Über das Buch

Bill Buford, Kultautor des Bestsellers »Hitze«, ist zurück am Herd! — Selbstironisch und urkomisch ist die Odyssee auf der Suche nach den Geheimnissen der französischen Küche.

Bill Buford, Starautor des »New Yorker«, setzt sich gern Extremen aus. Er lebte unter Hooligans und arbeitete in Italien als Pastamacher. Nun unterwirft er sich den Regeln der französischen Spitzenküche. Dafür verpflanzt er seine Frau und seine dreijährigen Zwillingssöhne kurzerhand nach Lyon. Er wird er Bäckerlehrling, Schüler des Institut Paul Bocuse und Praktikant im legendären La Mère Brazier, wo er lernt, wie man ein Fischfilet auf 62,5 Millimeter filetiert, Hummertürmchen baut und wie nah Kameradschaft und Intrige in der Küche beieinanderliegen. Aller Widerstände zum Trotz gibt Buford nicht auf, denn ihn treibt die Frage an: Liegt der Ursprung der französischen Küche in Italien? Eine faszinierende kulinarische Reportage.

Bill Buford

Dreck

Wie ich meine Familie einpackte, Koch in Lyon wurde und die Geheimnisse der französischen Küche aufdeckte

Aus dem Englischen von Sabine Hübner

Carl Hanser Verlag

Inhalt

I Kein Französisch

II Lyon mit kleinen Zwillingen

III Instruktion durch Paul Bocuse

IV In einer historischen Küche

V Stagiaire

VI Dinner

VII  Italien (offensichtlich)

VIII  Frankreich (zu guter Letzt)

IX Die Welthauptstadt der Gastronomie

X Das größte Abenteuer im Leben unserer Familie

Epilog: Fast alle sterben

Danksagungen

Für Jessica,

sans qui rien ne serait possible

I

Kein Französisch

Dans la vie, on fait ce qu’on peut. A table, on se force.

Im Alltag tut man, was man kann. Bei Tisch zwingt man sich.

Anonymes Lyoneser Sprichwort, (frei) übersetzt

An einem heiteren, kühlen Herbstnachmittag 2007 begegnete ich dem Küchenchef Michel Richard, jenem Mann, der mein Leben — und das meiner Frau, Jessica Green, und unserer beiden damals zweijährigen Zwillinge — radikal verändern sollte, obwohl ich damals gar nicht wusste, wer er war, und davon ausging, dass wir uns nie mehr über den Weg laufen würden.

Meine Frau und ich hatten gerade unseren fünften Hochzeitstag gefeiert. Jetzt standen wir ganz vorn in einer Schlange vor der Union Station, Washington, D.C., und warteten auf den Zug, der uns zurück nach New York bringen sollte. In letzter Minute tauchte neben uns der Mann auf, den ich damals nicht als Michel Richard erkannte. Außer Atem und ziemlich massig, nicht groß, aber rund, war er einfach nicht zu übersehen. Ansonsten: dezenter weißer Bart, voluminöses schwarzes Hemd, das ihm bis über den Hosenbund hing, und eine schlabberige schwarze Hose. (Eine schlabberige Kochhose, wie ich jetzt weiß.) Ich beobachtete ihn und überlegte: Kenne ich den nicht von irgendwoher?

Natürlich kannte ich ihn! Welcher Gedächtnis- und Intelligenzalgorithmus hatte verhindert, dass ich ihn auf Anhieb erkannte? Schließlich hatte ich sein Buch Happy in the Kitchen gleich zweimal von Freunden geschenkt bekommen, und außerdem hatte er sechs Monate zuvor bei den James Beard Foundation Awards in New York City den »Double« gewonnen: Für »Outstanding Wine Service« und als »Outstanding Chef of the United States« — und ich hatte im Publikum gesessen! Aber eigentlich beschäftigte ich mich in jenem Moment (aus Gründen, die ich meiner Frau noch darlegen wollte) eher mit französischen Spitzenköchen, und jetzt stand ich neben einem von ihnen, der vielen als wunderbarer Kochkünstler und innovativster Kopf der nördlichen Hemisphäre galt. Ehrlich gesagt wirkte er damals vor der Union Station weder wunderbar noch innovativ, und er roch nicht nur penetrant nach Rotwein, sondern auch nach Schweiß, und mir kam der Verdacht, dass das schwarze Hemd, auf dem man praktischerweise keine Flecken sah, bei näherer Betrachtung eine beeindruckende Bakteriendichte aufgewiesen hätte. Und so kam ich zu dem Schluss, dass dieser Mann einfach nur ein Vordrängler war, der jetzt auch noch eine Stelle direkt vor meiner Frau anpeilte! Jeden Moment würde sich die Sperre öffnen. Ich wartete und überlegte, ob ich mich ärgern sollte. Je länger ich wartete, desto ärgerlicher wurde ich, bis die Sperre schließlich aufging und ich etwas echt Fieses tat.

Als der Mann losstürmte, vertrat ich ihm nämlich den Weg und — stieß mit ihm zusammen. Der Zusammenprall war so heftig, dass ich das Gleichgewicht verlor und gegen seinen Bauch taumelte, der mich irgendwie vor dem Sturz bewahrte, und plötzlich, ich wusste nicht, wie mir geschah, hielt er mich im Arm. Wir starrten einander an. Wir hätten uns küssen können, so nah waren wir uns. Sein Blick zuckte zwischen meiner Nase und meinen Lippen hin und her. Dann lachte er. Ein entspanntes, unbefangenes Gelächter. Eigentlich mehr ein Kichern. Wie ein Junge, der gekitzelt wird. Ich sollte dieses schrille, manchmal unbändige Gekicher kennen und lieben lernen. Die Schlange wogte weiter. Er war verschwunden. Ich erspähte ihn in der Ferne, wie er einen Bahnsteig entlangtrottete.

Langsam schoben meine Frau und ich uns weiter, und irgendwie fühlte ich mich leicht benommen. Im letzten Waggon fanden wir zwei gegenüberliegende Plätze mit einem Tisch dazwischen. Ich wuchtete unsere Koffer auf die Ablage und hielt inne — das Fenster, das schräg einfallende Oktoberlicht: Ich war schon einmal hier gewesen, genau am gleichen Kalendertag.

