© 2019 Teresa Frei
Autor: Teresa Frei Umschlaggestaltung, Illustration:
Atelier Lehmacher, Friedberg (Bayern)
Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel
ISBN: 978-3-99093-302-2 (Paperback)
ISBN: 978-3-99093-303-9 (e-Book)
Printed in Austria
Inhaltshinweis:
Dieses Buch enthält Szenen körperlicher und sexueller Gewalt.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
INHALT
STATT EINER EINLEITUNG
ICH BIN EINE SEXUELLE DISSIDENTIN
TEIL 1
MIT DEM KOPF DURCH DIE WAND
I. »Das ist unser Bub«
Wer bin ich wirklich?
Mein kleines Geheimnis
Aus für Romeo & Julia?
Rollenspiele
Kleiderzwang
Vorbilder
II. Ich bin dafür, dass ich dagegen bin
Böse Jungs
Der verborgene Schatz
Hosen runter
Verpasste Chancen
Allein unterwegs
III. Fernstehend und fremdgehend
Wer nicht hören will, muss fühlen
Erfolg um jeden Preis
Im Verlies
Recht auf Familie?
Aus Beziehung wird Freundschaft
IV. Abhängig
Glückstreppe
Die Geister, die ich rief
V. Tiefer geht’s nicht
Mein Gewissen macht Überstunden
Kampf um die Wahrheit
TEIL 2
HIMMELFAHRTSKOMMANDO
VI. Wie geht lieben?
Lebenslügen
Waschanlage
Dem Himmel so nah
Fuß fassen
VII. Die nackte Wahrheit
Klartext oder einfach mal die Klappe halten
Rette sich, wer kann
Ordnung ist das ganze Leben
VIII. Siebenundsiebzig
Mutterherz
Hammerhart
Vergebung entfesselt
IX. Aufräumarbeiten
Seelenwerkstatt
Ursachenforschung
Licht am Ende des Tunnels
x. Ende gut – alles gut
Ich bin eine
sexuelle Dissidentin
Ich bin eine sexuelle Dissidentin. Dissidenten sind unbequeme Andersdenkende, die öffentlich gegen eine allgemeine Meinung auftreten und Nachteile dafür in Kauf nehmen. Beim Begriff »Dissident« denkt man in der Regel an bekannte politische Dissidenten wie Andrei Sacharow, Alexander Solschenizyn oder Václav Havel. Man vergisst dabei, dass auch Sigmund Freud ein Dissident war, der sich mit großer Standfestigkeit gegen die Ächtung seiner Erkenntnisse und seiner Person wehren musste. In allen genannten Fällen zeigte sich, dass die Wahrheit am Ende nicht mit der Mehrheit, sondern mit den Außenseitern war, deren emanzipatorische Arbeit an der Aufklärung zunächst verfolgt und verfemt wurde, bis die totalitär organisierte Parteilinie nicht mehr länger haltbar war und sich das 2000 Jahre alte Wort »Die Wahrheit wird euch befreien.« (Joh 8,32) ein anderes Mal durchsetzte.
Nun kann ich mich nicht mit den großen politischen Dissidenten vergleichen, schon alleine deshalb nicht, weil ich aus bestimmten handfesten Gründen meinen richtigen Namen nicht nennen kann, ohne sofort konzertiertem Mobbing und einem Shitstorm von Angriffen auf allen Ebenen ausgesetzt zu sein. Ich kann mir nicht leisten, meine Art von Feminismus total öffentlich zu vertreten; ich bin zu schwach dazu.
Mein Vergehen besteht darin, dass ich eine LesbianGayBisexualTransgender-Heldin hätte werden können, aber meinen Heldenstatus vorzeitig verlassen habe. In einer wilden persönlichen Befreiungsgeschichte entwarf ich mir ein Leben, wie es mir gefiel, rebellierte gegen die bürgerlichen Verhaltensmuster meines Elternhauses, probierte mich sexuell in jeder Weise aus, um nach wenig berauschenden heterosexuellen Erfahrungen schließlich über zwanzig Jahre hinweg eine durchaus erregende lesbische Musterbiographie hinzulegen.
