cover.jpg

img1.jpg

 

 

Band 235

 

Das Mausbibergrab

 

Ben Calvin Hary

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Mentro Kosum

2. Omar Hawk

3. Perry Rhodan

4. Perry Rhodan

5. Danielle Pyme

6. Omar Hawk

7. Omar Hawk

8. Danielle Pyme

9. Omar Hawk

10. Omar Hawk

11. Perry Rhodan

12. Danielle Pyme

13. Perry Rhodan

14. Omar Hawk

15.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Gut fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, bildet die Solare Union die Basis eines friedlich wachsenden Sternenreichs. Aber die Sicherheit der Menschen ist immer wieder in großer Gefahr. Eine unheimliche Bedrohung sucht die Galaxis heim – das Dunkelleben. Es scheint seinen Ursprung im Zentrum der Milchstraße zu haben.

Deshalb bricht Perry Rhodan mit der CREST II in den Sagittarius-Sektor auf. Die Terraner erkunden das Compariat, ein geheimnisvolles Sternenreich in der galaktischen Kernregion. Unerwartet stellt sich ihnen dort eine Raumflotte der Shafakk in den Weg. Die schwarzen Mausbiber verwehren den Menschen den Zugang zum Omnitischen Herzen.

Um die Blockade zu durchbrechen, beschließt Rhodan einen riskanten Einsatz auf der Stammwelt der Shafakk. Dort erfährt Gucky die Ursprungsgeschichte der Ilts und macht einen verstörenden Fund – DAS MAUSBIBERGRAB ...

1.

Mentro Kosum

 

Ich bin kein Pilot. Ich bin das Raumschiff.

Meine Arme sind die Bordgeschütze, meine Beine die Triebwerke. Sensoren und Taster sind meine Augen und Ohren. Beschleunigt das Schiff, strecke ich mich. Mache ich mich klein, verlangsamt es. Wir sind eins, die Maschine und ich. Das Schiff bestimmt mich, und ich bestimme es.

Das galaktische Zentrum spielt mit mir. Ein elektromagnetisches Chaos tobt um mich. Orientierungslos trudele ich durch einen Ozean aus Photonen und Gravitonen. Stellares Gas füllt die Umgebung, die Überreste einer Sternenexplosion.

Kosmischer Staub prickelt auf meiner Hülle; ich will mich kratzen, doch meine Finger schaben nicht über den Raumschiffsleib, sondern über spröde, menschliche Haut. Materiereiche Regionen bin ich zwar gewohnt, aber nirgends stehen die Masseballungen so eng wie an diesem Ort. Nur Lichtwochen trennen Pulsare von Neutronensternen. Sonnen zerreißen unter der Gravitation benachbarter Himmelskörper. Ihr Tod badet meine Sensoren in dichte Schauer heißer, radioaktiver Strahlung. Schwarze Löcher umkreisen einander im ewigen Tanz unfassbarer Naturgewalten. Ihre Schwerkraftfelder zerren an mir, als wollten sie mich aus der Flugbahn reißen.

Die Impulse der Tasterechos und Orterinstrumente bombardieren mein Hirn, überlasten meine Sinne. Ich habe das Gefühl, mein Ringwulst müsse bersten. Ein Teil meines Bewusstseins spürt das harte Polster, auf dem mein Rücken ruht. Unter der SERT-Haube rinnt Schweiß, doch die eigentliche Wirklichkeit ist weit draußen. Mein wahrer Leib ist die CREST II.

Ich bin Mentro Kosum, der Emotionaut.

Nur langsam kompensiert die Haube die Überfülle an Informationen und filtert den Dateneingang auf ein erträgliches Maß. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild des umgebenden Alls. Plötzlich ist es voller Gegner.

Vier Lichtsekunden vor der CREST II schwebt ein Wall aus Schlachtschiffen. Es sind Xaphaken: klobige, schwer bewaffnete Einheiten, nicht die wendigen Einpersonenjäger, die ich von diesem Feind gewohnt bin. Die Shafakk kämpfen selten mit großen Kalibern.