Fünf Jahre zuvor, nachdem wir uns in Little Washington, einem Dorf im ländlichen Virginia, frisch verheiratet spontan einen zweitägigen Honeymoon gegönnt hatten, fuhren wir nach New York zurück, in eben diesem Zug. Damals war ich drauf und dran, meiner knapp achtundvierzig Stunden mit mir verheirateten Frau vorzuschlagen, wir könnten doch zur Feier unserer Trauung unsere Jobs aufgeben. Wir waren beide Zeitschriftenredakteure, ich beim New Yorker, sie bei Harper’s Bazaar. Ich hielt eine kleine Ansprache, bei der es um einen Umzug nach Italien ging, als erster Schritt in unsere gemeinsame Zukunft. Ich wollte mich in die italienische Kochkunst einweihen lassen und ein Buch darüber schreiben. Ob wir nicht zusammen gehen könnten? Die Sache war eigentlich klar. Jessica wartete nur auf eine solche Chance und saß innerlich schon auf gepackten Koffern. Außerdem hatte sie ein unglaubliches Sprachtalent und konnte (praktischerweise) Italienisch, eine Sprache, die ich selber, rein zufällig, nicht beherrschte.

Wir sollten nie mehr auf unsere Redakteursstühle zurückkehren.

Ein Jahr lang lebten wir in der Toskana, und irgendwie wurde ich dort heimisch, und wenn ich den Mund aufmachte, um einen Gedanken zu äußern, kam er, zu meinem endlosen Erstaunen, (mehr oder weniger) auf Italienisch heraus. Danach war Frankreich dran. Es stand nicht einfach so auf unserer Liste (»als Nächstes machen wir Japan!«). Nein, ich hatte mich insgeheim fast mein ganzes Erwachsenenleben lang dort hingesehnt: Ich wollte in einer französischen Küche stehen, mich dort behaupten, ich wollte sagen können, ich sei »in Frankreich zum Koch ausgebildet« worden (diese Formulierung verlor nie ihren Zauber). Allerdings hatte ich mir nicht so recht vorstellen können, wie sich das realisieren ließe. Nun zeigte mir unsere Zeit in Italien, dass es eigentlich gar nicht so kompliziert war — man musste einfach nur hinfahren, alles Weitere ergab sich von selbst. Außerdem konnte Jessica praktischerweise auch Französisch, eine Sprache, die ich selber, wieder rein zufällig, ebenfalls nicht beherrschte.

Auch Jessica, ohne Redaktionsjob, hatte sich inzwischen eine lebenslange Sehnsucht eingestanden — sie wollte gern irgendetwas mit Wein machen, dessen Geschichte ja ebenso alt ist wie die Geschichte der Nahrung; und so, wie Jessica ein Talent für Fremdsprachen besaß, schien sie auch über die Fähigkeit zu verfügen, den Inhalt eines Weinglases zu übersetzen. Ich schenkte ihr eine Blindverkostung bei Jean-Luc Le Dû, einem gefeierten New Yorker Sommelier und Weinhändler; zwölf große Weine aus seinem eigenen Keller standen zur Verkostung. Fünfzehn Leute nahmen daran teil, einschließlich Jean-Lucs Geschäftsführer, der internationale Preise bei Wettbewerben mit Blindverkostung gewonnen hatte. Doch Jessica war die Einzige, die alle zwölf Weine erkannte. Jean-Luc war verblüfft, schließlich waren es seine Weine. (»Wo arbeiten Sie?« fragte er.) Jessica gründete einen Degustationsclub bei uns zu Hause und wählte dafür zehn Frauen aus, gebildete, berufstätige New Yorkerinnen, die alle sagten, sie liebten Wein, »wüssten aber überhaupt nichts darüber«. Jessica meldete sich bei einem Kurs an, der vom British Wine & Spirit Education Trust, dem sogenannten WSET, veranstaltet wurde. Es gab mehrere Levels, die in einem — bekanntlich anspruchsvollen — »Diplom« gipfelten. Im zweiten Teil des Kurses merkte sie, dass sie schwanger war.

Es war ein wundervoller Moment. Wir gelobten einander, dass unser Lebensstil sich keinesfalls ändern würde.

»Wir werden ein Nomadenleben führen«, sagte Jessica.

Wir stellten uns ein weltgewandtes Kind im Tragetuch vor.

Vier Wochen später erfuhr Jessica, dass sie mit Zwillingen schwanger war, zwei Jungen, George und Frederick. Auch dies ein wunderbarer Moment, sogar gleich doppelt, nur verabschiedeten wir uns jetzt von der Vorstellung, dass sich unser Leben nicht verändern würde. Wir gerieten in Panik (ein bisschen).

Der Zug fuhr ab. Baltimore, der erste Halt, lag eine halbe Stunde entfernt. Worüber wir sprechen wollten — worüber Jessica sprechen wollte —, war die Frage, aus welchen Gründen ich meinen Frankreich-Plan nach drei Jahren denn immer noch nicht realisiert hatte.

Eigentlich war das nicht verwunderlich. Hießen die Gründe nicht George und Frederick?

Es war an sich nicht kompliziert — ich musste einfach nur eine Küche finden, hatte aber noch keine gefunden. Sobald ich in einer Küche anfangen konnte, würde ich die nötigen Fertigkeiten schon erwerben.

Bei einem anderen Event der James Beard Foundation — einer Charity-Gala mit Auktion — hatte ich Dorothy Hamilton kennengelernt. Hamilton leitete eine Einrichtung, die sich damals French Culinary Institute nannte. Sie war blond, schlank, eine jugendliche Sechzigerin, unverdrossen optimistisch, das Kuratoriumsmitglied, dem die amerikanischen Küchenchefs vertrauten. Als die James Beard Foundation in einen peinlichen Finanzskandal verwickelt war (der Geschäftsführer hatte systematisch Stipendien für junge Köche abgeschöpft), sprang sie ein, um den Ruf der Institution wiederherzustellen. Sie wurde nicht dafür bezahlt. Sie erledigte das in ihrer Freizeit.

Ich sprach mit ihr über meine Idee: eine praktische Ausbildung als Koch.

»Frankreich ist nicht Italien«, erwiderte sie und fügte diplomatisch hinzu: »Es empfiehlt sich, eine Kochschule zu besuchen.« Sie war sogar so diplomatisch, auf den naheliegenden Vorschlag zu verzichten, ich könnte doch ihre Kochschule besuchen, obwohl sie in den USA als einzige Schule la cuisine francaise lehrte und von unserer Wohnung aus fußläufig zu erreichen war.

