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Benjamin Whitmer

Flucht

Aus dem Amerikanischen von Alf Mayer
Herausgegeben von Wolfgang Franßen

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Originaltitel: Translated from the English language: ESCAPE
Copyright © 2018 by Benjamin Whitmer
First published by: Gallmeister

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2020

© 2020 Polar Verlag e.K., Stuttgart
www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Christine Laudahn, Claudia Denker

ISBN: 978-3-945133-93-4
eISBN: 978-3-945133-94-1

Für Ward Churchill, 1968

Inhalt

1
– Der Häftling –

2
– Der Fährtenleser –

3
– Die Geächtete –

4
– Die Zeitungsleute –

5
– Der Häftling –

6
– Die Geächtete –

7
– Der Fährtensucher –

8
– Der Häftling –

9
– Die Zeitungsleute –

10
– Die Geächtete –

11
– Der Fährtenleser –

12
– Der Häftling –

13
– Bad News –

14
– Der Fährtenleser –

15
– Die Geächtete –

16
– Der Fährtenleser –

17
– Der Häftling –

18
– Die Zeitungsleute –

19
– Die Geächtete –

20
– Der Häftling –

21
– Der Fährtenleser –

22
– Die Geächtete –

23
– Die Zeitungsleute –

24
– Der Häftling –

25
– Die Zeitungsleute –

26
– Der Häftling –

27
– Der Fährtenleser –

28
– Der Häftling –

29
– Die Zeitungsleute –

30
– Der Fährtenleser –

31
– Die Geächtete –

32
– Die Zeitungsleute –

33
– Der Häftling –

34
– Der Fährtenleser –

35
– Der Häftling –

36
– Die Zeitungsleute –

37
– Die Geächtete –

38
– Der Fährtenleser –

39
– Der Häftling –

40
– Der Direktor –

41
– Die Zeitungsleute –

42
– Der Häftling –

43
– Der Fährtenleser –

44
– Die Zeitungsleute –

45
– Die Geächtete –

46
– Der Häftling –

47
– Der Fährtenleser –

48
– Der Häftling –

49
– Die Geächtete –

50
– Der Häftling –

51
– Der Fährtenleser –

52
– Der Häftling –

53
– Die Zeitungsleute –

54
– Die Geächtete –

55
– Die Wärter –

56
– Der Häftling –

57
– Die Geächtete–

58
– Der Fährtenleser –

59
– Die Geächtete –

60
– Der Fährtenleser –

61
– Die Stadt –

62
– Der Häftling –

63
– Die Zeitungsleute –

Epilog
– Die Geächtete –

»Ein Gefangener ist ein Prediger der Freiheit«

»Gefängnisse sind dazu da, zu verbergen, dass die ganze Gesellschaft in ihrer ganzen banalen Allgegenwärtigkeit selbst ein Gefängnis ist.«

Jean Baudrillard

»Der Witz ist, alle ehemaligen Sträflinge haben etwas gemeinsam – sie haben ihre Zeit da drinnen abgesessen, der Rest von Euch aber hat seine immer noch vor sich.«

Merle Haggard

1

– Der Häftling –

Einer hat sich in die Hose geschissen. Mopar Horn weiß nicht, ob Wärter oder Häftling, aber das Wohnzimmer stinkt bis zum Anschlag nach Scheiße. Mopar reibt sich die Augen. Hockend klammert er sich an ein Pianino, hält sich an einem der geschwungenen Beine fest, während die Welt unter ihm wegrutschen will.

»Beruhige dich, verdammt noch mal, dann lockern wir dir das«, sagt Mitch Howard aus dem Flur. Er trägt immer noch die Uniformmütze, die er aufgesetzt hat, damit die Schützen in den Wachtürmen nicht sehen können, dass er schwarz ist. Das Ding ist zu klein für ihn und wackelt, wenn er redet.

»Was?«, fragt Mopar. »Verdammt, was hast du gesagt?«

Howards Brille sitzt noch schief von ihrem Sprint. Mit einem Zeigefinger, dick wie ein Babyarm, rückt er sie auf der Nase zurecht. Er ist ein Gewichtheber-Freak. »Ich rede mit denen«, sagt er. Er meint die drei Wärter, die auf dem roten Wohnzimmerteppich knien, Hände auf den Rücken gefesselt, Gesichter rot wie reife Tomaten. Zwei von ihnen haben kapiert, dass sie sich am besten nicht bewegen und sich ums Atmen kümmern, aber der Blonde wetzt seine Handschellen gegen den Absatz seines Stahlkappenschuhs. Er atmet stoßweise durch die Garotte aus Kupferdraht, die eng um seinen Hals liegt. Unter seinem Hemd beulen sich die Schultern, Blut tropft ihm von den Handgelenken und sickert in den Teppich.

Rotes Blut, rotes Sofa, rote Sessel, rote Vorhänge, eine Tischlampe mit rotem Schirm. Sogar die Lichter am Weihnachtsbaum sind rot. Mopar wischt sich die Stirn mit dem Ärmel seines Uniformhemds ab und blinzelt, um wieder klar zu sehen. Aber immer noch ist alles verfickt rot. Und da ist auch ein Ton. Ein roter Ton. Er summt und pocht wie pumpendes Blut. Wo verdammt kommt der her? Mopar greift sich an den Krawattenknoten, zieht ihn auf, reißt sich das Ding ab und wirft es an die Wand. »Wo sind die alle?«, fragt er. »Verdammt, wo sind die alle hin?«

Niemand antwortet ihm. Die alte Frau liegt zusammengekauert auf dem Sofa. Ihr verblichenes Haar ist nach hinten zu einem Knoten hochgesteckt. Er sieht aus wie ein Stück Holz, das mit einem Zimmermannsnagel an den Schädel geheftet ist. Wesley Warrington und Bad News Dixon, die anderen beiden Häftlinge, lümmeln sich auf zwei Wohnzimmersesseln. Es gab nicht genügend Wärteruniformen, deshalb stecken sie noch in den blauen Anstaltsjeans und Jacken.

Aber das sind schon alle, die mit ihm im Raum sind. Dabei sind sie mindestens zu zwölft gewesen, als sie durch das Nordtor hinaus sind. Daran erinnert sich Mopar genau. »Verdammt, wo sind die alle hin?«, fragt er.

»Die sind weg«, sagt Howard. »Hier sind nur ich, du, Warrington und Bad News. So war der Plan.«

»Was für ein Plan? Von so einem Plan habe ich nichts gehört. Mist.«

»Mein Plan«, sagt Howard. »Zerbrich dir bloß nicht deinen schönen kleinen Punkschädel.«

»Leck mich.« Mopars Gehirn schwillt an, er atmet durch den Mund. Sein Kopf steht unter Druck, gleich platzt er. »Ist die Sirene schon gegangen? Ich hab sie nicht gehört.«

»Alles in Ordnung, Sportsfreund«, sagt Howard. »Konzentrier dich aufs Atmen.«

Mopar will ihn am liebsten mit der provisorischen Schrotflinte abknallen. Behandle mich wie einen Deppen, und ich male dir die Wände rot. Noch roter. Immer noch hat er diesen Ton in seinem Ohr, das Summen. Als ob in den Wänden rings um ihn das Blut pocht. Atme.