Es ist der 29. April 2090. Wir nähern uns Jad-Kantraja, dem Machtzentrum der Omnitischen Gaden. Klanglose Worte kitzeln meine Hörnerven, dringen von überall und nirgends auf mich ein. SENECA, das Bordgehirn, spricht direkt mit meinem Verstand, ohne den Umweg über meine menschlichen Ohren. Ich bin blind geboren, doch das Raumschiff lässt mich sehen – besser, als meine Implantate es könnten. Wo echte Augen nur eine grellweiße Wand aus Licht erblickt hätten, erkennen die Orter jedes einzelne Gestirn. Ich peile einen nahen Pulsar an, verwende zwei Sterne der Spektralklasse III als Leuchtfeuer und trianguliere einen Kurs durch die feindliche Flotte.

»Das ist ein Blockaderiegel.« Mein geschultes Ich filtert die Umgebungsgeräusche der Zentrale aus meinem Bewusstsein, doch diese Worte lässt er durch. Sie stammen von Perry Rhodan. »Sie hätten uns vor dieser Flotte warnen müssen, Bingdu!«

»Ein solcher Aufmarsch ist alles andere als normal.« Der Omnit klingt nervös. Sein fast durchsichtiger Leib macht es unmöglich, seinem Gesicht eine Regung zu entnehmen. »Die Soldaten des Compariats sind zwar überall, wo sich die Macht der Gaden zeigt. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt.«

Die Innensensoren der Zentrale zeigen mir, dass Rhodan, Thora Rhodan da Zoltral, der Oproner Merkosh und sein Artgenosse, der Omnit Horesh jad Aedor – auf eigenen Wunsch »Bingdu« genannt – vor dem großen Außenbeobachtungsholo standen. Die Gruppe hat sich neben dem Sitz mit der SERT-Haube postiert, so nah, dass ich nur den Arm strecken müsste, um sie zu berühren. Dennoch sehe ich sie und mich selbst nur über die Optiken. Es ist, als schwebte ich außerhalb meines eigenen Körpers.

Sie starren auf die dreidimensionale Darstellung dessen, was mir die Positronik längst mitgeteilt hat:

Zwischen der CREST II und dem Omnitischen Herzen – der gigantischen Raumstation, die das Ziel meines Anflugs ist – liegt eine Sphäre aus Raumfahrzeugen, die großteils aus Wabensegmenten zusammengesetzt sind. SENECA gibt ihre Zahl mit einhunderttausend an – viel zu wenige, um die weite Raumkugel, die sie offenbar abriegeln wollen, lückenlos zu umschließen. Doch die örtlichen astrophysikalischen Zustände machen diese Gegend des Alls für Raumschiffe zum großen Teil von Natur aus unpassierbar. Nur an wenigen Orten ist die Navigation im lokalen stellaren Chaos auch ohne Lotsen gefahrlos möglich, und genau dort lauern die taktisch geschickt gruppierten Streitkräfte der Shafakk. Dummerweise befinden auch wir uns an einer solchen Stelle.

Die Mehrzahl der Waffen der Xaphaken ist auf das Zentrum einer kleinen Raumkugel von zwölf Lichtsekunden Durchmesser gerichtet, wie mir die sensiblen Messinstrumente der CREST II offenbaren. SENECA haucht mir die Zahl der Gegner zu: Siebenundzwanzigtausend. Dieser Übermacht bin ich nicht gewachsen. Noch nehmen sie uns anscheinend nicht als Bedrohung wahr. Aber ich muss an ihnen vorbei! Tollkühn rase ich auf sie zu.

»Diese Formation dient nicht der Verteidigung.« Mit verschränkten Armen umrundet Thora das Holo. Sie spricht mit analytischer Kälte, doch meinen Ohren entgeht ihre Anspannung nicht. »Jemand – oder etwas – soll an der Flucht aus dem Omnitischen Herzen gehindert werden. Wir sind Zeuge einer Belagerung.«

Die Arkonidin behält recht. Denn mein Manöver bleibt nicht unbeantwortet. Als die CREST II sich der Blockade auf dreihunderttausend Kilometer nähert, eröffnen die Shafakk ohne Vorwarnung das Feuer.

