine große Verletzung, aber ausreichend, dass von Brock die Segel streichen und die Niederlage eingestehen musste.

Damit hätte die Affäre beendet sein können – aber das war sie nicht.

Denn der Ausgang des Duells sprach sich herum und mit ihm der Umstand, dass der wackere Major weder die Ehre des Hohenzollern noch die der von Brocks gegen einen Polen hatte verteidigen können. Und es war auch wenig hilfreich, dass die Thorner Polen und die den Vorfall genüsslich ausschlachtende Gazeta Toruńska neben Nikolaus Kopernikus nun einen zweiten Helden feierten: Piotr Zielínsky. Auch wenn der gar keinen Wert darauf legte, denn Zielínsky war ein besonnener Mann, der für von Brock mittlerweile sogar Mitleid empfand.

Schließlich hielt Major von Brock dem Druck nicht mehr stand und wählte den einzigen Weg, den ein deutscher Offizier in dieser Situation noch gehen konnte, um seine Ehre zu retten: Er setzte sich seine Pistole an die Schläfe und drückte ab.

All das geschah innerhalb von zwei Wochen, und gerade weil die Sache so verhängnisvoll ausging, rückte es die gesamte öffentliche Diskussion auf das Feld schwelender deutschnationaler und polnischer Animositäten, sodass sich niemand mehr für den eigentlichen Ursprung des Thorner Baracken-Bumms interessierte – und auch nicht für die gestohlenen Lebensmittel, die eine kurze Zeit lang ebenfalls Gegenstand polemischer Auseinandersetzungen gewesen waren.

Kurz gesagt: Wir kamen davon.

Der bedauernswerte von Brock wurde beerdigt.

Die Debatte verlor an Fahrt.

Und es war Artur, natürlich Artur, der die Aufmerksamkeit auf ein neues Thema lenkte: Ein paar Tage nach von Brocks Beerdigung lief er durch die Straßen Thorns und verkündete lauthals den Untergang der Menschheit.

5

Eine der Eigenheiten meines Vaters, und er hatte so einige, war seine morgendliche Routine, die mich jedes Mal kalt erwischte, obwohl sie immer ganz genau gleich ablief.

Für gewöhnlich wurde ich vom Duft eines Kaffees geweckt, dem einzigen Luxus, auf den mein Vater nicht verzichten konnte, ganz gleich, wie knapp wir bei Kasse waren. Je ein Tässchen für uns beide, ordentlich gezuckert, nahmen wir ihn im Schlafanzug und stehend zu uns, bis meinem Vater plötzlich eine Geschichte von früher einfiel. Dann begann er, mit leicht zusammengekniffenen Augen zu erzählen. Ich hörte, still amüsiert über seinen Gesichtsausdruck, zu und stellte an den richtigen Stellen die Fragen, die die Handlung vorantrieben. So tranken und schwatzten wir, bis der Kaffee seine Wirkung tat, ich altes Zeitungspapier nahm, mir einen Mantel überwarf und raus in den Hof huschte, auf den Abort.

Und ganz gleich, wie lange ich dort verweilte, im Sommer deutlich länger als im Winter, bot sich mir bei meiner Rückkehr immer dasselbe Bild: Ich sah auf den entblößten Hintern meines Vaters. Er stand nackt in der Küche, tauchte einen Schwamm in eine vom Ofen vorgewärmte Schüssel Wasser, seifte sich pfeifend ein und spülte gewissenhaft alles ab. Dann drehte er sich zu mir um und sagte: »Gibst du mir mal das Handtuch?«

Als Kind schenkt man einem solchen Ritual keinerlei Beachtung, als Heranwachsender mit all den aufblühenden Schamhaftigkeiten jedoch entfuhr mir jedes Mal ein schwacher Seufzer, und ich suchte Trost in der vagen Hoffnung, dass unser Geschäft eines Tages zu alter Größe finden würde, und sei es auch nur, damit wir uns eine Wohnung mit einem separaten Badezimmer leisten könnten.

Während ich mich dann für die Schule fertig machte, schloss mein Vater den Laden auf, obwohl wir in den frühen Morgenstunden selten Kundschaft hatten. Jeder Tag begann so, auch sonntags oder am Schabbes, denn wir konnten es uns schlicht nicht leisten, auszuruhen oder gar Ferien zu machen. Und da weder mein Vater noch ich besonders gläubig waren, demzufolge selten in der Synagoge auftauchten und nur sehr schlampig die jüdischen Gebräuche pflegten, blieben wir oft für uns, gemieden von den Christen und skeptisch beäugt von den Juden, deren Inbrunst wir nicht teilten.