Er sieht zum Fenster. Die Berge flackern struppig und grau durch den Schnee. Die Sonne ist eine Laterne, die zwischen den Gipfeln nach unten sinkt. Mopar strengt sich an, ruhiger zu werden. Atme, du Scheißkerl. Es ist der erste Sonnenuntergang, den er seit einem Jahrzehnt gesehen hat. Atme.

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Der blonde Wärter kämpft immer noch mit seinen Handschellen. Sein Haar ist dünn wie bei einem Neugeborenen, die Kopfhaut ganz rosa. Seine Augen wirken aufgequollen, das linke füllt sich mit Blut, die Äderchen sind geplatzt. Er wirft sich nach vorn, zuckt wie ein Tausendfüßler auf der Herdplatte.

»Mach ihnen die Garotten ein wenig auf«, sagt Howard zu Mopar. »Locker sie, bevor einer von diesen verdammten Hinterwäldlern sich noch selbst umbringt.«

Er redet mit mir wie mit einem verdammten Kind. Selbst wenn Mopar könnte, würde er sich nicht vom Fleck rühren. Scheiß auf diese Wärter.

»Verstanden.« Bad News erhebt sich aus seinem Sessel. Sie haben die Garotten in der Gefängniswerkstatt hergestellt. Aufgewickelter Kupferdraht mit einem Holzgriff, Bad News zieht den blonden Wärter daran hoch. Der Draht schneidet in den Hals, verschwindet im Blut. Das Gesicht des Wärters wechselt von rot zu violett, die Zunge schwillt ihm an. Bad News zieht ihn hoch und lässt ihn wieder herunter auf die Knie, den Griff aber hält er fest.

»Mach schon«, sagt Howard. »Noch bringen wir diese Hinterwäldler nicht um.«

»Das würde ich nicht so schlimm finden«, sagt Bad News. Er ist jung und nervös, hat den Blick eines Borderliners. Seine großen Augen sind nur Pupillen. Er sagt, seine Nerven sind vom LSD erledigt. Er sagt, wenn man genug LSD eingeworfen hat, wird man gesetzlich für geisteskrank erklärt. Er sagt, er hat die sechsfache Überdosis eingeschmissen, und wer ihm nicht glaubt, kann ja diese eine Bitch in Boulder fragen. Nur dass man sie nichts mehr fragen kann.

Der blonde Wärter greift nach dem Draht um seinen Hals. Bad News hat immer noch den Holzgriff in der Hand.

»Mach schon«, sagt Howard zu Bad News.

Bad News dreht die Garotte auf. Der Wärter fällt nach vorn und keucht. Er kotzt auf den Teppich. Bad News lockert auch die zwei anderen Garotten, beide Wärter zucken, wenn sie seine Hand am Holzgriff spüren. Er sagt: »Es wird dir noch leidtun, dass wir diese Arschlöcher nicht umgebracht haben.«

»Mir wird gar nichts leidtun«, sagt Howard. »Schau mal, ob du für uns was zum Essen findest.«

»Komm mit, Warrington«, sagt Bad News. Sie gehen um Howard herum und verlassen das Wohnzimmer.

Howard schaut die alte Frau auf dem Sofa an. »Wie heißt du?«

Die alte Frau starrt ins Nichts, als würde sie das alles nichts angehen. Sie sieht Howard mit ihren grauen Augen an. »Pearl«, sagt sie.

»Bist du verheiratet, Pearl?«

Sie zieht eine selbstgedrehte Zigarette und Zündhölzer aus ihrer Schürze, gibt sich Feuer. Sie wedelt mit dem Streichholz, bis es ausgeht, wirft es auf den roten Teppich, so als sei es nicht ihrer.

Howard tritt mit einem Uniformstiefel darauf. »Ich krieg dich schon noch zum Antworten.«

»Wenn ich einen Mann hätte, hätte ich das gesagt.«

»Schnalle, du bist ja eine Marke. Wie steht’s mit einem Sohn?«

Sie bläst den Rauch an die blechverkleidete Decke.

»Es gibt also keine Klamotten, die einem von uns passen könnten?«

Sie sieht ihn mit einem Blick an, als ob er Hundescheiße auf dem Teppich ist. »Der Kleine könnte in meine Sachen passen.«

»Da haben wir ja eine echte Klugscheißerin«, sagt Howard. »Wenn du hier alleine wohnst, warum stehen dann da draußen drei Autos?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich allein bin.«

Howard massiert sich zwischen den Augen. »Okay«, sagt er, »fangen wir noch einmal neu an. Wer außer dir lebt hier noch?«

»Ich hab Pensionsgäste«, sagt sie. »Zwei von ihnen haben Autos.«

»Und wo verdammt sind die gerade?«

Bad News kommt zurück ins Wohnzimmer, Warrington im Gefolge. Bad News hält eine Umhängetasche. Er grinst ein wenig, als er sie Howard gibt.

Howard öffnet die Ledertasche. Macht sie wieder zu. »Pensionsgäste?«

Pearls Augen verändern sich nicht. Nicht die Spur.

»Ich nehme an, es überrascht euch nicht sonderlich, was für Gäste Pearl hier empfängt«, sagt Howard zu den Wärtern. Er öffnet die Tasche noch einmal. »Sie kommen von überall her, um dich zu sehen, Pearl? Deine Gäste?«

»Ich hab meinen Mann neunundvierzig verloren.« Sie sagt es, als ob ein Tier hinter ihrem Gesicht leben würde und sie alle Willenskraft aufwenden muss, um es zurückzuhalten. »Damals beim Ausbruch. Jemand von euch hat ihn umgebracht.«

»Neunundvierzig war ich nicht im Gefängnis«, sagt Howard. »Da war ich ganze zehn Jahre alt.«

»Ich muss nur die Straße runtergehen und mir diese Mauern anschauen«, sagt sie. »Das reicht, um mir in Erinnerung zu rufen, warum ich tue, was ich tue.«

»Ich wette, hier gibt es auch noch einen Haufen Geld, der dich daran erinnert«, sagt Howard. »Einen großen Haufen Bargeld.«

»Die Frauen, die zu mir kommen, haben nichts mit Kindern am Hut«, entgegnet Pearl. »Die Frauen, die zu mir kommen, können nichts dafür, dass sie von den Frauen geboren worden sind, die ihre Mütter sind. Wenn ihr daran zweifelt, dass sie dieses Gefühl weitervererben, braucht ihr euch nur umzuschauen, wenn sie euch zurück ins Old Lonesome stecken.«

»Du bist eine verbitterte Frau«, sagt Howard. »Böse auf die Welt. Das ist dein Problem.«

»Nein. Ihr seid mein Problem. Ihr alle.« Und sie meint nicht nur alle im Raum. Sie meint auch alle da draußen.

»Böse und ausgetrocknet. Du hast einen Hass auf die Welt, weil sie dich nie feucht gemacht hat.« Howard öffnet die Tasche und zieht etwas aus Metall heraus, es sieht lang und ungemütlich aus. »Wie wäre es, wenn du mir sagst, wo ich das Geld finde? Entweder sagst du es mir, oder wir stecken das mal in dich rein und schauen, ob noch etwas übrig ist, was klappert.«

Sie verströmt Verachtung aus jeder Pore, ihrem Gesicht aber kann man ansehen, dass Howard falsch liegt. Sie ist nicht verbittert. Nur das Leben und all die, die mit ihren eigenen gebrochenen Herzen zu ihr kommen und es loswerden wollen, haben ihr das Herz gebrochen. Mopar fragt sich, ob es je ganz war.