Sonnenhelle Energiefinger fressen sich durchs All, strecken sich mir entgegen. Sie verfangen sich im Libraschirm, der mich wie ein Mantel umhüllt. Blitze sprühen über meine Kugelhülle, als die Energien in den Halbraum abgeleitet werden.

»Kosum! Ausweichmanöver!«, befiehlt Thora.

Ich winde mich, beuge mich, schlängele mich durch die Front der herannahenden Gegner. Konventionelle Sprengkörper zerplatzen vor meinem Bug, bilden einen Riegel aus Feuer, Strahlung und Tod. Doch sie sind zu weit weg, um mir gefährlich zu werden.

Die Energieerzeuger der CREST II arbeiten mit Maximalleistung. Ihr Knarzen und Krachen pflanzt sich durch meinen stählernen Rumpf bis zu mir fort, bringt meine Zahnfüllungen schmerzhaft zum Vibrieren. SENECA lässt vermittels der SERT-Haube Dutzende Warnmeldungen durch meinen Verstand geistern – ich ignoriere sie. Dies, erkenne ich, ist kein Angriff, sondern Sperrfeuer. Die Shafakk sprechen nur eine Warnung aus.

»Manöver sofort abbrechen!« Rufus Darnell, der Chefingenieur der CREST II, meldet sich aus dem Maschinenraum. »Die Aggregate halten dieser Belastung nicht stand. Die Schäden, die während der letzten Tage entstanden sind, sind noch nicht gänzlich behoben.«

Ich ärgere mich. Mir braucht er das nicht zu sagen! Schließlich war ich es, der beinahe mitten in einen Gammablitz reingeraten ist. Die Schmerzen der dabei sowohl auf mich als Schiff und mich als Person einwirkenden Urgewalten sind mir noch immer gegenwärtig. Dagegen ist dieses bisschen Feindbeschuss gar nichts!

Wie zur Bestätigung von Darnells Worten geht ein Rums durch den Schiffsleib. Die Schreie aufgebrachter Techniker tönen aus dem Interkom, untermalt vom Heulen eines Alarms und dem Zischen der Schaumdüsen, als die automatischen Brandlöscher anspringen. Im Hintergrund erteilt Cameron Canary einem Mitarbeiter Befehle.

Gleichzeitig pulsiert der Schutzschirm der CREST II unter dem Feuer der Shafakk. Dieses Zeichen ist unmissverständlich: Ein Kollaps steht bevor!

»Kosum! Rückzug!«, ertönt Thoras harte Stimme. »Ein gewaltsamer Durchbruch ist unmöglich.«

Ich tue, was die Kommandantin verlangt, ziehe die Beine an und bremse ab. Die CREST II verlangsamt und kommt zum Stillstand. Die gequälten Aggregate verstummen. In meinen Ohren rauscht das Blut.

»Diese Soldaten handeln ohne Autorisation, das versichere ich Ihnen.« Bingdu klingt nun gänzlich fassungslos. »Ich verlange, mit dem Shafakk-Koor dieses Verbands zu sprechen.«

Ich halte die Position. Das bedeutet, die Steuerung des Raumschiffs nimmt mich kaum mehr in Anspruch. Die Schwerkraftfelder naher Pulsare und Sterne zerren weiterhin an der Schiffsmasse. Da und dort gleiche ich die Drift mit Korrekturstößen der Manövriertriebwerke aus, doch das erfordert nur einen Bruchteil meiner Aufmerksamkeit. Ich atme durch und habe Gelegenheit, mich auf die Gespräche ringsum zu konzentrieren.

Auf Rhodans Bitte hin stellt die Funk- und Ortungsoffizierin Sarah Maas eine Sprechverbindung mit dem Leitschiff der Shafakkflotte her. Wieder übermittelt SENECA die empfangenen Daten in mein Gehirn. Um einsatzbereit zu bleiben, verzichte ich darauf, mich von der SERT-Haube zu befreien.