Ich schilderte Hamilton, wie ich das in Italien gemacht hatte: ankommen und schauen, was geht. Dann fügte ich, intellektuell spitzfindig, hinzu: »Kochschulen kann man ja eigentlich als moderne Errungenschaft bezeichnen, meinen Sie nicht auch? Traditionell ging es bei der Kochausbildung ja stets um Learning-by-Doing.«

Ich erläuterte der Vorstandsvorsitzenden des French Culinary Institute meinen Plan: Ich wolle eine Restaurantküche finden, dort Fehler machen, ausgelacht und gedemütigt werden und die Probleme entweder meistern oder an ihnen scheitern. Ich hätte vor, erst mal hier in den Vereinigten Staaten in einer guten französischen Küche anzufangen (»nur in welcher?«) und anschließend drei Monate in Paris zu verbringen.

»Drei Monate?« fragte sie.

»Drei Monate.«

Sie schwieg, als denke sie über meine Worte nach. Dann fragte sie: »Kennen Sie Daniel Boulud?«

»Ja.« Boulud gilt unter den bedeutenden französischen Küchenchefs in Amerika als der erfolgreichste. Ihm gehören vierzehn Restaurants, von denen die meisten entweder Daniel oder Boulud heißen oder eine Variante davon, die seine Initialen enthält.

»Er ist in der Nähe von Lyon aufgewachsen«, sagte Hamilton.

»Ja, hab ich gehört.« Ich kannte Lyon nur ganz flüchtig, weil ich dort einmal um 6 Uhr morgens in einen Bus umgestiegen war. Ich wusste überhaupt nichts über diese Stadt, nur, dass sie sehr weit weg lag.

»Manche nennen es die ›Welthauptstadt der Gastronomie‹«, fuhr sie fort.

»Ja, ist mir bekannt.« Sie tat, als sei ich ein Kleinkind.

»Die Ausbildung, die Disziplin, die Härte.« Hamilton betonte das Wort, als ziehe sie einen Nagel aus der Wand. »Daniel hat zwei Jahre lang Karotten nur geschnippelt.«

Ich nickte. »Karotten«, sagte ich, »sind sehr wichtig.«

Hamilton seufzte. »Sie sagen also, Sie wollen drei Monate lang in Frankreich arbeiten.« Sie zeigte die Zahl mit den Fingern. »Und was, glauben Sie, werden Sie da lernen?«

Mir fiel nichts ein.

»Ich sag Ihnen, was Sie da lernen: nichts.«

Jetzt begann die Auktion, es erfolgten die ersten Gebote. Versteigert wurde unter anderem eine kolossale weiße Trüffel (d.h. eine kolossale weiße italienische Trüffel), die nur unwesentlich kleiner war als der ungewöhnlich große Kopf unseres kleinen Frederick; Hamilton sicherte sich die Trüffel mit dem extravaganten Gebot von 10.000 Dollar — à la Okay, machen wir’s kurz — und lud anschließend unseren ganzen Tisch (und auf dem Weg zum Ausgang noch ein paar Freunde) für Sonntag zum Lunch in ihre Wohnung ein.

»Ich habe über Ihren Plan nachgedacht«, sagte sie zu mir, als ich am Sonntag dort eintraf, »und habe ein Geschenk für Sie.« Sie schenkte mir eine Ausgabe des Lehrbuchs, mit dem an ihrer Kochschule gearbeitet wurde — Methoden der klassischen Küche.

Ich suchte mir einen Sessel in der Ecke. Es war ein beeindruckender Wälzer, Querformat, 496 Seiten, zweispaltig gedruckt, mit Anleitungen in Text und Bild. Ich schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf und las: »Theorie: allgemeine Informationen über Fisch-Mousseline.« Ich blätterte weiter. Zehn Seiten waren der Zubereitung einer Ei-Sauce gewidmet. Die Philosophie des Frikassee beanspruchte drei Seiten. Ich hatte bis dahin ganz glücklich gelebt, ohne zu wissen, worum es sich bei einem Frikassee handelt. Was für ein Mensch musste ich werden, um auch nur die Hälfte dieser Materie zu beherrschen?

Hamilton schickte einen ihrer Gäste, Dan Barber, zu mir herüber. Barber besaß zwei Restaurants, die beide Blue Hill hießen, eines in Manhattan, das andere auf einer Farm. Ich kannte ihn und mochte seine Küche. Sie war sehr regional, kompromisslos geschmacksorientiert. In einem von Barbers Restaurants habe ich einmal eine Karotte gegessen: einfach so, dreißig Minuten vorher aus der Erde gezogen, sanft abgespült, aber nicht geschält, auf einem geschnitzten Holzsockel schwebend serviert, mit einigen Körnchen gutem Salz und einem Tropfen erstklassigen italienischen Olivenöls. Barber ist dünn, mit dem nervösen Brustkorb des Langstreckenläufers, er ist so drahtig wie seine Haare, gebildet und redegewandt. Er fragte nach meinem »französischen Projekt«, doch bevor ich antworten konnte, unterbrach er mich schon. »Französische Ausbildung«, erklärte er. »Das Wichtigste überhaupt!«

Ein eindeutiges Statement. Und wohltuend. Denn zum damaligen Zeitpunkt war Frankreichs Ausstrahlungskraft auf einem Tiefpunkt angelangt. Um Kochen zu lernen, ging man nicht mehr nach Frankreich. Man reiste in die abgelegensten Gegenden der Iberischen Halbinsel oder begab sich in schwedische Täler, die im Winter vom Rest der Welt abgeschnitten waren.

»Die meisten Amerikaner denken, sie könnten es ohne französische Ausbildung schaffen«, meinte Barber, »aber sie wissen nicht, was sie verpassen. Köche, die nicht in Frankreich waren, erkenne ich sofort. Ihr Essen ist immer« — er zögerte, rang um den richtigen Ausdruck — »nun ja, ein Kompromiss.« Er hielt inne, um seine Worte auf mich wirken zu lassen.

»Sie sollten bei Michel Rostang arbeiten«, sagte er schließlich. In herrischem Ton. Es war ein Befehl.

»Rostang?« Ich kannte den Namen. Paris, schickes Restaurant — Leinentischdecken, Kunst an der Wand.

»Lernen Sie die Klassiker kennen. Rostang.«

Ich nickte, zückte ein Notizbuch und schrieb: »Rostang.« Aber wieso Rostang?

»Weil« — Barber beugte sich zu mir — »ich bei ihm ausgebildet wurde.«

»Sie haben in Paris gearbeitet!«, platzte ich laut heraus. Barber blickte über die Schulter, als sei es ihm peinlich. Ich hatte nicht so herausplatzen wollen. Ich war einfach nur überrascht gewesen.