»Unter meinem Bett fehlt eine Diele«, sagt sie. »Da liegt es.«

Howard nickt Bad News und Warrington zu. »Holt es«, sagt er.

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Mopar wischt sich die Hände an seinen dreckigen Hosen ab. Sie sehen aus, als wäre er mit ihnen in eine Schlammschlacht geraten. Als er und die anderen aus dem Gefängnis ausbrachen, hatte es gerade zu schneien begonnen. Alles war voller Schlamm. »Wir müssen aufhören, unsere Zeit zu vertrödeln«, sagt Mopar.

»Zeit vertrödeln?«, sagt Howard.

»Die werden draufkommen, dass wir in einem der Häuser sind«, sagt Mopar. »Ich kann mich nicht entsinnen, in diesen Plan eingeweiht worden zu sein.«

»Wie weit kommen wir ohne Geld?«, fragt Howard.

»Geld wird euch nicht weiterhelfen«, sagt einer der Wärter. Der fette Kopf quillt ihm aus dem Hemdkragen.

»Woher verdammt willst du das wissen?«, fragt Howard.

»Das ist die Stadt von Direktor Jugg. Auch wenn ihr es aus dem Gefängnistor herausgeschafft habt, über die Stadtgrenze kommt ihr nicht.«

»Ist das wahr?« Howard stellt die selbstgemachte Schrotflinte an die Wand und zieht ein zwanzig Zentimeter langes Rohr aus seiner Jacke. Es ist eines der Eisenstücke, mit denen sie die Knastwärter niedergeschlagen haben, von denen sie die Uniformen haben.

Im Gesicht des dicken Wärters arbeiten die Muskeln. »Stellt euch«, sagt er. »Ihr kriegt ein wenig Einzelhaft, aber das war’s dann. Noch hast du keine Mordanklage am Hals, Howard. Noch nicht.«

Howard schwingt das Eisenrohr. Der Wärter krümmt sich, um ihm auszuweichen, aber es erwischt ihn am Ohr und er fällt zur Seite, gegen Pearls Beine. Howard holt noch einmal aus. Die Kopfhaut platzt auf, wie bei einem Orangenschnitz. Der Wärter sackt auf Pearls Schuhe, sie stößt ihn weg und er klatscht zu Boden.

»Du bist ein warmherziges Miststück«, sagt Howard zu ihr. »Das hätte dein Mann sein können.«

2

– Der Fährtenleser –

Jim Cavey wartete ab und betrat den Umkleideraum des Gefängnisses erst, als er sich sicher war, dass alle anderen weg waren. Aber Checkers war noch da, ein Gesicht wie die Innenseite eines Schmalzkübels. »Komm rein, Jim«, sagte er. »Niemand hier, außer uns zwei Säcken.« Bis auf Schuhe und Socken war er schon umgezogen, die Füße weiß, mit roten Adern.

»Ich schätze, sie sind alle schnell nach Hause«, sagte Jim.

»Es ist Silvester. Sie sind heiß darauf, zu saufen und ihre Frauen zu vögeln.«

»Ich hab gedacht, sie wollen alle schnell nach Hause, bevor der Sturm kommt«, sagte Jim.

»Der Sturm?«

»Diesen Morgen ist ein kleiner Schneegimpel so niedrig geflogen, dass er mir beinahe den Kopf rasiert hätte.«

Checkers keuchte ein Lachen heraus, das die Adern auf seinem Kopf anschwellen ließ. »Jim, Jim, Jim. Darum freue ich mich immer, dich zu sehen.« Er schlug mit der Hand auf die Bank.

Jim öffnete seinen Spind, holte eine Cola-Flasche heraus und spuckte einen Schwall Tabaksaft hinein.

»Ist mein Ernst«, sagte Checkers. »Jeden Tag versuche ich, etwas zu lernen. Heute also über Vögel.«

Jim schnürte sich die Arbeitsstiefel auf. Er lehnte sich gegen einen Spind und zog sie mit Druck auf den Absatz aus.

»Da drüben gibt’s einen Rasierer und Wasser, wenn du dich rasieren willst«, sagte Checkers. »Und irgendwo können wir sicher einen Rasentrimmer finden.«

Jim zog seine Zivilsachen aus dem Spind. Ein grünes Leinenhemd, braune Drillichhosen und eine Carhartt-Jacke aus etwas hellerem Braun, Ärmel und Kragen schon in der Auflösung, die Ellbogen bis zum Futter durch. Er warf den Haufen auf eine Bank, ein Geruch von Lagerfeuer und fauliger Erde stieg auf wie eine Wolke.

»Du könntest dir sogar den Hintern waschen«, sagte Checkers. »Du riechst wie einer, der zum Kacken ins Freie geht.«

Ohne den Knoten aufzumachen, zog Jim die Uniformkrawatte aus und hängte sie an den Kleiderhaken.

Checkers sagte: »Kann ich dich mal etwas fragen, Jim?«

Das Wärterhemd und die Uniformjacke folgten der Krawatte, dann die Hosen. In seinen langen Unterhosen drehte Jim sich um und sah Checkers an.

Der hob sich die Hand vor die Nase, wedelte damit. »Ich meine das wirklich ernst, mit dem Hinternwaschen«, sagte er.

»Stell deine Frage.«

»Ich und ein paar von den Jungs haben sich neulich über dich unterhalten. Darüber, warum du so geworden bist, wie du bist.«

Dieses Mal spuckte Jim den Tabaksaft auf den Boden, einen halben Meter vor Checkers nackten Füße.

»Eine der Sachen, die ich gehört habe, ist, dass dein Vater dich nie ins Haus gelassen hat. Dass du draußen bei den Hühnern schlafen musstest. Das würde jeden verändern, zwischen Hühnern aufzuwachsen.

»Ich verstehe nicht, warum ihr alle immer nur herumhockt und über andere Leute redet«, sagte Jim. »Das kapiere ich nicht.«

»Das ist es, was Leute tun, Jim. Zusammenhocken und über andere Leute reden«, sagte Checkers und zog sich die Socken an. Aber er machte keine Anstalten, in die Schuhe zu schlüpfen. Er saß nur da und beobachtete Jim. Gluckste manchmal.

Also zog Jim sich seine Sachen an und ging. Vor dem Tor zog er sich die Strickmütze über die Ohren und ließ das Old Lonesome hinter sich. Wie jedes Mal wollte etwas in ihm, dass er sich umdrehte, aber er tat es nicht. Er konnte es hinter sich spüren, direkt hinter seiner Schulter, breit und enorm. Aus Granitblöcken, groß wie Automotoren gebaut, die Häftlinge selbst hatten die Steine aus dem Dos Tortugas Mountain herausgehauen. Ob man zurückschaute oder nicht, war egal. Man konnte es überall spüren.

Er durchquerte den kleinen Park neben dem Gefängnis und dachte dabei an Checkers. Vorbei an den eng stehenden Ziegelgebäuden und Fassaden lief er die Hauptstraße hoch, alle Straßenlampen waren mit Schleifen und Weihnachtsschmuck verziert. Noch immer dachte er an Checkers.

