Der Geliebte der Verlobten

Über Laura Lippman

LAURA LIPPMAN, geboren 1959 in Atlanta/Georgia, hat mit ihrer erfolgreichen Detektivfigur Tess Monaghan mindestens zweierlei gemein: Beide leben in Baltimore, und beide haben als Journalistinnen gearbeitet, Lippman allerdings mit deutlich größerem Erfolg. Als Tochter einer Bibliothekarin und eines Journalisten spielten die Literatur und das Schreiben schon früh eine wichtige Rolle in Laura Lippmans Leben. Die ersten sieben Tess-Monaghan-Romane schrieb sie neben ihrem Fulltime-Job bei der Baltimore Sun, für die schon ihr Vater arbeitete. 2001 zog sich Lippman aus dem journalistischen Tagesgeschäft zurück, um sich ganz dem Schreiben von Romanen zu widmen. Ihre Kriminalromane – ob mit oder ohne Tess Monaghan – wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem weltweit renommiertesten Preis für Kriminalliteratur, dem Edgar Allan Poe Award. Lippman ist mit dem Drehbuchautor David Simon (The Wire) verheiratet. Das Paar hat eine Tochter.

Im Kampa Verlag erschien in der Tess-Monaghan-Reihe bisher außerdem Die Frau im grünen Regenmantel.

H.L. MENCKEN, »Ein Buch der Burlesken«

Obwohl ich die gute alte Stadt Baltimore sehr liebe, und viele ihrer Bewohner noch mehr, lehrt mich die Vergangenheit, dass sie, was ihre kollektiven oder öffentlichen Fähigkeiten angeht, eine Ansammlung der dümmsten, gedankenlosesten, unentschlossensten, unpraktischsten und krankhaftesten Zweibeiner ist, die es je unter der Sonne gegeben hat. In ihrer Einbildung, auf die sie stolz sind, ertragen sie keinerlei Rat, sei er auch noch so überlegt und ausgereift, von keinem Menschen, und lassen sich stets von ihren eigenen primitiven und unüberlegten Vorurteilen leiten und nicht von dem, was der gesunde Menschenverstand nahelegen würde, der doch nur aus dem geduldigen Ausüben von Urteilskraft, Beobachtung und Nachdenken erwachsen kann.

DR. THOMAS HEPBURN BUCKLER aus Baltimore, in einem Brief aus seinem selbst gewählten Exil in Paris, erschienen in: »Baltimore: Seine Interessen – Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft« (1873)

Im schönsten Dreck lag ich und lachte

vor Glück, doch als ich dann erwachte

sah ich des Himmels Morgenröte schon

o Mann, dann war dies alles nur der Lüge Lohn

die Welt war immer noch die alte

ich war noch ich, nur die Klamotten nass und kalte

und mir blieb weiter nichts zu spinnen

als mit dem gleichen Spiel von vorne zu beginnen

ALFRED EDWARD HOUSMAN, »Terence, Das ist dummes Zeug«

Am letzten Abend im August ging Tess Monaghan in einen Drugstore und kaufte sich ein Schreibheft – eins mit einem schwarz-weiß marmorierten Umschlag. Das tat sie jedes Jahr im Herbst, schon seit sie sechs Jahre alt war, und sie sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern, obwohl inzwischen 23 Jahre vergangen waren. Ungeachtet dessen, dass sie einen Computer mit großem Speicher besaß, dem sie absolut alles hätte anvertrauen können, was sie aufzeichnen wollte, legte sie diese Gewohnheit nicht ab. Ungeachtet auch dessen, dass sie bis zum Rite Aid gehen musste, weil »Weinstein Drugs« von ihrem Großvater schon lange in den Ruin geführt worden war. Und schließlich auch ungeachtet dessen, dass sie nicht mehr zur Schule ging, keinen Job mehr hatte und das Ende des Sommers für sie wenig Bedeutung besaß. Doch Tess glaubte an Routine und Rituale. Also kaufte sie ein Schreibheft für einen Dollar neunundsechzig, nahm es mit nach Hause, schlug die erste Seite auf und schrieb:

Ziele im Herbst:

1. 60 Kilo Bankdrücken.

2. 1000 Meter in viereinhalb Minuten laufen.

3. Don Quijote lesen.

4. Einen Job finden, usw.

Punkt 4 war da schon problematischer. Vor allem würde sie sich vorher überlegen müssen, was für einen Job sie überhaupt wollte, ein Dilemma, das sie bereits seit zwei Jahren lähmte, seit nämlich Baltimores vorletzte Zeitung, der Star, eingegangen war und die nunmehr letzte Zeitung, der Beacon, sie nicht hatte anstellen wollen.

Tess schlug das Heft zu, steckte es ins Regal neben die 22 anderen – alle leer bis auf die erste Seite –, stellte den Wecker und war binnen fünf Minuten eingeschlafen. Es war der Abend vor dem ersten Schultag und die Stadt begann, die Schläfrigkeit des Augusts abzuschütteln und frisch in den Herbst einzusteigen. Vielleicht würde das ja auch Tess mitreißen.

Der Wecker klingelte sieben Stunden später, um Viertel nach fünf. Sie zog sich schnell an und lief zu ihrem Auto, wobei sie in die Luft schnüffelte, um herauszufinden, ob der Herbst in diesem Jahr zeitig einsetzen würde. Die Luft aber war bedrückend dick und zäh und scherte sich keinen Deut um Tess’ Erwartungen. Ihr elf Jahre alter Toyota, das Zuverlässigste in ihrem Leben, sprang sofort an. »Danke, mein Schatz«, sagte sie, tätschelte das Armaturenbrett und lenkte den Wagen durch die verlassenen Straßen der Innenstadt.