»Ja, ich habe in Paris gearbeitet. Und in der Provence. Und … ich verfüge über eine französische Ausbildung.« Es klang nach: Klar, was denn sonst?

Barber war ungewöhnlich groß, was ich erst jetzt bemerkte, vielleicht, weil er so dünn war und sogar noch weniger Platz brauchte als eine normal große Person. Auch war mir anfangs gar nicht aufgefallen, dass er eine Baskenmütze trug.

»Sie sprechen Französisch?«, fragte ich. Blue Hill, so hatte die Farm von Barbers Großmutter geheißen, und das spielte eine große Rolle für die Art seiner Präsentation: jeden Samstag Omas Küche, alles bodenständig amerikanisch. Barber saß in Washington in verschiedenen Kommissionen und kannte den Chromosomensatz der Knoblauchrauke im Hudson Valley. Dass er seine Ausbildung in Frankreich genossen hatte, verwirrte mich. »Wissen das die Leute über Sie?«

Er kam näher. »Man kann es sonst nirgends lernen.«

Unser Zug erreichte Chesapeake, Amerikas größte Flussmündung.

In Frankreich war es jetzt sechs Stunden später, Samstagabend, gleich würde der Dinnerservice beginnen. Ich versuchte mir ein Pariser Bistro vorzustellen, eine Bar mit Hockern, einen niedrigen Raum, in dem ein Herd stand, ich versuchte mir eine Großstadt vorzustellen, ein Dorf, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich hatte zwanzig Jahre lang in England gelebt. Dort war es leicht, sich Frankreich vorzustellen. Es lag nur so weit entfernt wie die Fähre. Man konnte jederzeit mit dem Auto hinfahren. Die Flugzeit betrug eine Stunde.

Draußen scheuchte unser vorbeirasender Zug gerade eine blau-orange gefiederte Entenschar auseinander — da sah ich in der Fensterscheibe plötzlich die Spiegelung eines Laptopmonitors, helle, ständig wechselnde Bilder, offenbar eine Slideshow, die Teller mit französischen Gerichten präsentierte.

Warum dachte ich gleich an französische Gerichte? Weil die Teller wie gemalt aussahen? Weil jeweils eine Sauce dabei war? Ein Teller nach dem anderen erschien auf dem Bildschirm, wurde überblendet, von einem neuen Bild abgelöst, wie in den Dokumentarfilmen von Ken Burns.

Als ich mich nach dem Besitzer des Laptops umdrehte, sah ich einen etwa dreißigjährigen Mann: kurzes Haar, Militärschnitt, mager, sehr schmale Schultern. Franzose? Schwer zu sagen, weil er nicht sprach. Er grummelte vor sich hin. Jedenfalls wirkte er europäisch. Wie ein Fußballrowdy. Irgendwie fies.

Ich wandte mich an meine Frau. »Wink des Schicksals?«

Ich nickte in Richtung des Laptops.

Sie drehte sich auf ihrem Sitz um, schaute ebenfalls nach hinten und drehte sich wieder zu mir. »Gott spricht zu dir.«

»Meinst du wirklich?«

Sie schaute noch einmal hin, diesmal länger, drehte sich wieder nach vorn. Sie faltete die Hände und holte tief Luft. »Glaub mir.«

Ich spähte über ihre Schulter. Jetzt starrte ein anderer Mann, der mir bis dahin den Rücken zugewandt hatte, auf den Monitor. Es war der Vordrängler.

Ich fragte meine Frau: »Soll ich ihn ansprechen?«

»Unbedingt.«

»Ich glaube, ich kenne ihn.«

»Sprich mit ihm.«

»Vielleicht täusche ich mich aber auch.«

Ich stand auf und ging zu seinem Tisch.

»Hallo, entschuldigen Sie die Störung.« Der Vordrängler hatte zwei Rotweinkaraffen vor sich stehen und las in einem französischen Kochbuch (La Cuisine du soleil, abgewetztes, altmodisches Cover). Er blickte auf. Oh. Natürlich kannte ich diesen Mann. Dieses Gesicht: Es war mir am Bahnhof deshalb bekannt vorgekommen, weil es mir tatsächlich bekannt war — die James-Beard-Award-Verleihung, das Foto auf der Einbandklappe des Buchs, von dem ich zwei Exemplare besaß!

Der Name? Er begann mit »M«.

Michelin?

Mirepoix?

Beide Männer sahen zu mir hoch, dieser wohl ziemlich berühmte James-Beard-Typ und sein Hooligan.

Ich dachte: Wow. Das ist der Mann, den ich gerade angerempelt habe.

Ich fragte: »Sind Sie zufällig Koch?«

Ich brachte es nicht über mich zu sagen: Sind Sie ein französischer Koch, dessen Name mit »M« beginnt, mir aber nicht mehr einfällt, weil ich mir französische Namen nicht merken kann?

Ich fügte hinzu: »Sind Sie zufällig ein sehr berühmter Koch … wäre das möglich?«

Der Mann regte sich nicht. Vielleicht verstand er kein Englisch.

Doch jetzt holte er tief Luft. »Ja«, sagte er, »ich bin ein berühmter Koch. Ja! Ich bin sogar sehr berühmt!« Er war großartig — ein bisschen lächerlich, aber das sind großartige Menschen ja oft. »Erlauben Sie mir, mich vorzustellen.« Er streckte mir die Hand hin, als solle ich sie küssen (Panik! Sollte ich?), und erklärte: »Ich bin Paul Bocuse!«

Paul Bocuse! Ich hatte mich wohl verhört! Paul Bocuse? Bocuse ist der berühmteste Koch der Welt! Lerne ich hier gerade Paul Bocuse kennen? Jetzt war ich verwirrt. Außerdem, war Bocuse nicht schon 115? Jedenfalls viel älter als dieser Mann hier? Und lebte er nicht in Lyon?

»Nein, nein, nein, nein«, sagte mein Gegenüber. »Kleiner Scherz.«

(Ach so, ein Scherz, okay, sehr witzig.)

»Ich bin nicht Paul Bocuse.«

(Puh!)

»Paul Bocuse ist tot.«

(Was?! Ich werde hier veräppelt, und Paul Bocuse soll tot sein!)

»Oder vielleicht lebt er ja noch.«

(Stimmt.)