Ein paar Blocks weiter war The Yard. Jim spielte mit dem Gedanken, dort aufzukreuzen. Er stellte sich vor, wie er selbst durch die Tür tritt, seine Kontur verschwommen in der von Zigarettenqualm und Bratendunst geschwängerten Luft, und wie alle Gefängniswärter sich umdrehen, um zu sehen, wer da kommt. Und wenn dann nach ihm Checkers hereinkommt, ist Jim schon in Wartestellung und rammt ihm eine Flasche zwischen die Zähne. Besorgt es dem Kerl so, dass der es sein Lebtag nicht vergessen wird.

Jim verscheuchte den Gedanken. Er wusste, dass er besser daran tat, ihn zu vergessen. Alles, was er an Problemen mit nach Hause brachte, bedeutete langwierige Diskussionen mit Ruby. Für heute stand ihm eh schon eine schwierige Unterredung bevor. Dieselbe Diskussion, die sie jedes Silvester führten. Warum wollte er mit ihr nicht ausgehen, nie?

Er bog nach rechts in die Fifth Street ein. Die Straßenlaternen an der Ecke und die Außenbeleuchtungen der Häuser erwachten zum Leben und rissen Pappeln und Ulmen aus der Dämmerung.

Er spuckte aus.

Und dann heulte die Sirene.

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Jim ist jetzt unterwegs auf dem Highway 19, von hier ist es nur noch eine Meile bis nach Hause. Wenn die Sirene heult, sollte man nicht einfach weiterlaufen. Man sollte sich im Gefängnis zurückmelden, egal wo man gerade ist. Aber nichts kann Jim dazu bringen, in diesen Umkleideraum zurückzukehren.

Dann hört er den Wagen hinter sich.

Er weiß genau, was es ist.

Zu seiner Linken ragen die Berge auf, machen ihn krank vor Sehnsucht danach, sie hochzukraxeln. Ein kleines Lager zu bauen, eine Falle für das Abendessen aufzustellen. Das Wochenende dort zu verbringen. Jim bleibt stehen und pafft seinen Atem in den Schnee.

Es ist ein Chrysler Coupé. Der Fahrer beugt sich hinüber und öffnet die Beifahrertür. Es ist der stellvertretende Direktor Adam Bellingham. Ein teigiger Mann in den frühen Fünfzigern, ein Kinn, das sorgenvoll auf die Krawatte fällt, bemitleidenswerte braune Augen, die einen anbetteln, nicht bemerkt zu werden. Aber man darf ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilen. Vor vierundzwanzig Jahren hat Bellingham sich nach Frankreich abgesetzt und ist mit mehr Medaillen zurückgekommen, als in einen Eimer passen. Wenn Jim jetzt eine Person absolut nicht sehen will, dann ihn.

»Genau der, den ich suche«, sagt Bellingham. »Steig ein.«

Jim kann den Temperatursturz fühlen. Der erste Schnee flüstert um ihn herum, schneidet durch seine Jacke. Die Espen am Straßenrand ächzen und knacken mit ihren kahlen Ästen. »Du bist extra hergefahren, um mich zu holen?«

»Ich bin hergefahren, um dich zu holen, ja.«

»Du solltest besser weiterfahren. Ich sag es auch nicht weiter.«

»Steig ein.«

Auf dem Beifahrersitz liegt ein Stadtplan. Jim schiebt ihn beiseite und steigt ein.

»Hast du nicht die Sirene gehört?«, fragt Bellingham.

»Doch, hab ich.«

»Aber du bist in die falsche Richtung unterwegs.«

»Das hängt von der Sichtweise ab«, entgegnet Jim. »Von wo sind sie ausgebrochen?«

»Aus dem Nordtor. Sie haben Wärter als Geiseln dabeigehabt, und einige von ihnen haben selber auch Uniformen getragen. Die Wachen auf den Schießtürmen hatten Sorge, die eigenen Leute zu treffen.«

»Weil sie gedacht haben, es sind Wärter?«

»Was denkst du?«

»Was hat Direktor Jugg dazu gesagt?«

»Ich kann mir vorstellen, er hätte sie erschießen lassen, wenn man sie nicht für die Verfolgung brauchen würde.«

»Verstehe.«

»Wir werden dafür bezahlt, dass sie nicht ausbrechen. Ich habe nicht besonders viel Sympathie für die, die sich dieser Pflicht entziehen.« Bellinghams Augen sind auf Jim gerichtet. »Wie viele Bier hast du gehabt?«

»Keins.«

»In deinem Bart hängt ein Zweig. Ich dachte, du hast im Yard vielleicht ein paar gezischt und bist dann in einen Ringkampf mit einem Busch geraten.«

»Ich geh nicht in den Yard. Da sind nur Wärter.«

»Du bist auch ein Wärter, Jim.«

Jim hebt den Stadtplan hoch. »Haben sie schon bei den Bensons gesucht?«

»Keine Ahnung.«

Jim studiert die Landkarte. Er ist gut im Kartenlesen, wenn er Zeit hat. »Du weißt es nicht?«

»Siehst du ein Funkgerät in diesem Auto? Direktor Jugg gibt die Neuigkeiten über das Lokalradio durch. Anders können wir uns nicht auf dem Laufenden halten, aber er hat nichts über die Bensons gesagt.«

»Nun, Jugg ist nicht dumm. Ich bin sicher, dass er daran gedacht hat. Wohin fahren wir?«

»Zurück zum Gefängnis. Da bekommen wir unsere Befehle.«

Jim studiert eine Weile die Karte, seine Finger fahren vom Nordtor zu den nächsten Häusern. Dann gehen sie auf Wanderschaft. »Hast du eine Waffe dabei?«

»Im Handschuhfach ist eine.«

Jim öffnet es und holt einen Colt M1911 heraus. Die Dienstwaffe steckt in einem ziemlich verkratzten Gürtelholster, US ist in das Leder geprägt. Er pfeift durch die Zähne.

»Kannst du benutzen«, sagt Bellingham. »Hat keinen sentimentalen Wert.«

Jim öffnet das Holster und zieht die Pistole heraus. Der Schlaghahn ist angelegt, die Waffe gesichert. Er schaut nicht nach, ob eine Patrone im Lauf ist, er weiß es. Er öffnet seinen Gürtel und fädelt das Holster ein, dann nimmt er die Magazintasche aus dem Handschuhfach, holt die beiden 45er-Magazine heraus und steckt sie in seine Jackentasche. »Ich weiß einen Ort, wo Jugg noch nicht nachgeschaut hat«, sagt er.

»Und wo?«

»Bei Pearl Greene.«

»Woher weißt du von Pearl Greene?«

Jim faltet den Stadtplan zusammen. »Der Alte hat mir davon erzählt.«

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Man konnte den Alten nicht davon abbringen, einem Sachen zu erzählen, wenn man gemeinsam am Arbeiten war. Und weil es eine Hühnerfarm war, gab es dort immer Arbeit. Hühnerscheiße schaufeln, Heu als Streu verteilen, Eier aufsammeln. Den ganzen Tag lang. Jeden Tag. Lebensweisheiten weitergeben nannte der Alte das. Wer in der Stadt ein Säufer war, wer seine Frau betrog, wer bei Pearl Greene gewesen war.