Zum Glück hatte Tess einen eigenen Schlüssel zum Bootshaus, so wie die meisten Unentwegten unter den Ruderern. Sie sperrte auf, verstaute ihren Schlüsselbund in einem Schließfach im Umkleideraum, rannte die Treppe hinunter und packte ihre Ruder, weil sie unbedingt noch vor den Collegestudenten auf dem Wasser sein wollte. Sie mochte nicht in einen Topf geworfen werden mit Leuten, die sie bei sich die J.-Crew-Meute nannte, diese grünen Jungs mit ihrem ewigen Gequassel von den Prüfungen, die sie so blendend bestanden, und den Bierfässern, von denen sie so viele angestochen hatten. Aber ebenso deplatziert fühlte sie sich unter den erwachsenen Mitgliedern des Baltimore Ruderclubs, diesen tüchtigen Berufstätigen, die nach dem Morgentraining zur Arbeit davoneilten, und zwar zu einer richtigen, im Krankenhaus und im wissenschaftlichen Labor, in der Anwaltskanzlei und an der Börse.

»Pass auf meine Schnur auf, Mädel«, rief ein

»Seh ich schon«, sagte sie, während sie ihren Alden Ocean Shell über dem Kopf balancierte und das Dock hinunterging, vorbei an dem ganzen Durcheinander der Krebsfischer, das aus Leinen, Hühnerhälsen und 35- Liter-Eimern bestand. Die Krebsfischer – Leute aus Baltimore, die ihre Sozialhilfe durch die Gaben des Patapsco River aufbesserten – hatten heute Morgen Glück, auch wenn der größte Teil ihres Fangs illegal war: eiertragende Weibchen oder Krebse, die insgesamt weniger als zwölf Zentimeter lang waren. Tess würde sie nicht verpfeifen. Ihr war das egal. Sie aß grundsätzlich nichts aus den heimischen Gewässern.

Zumindest ließ sich der Alden, der städtisches Eigentum war, leicht im Wasser aufsetzen. Die Sonne lugte gerade erst hinter der Francis Scott Key Bridge hervor, als Tess in dem kabbeligen Wasser losruderte und Kurs Richtung Fort McHenry nahm. Fast automatisch summte sie »Star-Spangled Banner«. Oh say can you see? Immer wieder ertappte sie sich dabei, hörte zu singen auf, fing dann aber ganz automatisch wieder an; schließlich ruderte sie ja auch auf die Geburtsstätte dieser Hymne zu. And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air …

 

Das Wasser war an diesem Morgen sehr wellig, und das machte Tess nervös. Ein Alden kenterte zwar nur schwer, aber unmöglich war es nicht, und sie wollte unter keinen Umständen mit der trüben Brühe hier im mittleren

Das war Tess’ Routine, ihre einzige, seit der Star eingestellt worden war. Sechs Tage die Woche ruderte sie morgens und lief abends. Dreimal die Woche ging sie zum Krafttraining in eine altmodische Boxschule in Ost-Baltimore. Am siebten Tag ruhte sie, weichte ihren langen Körper in einer heißen Wanne ein und träumte von einem Mann, der ihr gleichzeitig die Füße und den Nacken massieren konnte.

Auf dem College war Tess eine mittelmäßige Skullerin gewesen, die zu einem mittelmäßigen Team gekommen war, weil sie kräftig war und muskulöse Beine sowie die breiten Schultern einer Schwimmerin hatte. Der Übergang vom Skullen zum Rudern hatte ihren Stil nicht verbessert. Tess wusste, oder glaubte zu wissen, wie hässlich es aussah, wenn sie über das Wasser kroch. Wie ein Käfer in der Kloschüssel, nichts als Zuckungen und Krämpfe. Sogar jetzt, wo sie langsam hinausfuhr, runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Zunge, so sehr musste sie sich konzentrieren. Nein, nichts an Tess sah beim Rudern natürlich aus. Sie war einfach nicht gut. Sie wollte auch gar keine Rennen gewinnen. Und doch ließ sie an fast keinem Tag das Training aus. Ihre Freunde sagten immer, es

Aber an diesem Morgen, während sie versuchte, ihre Riemen flach zu halten, in einer Luft, die zum Schneiden dick war, kam ihr das alles plötzlich fadenscheinig vor. Der erste Tag im September sollte kühl sein, dachte sie, oder zumindest kühler als heute. Sie sollte in diesem Sport inzwischen gut sein, oder zumindest besser, als sie war. Ganz abrupt holte sie die Riemen ein und ließ das Boot treiben. Sie suchte den Himmel nach Regen ab, damit sie eine Ausrede hatte, aufzuhören. Dicker Nebel hing über der Skyline, aber keine Wolken. Von diesem Blickpunkt aus wirkte Baltimore einfach nur schmutzig und mutlos.

»Willkommen in Charm City«, sagte sie zu einer Möwe, die nach toten Fischen tauchte. »Willkommen in Baltimore, Süße.«

Weder Tess noch ihre Heimatstadt hatten ein gutes Jahr. Sie hatte keine Arbeit und bekam keine Arbeitslosenunterstützung. Baltimore war dabei, eine noch nie da gewesene Mordrate zu erreichen und den bisher für unschlagbar gehaltenen Rekord von 1993 zu brechen, der seinerseits einen damals für unschlagbar gehaltenen Rekord gebrochen hatte. Jeden Tag gab es einen kleinen Todesfall, die Art von Mord, die höchstens vier Absätzchen ganz weit hinten im Beacon füllte. Doch kaum jemand schien das zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar darum zu kümmern – außer denen, die bei der Wette um

»Die Stadt, die schießt, Süße«, rief Tess der unbeeindruckten Möwe zu. Die Stadt, die verdrießt. Die Stadt, die niemand genießt. Die Stadt, die man vergisst. Nur konnte Tess das nicht, sie konnte ebenso wenig von hier weggehen, wie sie mit einem Anker um den Hals vom Grund der Chesapeake Bay hätte auftauchen können.