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin Michel Richard. Küchenchef und patron des Citronelle, Washington, D.C.s vornehmstes Restaurant. Ich wiederhole, Michel« — er hielt inne, um den Nachnamen noch einmal wie ein Opernsänger herauszuschmettern — »RiiiiiiiiiiiiiiiiiiCHARD

Die nächsten acht Monate verbrachte ich mit Unterbrechungen größtenteils in Richards Gesellschaft. Anfangs nur kurze Phasen, und dann, im Frühling, mehr oder weniger ganztags, als ich einen Platz vorn im Hauptbereich der Küche bekam und am Fischposten arbeitete. Unsere nächste Begegnung fand anlässlich eines Dinners im Citronelle statt, am Chef’s Table in der Restaurantküche. Mit von der Partie waren Jessica und ich, Richard und seine Frau Laurence und eine Amerikanerin mit französischen Eltern, die Richard aus seiner Zeit in Kalifornien kannte. (»Sie isst nie im Restaurant, sie mag meine Gerichte nicht«, sagte er mit heiterer Ironie, »aber sie würde gern mit Jessica Französisch sprechen.« Und so geschah es.)

Der erste Gang bestand aus Rührei mit Lachs, wobei sich herausstellte, dass es sich um etwas ganz anderes handelte (nämlich um Jakobsmuscheln, mit Sahne und Safran roh im Mixer zerkleinert und dann wie Rührei zubereitet, auf französische Art allerdings, d.h. langsam, aber sie waren immer noch das, was sie waren: Schalentiere). Als Nächstes kam etwas, das wie Cappuccino aussah. (Dito.) Eigentlich war es Pilzsuppe, aber letztlich eben doch nicht, da weder Wasser, Fond noch irgendeine andere Flüssigkeit dafür verwendet wurden. Die Suppe enthielt auch keine Pilze. (Pilze schwitzen, wenn man sie erhitzt; und bei der »Suppe« — für die man fünfzig Kilo verschiedener Pilze braucht — handelte es sich nur um diese von den Pilzen abgegebene Flüssigkeit. Es schmeckte hervorragend, ganz einzigartig und sehr konzentriert — ich habe mich dann selber zu Hause daran versucht und Stunden damit zugebracht, grässlich glibberige schwarze Pilzklumpen irgendeiner Zweitverwertung zuzuführen, nur um dann — als sich der Glibber in eine harte schwarze Kruste verwandelt hatte — irgendwann aufzugeben und das Ganze — Plopp! — in den Mülleimer zu befördern.)

Richard bereitete einen Salat zu, der von Claude Monets Wasserlilien inspiriert war.

Ich dachte: Echt jetzt? Jahrhundertelang waren Gemälde durch Speisen inspiriert worden. Aber wie oft geschah das umgekehrt?

Neugierig schlenderte ich in die Küche, um zuzuschauen. Der Rand einer weißen Servierplatte wurde mit wabbeligen Scheiben garniert — Richard stellte durch ein bestimmtes Verfahren »Lebensmittelschläuche« her, von denen mit der Aufschnittmaschine dünne Scheiben abgeschnitten wurden — in diesem Fall, wie man mir sagte, Thunfisch, Schwertfisch, rote und gelbe Paprika, Rindfleisch, Wildbret und Aal. Dann wurde die Servierplatte angerichtet — mit farnkrautartigen Kräutern, einem intensiv grünen Basilikum-Olivenöl — und in ein sumpfiges, moosiges Meisterwerk verwandelt. Es wirkte sehr Zen-mäßig, auch wenn es eine mentale Herausforderung darstellte — mein erster Gedanke beim Verzehr einer dünnen weißen Scheibe war nämlich keinesfalls: »Oh, das ist Aal!« Mir wurde klar, dass wir Speisen nur dann schmecken können, wenn wir sie wiedererkennen. (Und ich rätsle immer noch, was mir das nun wieder sagen soll.)

Bevor ich an jenem Abend zu Bett ging, musste ich, mit unerwartetem Wohlwollen, an Dorothy Hamiltons Buch Methoden der klassischen Küche denken.

Im Januar begann ich ernsthaft, Richards Zubereitungsmethoden zu erlernen, passenderweise mit einem der Schläuche, die er für den Monet-Salat verwendet hatte — zufällig der mit den roten Paprika.

»Schläuche spielen in Michels Küche eine sehr wichtige Rolle«, sagte David Deshaies. David war der Hooligan aus dem Zug. Er war der Executive Chef. Inzwischen wusste ich immerhin, dass »Schläuche« eher nicht zu den klassischen Methoden zählen.

Wir rösteten fünf Dutzend rote Paprika, schälten sie und verteilten sie noch warm auf mehrere 90 cm lange Zuschnitte von Plastikfolie, die David mit Wolken von Knox-Gelatinepulver bombardierte — es musste alles ganz schnell gehen, bevor die Paprika abkühlten. Nun sah jede Folie aus wie ein dicker, gewellter roter Teppich, den David aufzurollen versuchte; da die Paprika an den Seiten herausquollen, sah das wie ein 90 cm langer matschiger Burrito aus. Es gab offenbar keine saubere Methode. Immer wieder musste David den roten Paprika-Schlabber seitlich hineinschieben, bis es ihm schließlich gelang, ein Ende des Schlauchs mit einem Faden zuzubinden. Nachdem er auch das andere Ende zugebunden hatte, nahm er den gefüllten Schlauch vom Tisch und schwang ihn wie ein Lasso über seinem Kopf — was ziemlich beängstigend aussah, wie ein Cowboy, der eine sehr lange Salami schwingt. Doch das Resultat war fantastisch: tiefrot, absolut gleichmäßig, intensiv glänzend, wie eine zum Platzen gestopfte rote Wurst.

»O. k.«, sagte er. »Du bist dran.«

»Wir« machten zehn dieser Schläuche — David neun und ich einen (es dauert eine Weile, bis man sich richtig traut, das Lasso zu schwingen) —, und dann sollte ich die Dinger in den »Schlauchraum« hängen.

Es handelte sich um einen Kühlraum. An Haken befestigt hingen Schläuche von der Decke wie in einer Metzgerei, nur, dass die Schläuche in allen Farben leuchteten wie Partyballons — pastellgrün, ostergelb, weiß und rosa. Auch kräftige Rot- und Purpurtöne waren dabei. Der längste Schlauch maß 1,50 m. Der weiße Schlauch, 90 cm lang, enthielt Aal.

Solche Schläuche bekommt man normalerweise nicht zu sehen, denn außerhalb von Richards Restaurantküchen findet man sie nicht. Da gab es Schläuche mit Blini-Teig, rohem Speck, Kokosnuss, Roter Beete, verschiedenen Fischsorten und einer Masse für Club-Sandwiches. Jede Menge Schläuche.