Der Alte hasste die Stadt. Hasste sie, weil er mitbekommen hatte, was aus ihr geworden war. Von einer Stadt mit Gefängnis zu einer Gefängnisstadt. Wenn man in Denver war, brauchte man nicht einmal den Namen der Stadt zu sagen. Nur Old Lonesome, und sie wussten Bescheid. Der Alte hasste sie alle und verbrachte jeden Tag damit, Jim zu erzählen, warum. Was ihn selbst anging, so lernte Jim, die Hühner zu hassen.

Abwechslung gab es nur, wenn ein Wagen vom Gefängnis vorfuhr. Dann ließ der Alte liegen, was immer er tat, und verdrehte die Augen.

3

– Die Geächtete –

Dayton Horn war irgendwann am Nachmittag auf dem Sofa eingeschlafen. Das frühe Aufstehen hatte sie sich angewöhnt, bevor Ethan starb. Die zwei oder drei Stunden vor Sonnenaufgang waren die einzige Zeit, zu der er sie nicht brauchte, sie wurden zu ihrer liebsten Tageszeit. Am Küchentisch sitzend trank sie ihren Tee, hörte zu, wie die Morgenvögel erwachten, und beobachtete durch das Fliegengitter der Tür, wie der Nebel über die Wiese kroch.

Inzwischen ist es zur Routine geworden. Aufstehen vor dem Morgengrauen und draußen sein bei Sonnenaufgang. Sie hat nicht viel von dem Vieh behalten. Nur ein paar Hühner und eine Milchkuh. Das Pferd war weder die Zeit noch das Geld wert, also hat sie es verkauft. Um sich um alles zu kümmern, braucht sie nicht den ganzen Tag, aber sie mag es, alles schon am Morgen erledigt zu haben. So kann sie am Nachmittag lesen. Sie hat alles, was sie braucht, auch ohne sich um jemand anderes kümmern zu müssen als sich selbst. Und sie hat nicht vor, das jemals wieder zu ändern.

An diesem Nachmittag ist sie mit ihrem Buch im Schoß eingeschlafen. »The Brave Cowboy« von Edward Abbey. Es ist die Erkältung, die Dayton zu schaffen macht. Sie hat einen dicken Kopf und die Wörter auf der Buchseite verschwimmen, und dann sind ihr einfach die Augen zugefallen. Sie hätte in die Stadt fahren und sich etwas gegen die Erkältung im Drugstore kaufen sollen, aber es ist eine lange Fahrt. Stattdessen hat sie sich etwas von Ethans Bourbon auf dem Ofen warm gemacht, mit Honig und Zitronensaft, und ihn beim Lesen getrunken.

So ist sie eingeschlafen. Eingemummt von der trägen Wirkung des Bourbons, der Erkältung und dem wohlig wattigen Gefühl, das sich um sie legt.

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Als es bereits dämmert, erwacht sie, die verschneite Wiese vor dem Fenster schimmert in sanften Blau- und Weißtönen. Dayton ist heiß, sie schwitzt. Sie hat ihre Stallkleidung ausgezogen, ist aber in ihrer langen Unterwäsche eingeschlafen. Sie bewegt ihre Unterarme gegen den dumpfen Schmerz in ihren Ellbogen. Ihr kommt es vor, als ob sie nicht von alleine aufgewacht ist. Etwas hat sie geweckt. Sie weiß nur nicht, was.

Sie nimmt das Buch von ihrer Brust, legt es neben dem Sofa auf den Boden, dann steht sie auf und findet die Kerosinlampe auf dem Beistelltisch. Sie zieht den Glaszylinder ab und zündet den Docht an. Das unheimliche Zwielicht weicht dem Flackern der Lampe, das Wohnzimmer erwacht zum Leben. Alles wirkt verzerrt, unscharf.

War es ein Traum?

Was für ein Traum?

Sie kann sich nicht erinnern.

Sie steckt den Glaszylinder auf die Lampe und justiert den Docht, bis das Zimmer aufhört zu schwanken und das gelbe Licht klare Konturen zeichnet. Am anderen Ende des Raums, in der Ecke neben dem Schreibtisch, steht ihr kleiner Weihnachtsbaum. Sie hat ihn selbst geschlagen und dann im Wald Vogelnester in einen Rupfensack gesammelt. Als er voll war, hat sie ihn nach Hause gebracht und in jedes Nest Wachs getröpfelt, für je eine kleine Kerze, dann die Nester mit Wäscheklammern als Baumbeleuchtung befestigt. Ein Eimer Brunnenwasser steht daneben, aber sie hat es erst ein einziges Mal gewagt, die Kerzen anzuzünden. Es schien nur wichtig zu sein, einen Baum zu haben. Weihnachten gehört zu den Dingen, bei denen sie sich nicht sicher ist, ob sie aus ihrem Leben gestrichen werden dürfen.

Ein einzelnes Geschenk liegt unter dem Baum. Es ist eine Taschenbuchausgabe von John Tolands »The Dillinger Days«, die sie gekauft hat, als sie das letzte Mal in der Stadt war. Sie hat es für Mopar besorgt, in der Hoffnung, dass er es lustig findet.

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Es ist erst ein paar Wochen her, dass sie Mopar das letzte Mal besucht hat. Er war bleicher als sonst, seine Augen erinnerten an das, was man aus Strafkolonien kennt. Der Besuchsraum war nackter Zement, wurde von Wand zu Wand von einem langen Resopaltisch geteilt. Sie setzte sich auf ihrer Seite der Plexiglaswand auf einen Stuhl.

Er rauchte hastig, aschte nervös in die Blechdose auf dem Tisch. Seine Augen flackerten sie an, flackerten wieder weg. Er war nur noch Haut und Knochen. Spindeldürr, dass es wehtat, ihn anzuschauen. »Es ist die verdammte Dunkelzelle«, sagte er, seine Stimme durch das Plexiglas gedämpft. »Ich bin da meine ganze Knastzeit drin gewesen.«

»Du siehst gut aus«, sagte sie. »Nur ein wenig müde.«

»Klar.« Er wollte sie nicht anschauen, aber sie konnte sehen, dass er auf sie eingestellt war wie ein Drehknopf am Radio. Es war, wie in einer Bar zu sitzen, wo am anderen Ende des Tresens ein Kerl sitzt, der dich anstarrt, ohne dass man ihn dabei erwischen kann. Und dir ist klar, dass er dir auf den Parkplatz folgt, wenn du gehst. »Klar«, sagte er wieder.

»Klar?« Sie sagte es ein wenig mokant, als wäre es ein Spiel, das sie spielten. Aber es war keins.

Auf seinem Gesicht zeigte sich der Hauch eines Grinsens, aber es verebbte sogleich wieder. »Klar, bin ich müde.«

»Ich hab Tante Patsy gesehen. Deine Mama.«

»Wo denn?«

»Perkins Drugstore. Heute.«

»Was hatte sie an?«

»Das blaue Kleid. Das mit den Streifen. Sie hat Zeitschriften gekauft.«

Er streckte seine Zigarettenhand nach ihr aus, als ob er die Scheibe berühren wollte. Aber er tat es nicht. Die Geste ließ sie erstarren. Er konnte sie nicht berühren, aber dass er sich in ihre Richtung streckte, das ließ sie erstarren. Es war etwas, was sie für gewöhnlich beide nicht taten.