Während sich ihr Blick in der Ferne verlor, tauchte ein weiterer Ruderer aus dem Schatten unter der Hanover Street Bridge auf und bewegte sich so leicht und elegant auf sie zu, als wäre das Wasser eingefettetes Glas. Seine Technik war perfekt, sein Rücken breit, sein weißes T-Shirt bereits grau vor Schweiß. Sein Bild war so plötzlich aus dem Nichts hervorgeschossen wie in einem 3D-Film.

In Sekundenschnelle hatte er die Distanz zwischen ihnen verkürzt und hielt direkt auf Tess zu.

»Hinter Ihnen«, rief sie, in der Gewissheit, dass ein so sicherer Ruderer keine Schwierigkeiten haben würde, den Kurs zu ändern. Ihre Stimme trug in der Morgenstille gut, doch der Ruderer achtete nicht darauf.

»Hinter Ihnen!«, rief Tess noch einmal deutlicher, während das Boot direkt auf sie zuschoss. Ein Zusammenprall schien unvermeidlich. Aus diesem Blickwinkel hatte sie noch nie jemanden rudern sehen, hatte noch nie bemerkt, wie schnell so ein Boot sich bewegte, wenn man ihm im Weg war. Nervös begann sie mit ihren

Der Alden, dieses bewunderungswürdige Boot, das speziell für Anfänger entwickelt worden war, bewegte sich unter Tess so leicht und behänd wie eine große Kuh. Trotz aller Eile, mit der sie das Boot in hastigen, stümperhaften Bewegungen durch das raue Wasser zu bewegen versuchte, schien sie überhaupt nicht von der Stelle zu kommen. Verzweifelt rutschte Tess mit ihrem Sitz nach vorn und zog die Riemen so heftig durch, wie sie konnte, wobei sie die ganze Kraft ihrer Beine einsetzte. Ihr Boot schoss übers Wasser und dem herankommenden Boot aus dem Weg. Da presste der andere Ruderer die Riemen gegen den Körper und inszenierte einen perfekten Nothalt wenige Zentimeter vor der Stelle, an der sie sich eben noch befunden hatte.

Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie da war.

»Das kriegst du dafür«, schrie eine vertraute Stimme, »wenn du so lasch ruderst.«

»Vielen Dank, Rock«, schrie Tess zurück. »Vielen Dank, dass du mich zu Tode erschreckt hast. Ich dachte schon, du wärest so ein Kamikaze-Ruderer, der mich versenken will.«

»Nö. Nur dein Privattrainer, der dich dazu bringen will, dass du wirklich jeden Tag vollen Einsatz bringst. Wozu kommst du denn überhaupt hier raus, wenn du dich überhaupt nicht forderst?«

Rock jedoch sah das Rudern als seine eigentliche Berufung an. An den Wochentagen beugte sich Rock, der dann Darryl Paxton hieß, von acht bis siebzehn Uhr in seiner Funktion als Forscher über eines der 20000 Mikroskope in der Johns Hopkins Medical School. Tess wusste nicht so genau, worüber er forschte, denn Rock gehörte zu den seltenen Menschen, die nie über ihre Arbeit sprachen. Rock arbeitete nur, um rudern zu können und so viel Geld wie möglich für seine einzige Leidenschaft beiseitezulegen. Er aß auch nur, um rudern zu können, schlief nur, um rudern zu können, hielt sich nur fit, um rudern zu können. Bis er sich in diesem Frühling verlobte, hatte Tess geargwöhnt, dass er überhaupt keine für das Rudern unwesentlichen Dinge tat. Es würde interessant sein, zu beobachten, wie seine Verlobte auf die Herbsttermine der wichtigsten Rennen reagierte, die Rock bis Thanksgiving zweimal täglich aufs Wasser rufen würden. Wenn die Verlobung diese Saison überlebte, dachte Tess, dann würde sie mit Freuden auf der Hochzeit im nächsten März tanzen. Vielleicht würde sie sogar mit der Braut tanzen. Schließlich sollte sie ja Brautführer sein.

Komisch, dabei hatte Tess sich zunächst von Rock ganz eingeschüchtert gefühlt. Er sah so aus, wie sich Tess einen Massenmörder vorstellte: stämmig und breit gebaut und so voller Muskeln, dass seine Haut darüber spannte. Hie und da machte sich denn auch ein Muskel selbstständig und zuckte an einer unerwarteten Stelle.

»Du siehst ja wie Dondi aus!«, war sie vor fünf Jahren eines Morgens herausgeplatzt, als er nach einem harten Training am Dock anlegte, die blauschwarzen Haare vor Schweiß an den Kopf geklebt. Sie kannte ihn bis dahin nur vom Sehen, als einen der wenigen Einzelruderer in einem Club, der von Vierern und Achtern beherrscht wurde.

Zu ihrer Überraschung hatte das wilde Gesicht gelächelt. »Also, das war doch wirklich ein guter Comic. Wie konnte der Beacon den nur fallenlassen. Und genauso Tweedy. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es Tweedy nicht mehr gibt.«

»Tweedy? Ach, ihr armen, benachteiligten Beacon-Leser, mit was für jämmerlichen Sachen ihr leben müsst. Der Star hat die ganzen guten Comics.«

Also waren sie zusammen frühstücken gegangen und hatten sich die Cartoons der drei Baltimorer Zeitungen angeschaut. Das war vor fünf Jahren und vor dem Aus von zwei Zeitungen gewesen. Tess war genauso wie

Eingehend betrachtete sie ihren Freund, der die letzten zwei Wochen Urlaub genommen hatte, um zu rudern. Unter seiner sommerlichen Bräune sah er fahl aus, und seine Augenringe hatten sich vertieft.