Seltsamerweise kam mir nie der Gedanke, dass mir die Zeit bei Richard eigentlich nichts brachte und ich etwas anderes tun sollte. Er lebte in Washington, D.C., ich in New York, ein unerfahrener Vater kleiner Zwillinge. Was sollte das alles? Ließ ich nicht meine Familie im Stich? Außerdem hatte ich mir doch elementare Grundlagen aneignen wollen. Und Richard war das Gegenteil von elementar. Er war auch das Gegenteil von plausibel und nahm jede Gelegenheit zu subversivem Verhalten wahr. Sein Ansatz (eher könnte man sagen, sein »Nicht-Ansatz«) bestand darin, die Restaurantgäste so oft wie möglich zu überraschen. Er war ein Entertainer. Sein Versprechen: dem Gast Freude zu bereiten und ihn zu verwöhnen. Nein, eigentlich hatte ich etwas anderes im Sinn gehabt, aber ich konnte ihm nicht widerstehen.

Richard hatte eine klassische Ausbildung absolviert. Wenn ich morgens in die Küche kam, saß er oft am Chef’s Table bei der Lektüre eines Klassikers, vor allem Ali-Babs Gastronomique Pratique, ein in der englischsprachigen Welt fast unbekanntes Werk, jedoch für viele französische Küchenchefs Anfang des 20. Jahrhunderts eine Art Bibel. Im Jahr 1907 veröffentlicht, versammelte das Werk auf 637 Seiten detaillierte praxisnahe Erläuterungen sämtlicher Gerichte des französischen Repertoires. Doch Richard kochte nie etwas daraus. Nichts.

»Warum liest du es überhaupt?«, fragte ich.

»Als Herausforderung. Die Leute denken immer, ich hätte so originelle Ideen, aber das stimmt nicht, jedenfalls nicht ganz, ich lasse mich von der Lektüre inspirieren.«

Nein, Richard war nicht unbedingt der Küchenchef, der einem Novizen die französische Küche nahebringen konnte. Aber mir das entgehen zu lassen? Kam nicht infrage.

Außerdem kannte er Gott und die Welt. Er würde eine Küche in Frankreich für mich finden.

Das Citronelle befand sich im Basement eines alten Hotels, dem Latham, einem nicht allzu teuren Objekt in Georgetown, mit hundertvierzig Zimmern. Trotz seines Zustands (es neigte sich bedenklich zur Seite) hatte es schon schlechtere Tage gesehen. (Filmfreaks erkennen es vielleicht als den schäbigen Unterschlupf, der der jungen Julia Roberts in Die Akte als Versteck dient.) Nachdem Mel Davis, Richards PR-Mann und Pressesprecher, eine sehr günstige Wochenmiete für ein Zimmer ausgehandelt hatte, war ich entschlossen: Ich würde, sofern mich nicht dringende familiäre Angelegenheiten hinderten, sonntagabends nach Washington kommen und freitags zurückfahren. (Besagte dringende familiäre Angelegenheiten erlaubten dies allerdings nicht immer, denn jedes Arrangement, bei dem sich Jessica mit den Zwillingen alleingelassen fühlte, erwies sich als suboptimal.)

Ratatouille. Dies war das nächste Gericht, das ich zuzubereiten lernte, und es machte mir richtig Spaß. Die Ratatouille wurde kalt serviert, mit frisch gebratenen Butterkrebsen. Sie wirkte so radikal einfach — und war es eben nicht.

Laut David, meinem Ausbilder, verkörpert die Ratatouille den Geschmack des französischen Sommers, weil sie aus den Zutaten besteht, die jede französische Familie im eigenen Garten hat: Auberginen, Paprika, Zucchini, Zwiebeln und Tomaten (plus Knoblauch), zu ungefähr gleichen Teilen (außer dem Knoblauch natürlich). Jede Zutat wird grob gewürfelt. »Wir hatten mal eine Nouvelle-Cuisine-Version mit perfekten kleinen Würfelchen«, bemerkte Richard, der uns vom Chef’s Table aus zusah, »aber das war zu abgehoben. Es ist ein rustikales Gericht, und so soll es auch bleiben.«

Die wichtigste Lektion: Jede Zutat muss einzeln gekocht werden. Zuerst die Zwiebeln: Sie werden in Olivenöl sautiert. Dann die Paprika: Man schmort sie im Ofen, gleichfalls in Olivenöl. Die Auberginen werden rasch in einer antihaftbeschichteten Pfanne sautiert (kein Olivenöl, da Auberginen es wie ein Schwamm aufsaugen). Dann kommen die Tomaten dran, aber in Frankreich wird darauf bestanden, dass man sie zuerst häutet. (»Die Franzosen essen die Haut nicht mit, weil sie sich in der Kacke wiederfindet«, erklärte mir Richard im Vertrauen. »Echt?«, fragte ich skeptisch. »Echt«, bekräftigte er.)

Man entfernt also die Haut, indem man jede Tomate in eine Schüssel mit kochend heißem Wasser gleiten lässt, sie gleich wieder herausholt, in Eiswasser legt und sofort schält, solange sie noch im Schockzustand ist. Dann schneidet man die gehäuteten Tomaten in Viertel, löffelt die Flüssigkeit und die feuchten geleeartigen Samen heraus und wirft sie in ein Sieb, das über einer Schüssel hängt. (Das ist für später — fürs Tomatenwasser. Am Ende dieses Arbeitsgangs sollte sich ein klebriger Haufen angesammelt haben, der unablässig tropft und in der Schüssel einen hellroten Teich bildet.) Dann arrangiert man die Tomatenviertel wie rote Blütenblätter auf einem Backblech, bestreicht sie mit Olivenöl, streut Salz und Zucker drauf und brät sie 90 Minuten lang bei niedriger Temperatur, bis sie prall aufgequollen sind. Sie sind von all den marmeladigen Zutaten die marmeladigste.