»Warum machst du das?«, fragte er.

Ihr Handrücken prickelte, unter der Haut lagen die Nerven blank. »Was mache ich?«

»Mich besuchen.«

Was sollte man darauf nur antworten? Sie blieb stumm.

»Weißt du, wie viele andere mich hier besuchen kommen?«, fragte er.

»Tante Patsy?«

»Einmal im Jahr. Am Sonntag vor meinem Geburtstag.«

Dieses Prickeln. Als ob sich ihre Haut langsam umstülpen würde. Sie würgte es ab. Er ist müde, das ist alles. So oft du auch schon hier gewesen bist, so etwas hat er noch nie bei dir ausgelöst. »Es gibt sonst niemanden, den ich besuchen könnte«, sagt sie. »Und da das Gefängnis direkt bei mir um die Ecke ist, soll es wohl einfach so sein, dass ich hier jemanden besuchen komme.«

»Sie lebt nur eine halbe Meile von hier und hat nichts zu tun«, sagt er. »Du hast viel am Hals. Du hast die Farm.«

»Die Farm macht kaum Arbeit.«

Er ließ seine Zigarette in die Blechdose fallen, ohne sich darum zu scheren, sie vorher auszumachen. Er rieb sich die Augen, und da war es wieder, dieses kurze Grinsen. Müde.

Sie sah zum Wärter hinüber. Er beachtete sie nicht. Niemand tat es.

»Ich hab gehört, er ist nicht mehr bei dir«, sagte er. »Ethan.«

»Was ist mit ihm?«

»Was soll sein. Er ist nicht mehr da.«

Neben Dayton saß eine Frau mit geföhntem Haar, eine Packung Marlboro auf dem Tisch. »Entschuldigen Sie«, sagte Dayton zu ihr.

Die Frau wandte sich zu ihr um.

»Kann ich mir eine Zigarette nehmen?«

Die Frau schob ihr Packung und Streichhölzer zu.

Dayton zündete sich eine an. »Er ist nicht mehr da.« Sie stieß den Rauch in die Luft, schob die Packung zurück in Richtung der Frau.

»Du bist jetzt alleine da oben?«

»Es gibt noch ein paar andere Leute.« Das war zwar nicht gelogen, stimmte aber nur zum Teil. »Nicht dauernd, aber normalerweise schon. Ich hab Hilfe.«

Er war aufgedreht, aufmerksam. »Ich möchte sehen, was du damit gemacht hast.«

»Womit gemacht?«

Als sie ihre Zigarette zum Mund führte und mit ihren Fingern die Lippen berührte, bewegte sich seine Hand erneut, als ob er die Glasscheibe berühren wollte. Es fühlte sich für sie so an, als sei es seine Hand, seine Finger auf ihren Lippen.

»Die Farm«, sagte er.

Auf Daytons Plexiglasseite gab es Aschenbecher aus Glas. Die Zigarette war erst zu einem Viertel geraucht, aber sie drückte sie aus. Die Frau mit den geföhnten Haaren sagte leise etwas.

»Warum hast du sie dir angesteckt?«, fragte Mopar.

Dayton machte eine Grimasse, ihr Magen war in Aufruhr. »Keine Ahnung.«

»Du hast gedacht, du probierst es, weil du hier mit mir sitzt und weil ich rauche?«

»Genau.«

»Um zu sehen, ob es zu dir passt?«

»Es ist nicht meine erste Zigarette.«

»Nein«, sagte er. »Das habe ich auch nicht gedacht.«

Er war müde. Das sagte sie sich selbst, nachdem sie gegangen war. Nur müde, das war alles. Sie hatte ihn schon mindestens dreißig Mal besucht, und nie hatte er in ihr ein unangenehmes Gefühl hervorgerufen. Nicht ein einziges Mal. Er war nur einfach müde. Er hatte versucht, mit ihr herumzualbern, wie Cousins es nun mal tun, und es war bei ihr schief angekommen. Das war alles.

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Es ist die Sirene gewesen.

Das war es, was sie aufgeweckt hatte.

Meistens kann sie das Heulen gar nicht hören, nur in bestimmten Nächten. Wenn es von der Hauptstraße rechts abbiegt, eine Kaltfrontschneise über die Wiese auf der Nordseite der Stadt hochzieht und dann den Dos Tortugas Mountain hinaufschallt, vom Mond abprallt, und als Querschläger um den Jackleg Canyon herum, bis an ihr Fenster kommt und ans Glas klopft.

Im Aschenbecher auf dem Schreibtisch neben dem Weihnachtsbaum liegt noch immer ein halber Joint. Sie lächelt.

Und dann verfliegt ihr Lächeln.

4

– Die Zeitungsleute –

Stanley Hartford sitzt in einer Bar in Denver, nimmt einen Schluck aus einer Flasche Coors. Die Wände sind mit Girlanden aus künstlichen Fichtenzweigen dekoriert, die Lampen mit Lametta und bunten Lichtgirlanden dekoriert. Eine Statue der berühmten Budweiser Clydesdale-Pferde, die einen großen Bierschlitten ziehen, steht auf der hinteren Theke neben der großen Coors-Wanduhr. Noch sind es ein paar Stunden, bis der Billardsalon unter Stanleys Zimmer im Milner schließt. Das Klicken der Kugeln, die Streite, die Biersäufer und Nutten. Es gibt Nächte, in denen Stanley durchschläft, aber heute wird das nicht so sein. Heute gibt es dort ein Buffet. Der Gedanke an sein mickriges günstiges Zimmer über dem verdammten Billardsalon macht Stanley wütend. Wenn er könnte, würde er sein Leben in einen Mixer schmeißen.

Es gibt keine anderen Gäste. Silvesterabend. Der Barkeeper hat sein Geschirrtuch über der Schulter hängen und liest ein Taschenbuch. Seine Haut hat einen Graustich und wenn er redet, klingt es so, als hätte er Konversationskurse an einer Universität für Redekunst besucht. Es gibt nicht einen einzigen Vokal oder Konsonanten, den er nicht betont.

Während er so den lesenden Barkeeper beobachtet, bereut Stanley es beinahe, dass er sich selbst nicht auch ein Buch mitgenommen hat. Seit Wochen hat er nicht mehr gelesen. Er sieht vor lauter Lücken die Wörter nicht. Das Schlimmste an alldem ist, dass es noch nie eine interessante Scheidung gegeben hat und auch niemals geben wird. Es ist die blödsinnigste Sache der Welt, aber wenn man mitten drinsteckt, gibt es nichts anderes mehr. Es saugt dir das Gehirn durch die Ohren raus und macht dich wütend auf dich selbst.

Dieses verdammte Leben.

Das ist Stanley in letzter Zeit ziemlich oft durch den Kopf gegangen.

Der Barkeeper sieht von seinem Buch auf und fragt: »Noch ein Bier?«

Stanley schaut auf die Uhr. Zum wiederholten Male. Dann nickt er.

Der Barkeeper nimmt einen Öffner und macht eine Flasche auf. In der Geschichte des Flaschenöffnens hat vermutlich noch niemand den Öffner auf derart perfekte Weise benutzt. Stanley kommt es so vor, als sei er in Dreharbeiten geraten. »Sie sind kein Barkeeper, oder?«, fragt er.