»Hast du dich denn in New York nicht ein bisschen erholt? Ich dachte, das wäre der Sinn eines Urlaubs.«

Rock schüttelte den Kopf. »Diese ewigen Grillen. Und je mehr ich trainiert habe, desto schlechter konnte ich schlafen. Aber trotzdem geht es mir ganz gut.«

»Mir geht es auch ganz gut.« Das war nur eine halbe Lüge. Körperlich ging es ihr nämlich prächtig.

»Na, wenn du so gut in Form bist, wollen wir doch mal auf dem Rückweg ein Rennen machen, wer als Erster an der Glasfabrik ist. Verlierer zahlt das Frühstück.«

»Mach keine Witze. Ich würde wahnsinnig viel Vorsprung brauchen, damit es überhaupt ein Rennen wird. Wir können ja ein Autorennen auf der Hanover Street Bridge machen, wenn du unbedingt so was brauchst.«

»Das genügt auf dieser Strecke nicht. Du würdest mich auf halbem Weg überholen.«

»Also gut, tausend.«

»Um das Frühstück? Aber du lädst mich doch sowieso immer zum Frühstück ein.«

»Heute lade ich dich nicht ein, wenn du es nicht wenigstens versuchst.«

»Oh.« Mag ja sein, dass Armut manche Menschen adelt. Zu denen gehörte Tess jedenfalls nicht. Sie überlebte nur dank eines ausgeklügelten Systems von Nettigkeiten und Einladungen, wodurch sie knauserig und ein bisschen verwöhnt war. »Na gut, du kriegst dein Rennen.«

»Fahr, als wäre es ein wirklich wichtiges Rennen. Ich fahre nicht eher los, als bis ich dich unter der Brücke verschwinden sehe.«

Tess brachte ihr Boot in Stellung und rutschte mit ihrem Sitz nach vorn. Sie fuhr keine Rennen mehr, außer gegen sich selbst, aber die Routine war ihr zur zweiten Natur geworden.

»Leg los«, rief Rock. »Versuch, einen vollen Zehnerschlag aufzubauen.«

Das Wasser war ruhiger geworden, und so fand Tess schnell ihren Rhythmus. Sie ruderte so, wie sie es in alten Zeiten in ihrem Achter getan hatte, und folgte den Befehlen einer nicht vorhandenen Steuerfrau. Zehn Schläge lang volle Kraft, alles, was sie aufbieten konnte, dann zehn Schläge nur mit den Beinen. Sie durchfuhr den Schatten unter der Hanover Street Bridge und kam

Da sah sie plötzlich Rock näher kommen. Sie hatte gedacht, er würde vielleicht ein wenig trödeln und ihr einen kleinen Vorteil lassen, aber Rock konnte nicht anders, als alles zu geben. Eine Art von Zuverlässigkeit, die sie nicht nachvollziehen konnte. Er durchfuhr das Wasser mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einer so perfekten Technik, dass Tess am liebsten angehalten und ihm zugesehen hätte. Aber sie musste weitermachen. Es ging um Blaubeerpfannkuchen oder vielleicht sogar um ein Western Omelett.

Auf Höhe des Bootshauses schoss Rock an ihr vorbei. In einem Rennen zieht normalerweise ein Boot Stück für Stück an einem anderen vorbei, und der Steuermann schreit den Ruderern, die überholt werden, Beleidigungen zu. Rock dagegen schien an Tess mit einem einzigen Schlag vorbeizufliegen. Sie konnte einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, das grimmig und fast grausam aussah, während ihm der Schweiß über die Stirn lief.

Verbissen ruderte sie weiter. Hinter sich hörte sie den Lärm der Glasfabrik, einer übel aussehenden Stätte, die Schwaden von heißer Luft über den Fluss schickte. Dort schienen immer Dutzende von Feuern zu brennen, egal, zu welcher Tageszeit man vorbeiruderte, und doch war nie ein menschliches Wesen zu sehen. Tess ruderte auf diese Feuerwand zu und legte alle Kraft in die letzten dreißig Schläge. In den Armen fühlte sie ein Stechen von der vielen Milchsäure, die sich dort in ihren Muskeln

Als sie aufsah, hatte Rock sich vorgebeugt, und seine Schultern zuckten. Er verausgabte sich oft so sehr, dass er sich erbrechen musste, und Tess war daran gewöhnt, ihren Freund mit ein wenig Speichel auf dem Kinn zu sehen. Ihr selbst war auch etwas übel. Sobald sie sich wieder bewegen konnte, paddelte sie nach vorn, wobei sie sich freute, dass sie ihm so viel abverlangt hatte.

Aber Rock übergab sich gar nicht, er weinte. Vornübergebeugt, das Gesicht auf den riesigen Schenkeln, bebte er am ganzen Körper in heftigen, stillen Schluchzern. Von hinten hatte er auf Tess gewirkt wie jeder Ruderer nach einem harten Training. Aus irgendeinem Grund musste sie an Moses und den brennenden Dornbusch denken. Es war faszinierend und bizarr. Sie streckte die Hand über das Wasser und versuchte, ihn beruhigend zu tätscheln. Ihre Hand rutschte an seinem Trizeps ab, als hätte sie versucht, einen Baum oder eben einen Felsen zu streicheln, wie Rocks Name schon sagte.

»Entschuldige«, sagte er.

Tess machte sich an ihren Ruderdollen zu schaffen, verlegen und unbeholfen.

»Ava«, sagte er knapp.