Erst jetzt mischt Richard die Zutaten — in einem Topf, mit einem Schuss Rotweinessig (eine ungewöhnliche Beigabe, eine klare, leicht pikante Säure, um die sommerliche Süße auszugleichen) — und erhitzt sie sanft für kurze Zeit. Mit dieser Methode — jedes Gemüse separat zu kochen — wird angeblich eine lebendigere Mischung der Aromen erreicht, als wenn alle Zutaten zusammen in den Topf geworfen würden. Ich dachte nicht weiter darüber nach, merkte nur, dass es lange her war, seit ich die letzte Ratatouille gekocht hatte. Jedenfalls schmeckte mir dieses Rezept so gut, dass ich es seitdem ausnahmslos jeden Sommer zubereite. (»Gemüsemarmelade« nennt David die Ratatouille: »Meine Mutter hat sie sonntags zu Brathühnchen serviert, und was übrig blieb, haben wir den Rest der Woche über kalt gegessen.«) Erst als ich die Ratatouille einmal für Freunde kochte (die vom Resultat begeistert waren), erfuhr ich, dass die meisten Leute die Zutaten keineswegs einzeln zubereiten und oft gar nichts von dieser Möglichkeit wissen. Selbst die vor Kurzem erschienene und eigentlich ziemlich beeindruckende Ausgabe von Joy of Cooking empfiehlt, alle Gemüse in einen Topf zu geben, umzurühren und zugedeckt zu garen, was mich an meine letzte Ratatouille zehn Jahre zuvor erinnerte, nach der Lektüre von M. F. K. Fishers Buch mit seiner lustlos-trägen Prosa und literarischen Pose. Fisher schreibt, sie habe ihr Rezept in Frankreich bekommen, von »einer großen kräftigen Frau«, die »von einer spanischen Insel« stammte. Auch dies war ein Rezept, bei dem man einfach nur alles zusammenwarf und dann fünf bis sechs Stunden lang köcheln ließ. Am Schluss blieb nur noch eine Pampe übrig. (Julia Childs Ratatouille orientiert sich zwar zur Hälfte an der elementaren Methode — »jede Zutat wird einzeln gekocht« —, aber dann vermengt sie seltsamerweise doch manches miteinander.)

Der Ansatz, Zutaten einzeln zuzubereiten, war meine erste echt französische Kochlektion. Winzer, die einen aus verschiedenen Traubensorten bestehenden Wein abfüllen, tun etwas ganz Ähnliches: Entweder werfen sie alles zusammen in ein Fass und fermentieren das Ganze (wie einen »Traubenverschnitt«), oder sie vinifizieren die verschiedenen Sorten einzeln und mischen sie am Schluss — ein kontrollierterer Prozess, der dazu führt, dass man oft jede Traubensorte herausschmeckt. Viele berühmte französische Schmorgerichte werden, zumindest dem traditionellen Rezept nach, eigentlich kaum geschmort. Etwa das Navarin d’agneau, das Frühjahrsgericht aus Lamm und Gemüse — benannt nach der Rübe, le navet, die traditionell als Beilage galt, bis sich (circa 1789) die Kartoffel durchsetzte. Für das Navarin d’agneau werden die Gemüse gekocht, während das Fleisch brät — Rüben (wenn man Traditionalist ist), Kartoffeln (wenn nicht) oder Rüben und Kartoffeln (wenn man sich nicht entscheiden kann), Babykarotten, kleine Zwiebeln und Frühlingsplatterbsen —, und erst am Schluss kombiniert.

Für diese Methode scheint es keine Bezeichnung zu geben, eine Seltenheit in einer Kultur, die auch noch den winzigsten Zubereitungsschritt und das lächerlichste Küchengerät benennt; oder falls es doch eine Bezeichnung dafür geben sollte, habe ich sie zumindest noch nicht entdeckt, obwohl ich vielleicht über die allererste Erwähnung dieser Methode gestolpert bin: und zwar in Menons La Cuisinière bourgeoise (Die häusliche Köchin — das Wort bourgeoise im Titel bedeutete im 18. Jahrhundert »häuslich«). Es gibt in Frankreich viele Bücher über die Cuisine bourgeoise, fast jeder vollendete Koch hat ein solches Werk für Laien verfasst. Aber Menon war der Erste. (Menon, vermutlich ein Pseudonym, schrieb auch die erste »Nouvelle Cuisine«. Auch über die Nouvelle Cuisine gibt es viele Bücher.) Menons La Cuisinière bourgeoise beschreibt zwei Arten, Ente und Rüben zuzubereiten: die professionelle Methode, bei der die Rüben und die anderen Zutaten einzeln gekocht werden, während die Ente brät, und die andere, informellere Methode: Alles in einem Topf zusammenwerfen, Deckel drauf und so lange köcheln lassen, bis es fertig ist. »Voilà la façon de faire le canard aux navets à la Bourgeoise.« (Das Rezept findet sich nicht in der Erstausgabe von 1746, aber dann in der zweiten von 1759.)

Spoileralarm: Erstaunlicherweise lernte ich, wenn auch mühsam, Französisch zu lesen, ja sogar zu sprechen.

Ich bereitete Semmelbrösel nach Richards Methode zu. Bei dieser Methode gerieten die Brösel nicht gleichmäßig oder gar mehlig (er siebte den Bröselstaub heraus), sondern schartig und unregelmäßig und wurden dann im Backofen geröstet, bis sie wunderbar knisterten. Mit einem Klacks Geflügelmousse vermischt, verklumpten sie zu Richards »Chicken Nuggets« und kamen, nach dem Backvorgang bei maximaler Hitze, sehr kross heraus (sie knackten beim Reinbeißen), in der Mitte weich, mit einem Hauch Chicken Cream dazwischen, ein überraschendes Mundgefühl. (Ich testete die Nuggets an meinen Kindern. Die mochten sie. Aber sie mochten ja auch die Tiefkühl-Nuggets aus dem Supermarkt. Sie waren anspruchslos. Am allerliebsten mochten sie Ketchup.)

Ich bereitete Burger nach Richards Methode zu. (Thunfischburger in einem Luxusrestaurant? Warum nicht? Sie schmeckten fabelhaft.) Man beginnt mit einer dicken roten Scheibe Fisch, würfelt sie und püriert dann die Würfel, indem man sie mit der Rückseite eines Holzlöffels immer wieder kräftig an die Wand einer Schüssel quetscht. Während die Würfel zerfasern, wird durch das ständige Schlagen die Gewebestruktur aufgebrochen. Man fügt einen Spritzer Olivenöl hinzu. Und quetscht weiter. Mittlerweile hat man wahrscheinlich zu schwitzen begonnen (es sei denn, es tropft einem, wie mir, sowieso schon die ganze Zeit der Schweiß von der Nase). Irgendwann auf halber Strecke löffelt man eine im weitesten Sinne japanische Sauce drunter, die man vorbereitet hat (Ingwer, Schalotten und Schnittlauch, im Mixer mit Sojasauce emulgiert), und püriert weiter. Das Ziel besteht, wie gesagt, darin, das Gewebe des Fischs so effektiv aufzuspalten, es zu zerquetschen, dass die natürlichen Fischfette austreten. Sie sind das Bindemittel, das dem Burger seine Form verleihen wird. Das Ganze wird dann halb durchgegart und schmeckt würzig frisch — mit einem frechen, fast sushihaften ingwerig-rohen Touch — und wird in einem Brötchen serviert; es wird mit Olivenöl und wilder Hefe gebacken, quasi die mediterrane Version eines Brioche.