Ein Shafakk erscheint im zentralen Kommunikationshologramm – ich sehe ihn vor mir, als stünde ich mit ihm im selben Raum.

Bingdu holt Luft, um zu sprechen.

Sein Gegenüber kommt ihm zuvor. »Sie sind in dieser Raumregion unerwünscht.« Die Körperhaltung des Mausbiberähnlichen ist feindselig, das schwarze Fell gesträubt. »Dieser Anflugkorridor ist Sperrgebiet.« Bernsteinfarbene Äuglein stechen aus einem Gesicht, dessen gefletschtes Gebiss von zwei riesigen Eckzähnen dominiert wird. Die gewaltigen Reißer stecken in zwei golden funkelnden »Kasshs« – geschmiedete Hüllen, die mit feinen Mustern ziseliert sind. Der Anblick lässt mich schaudern.

Bingdu gibt sich unbeeindruckt. Er tritt vor. »Wissen Sie, mit wem Sie es zu tun haben?«

»Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?« Der Shafakk bleckt die Kiefer, als sei er bereit, jederzeit zuzubeißen. Seine Kasshs blitzen im Licht verborgener Scheinwerfer. »Ich bin der lokale Shafakk-Koor, der Kommandant dieses Flottenabschnitts. Ziehen Sie sich zurück! Meine Untergebenen sind angewiesen, beim nächsten Mal genauer zu zielen. Dies ist die letzte Warnung.«

Das Holo fällt in sich zusammen. Der Shafakk-Koor beendet die Verbindung grußlos.

Bingdu bleibt stehen, als sei er gegen eine Mauer geprallt. Sein Zögern spricht eine klare Sprache. Der Konter des Shafakk-Kommandanten hat ihn aus der Fassung gebracht.

»Mir scheint, die Soldaten des Compariats wenden sich gegen ihre Herren.« Merkoshs kurzer Rüssel wiegt hin und her, als er den Kopf schüttelt. Auch auf seinem Gesicht ist sonst meist kein Gefühl zu erkennen. Die schwarzen Flecken indes, die unter der volltransparenten Haut wie Ascheflocken durch seine Blutbahn wirbeln, verraten seine Aufregung. »Was auch immer der Grund für ihren Aufstand ist – ich frage mich, warum sie die CREST II nur verscheuchen und nicht sofort angreifen.«

Der Oproner hat derzeit einen seiner wenigen wachen Momente. Seine mysteriöse Wandlung, die vor einigen Wochen im Solsystem ihren Anfang genommen hat, ist beinahe abgeschlossen. Inzwischen gleicht er im Aussehen dem Omniten fast vollständig: gläsern, nahezu unsichtbar, ein Geist auf zwei Beinen.

»Die Shafakk sind aggressiv, aber nicht dumm«, widerspricht Perry Rhodan. »Sie wissen, dass Zweifrontenkriege schwer zu gewinnen sind. Die CREST II ist ein ihnen unbekanntes Schiff und damit ein nicht einschätzbarer Faktor. Die Anwesenheit eines Omniten an Bord sagt noch nichts über unsere Zugehörigkeit aus. Einem unbekannten Gegner grundlos den Krieg zu erklären, könnte ungeahnte Folgen haben.«

Thora Rhodan da Zoltral nickt. »Nutzen wir den Vorteil, um uns in Ruhe ein geeignetes Vorgehen zu überlegen. Mister Kosum! Wir ziehen uns zurück.«

Ich gehorche. Vorsichtig strecke ich die »Beine« von mir, und die Triebwerke nehmen ihre Arbeit auf – diesmal mit weniger Leistung und geringeren Beschleunigungswerten. Aggregate und Libraschirm protestieren kaum. Langsam ziehe ich mich aus der Waffen- und Ortungsreichweite der Shafakkflotte zurück, tiefer in die Wolke aus stellarem Gas hinein.