Dabei fühlte ich mich nicht mehr, aber auch nicht weniger glücklich als andere Zweibeiner auf diesem Planeten. Zunächst lief es ganz passabel. Das Wechselspiel meiner Beziehungen in der Regenbogenwelt schien mir zum Standard-Programm von Partnerschaften zu gehören, ähnlich wie Scheidungen zur Realität von Ehen. Natürlich verließ ich mit Aplomb die katholische Kirche, die mir samt ihren Moralaposteln gestohlen bleiben konnte. Ich hatte mich ja entschieden, autonom zu sein und nur noch selbst den Ton in meinem Leben anzugeben. Gott gab´s noch irgendwie. Jedenfalls, wenn gerade wieder etwas schieflief. Dann war ER natürlich schuld. Mit Selbstverständlichkeit zog ich ihn für alles zur Verantwortung, was mir misslang oder der Logik meiner Selbstverwirklichung in die Quere kam. Die Erfolge und die Momente der Zufriedenheit verbuchte ich dagegen unter Eigenleistung. Ich machte beruflich Karriere. Erfüllung und Glück suchte ich vornehmlich auf der Hautebene.
Der Haken bei der Sache war, dass ich dabei nicht glücklich wurde – besser gesagt: Je länger und je wilder ich das Ganze vorantrieb, desto weniger fand ich Frieden, Gelassenheit, innere Freude. Irgendwann machte ich Bilanz, um mir einzugestehen, dass mein Leben vollkommen sinnlos war, da es weniger aus echter Liebe als aus Begehren und einer Kette tangentialer Berührungen bestand. Ich hatte auf Sand gebaut, und alles schien wie ein Kartenhaus zusammenzufallen. Ich wollte nicht mehr weiterleben.
Und nun kommt mein Vergehen Nummer zwei, das mich gleich zu einer Dissidentin im doppelten Sinn machte: Ich entdeckte nicht nur, dass meine scheinbar wasserdichte sexuelle Emanzipationsgeschichte ein subjektives Konstrukt war, ein Ding, geboren aus Schmerzvermeidung, ein »Fake«, ein Luftschloss, das ich mir gebaut hatte, um nicht an die Wurzeln meiner biographischen Verwundungen gehen zu müssen. Ich entdeckte auch, dass ich die Sache religiös aufarbeiten musste, um zu mir zu finden und endlich eine Antwort zu erhalten, was Liebe und Wahrheit eigentlich ist. Damit nicht genug an Ungeheuerlichkeiten: Ich fand, was ich suchte, in der mir verhassten katholischen Kirche. Kroch ich – nach dem Diktum von Heinrich Heine »zu Kreuze«? Nein, ich sprang nicht in den gleichen Fluss zurück. Ich war nie drin gewesen. Ich fand einen heilsamen Ort, an dem ich nie zuvor war.
Diese Geschichte – so scheint es – darf man gegenwärtig nicht erzählen. Sie verstößt gegen die Political Correctness. Ich kann aber das mir auferlegte Meinungsäußerungsverbot nicht akzeptieren; es ist nämlich der öffentliche Ausweis einer totalitären Gesinnung. Menschen, die sich mit Gerechtigkeit identifizieren, sollten wachsam sein. Es gibt keine vernünftigen Gründe für ein Mundverbot, schon gar nicht in einer Gesellschaft, die keinen Wert höher schätzt als die Toleranz. Betonen nicht alle Linken den »herrschaftsfreien Diskurs«, den der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas als gesellschaftlichen Standard formuliert hat und zu dem ich mich vorbehaltlos bekenne? Vier Momente gehören dazu: 1. Die Gleichberechtigung der Kommunikationspartner. Auf mich angewandt: Ich bin vielleicht anders als andere. Aber ich möchte auf Augenhöhe sein mit anderen Bürgern; ich möchte nicht gemobbt werden wegen meinem Anderssein. 2. Die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern. Auf mich angewandt: Ich möchte meine missliebige Erfahrung im öffentlichen Raum darstellen können, ohne Gefahr zu laufen, niedergeschrien, mit Tomaten beworfen, verprügelt, verleumdet oder vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezerrt zu werden. Ich möchte, dass mir zur Darstellung meiner Geschichte Zeit und Raum gegeben wird, wie andere Zeit und Raum haben, ihre Ansichten auszubreiten. 3. Die symmetrische Situation. Gemeint ist: Die Gesprächspartner in einem Diskurs müssen sich in der strittigen Sache auskennen, sonst entstehen Monologe und kein weiterführender Dialog. Auf mich angewandt: Ich habe eine gewaltige Wegstrecke sexueller Selbstverwirklichung »er-fahren« und kann meine Erfahrungen und Einsichten kompetent mit Erfahrungen und Erkenntnissen anderer ins Gespräch bringen. 4. Die Entscheidung durch den Zwang des besseren Arguments. Auf mich angewandt: Ich lasse mich gerne überzeugen, wenn ich das bessere Argument wahrnehme. Die Gewaltandrohungen und Hasspostings, die ich erlebt habe, deute ich als Schwäche, genauer gesagt, Diskursschwäche: Wer keine guten Argumente hat, holt den Prügel heraus.