Mir schmeckten die Burger so gut, dass ich mir immer abends noch einen machte, kurz bevor wir die Küche aufräumten, und ihn mir auf der Grillplatte warmhielt, um ihn dann später, oben an der Bar, zu meinem gewohnten Glas Pinot Noir zu genießen.

Ich lernte, ein süßes Soufflé à la Richard zuzubereiten, das nie misslingt (man braucht dazu drei verschiedene Meringuen, nach italienischem, schweizerischem und französischem Rezept). Ich buk schmackhafte Kartoffel-Tuiles, die die Konsistenz von Pringle-Chips haben, genauso kross sind, aber kein Fett enthalten (diese Waffeln wurden in Richards Burger integriert, um ihnen die knusprige Konsistenz zu verleihen). Soufflé und Tuiles gehörten zu den Geheimnissen des Hauses, aufbewahrt in einer sorgsam gehüteten Rezept-Bibel. Die Tatsache, dass Richard mir diese Rezepte verriet, zeigte schon, dass er mich für vollkommen harmlos hielt. Allerdings wurde während meiner Zeit nie der »Mosaik-Lachs« zubereitet, der vielen als Krönung von Richards meisterlichsten Gerichten gilt. Ein der Schwerkraft trotzendes, insgeheim von Transglutaminase (also Fleischkleber) stabilisiertes Meisterwerk, das ich nur vom Hörensagen kannte, und zwar aus einer Geschichte, die mir der ehemalige Souschef erzählte. Er hieß Arnaud Vantourout, war Belgier und bekannte mir Folgendes: Nachdem er das Citronelle verlassen hatte — weil ihm eine Traumposition in einem berühmten Brüsseler Restaurant angeboten wurde, dessen Namen ich auf seinen Wunsch verschweige —, wurde ihm klar, dass man ihn nur wegen Richards Rezepten eingestellt hatte. »Die haben alles aus mir rausgequetscht« — die Schlauch-Technik, das Soufflé, den Thunfischburger, Richards perfekt geschälte Äpfel und den »Mosaik-Lachs«. (»Denen ging es wirklich um den Mosaik-Lachs!«) Nachdem das berühmte Brüsseler Restaurant, dessen Namen mich Arnaud, wie gesagt, zu verschweigen bat, all die tollen Rezepte, die ihm Michel Richards beigebracht hatte, aus ihm herausgepresst hatte, gab es für ihn keine Verwendung mehr. »Die haben mich regelrecht entsorgt.« (Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum der gutmütige Arnaud so darauf bedacht war, dieses miese Etablissement zu schützen. Und obwohl der große Restaurantkritiker der New York Times, R. W. Apple, Jr., besagtes Restaurant zu seinen Lebzeiten weltweit zu den Top Ten der Gourmet-Tempel zählte, habe ich mir geschworen, niemals dorthin zu gehen.)

An einem Donnerstagnachmittag, kurz vor dem Dinner Service, erfuhr ich, dass Michel Rostang und seine brigade aus Frankreich eingetroffen waren und am nächsten Morgen in der Küche erscheinen würden. Sie übernahmen ein Wochenende lang das Citronelle, um raffinierte Gerichte zu servieren, ein alljährliches Event, so etwas wie ein »Paris in Washington, D.C.«-Festival. Es gab natürlich keinen Grund, mich im Voraus zu informieren — ich war gerade erst dabei, mich zurechtzufinden. Aber die Nachricht verblüffte mich: Michel Rostang — der Michel Rostang, ausgerechnet der Mann, bei dem Dan Barber gearbeitet hatte und bei dem er mir eine Ausbildung dringend empfohlen hatte — kam hierher, mit seinem Executive Chef, seinem Souschef, seinen Postenchefs, dem ganzen Team. Das war meine Chance! Ich war aufgeregt. Ich hatte Angst.

Ich musste Jessica anrufen.

In einer Hinsicht schien das Timing wirklich günstig. Mir war erst kürzlich klar geworden, dass unsere Kinder ab Herbst eine Art Vorschule besuchen mussten. Offen gestanden hatte ich bis dahin nicht darüber nachgedacht. Ich wusste zwar, dass es irgendwann so weit sein würde, hatte aber nichts konkret geplant. Es war die erste Märzwoche. Ich hatte gerade damit begonnen, am Fischposten zu hospitieren (das heißt, man beobachtet einen erfahrenen Koch bei seiner Tätigkeit und lernt dadurch die Arbeitsabläufe kennen). Auch wurde mir erst jetzt allmählich klar, wie wenig Zeit mir blieb, ein Restaurant in Frankreich zu finden. Zwischen März und September musste ich mir hier in Richards Küche die elementaren Grundlagen aneignen (soweit man bei Richard überhaupt elementare Grundlagen erlernen konnte) und in Paris in irgendeinem Lokal ein Praktikum absolvieren: sechs Monate. Und dann tauchte hier plötzlich Rostang auf: meine Chance, mein Weg, meine Zukunft, mein Lokal.

In anderer Hinsicht war das Timing weniger günstig. Das Arrangement, das Jessica und ich getroffen hatten, verlangte, dass ich Freitagabend nach Hause kam und mich um die Kinder kümmerte: um jeden Preis. Freitagabends war Jessica mit den Nerven am Ende. Konnte ich da anrufen und sagen, hör mal, wär es okay für dich, noch ein paar Tage — sagen wir mal, übers Wochenende und, na ja, die ganze nächste Woche — allein durchzuhalten?

Richard saß am Chef’s Table und arbeitete an einem Rezept. Ich zögerte, ihn zu unterbrechen. Außerdem hatte ich ihn noch nicht ausdrücklich gefragt, ob er mir helfen könnte, eine Küche in Paris zu finden. Bevor sich die Chance bot, mit ihm zu reden, verschwand er und kam nicht mehr zurück. (Vermutlich speiste er mit seinem guten Freund zu Abend und die beiden Michels saßen irgendwo zusammen.)

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