Die CREST II bringt den Nebel zwischen sich und das Omnitische Herz. Die Gegner folgen uns nicht – doch unserem Ziel sind wir kein Stück näher gekommen.

2.

Omar Hawk

 

»Tschi!«

Das Niesen zerriss die Kakofonie menschlicher Stimmen. Feuchtigkeit klatschte Omar Hawk ins Gesicht. Der Oxtorner schreckte aus einem unruhigen Schlummer hoch. Er schlug die Augen auf.

Ein achtbeiniges Ungetüm klebte kopfüber an der Decke, umgeben von stählernen Streben, Kabelbäumen und Datenleitern. Die beiden mittleren Beinpaare liefen in starken Saugnäpfen aus. Damit hielt es sich an einem Ring aus hellem Kunststoff fest, an dem Leuchtkörper befestigt waren. Sie verbreiteten kaltes Kunstlicht.

»Können Sie dieses Vieh nicht beruhigen?«, lallte jemand.

Im ersten Moment glaubte Hawk, ein Betrunkener hätte gesprochen. Doch etwas anderes klang aus diesen Worten ... Erschöpfung. Die Stimme setzte sich kaum gegen den Lärm durch.

Dieser Krach ... Hawk kam vollends zu sich.

Er lag auf dem Rücken, auf eine unbequem weiche Unterlage gebettet, die für seine Schultern zu schmal war. Die Stimmen und das Geschrei brachten seine Trommelfelle zum Klirren. Wo war er?

Hawks Versuch, sich aufzusetzen, scheiterte. Das sofort einsetzende Schwindelgefühl raubte ihm beinahe wieder das Bewusstsein. Flecken tanzten vor seinen Augen. Entkräftet sank er ins Polster zurück und blickte sich um. Es fiel ihm unfassbar schwer, auch nur den Kopf zu drehen.

Ringsum herrschte Aufruhr. Menschen in weißen Kitteln eilten diskutierend durch einen Raum mit steril wirkenden Wandverkleidungen. Die Analysegeräte und medizinischen Instrumente in ihren Händen gaben piepsende Geräusche von sich. Diagnoseeinheiten schwebten umher, projizierten Textkolonnen, verworrene Skalen und Bilder gebrochener Knochen.

Überall sah er Menschen auf Liegen. Von ihnen stammte das Wimmern. Ein Brandmal verunstaltete das Gesicht einer jungen Frau im Bett gegenüber. Daneben lag ein Mann, dem Reste eines Overalls als versengter Plastikfladen auf der Brust klebten. Eine weiß bekittelte Frau beugte sich über den Verletzten und presste ihm eine Hochdruckspritze gegen den Hals.

Hawk stöhnte. Seine Erinnerung kehrte zurück. Er befand sich an Bord des terranischen Expeditionsschiffs CREST II. Seine Heimat Oxtorne hatte er auf Weisung von NATHAN verlassen. Der Transfer war auf unkonventionelle Weise erfolgt: mittels der Miniaturversion eines Zeitbrunnens, der sich in einem versiegelten Teil des Raumschiffs befunden hatte. Die Passage durch das System der Zeitbrunnen hatte Hawk schwer zugesetzt. Zwar schützte ihn die oxtornische Physiologie teilweise vor der »temporalen Nekrose«, wie die Auswirkung dieser exotischen Transportart auf den menschlichen Körper genannt wurde. Völlig gefeit war er dagegen jedoch nicht.

Nun erwachte er in der Medostation aus einem Heilschlaf, in den die Mediziner ihn versetzt hatten. Seine Odyssee durch die Zeitbrunnen hatte doch noch Spätfolgen gehabt. Sogar Hawks schier unverwüstliche Konstitution hatte Schwierigkeiten damit, die Temporale Nekrose im Zaum zu halten. Warum also weckten sie ihn – seinem Gefühl zufolge war er doch gerade erst weggeschlummert? Brauchten sie Betten für die Verletzten? Was war während seines Schlafs geschehen?