Ich will niemanden belehren! Aber ich will die Freiheit haben, meine Ansichten mit anderen teilen zu dürfen, ohne deswegen meinen Namen am Klingelschild entfernen und mit einer Pfefferspraypistole bewaffnet durchs Land ziehen zu müssen.
Ich will niemanden bekämpfen! Aber ich will in Print- sowie digitalen Medien eine faire und professionelle Plattform vorfinden, um mit Andersdenkenden um die Erkenntnis der Wahrheit ringen zu dürfen, ohne dafür gleich eine Legion von Rechtsanwälten zu Rate ziehen zu müssen.
Ich will niemandem Vorschriften für die Wahl seines Lebensstils machen! Aber ich möchte mich nicht dafür entschuldigen oder gar schämen müssen, dass ich mein lesbisches Unterwegssein als Irrweg erkannt habe.
Ich will niemanden bekehren! Aber ich will den Frauen, die meine Erzählung hören möchten, weil sie in ihnen etwas zum Klingen bringt, meine Geschichte erzählen dürfen. Ob sie damit zu Entscheidungen kommen, ist ihre Sache, nicht meine.
Es gibt eine Voltaire Biographie von Evelyn Beatrice Hall, in der sie eine geniale Formulierung für das zivilisatorische Level gefunden hat, das Meinungsfreiheit als eines der höchsten Güter schützt. Ich liebe diese Formulierung und würde mir wünschen, dass sie möglichst viele in ihre geistige Welt übernehmen; sie lautet: »Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.«
Sollte Sie dieser theoretische Vorspann gelangweilt haben – so kommt jetzt die Butter zu den Fischen …
TEIL 1
Mit dem Kopf durch die Wand
Eines Sonntagmorgens erfasste mich eine innere Leere, die Körner-Semmel rutschte nicht hinunter, und das weichgekochte Ei wurde kalt. Tränen rannen über mein Gesicht. Ich setzte mich auf den leeren Stuhl mir gegenüber: Perspektivenwechsel. Für kurze Zeit reichte das, doch dann kam sie wieder, diese mich terrorisierende Angst vor dem Alleinsein und dem Verlassen-Werden. Ich hörte nichts und niemanden. Nicht einmal die Vermieter schienen, wie sonst fast immer, zu Hause zu sein. Ich ging in meiner schönen, einhundertzwanzig Quadratmeter großen Wohnung auf und ab und betrachtete die Spuren, die ich in dem edlen, leicht mint-grünen Teppich hinterließ. Es war kalt in mir. Ich sang und summte leise. Kein Echo. Logisch. Keiner sang mit, und diesmal maßregelte mich auch niemand, dass ich still sein sollte. Ein positiver Aspekt, den ich mit einem sanften Lächeln quittierte. Schließlich meldete sich die Kämpferin in mir lautstark zu Wort und stauchte mich zusammen. Ihre Stimme war klar, deutlich und unerbittlich. Zaghafte oder gar devote Antworten mochte diese taffe Figur nicht. Stark sein war angesagt, kein ängstliches oder gar weinerliches Kind-Sein mit einem Hang zur Depressivität. Ich klappte meine Handyschale auf und scrollte durch meine Kontaktliste. Voller Hoffnung rief ich nacheinander meine Freunde und Bekannten an. Doch an diesem Tag hatte niemand Zeit oder Lust, sich mit mir zu treffen.