Ava. Seine Verlobte. Tess hatte sie vergangenes Frühjahr bei den Rennen kennengelernt. Wenn sie dabei war, schien Rock nie gut abzuschneiden. Vielleicht war das gar

Aber Tess sagte nur: »Ava?«

»Ich glaube, sie hat …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Schwierigkeiten.«

»Was für welche denn?«

»Irgendwelche, über die sie nicht reden kann. Wenn ich sie spätabends anrufe, ist sie nicht zu Hause, aber auch nicht im Büro. Sie hätte in der zweiten Woche in die Adirondacks nachkommen sollen, aber sie rief in letzter Minute an und sagte, es gebe bei ihrer Arbeit einen Notfall. Ihr Chef, dieser Abramowitz, zwingt sie, sich zu Tode zu schuften wegen dieser Asbestfälle.«

Tess konnte sich noch gut erinnern, wie stolz er gewesen war, als Ava den Job bei O’Neal, O’Connor & O’Neill bekommen hatte, und wie stolz er war, dass der extravagante neue Partner Michael Abramowitz sie zur Assistentin haben wollte.

»Aber das ist doch klar, oder? Das ›Tri O‹ ist ’ne ziemlich hoch aufgehängte Anwaltskanzlei, und diese Fälle mit dem Asbest reißen einfach nicht ab.«

»Ja, vor allem, wenn einer der wichtigsten Klienten Sims-Kever ist, der lieber eine Million Dollar

Rock zupfte an einer seiner Schwielen herum. »Die Sache ist nur, Ava war vorige Woche gar nicht bei der Arbeit. Ich habe angerufen, und die Sekretärin sagte mir, dass sie Urlaub habe. Ich bin mir aber sicher, dass es trotzdem eine ganz einfache Erklärung dafür gibt.«

»Warum fragst du sie dann nicht einfach?«

»In dieser Hinsicht ist Ava ein bisschen komisch. Wenn ich sie fragen würde, würde sie das so verletzen, dass …« Er schüttelte den Kopf, als könne Tess sich gar nicht vorstellen, wie Ava war, wenn sie sich verletzt fühlte, wie aberwitzig einschüchternd und anbetungswürdig. »Sie ist sehr empfindlich.«

Sie trieben in der leichten Strömung. Hier, in einer kleinen Bucht in der Nähe des Jachthafens, war das Wasser glatt. Tess suchte nach etwas, was sie sagen konnte, etwas, was diesem Gespräch ein Ende setzen und sie näher an ihre Blaubeerpfannkuchen bringen konnte. Avas Verhalten legte alle möglichen Vermutungen nahe, die aber alle wenig schmackhaft für Rock wären.

»Ich bin überzeugt, dass sie einen guten Grund hat«, sagte sie schließlich.

»Aber es gibt nur eine Möglichkeit, es wirklich herauszufinden.«

»Sie zu fragen? Du hast doch gerade gesagt, dass du mit ihr nicht darüber reden kannst.«

»Nein, sie zu beschatten.«

»Würde sie es nicht merken, wenn du ihr folgst?«

»Wie könnte ich ihr folgen? Ich meine, woher soll ich die Zeit dazu nehmen? Ich weiß, ich kann mir meine Zeit einteilen, aber ich sitze trotzdem nicht den ganzen Tag in meiner Wohnung herum und sehe fern.« Das war ein wunder Punkt bei Tess. Viele Leute schienen zu glauben, arbeitslos zu sein sei einfach nur ein Spaß. Aber sie musste zwei Jobs machen, nur um über die Runden zu kommen.

»Ich würde dich bezahlen. Dreißig Dollar Stundenlohn, wie es bei Privatdetektiven üblich ist. Du wirst sicher jemanden finden, der dich für die paar Tage in der Buchhandlung vertritt.«

»Aber ich bin keine Privatdetektivin«, wandte sie ein.

»Nein, aber du warst lange Zeit Reporterin. Hast du mir nicht erzählt, wie du einmal irgend so ein großes Tier aus der Stadt beschattet hast? Und du schreibst Berichte für deinen Onkel. Das könnte so etwas wie ein Bericht sein.« Er tat so, als würde er diktieren. »›Neunzehn Uhr dreißig; sah Ava in die Hemispheris-Klinik an der Johns Hopkins gehen. Empfangsdame bestätigt, dass sie Thrombozyten für jungen Krebskranken spendet.‹ Verstehst du?«

Mein Gott, dachte sie, ihm fällt nicht einmal eine gute Geschichte ein. Es war viel wahrscheinlicher, dass Ava in die Abteilung für Geschlechtsumwandlung an der Johns Hopkins Klinik ging und Rock erst wiedersehen wollte, wenn sie ihre neue Ausstattung hatte.

Trotzdem, dreißig Dollar Stundenlohn, wenn auch

»Einen besseren Computer«, säuselte Rock. »Autoreparaturen. Eine erste Rücklage für ein eigenes Boot, damit du nicht immer auf diese Scheißteile hier angewiesen bist.«

Tess stellte bei sich eine andere Liste zusammen: ein Paar Ohrringe, die ausnahmsweise einmal nicht aus dem Dritte-Welt-Laden kamen. Lederstiefel, samt Sohlen. Studiengebühren. Aber sie schob diese Gedanken wieder beiseite und versuchte, den Haken an der Sache zu finden.

»Warum nimmst du dir nicht einen richtigen Privatdetektiv, wenn du schon so einen Preis bezahlen willst?«

Rock blickte über den Fluss, als sei er plötzlich von den drei kleinen Kindern völlig in Anspruch genommen, die am nördlichen Ufer herumwateten.

»Ein richtiger Privatdetektiv wäre schäbig«, sagte er langsam, als müsse er sich die Antwort erst selbst noch zurechtlegen. »Es geht hier um einen Gefallen unter Freunden. Ich biete dir deshalb an, dich zu bezahlen, weil ich weiß, dass deine Zeit wertvoll ist. Und weil ich weiß, dass du nie genug Kohle hast.«

Als Freiberuflerin setzte Tess ihren Stundenlohn bei 20 Dollar an, arbeitete aber oft auch für weniger. Als Staatsangestellte mit Vertrag verdiente sie zehn Dollar

»Wo arbeitet Ava denn?«, fragte sie.