Das Stimmengewirr schwächte sich allmählich in dem Maße zu einem aufgeregten Murmeln ab, wie die Mediker den Patienten nach und nach schmerzstillende Mittel verabreichten.

Nachdenklich musterte Hawk den versengten Overall des Manns, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht im Bett gegenüber wälzte. Die Rangabzeichen eines Technikers prangten auf dem Schulterteil. Die Frau daneben war ebenfalls eine Technikerin.

In einem der Maschinenareale muss Feuer ausgebrochen sein, schlussfolgerte Hawk. War die CREST II in ein Raumgefecht geraten? Geduldig ertrug er die Schwäche, die ihn ans Lager fesselte. Dennoch – es war Zeit, dass er auf die Beine kam!

»Tschi!« Der Okrill nieste ein zweites Mal. Wieder klatschte Hawk der Schnodder ins Gesicht.

Das weckte ihn endgültig. Er wischte sich den Schleim von der Wange. Hierfür den Arm zu heben, kostete schier übermenschliche Anstrengung. Nur der Ekel gab ihm die nötige Kraft. Das Zeug stank nach Essig und Verwesung.

»Ich spreche mit Ihnen!«, lallte es erneut. »Pfeifen Sie dieses Vieh zurück. Es macht mir Angst.«

Endlich gelang es Hawk, sich auf die Ellbogen zu stützen. Er wandte sich dem Sprecher zu.

Die Worte stammten von einem bleichen Kerl, dem Aussehen nach südamerikanischer Abstammung, der im Bett neben ihm ruhte. Misstrauisch starrte der Mann zu dem Okrill empor und zog sein dünnes Laken, mit dem er bedeckt war, bis zum Kinn, als wolle er sich darunter verstecken. Mit der anderen Hand umklammerte er die Lehne eines leeren Stuhls, der neben seinem Lager stand.

»Hiii, Watson!« Hawk krächzte mehr, als dass er sprach. Er wünschte sich einen Schluck Wasser.

Der Kopf des Tiers ruckte herum. Es fixierte Hawk aus starren Kugelaugen, als überlege es, ihn zu verspeisen. In dieser kalten, technischen Umgebung wirkte das Geschöpf urtümlicher und wilder, als es ohnehin war.

Schwach winkte Hawk dem Okrill zu. »Komm da runter! Zurück ins Quartier mit dir!« Ob die Ärzte ihn in die Medoabteilung gelassen hatten? Oder war Watson einfach hereinspaziert, um über Hawk zu wachen? Das schien wahrscheinlicher.

Bei seinem Aufbruch von Oxtorne war der Okrill Hawk mehr oder weniger zugelaufen. Oder vielmehr: Watson hatte Hawk als »Herrchen« erwählt. Hawk akzeptierte das. Wer sein Leben liebte, stellte sich einem Okrill nicht in den Weg. Dennoch gehörte Watson nicht hierher.

Das Tier reagierte nicht auf seinen Ruf. Stattdessen kletterte es gemächlich vom Lampenring, presste sich an die Decke und öffnete die Schnauze. Ein armdicker Wurm aus grellrosafarbenem Fleisch schnellte zwischen den Kiefern hervor. Klatschend landete sein Ende in einem freien Stromanschluss über Hawks Liege.

Watson »trank« die Energie. Blitze umtanzten die Zunge. Grellblaue Lichtreflexe mäanderten über die Wandverkleidungen. Ein bedrohlich lautes Knistern ertönte.

Die Frau mit der Brandwunde im Gesicht krächzte erschrocken. Ärzte und Helfer gingen auf Abstand, um nicht von den tanzenden Lichtbögen getroffen zu werden. »Zügeln Sie ihr Vieh, Hawk!«, rief jemand.

Mein Vieh – ha! Eher umgekehrt. Hawk behielt diesen Einwand aber für sich. Seine brechende Stimme hätte die Ironie zunichtegemacht. Der Okrill war nicht einschätzbar. Hawk rechnete jederzeit damit, bei ihm in Ungnade zu fallen.