Sofort klopfte wieder die Leere an und trat ungebeten in mein Dasein. Enttäuschung mischte sich unter die Traurigkeit. Ich erkannte, dass ich nicht nur allein, sondern auch einsam war. Ich fragte mich, ob ich das verdient hätte, und zählte im Geiste all die freundschaftlichen Akte auf, die ich schon für meine Freunde geopfert hatte, auch wenn mir nicht immer danach gewesen war. »Was sind das denn für Freunde? Hört mal, mir geht’s sauschlecht, und ihr habt keine Zeit?« Ich war so einsam, dass ich mich zitternd an der Küchenwand entlang zum Tisch vortastete, um dort wieder Platz zu nehmen, wo das Frühstücksei noch unberührt im Becher stand. Tränen, Wut, Verzweiflung, Trauer, Zorn, Enttäuschung und Gedanken der Verabschiedung von meinen bis dahin sehr geliebten Freunden ergriffen mich. »Man kann also auch mit Leere gefüllt werden. Wieso tut Leere eigentlich so weh?«, sinnierte ich. »Und wie kann Leere einen Menschen komplett erfassen? Was für Abgründe tun sich da auf? Dachte ich denn nicht bei einem der letzten Frühstücke mit Rita: ›Besser allein als gemeinsam einsam‹? Aber jetzt bin ich ja allein und alleine einsam. Brutal!«
Ich stand wieder auf, ging ins Wohnzimmer und flegelte mich auf die Couch, die Füße auf den Tisch. »Schließlich bin jetzt ich hier die Chefin, und da ich alleine lebe, kann ich ja tun und lassen, was mir gefällt!« Ich hielt zwanzig Sekunden lang durch, entlarvte die pubertäre Haltung und sprang schnell auf, so als ob ich diesen kindischen Akt ungeschehen machen wollte. »Was ist nur los mit mir? Was, um alles in der Welt, fehlt mir nur? Ich bin Mitte Dreißig, habe einen Superjob, komme in der ganzen Weltgeschichte herum, bin angesehen in der Firma und kann nach Lust und Laune meine Hobbys leben. Ich kann mir auch mal was gönnen, wenn mir danach ist. Ich habe eine liebe Familie und wirklich gute Freunde. Was ist da los? Ist es nur das Alleinsein zu Hause? Da könnte ich doch einfach in eine Wohngemeinschaft ziehen … « Zeitgleich mit diesem Gedanken legte sich meine Stirn in Falten, und ich verwarf ihn noch schneller, als er in mir aufgekommen war. Eine Wohngemeinschaft war ein Unding. »Oder ich könnte mir einen Untermieter nehmen? Doch was, wenn der im Stehen pinkelt? Undenkbar! Im Grunde brauche ich eigentlich niemanden um mich herum!«
Ich holte tief Luft und schleppte mich zurück in die Küche. Als ich wieder den leeren Stuhl erblickte, ließ mich ein starker Weinkrampf zu Boden sinken. Ich weiß nicht, wie lange ich so zusammengekauert gekniet habe, und erst als mein ganzer Körper schmerzte, kam ich langsam wieder zu mir. »Ach ja, das Frühstücksei … « Gedankenverloren erhob ich mich von den kalten Bodenfliesen. »Wo war ich stehen geblieben? Ach so, da ist sie wieder, diese blöde Frage nach dem ›Sinn des Lebens‹, schlimmer noch, nach dem Sinn meines Lebens. Wieso stelle ich mir die so oft? Das nervt doch total. Und obendrein die quälende Frage, ob es überhaupt wahre Liebe gibt? Und wenn ja, was ist das genau? Gibt es die auch für mich? Hat mich von den bisherigen Partnerinnen eigentlich überhaupt jemand geliebt? Oder war ich vielleicht einfach nur eine gute Partie? Ich hatte ja nicht so wahnsinnig hohe Ansprüche an meine Partnerinnen, auch wenn die das oft anders sahen.«
Fragen über Fragen, aber keine Antworten, und was noch schlimmer war, es war einfach niemand da, der mir eine Antwort hätte geben können. Die mich umgebenden Menschen, meine mir sehr lieben Freunde und Bekannten, schwammen ja in der gleichen dunklen Brühe, und meiner Familie konnte und wollte ich mein Scheitern nicht kundtun. »Eine neue Beziehung muss her, dann ist alles wieder gut. Das wird schon wieder. Andere Mütter haben auch schöne Töchter. Ich werde aufstehen, meine Krone richten und wieder auf die Pirsch gehen und sehen, wen ich erlegen kann. Es kann doch nicht so schwer sein, eine neue Partnerin zu finden. Und jetzt drehe ich erst mal eine Runde mit dem Rad. Morgen ist Montag. Dann ist heute schnell vergessen. Was soll‘s. Solche Tage gehören halt dazu. Es ist wirklich besser so. Jetzt mach ich mal, was mir gefällt, schöne Grüße an den Rest der Welt … «
So oder ähnlich waren meine selbst formulierten Frohbotschaften, die allesamt nur dazu dienten, mich bzw. mein Gewissen zu beruhigen. Mein beleidigtes Ego wollte nicht einmal anerkennen, dass ich nicht alleine leben konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich erlebte eine Phase tiefster Depressivität und Traurigkeit. Alles schien davon abzuhängen, ob ich mit jemandem zusammen wäre oder nicht. Aber jetzt erst mal der Reihe nach …