Er lächelte. Er sah wirklich wie Dondi aus, nur hatte er keinen so leeren Blick.

»Das erzähl ich dir alles bei Jimmy’s.«

Tess aß dann doch keine Blaubeerpfannkuchen. Sie hätte zwar gerne, doch in dem Augenblick, wo sie Jimmy’s in Fells Point betrat, warf der Koch zwei Bagels zum Toasten auf den Grill und schenkte frischen Orangensaft in einen roten Plastikbecher. Ihr übliches Frühstück: zwei Bagels, einer mit Frischkäse, einer ohne. Dieses Frühstück aß sie jetzt schon seit zwei Jahren bei Jimmy’s, mindestens fünfmal pro Woche.

Immer schon hatte sie sich gewünscht, dass sie ein Lokal betreten und jemand fragen würde: »Das Übliche?« Natürlich hatte dieses Lokal in ihrer Phantasie ursprünglich eine lange Bartheke in Mahagoni, die Männer dort trugen Anzüge und die Damen Hüte, und sie selbst würde sich einen Martini bestellen, einen Martini pur. Ohne Olive, bitte.

Rock entschied sich nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte, die auf dem Platzdeckchen aufgedruckt war, für das »Carbohydrat Spezial«, ein Frühstück, das er selbst kreiert hatte: Toast, Pfannkuchen, Orangensaft, einen Früchtebecher und Müsli mit fettarmer Milch.

»Keinen Sirup, keine Butter«, sagte er zu der Bedienung. »Nur jede Menge Marmelade extra.«

»Sonst noch etwas?«

»Haben Sie vielleicht auch Reis? Oder Buschbohnen?«

Das Frühstück kam in Minutenschnelle, und sie aßen beide hingebungsvoll und schnell, als gehöre auch das noch mit zum Rennen. Für Tess war Essen der Höhepunkt des Tages, und das machte sie nur noch hungriger. Rock dagegen wollte einfach nur die gewaltige Maschinerie seines Körpers auftanken und dann das Ganze hinter sich haben. Tess war noch an ihrem zweiten Bagel, als Rock schon mit dem letzten Stück Pfannkuchen den letzten Rest Marmelade vom Teller wischte.

»Also«, fing er an und durchwühlte seine Brieftasche. Er schob Tess einen Umschlag über die Tischplatte, den

»Komisch«, sagte Tess, während sie den Inhalt des Umschlags durchsah.

»Was?«

»Du hattest das alles schon fertig bei dir. Bist du davon ausgegangen, dass ich sowieso Ja sagen würde?«

Rock wurde rot. »Ich weiß einfach, dass du ein bisschen zusätzliches Geld gut brauchen kannst.«

»Na ja, es ist aber nicht so, dass ich für Geld grundsätzlich alles tun würde. Ich habe schon PR-Jobs abgelehnt.« Pleite zu sein war bei Tess ein bisschen zu einer Masche geworden.

Er lächelte nicht.

Sie verabschiedeten sich auf der Kopfsteinpflasterstraße vor Jimmy’s und waren plötzlich beide etwas verlegen. Tess hatte schon für viele Verwandte gearbeitet, aber noch nie für einen Freund. Rock schien sich mit dieser neuen Art der Beziehung genauso unwohl zu fühlen. Er knuffte ihr immer wieder in die Schulter, mit für ihn ganz zarten Berührungen, die aber bei ihr kleine

Tess fuhr über den weiten Platz am Broadway und hinüber in die Shakespeare Street, wo sie hie und da einen Blick in ein unverhülltes Fenster werfen konnte. Es war erst acht Uhr morgens, und die anderen Leute, die normalen Leute, wie Tess sie bei sich nannte, saßen noch am Frühstückstisch oder traten im Bademantel vor die Tür, um den Beacon reinzuholen. So eine Existenz hatte sie sich früher auch für sich vorgestellt, und zwar tatsächlich bis in diese prosaischen Einzelheiten. Ein Gatte, ein Baby, ein Esszimmertisch. Manchmal legten ihre Tante und deren jeweiliger Liebhaber ein Gedeck für sie am Frühstückstisch mit auf, aber dieser Versuch, es ihr häuslich zu machen, verstärkte nur Tess’ Gefühl von Fremdheit. Es kam ihr seltsam vor, sich zusammen mit ihrer Tante und ihrem »Mann des Monats«, beide gewöhnlich im Bademantel und noch etwas gerötet, zu heiterem Geplauder und Blaubeermarmelade hinzusetzen.

Die Shakespeare Street mündete in die Bond Street, in der Tess wohnte. Sie hielt an und blickte auf das Haus, das sie Zuhause nannte, ein klobiges Lagerhaus aus granatroten Ziegeln, die Türen und Fenster weiß umrandet und alles von der liebevollen Fürsorge ihrer Tante bestens instand gehalten. Die Fenster glänzten im Morgenlicht, und die Bücher im Inneren – in feinen Nuancen von Rot, Grün und Elfenbein – leuchteten wie

Nicht jeder hätte viel Umsatz von einem Laden erwartet, der nur Frauenliteratur und Kinderbücher verkaufte. Aber Tess’ Tante, Katherine »Kitty« Monaghan, war eben nicht wie jeder. Sie war überhaupt nicht wie irgendjemand anders. Nach fast zwanzig Jahren als Bibliothekarin in städtischen Schulen war sie in Frührente gegangen, nachdem sich eine Mutter beschwert hatte, dass Märchen gottlos seien und den Glauben an Satan und den Okkultismus förderten.