Der Barkeeper schiebt ihm die Flasche zu. »Sir?«

»Den Job hinter der Bar machen Sie nur nebenbei, stimmt’s? Ich hab das auch getan, als ich angefangen habe zu arbeiten.«

»Ich bin auf der Schauspielschule, Sir.«

»Verdammt.« Stanley haut auf die Theke. »Das war mir sofort klar, als ich Sie gesehen hab.«

Die Eingangstür geht auf und wieder zu, Garrett Milligan nimmt sich den Hocker neben Stanley. »Spendierst du mir ein Bier?« Garrett ist einer der jungen Fotografen, die von der Rocky Mountain News angeheuert wurden, um die Seiten des neuen Zeitungsformats zu füllen. Er trägt einen billigen Anzug aus dem Kaufhaus der Denver Dry Goods Company.

»Dieser Anzug ist zum Weglaufen«, sagt Stanley.

»Der hat was, oder?«, sagt Garrett. »Meine Frau hat ihn mir gekauft, als ich den Job bekommen hab.«

»Ist das der Einzige, den du hast?«

»Sie reinigt ihn jede Nacht.«

Diese Diskussion führt zu nichts. »Lass dich unserem Barkeeper vorstellen«, sagt Stanley. »Er ist Schauspieler.«

Die Augen des Manns hinter dem Tresen verengen sich. »Möchten Sie zahlen, Sir?«

»Seien Sie nicht so empfindlich«, sagt Stanley. »Wenn Sie nicht angeben, tu ich es für Sie.«

»Du musst das nicht mit jedem machen, den du triffst«, merkt Garrett zu Stanley gewandt an. »Nicht mit jedem.«

»Machen Sie dem Jungen ein Bier auf«, sagt Stanley zum Barkeeper. Und der erfüllt ihm den Wunsch. Dann sitzen sie einfach so da und trinken still ihr Bier, bis Stanley es nicht mehr aushält. »Was ist los, Junge? Was willst du hier?«, fragt er.

»Der Große hat eine Halsentzündung und die Kleine verträgt nur Milchersatz, wenn sie überhaupt etwas bei sich behält. Die meiste Zeit schreit sie anstatt zu essen.«

»Was machst du dann hier draußen?«

»Autounfall vorne an der Ecke.« Garrett legt die Hand auf seine Kameratasche. »Habe alles im Kasten. Gegen ein Bier wird meine Frau nichts haben.«

»Doch, wird sie.«

Garrett nimmt einen großen Schluck. Einen sehr großen. Ungefähr die halbe Flasche. »Sie wird es nicht erfahren.«

»Doch, wird sie.«

»Verdammt.« Garrett sieht aus, als hätte er gerade einen Blutklumpen verschluckt. Mit diesem Ausdruck im Gesicht trinkt er sein Bier aus. »Wird das irgendwann mal einfacher?«

»Für mich ist es einfacher geworden.« Stanley ordert zwei weitere Bier, der Barkeeper bringt sie. »Ganz einfach.«

Garrett schiebt die leere Flasche beiseite, greift die volle. »Kann ich dich etwas fragen?«

»Du kannst fragen, oder aber ich sag’s dir einfach so.«

»Okay. Was war der wahre Grund?«

»Ich war immer arbeiten und, wenn ich zuhause war, hatte ich keine Worte mehr übrig.« Stanley kann den Barkeeper sehen, wie er hinter dem Taschenbuch zu lächeln beginnt. »Das ist das Heikle an Worten. Du kannst ihrer überdrüssig werden. Und sie wurde der Worte noch überdrüssiger als ich. Zumindest meiner. Das Geld hat sie gemocht, aber nach einer Weile hat sie gedacht, dass sie das Geld ohne die Worte haben kann. Das war das Aus.«

»Dann hab ich es ja besser. Ich hab kein Geld.«

»Das wird nicht immer so bleiben«, entgegnet Stanley. »Wenn du an ein oder zwei gute Geschichten kommst, dann rieselt es. Deine Arbeit ist top.«

Garrett nickt, aber er sieht nicht überzeugt aus.

»Lass es für heute dein letztes Bier gewesen sein und mach dich auf nach Hause.«

»In Ordnung«, sagt Garrett und lässt seine Flasche über der Theke kreiseln.

Das Telefon klingelt. Der Barkeeper nimmt ab und hört eine Minute zu, ohne etwas zu sagen, dann reicht er Garrett den Hörer. »Ich glaube, das ist für Sie.«

Garrett hört auf, die Flasche kreiseln zu lassen. Er rührt sich überhaupt nicht mehr. Stanley legt ihm die Hand auf die Schulter und gibt ihm einen leichten Stoß.

»Ich glaube nicht, dass es Ihre Frau ist«, sagt der Barkeeper. »Ich glaube, es ist Ihr Chef.«

Garrett nimmt das Telefon und hört schweigend zu. »Jawohl«, sagt er. Dann noch einmal.

Er sagt es, bis Stanley nicht mehr zuhört, dann gibt er den Hörer zurück.

»Er wollte nicht mit mir reden?«, fragt Stanley.

»Nein.« Garrett lässt die Flasche wieder kreiseln. »Aber er hat nach dir gefragt.«

»Das hab ich nicht bezweifelt.«

»Er hat gefragt, ob du noch dein Auto hast.«

»Dieses verfluchte Leben.« Stanley presst sich die kalte Flasche an die Stirn. »Warum?«

»Er will uns oben in den Bergen haben.«

»Wo?«

»Old Lonesome.«

»Nicht mit mir.« Stanley schüttelt den Kopf. »Ich gehe auf mein Zimmer und esse Salzcracker und Sardinen. Es gibt noch ein Telefonat, auf das ich warte, und das hat nichts mit dem Old Lonesome zu tun.«

»Ich muss ihn in fünf Minuten zurückrufen, wenn wir es nicht schaffen.« Garrett klopft mit dem Flaschenboden auf die Theke. Nicht besonders fest und auch nicht laut. Es ist nur ein leichtes Klopfen. »Es sind du und ich, oder ich bin nicht dabei. Das hat er klargemacht. Und es zieht ein Sturm auf. Wir müssen jetzt los.«

»Es ist ein Gefängnisausbruch. Das heißt, einem Haufen dummer Hinterwäldler die ganze Nacht durch die Wälder zu folgen.«

»Kann sein.«

»Und woher hat er gewusst, dass ich hier bin? Wie zur Hölle weiß er so etwas?«

»Ist das wichtig? Das ist die Story, die ich brauche. Hat er mir gesagt.«

»Für mich macht es keinen Sinn, Stories zu schreiben, bei denen mir das Gesicht weggeschossen werden kann«, sagt Stanley. »Vielleicht, wenn sie sich an einem Weinkorken verschluckt oder so etwas. Bis dahin bleibe ich hier und trinke.«

»Die Kleine ist erkältet, ich muss mich zwischen Medizin und Milchpulver entscheiden, beides kann ich mir nicht leisten. Und meine Frau isst noch nicht einmal mehr was.«

»Zur Hölle, Junge«, sagt Stanley. »Fahrt alle zur Hölle. Und er auch. Du weißt, warum er dich angerufen hat, oder? Der Scheißkerl wusste, dass ich nicht losziehen würde, wenn er mich fragt.«

»Wenn ich es alleine machen könnte, würde ich es tun. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, würde ich dich nicht darum bitten.«

»Hab ich dir je von meinem Pfirsichgarten erzählt?«, fragt Stanley. »Pfirsiche wachsen überall. Die meisten Leute wissen das nicht. Die Navajos haben sie sogar in irgendwelchen Canyons in Arizona gezogen, bis Kit Carson gekommen ist und die Bäume niedergebrannt hat. Wenn du dann irgendwann mal genug Geld hast, um dir einen Pfirsichgarten zu kaufen, dann steck dir besser auch gleich noch die Nummer von einem Scheidungsanwalt in die Tasche.« Stanley starrt auf die Theke. »Ihr könnt mich alle mal! Wie sieht deine Frau überhaupt aus?«

»Was?«

Stanley rülpst in die Faust. »Erzähl mir was von ihr. Irgendein Detail.«

»Ich kann sie nicht beschreiben. Ich bin kein Schreiber, so wie du. Kann ich dir ein Foto zeigen, das ich von ihr gemacht habe?«

»Zeig’s mir.«

Garrett holt das Foto aus seiner Brieftasche, hält es hoch.

Es ist genau das, was Stanley erwartet hat. »Fuck you, kid.«

5

– Der Häftling –

Mopar kann Molly einfach nicht vergessen. Selbst jetzt nicht. Das Adrenalin hat sich gerade erst verflüchtigt, und schon beherrscht sie wieder seine Gedanken. Sein Kopf brüllt, dass er hier draußen auf derselben Seite ist wie sie. Immer noch kauert er neben dem Piano und hat die selbstgemachte Schrotflinte in der Hand. Draußen vor dem Fenster treibt der Schnee weiße Striche durch das dunkler werdende Blau. Hinter dem Gefängnis ragt der Dos Tortugas Mountain hervor. Er trägt Mollys Gesicht. Der Schnee, die Bergflanke. Es ist ihr Sommergesicht, weil es in den Erinnerungen an sie immer Sommer ist. Sonnenbaden auf einer Decke in ihrem Garten, neben ihnen ein Stapel Bücher. Ihre Kleider und Bettlaken flattern an der Wäscheleine. Und später sind es ihr Haar, ihre braunen Schultern, der Geruch von Sonne und Sonnencreme.

Es ist sinnlos, darüber nachzudenken. Es gibt da eh nichts mehr zu holen. Molly ist nicht ein einziges Mal gekommen, um ihn zu sehen. Jemand wie sie kommt nie.

Warrington liegt an der Wand, die Hände auf der Brust, und schnarcht zufrieden. Schwer zu sagen, ob Bad News auch schläft. Seine Füße zucken so sehr, als würde er Hasen jagen. Die beiden haben eine ganze Flasche Brandy intus, die sie in einem Geschirrschrank gefunden haben.

Und dann sind da die Wärter. Der Blonde hat sich nicht gerührt, seit Howard ihn mit dem Rohr niedergeschlagen hat. Mopar selbst ist so oft geschlagen worden, dass er kein Mitgefühl hat, aber all das Blut hat ihm den Magen aufgewühlt.

»Wir dürfen nicht länger warten«, sagt Mopar. »Wir müssen hier schleunigst weg.«

»Sind wir bald.« Howard hat sich in einen der Sessel gequetscht wie ein Bronco in einen Pferch. Er zählt das Geld, das Bad News und Warrington in Pearls Schlafzimmer gefunden haben.

»Warum verdammt noch mal nicht jetzt?«

»Weil ich nicht in hundert Bullen laufen will, wenn ich rausgehe. Wir sind nur ganze vier Blocks vom Knast weg. Ich warte ab, bis sie sich aufgeteilt haben, um nach uns zu suchen. Vorher gehe ich nirgendwo hin.«

Der blonde Wärter mit der geplatzten Kopfhaut zuckt plötzlich, wird dann steif.

»Leck mich am Arsch«, sagt Mopar.

Howard sieht ihn an. »Einen Hilfssheriff«, sagt er. »Den hast du erschossen, hab ich recht, Kumpel? Oder sind das falsche Details?«

Es liegt an all dem Roten. Ein großer roter Ofen. »Die werden im Nu alle hier sein.« Mopars Finger krümmen sich um die Schrotflinte.

Howard steckt das Geld in seine Gesäßtasche. »Du wolltest wie Dillinger sein und hast deshalb einen Hilfssheriff erschossen, stimmt’s? Das war in allen Zeitungen zu lesen.«

Mopar schüttelt etwas von dem Rot aus seinem Kopf. Steh auf, du Scheißkerl, sagt er zu sich selbst. »Man muss nicht alles glauben, was in der Zeitung steht«

»Du hast ihn nicht umgebracht?«

»Und ob ich den Hilfssheriff erschossen habe«, sagt Mopar. »Aber die Dillinger-Sache hab ich nie gesagt.«

»Dein Rechtsanwalt hat es auch wiederholt«, sagt Howard. »Ich hab die Zeitung gelesen.«

»Er war Anwalt«, sagt Mopar. »Die sind alle nicht richtig im Kopf. Die werden das nur, weil sie als Kind missbraucht worden sind oder so was.«

Howard setzt die randlose Brille ab und hält sie in der Hand. »Du weißt, warum ich dieses Schwein zusammengeschlagen habe?«

Mopar versucht aufzustehen. Es geht leichter als gedacht. »Weil er dich geschlagen hat?«

»Nein. Verdammt noch mal, nein. Jeder von diesen Schweinebullen hat mich geschlagen.«

»Warum dann?«

»Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeigegangen bin, hat er mir einen kleinen Schubs gegeben. So klein, dass man es kaum bemerken konnte. Ich seh dich wieder, Meister, hat er dann immer gesagt.«

»Das ist doch nicht so schlimm«, sagt Mopar. »Zu mir hat er was viel Schlimmeres gesagt. Sie alle.«

»Meine Frau hat genau das zu mir gesagt, als sie mich das letzte Mal besuchen kam. Sie hat meinen Jungen mitgebracht. Acht Jahre alt. Sie hat das gesagt und mir einen Kuss gegeben, und dieser blöde Kerl, dieses Schwein, hat direkt danebengestanden. Seitdem hat er es jeden Tag zu mir gesagt.« Howard zeigt mit der Flinte zu dem Wärter. »Ich würd’s wieder tun.«

»Hast du noch Tabak?«, fragt Mopar.

»Steck dir deinen Tabak sonstwo hin.« Howard setzt die Brille auf, hinter den Gläsern schwellen seine Augen an. »Jeder, der mit diesen Arschlöchern dort drinnen gewesen ist, versteht das.«

»Ich versteh es auch«, sagt Mopar. »Tabak?«

Howard zieht einen Beutel Anstaltstabak aus der Jackentasche und gibt ihn Mopar.

Pearl schnieft vom Sofa. Es ist das erste Geräusch, das sie seit langer Zeit gemacht hat. »Was für ein Paar«, sagt sie. »Einer von diesen Jungs zieht dich ein wenig auf, und du schlägst ihn halb tot.«

»Warum ziehst du mich nicht ein wenig auf?« Howards Gesicht nimmt einen harten Ausdruck an, als sei es rund um die ovalen Brillengläser gehämmert. »Du wirst nicht damit durchkommen, dass du Frauenkleider trägst, du Schlampe.«