Das war jedenfalls die offizielle Version. Die ausführlichere Version umfasste den Super Fresh Markt, einen Kohlkopf und eine Gelbe Rübe. Kitty war entlassen worden, nachdem sie eine Mutter verziert hatte, die sie in der Gemüseabteilung angesprochen und sich über »Hans und die Bohnenranke« beschwert hatte. Dieses Märchen fördere unsoziales Verhalten, hatte sich die Mutter beschwert. Es glorifiziere das Räubertum. Kitty verpasste ihr ein blaues Auge. Die Stadtverwaltung entließ sie. Es gab offenbar Vorbehalte dagegen, Eltern anzugreifen. Kitty strengte eine Klage wegen unrechtmäßiger Entlassung an und verwies darauf, dass die Frau sie im Super Fresh angepöbelt habe, wo sie eindeutig als Privatperson unterwegs gewesen sei, und ihr einen Kohlkopf an den Kopf geworfen habe, als Kitty ihr nicht

»Es war schlicht und einfach Selbstverteidigung«, sagte sie gerne über den Vorfall. Zum Glück stimmte der gewerkschaftliche Schlichter dem zu. Die Schulverwaltung von Baltimore willigte ein, eine beträchtliche Summe zu zahlen, und daraufhin kaufte Tante Kitty diesen alten Drugstore von der Familie von Tess’ Mutter, den Weinsteins, nachdem diese den Bankrott erklärt hatten.

Sie verwandelte das dreistöckige Gebäude in einen Laden und eine Wohnung, mit einer zusätzlichen Einliegerwohnung im obersten Geschoss, um ein paar weitere Einnahmen zu haben. Mehr aus Faulheit denn aus innenarchitektonischen Bedürfnissen behielt sie die alte Theke, die die vordere Abteilung, nämlich die für Kinderbücher, von der dahinter liegenden trennte – der für feministische Traktate, Erotika, alles, was von Frauen und manchmal auch über Frauen geschrieben worden war. So konnte man beispielsweise auch Bücher von Philip Roth und John Updike in FRAUEN UND KINDER ZUERST kaufen.

FUKZ war ein gemütlicher Laden, mit Lehnstühlen, zwei funktionierenden Kaminen, abgetretenen Teppichen und der alten Zimmerdecke aus Zinn. Man kam, um zu kaufen, blieb, um ein bisschen zu schmökern,

»TOTE WEISSE MÄNNER, wie findest du das als Namen, Tesser?«, fragte Kitty, als Tess zur Tür hereinkam. Kitty saß auf der alten Theke, in einem Seidenkimono mit Kirschblüten, und nippte an einer Tasse Kaffee. »Was wir da verkaufen könnten – also, ich glaube, da könnten wir einfach alles verkaufen, die ganzen Klassiker. Das wäre eben genau der Witz daran. Es wäre eine ganz normale Buchhandlung, aber die Leute würden glauben, es sei etwas Besonderes. Und mit den beiden Läden hätte ich dann praktisch alles abgedeckt. Schließlich stirbt ja jeder irgendwann einmal. Sogar Norman Mailer.«

»Find ich gut«, sagte Tess. »Andererseits, wenn man bedenkt, dass die hiesige Bevölkerung gegen Ironie völlig immun ist, sehe ich schon vor mir, wie eine Männergruppe und die NAACP draußen vor dem Laden Mahnwachen aufstellen und den Eingang blockieren, weil sie der Ansicht sind, dass du den Geschlechtermord verherrlichst und Farbige diskriminierst. Und diese ›Mütter

»MÜGG! Die gibt es doch gar nicht, nicht einmal hier in Baltimore.«

»Liest du denn keine Zeitung? Sie haben einen ständigen Blockadeposten vor dem Multiplex in Towson aufgestellt. Das ist sehr praktisch fürs Einkaufen. Sie marschieren eine Stunde lang auf und ab, dann machen sie eine Pause und gehen im Nordstrom shoppen.«

Kitty lachte, ein überraschend lautes, wunderbares Lachen. Die meisten Monaghans waren etwas mürrisch, auch Tess, und deshalb wirkte Kitty ein bisschen wie ein Wechselbalg. Sie war der glücklichste Mensch, den Tess kannte, mit einer schier unbegrenzten Begeisterungsfähigkeit. Sie wollte nur, dass das Leben greifbar sei, voller Dinge, die man anfassen und festhalten, riechen und schmecken konnte. Weiche Stoffe, neue Bücher, vollmundige Weine, gut geschneiderte Kleider, ausgeprägte Waden. Sie war zwölf Jahre älter als Tess und über zwanzig Zentimeter kleiner, mit flammend roten Locken und den einzigen grünen Augen innerhalb von drei Generationen. Ihr letzter Beau war einer der neuen städtischen »Polizisten zu Rad«, der in den Laden gelockt worden war, nachdem Kitty seine Beine hatte vorüberfliegen sehen. Thaddeus Freudenberg. Er war vierundzwanzig, so groß und knuddelig wie ein Labrador und mit einem nur geringfügig niedrigeren IQ als ein solcher. Tess nahm an, dass er deshalb bei der Fahrradstreife war, weil er die Führerscheinprüfung nicht geschafft hatte.

Thaddeus war an diesem Morgen nirgends zu sehen.

Aber Kitty hatte ihre Zweifel. »Das klingt, als müsstest du dich für Lohn in anderer Leute Privatsachen einmischen. Hast du denn keine moralischen Bedenken?«

»Moral kann ich mir nicht leisten. Der Sommer war lahm, und ich brauche dringend ein bisschen Bargeld.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie sah Tess von oben herab an, was ihr nur deshalb gelang, weil sie oben auf der alten Theke saß und Tess daran lehnte. »Aber du magst diese Frau doch eigentlich nicht. Wie kannst du da objektiv sein? Wenn du etwas siehst, worüber du dir unklar bist, könntest du falsche Schlüsse ziehen, nur weil du sie ertappen willst. Und das merkst du dann wahrscheinlich nicht einmal.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, zum Beispiel siehst du sie jemanden auf der Straße küssen, und du denkst natürlich, das ist ihr Liebhaber. Es könnte aber auch ihr Bruder sein, oder einfach ein Freund.«

»Ich glaube, den Unterschied zwischen einem Liebhaber und einem Bruder kann ich schon noch erkennen.«

»Ich weiß nicht, Tesser. Es ist schon eine Weile her, seit ich außer dir noch jemand anderen die Treppe in den zweiten Stock habe hinaufsteigen hören.« Kitty lächelte und zog sich den rutschenden Kimono wieder über die linke Schulter hoch.

»Vielleicht taucht ja Jonathan bald mal wieder auf. Ist schon ’ne Weile her, oder?«

»Ich habe auf Jonathan seit Beginn der Fastenzeit verzichtet.«

»Und an Yom Kippur wirst du ihm dann wieder verzeihen. Du hast es schon immer geschafft, alles aus deinen beiden Religionen herauszuholen, Tesser, schon als du noch ein kleines Mädchen warst.«

Und damit schwang sich Kitty von der Theke, marschierte in den Wohnbereich hinter dem Laden und überließ Tess sich selbst, sodass sie über Jonathan Ross nachdenken konnte. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ihr fehlen könnte, bis Kitty ihn jetzt erwähnte. Yom Kippur, der Tag der Buße, war nächsten Monat. Und Jonathan hatte für mehr Buße zu tun als sie, für viel mehr.

Ihre Gedanken wurden zerstreut, als Crow, einer der Angestellten, an der vorderen Eingangstür klopfte.

»Na, heute nur zwei Stunden zu früh«, sagte Tess, als sie ihm aufmachte, und kam sich dabei etwas gemein vor. Crow, der in Kitty verknallt war, tauchte oft schon um sieben Uhr zu seiner Vormittagsschicht auf und blieb bis spät abends, damit beschäftigt, die Lagerbestände zu computerisieren.

»Ja, also, ich dachte, ich könnte vielleicht hier frühstücken.« Er hielt eine etwas fettfleckige Tüte Donuts und

Tess hatte fast Mitleid mit Crow, denn er war einfach nur der Neueste in einer langen Reihe von Aushilfskräften, die sich in Kitty verliebten. Die Kunststudenten von Marylands Institute of Art schienen besonders anfällig dafür zu sein. Aber ihr Mitleid wurde von einer unbestimmten Verärgerung gedämpft. Sie würde er nie so anschauen, mit seinen feuchten braunen Augen und seinem hübschen Mund. Crow schwang sich auf die Theke, als würde er ganz automatisch von dem Platz angezogen, an dem noch vor ein paar Minuten Kittys Kimono verrutscht war. Ohne sich um sein Frühstück zu kümmern, nahm er seine Gitarre heraus und fing an zu spielen. Etwas Selbstkomponiertes, urteilte Tess, oder die besonders schlechte Interpretation von etwas Bekanntem.

»Ich schreibe gerade einen Song«, erzählte er ihr.

»Da bist du nicht der Erste. Aber denk daran – es reimt sich praktisch nichts auf Kitty.«

»Nicht unbedingt.« Er schlug ein paar Töne an und fing an zu singen. Seine Stimme war zwar dünn, aber charmant und echt. »Ach, vor Kurzem traf ich Kitty / Die schönste Frau der ganzen City / Tapocketa. Tapocketa. Tapocketa / Ich bin schon fast ein Held.«

»Wenn du etwas findest, was sich auf Monaghan reimt, bin ich wirklich beeindruckt.«

»Wenn ich etwas finde, dann könnte ich ja auch für

»Stress«, sagte sie. »Darauf reimt sich hauptsächlich Stress.«

Damit überließ sie Crow seinen Donuts und seinen Träumen und ging die Hintertreppe zu ihrem Apartment hinauf. Sie war steil, denn die unteren beiden Stockwerke waren ziemlich hoch, und so war es fast, als müsse man vier Stockwerke erklimmen. Als Kitty das Gebäude renovierte, wollte sie das zweite Stockwerk vermieten, um ihre Hypothek leichter abzahlen zu können. Tess als erste und einzige Mieterin zahlte weitaus weniger, als Kitty auf dem freien Wohnungsmarkt hätte verlangen können.

Die Wohnung war klein und bestand praktisch nur aus einem einzigen großen Raum, der durch Bücherregale unterteilt war. Der Wohnbereich war gerade groß genug für einen Schreibtisch, einen Lehnsessel und einen kleinen Tisch im Kolonialstil, den sie zum Essen benutzte. Die Küche bestand nur aus einer Kochnische mit einem winzigen Kühlschrank und einem Herd mit zwei Flammen. Man musste sie durchqueren, um ins Schlafzimmer zu gelangen, den größten Bereich. Auch das war schlicht und bot nur Platz für ein massives Doppelbett, einen kleinen Tisch und eine Spiegelkommode.

Dennoch besaß das Apartment noch etwas ganz Besonderes: eine Terrasse vor dem Schlafzimmer mit einer Leiter aufs Dach. An diesem Morgen stieg Tess sofort hinauf, in der Hoffnung, dass die Aussicht ihren Geist erweitern und klären werde, damit sie sich auf ihren seltsamen neuesten Job konzentrieren konnte.

Tess sah noch einmal die Adressen durch, die Rock ihr gegeben hatte. Avas Leben war fein säuberlich unterteilt. Sie wohnte in einer Eigentumswohnanlage auf der einen Seite des Hafens. Sie arbeitete auf der anderen Seite für die angesehene Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor und O’Neill. Sie konnte in weniger als einer Viertelstunde zu Fuß zur Arbeit gehen – falls Ava überhaupt jemals zu Fuß ging.