Ein helles Kichern schallte durch die Medostation. In dieser Umgebung war es ebenso fremd und unpassend wie das Ungetüm an der Decke. Hawk blickte in Richtung des Gelächters.

Der Platz neben dem Bett des ängstlichen Latinos war plötzlich nicht mehr leer. Nun saß da ein kleines Pelzgeschöpf, kippelte mit dem Stuhl und balancierte auf einem breiten Biberschwanz, den es durch die Streben der Rückenlehne streckte. Hawk war sicher, dass dabei Telekinese im Spiel war. Das Fell des Wesens sträubte sich von der Statik, die Watsons »Mahlzeit« freisetzte.

»Hallo, Gucky«, grüßte Hawk. War der Ilt die ganze Zeit über da gewesen, und der Oxtorner hatte ihn in seiner Benommenheit bloß nicht bemerkt? Oder war der Mausbiber eben erst hierherteleportiert?

»Ich finde das nicht zum Lachen«, lallte der Bleiche. »Dieses Vieh wird uns am Ende töten. Ich habe die Verwüstungen in den Reaktorräumen gesehen. Einige der Verletzten sind seinetwegen hier.« Die letzten Worte verschliff er, sodass er kaum zu verstehen war. Er fixierte den Okrill, dann fielen ihm die Augen zu.

»Watson gehorcht nur, wenn er gehorchen will«, sagte Hawk entschuldigend. »Ich habe keinen Einfluss auf ihn.«

»Keine Sorge, Josue!« Ein einzelner Nagezahn ragte aus Guckys Oberkiefer. Lichtbögen spiegelten sich im Zahnschmelz. »Die Xenobiologin Danielle Pyme richtet im Arboretum gerade einen Okrillvergnügungspark ein. Bis es so weit ist, passen Omar und ich auf den Kleinen auf.« Er blinzelte erst dem Oxtorner, dann Watson zu, als sei der Okrill ein alter Freund.

Omar Hawk teilte Guckys Zuversicht nicht. Sein Vertrauen zu dem Geschöpf wuchs zwar, doch sie lernten sich nach wie vor erst kennen. Sogar Hawk kannte die vollen Fähigkeiten eines Okrills nicht. Schon als Kind hatten die Erwachsenen ihm beigebracht, diese Spezies zu meiden. Konnten die Umbauten im Arboretum, von denen der Ilt gesprochen hatte, Watson bändigen?

Der Latino reagierte nicht auf Guckys Zuspruch. Seine Augen blieben geschlossen, der Brustkorb hob und senkte sich sacht. Er war eingeschlafen.

»Was ist mit ihm?« Hawk musterte den Mann. Er schien nicht verwundet oder verletzt zu sein, gehörte also nicht zu den Opfern des Brands oder der Explosion – oder was auch immer in den Maschinensektionen geschehen war.

Gucky ließ den Nagezahn verschwinden. »Moncadas spürt Energiewellen aller Art. So nah an der galaktischen Kernzone gibt's davon natürlich reichlich. Die Strahlung macht ihm zu schaffen.«

»Warum ist er dann nicht auf Terra geblieben?« Die Bedingungen im Milchstraßenzentrum mussten den Terranern doch klar gewesen sein. Hawk verstand nicht, warum man ein Besatzungsmitglied absichtlich in Gefahr brachte.

»Es gibt Medikamente, die den Einfluss dämpfen.« Gucky stellte das Kippeln ein. »Normalerweise sollten die das lokale Energiechaos für Moncadas erträglich machen. Aber offenbar macht ihm etwas anderes zu schaffen. Wir wissen nicht, was.«

Das Knistern steigerte sich zu einem Höhepunkt, bevor es schlagartig verstummte. Watsons Zunge löste sich vom Stromanschluss und schnellte in sein offen stehendes Maul zurück. Ein Medotechniker, der gerade die Holoanzeige am Überwachungsmonitor eines der Krankenbetten ablas, stöhnte erleichtert auf.

»Hiii, Watson.« Abermals winkte Hawk den Okrill zu sich, erntete aber nur einen starren Blick aus leblosen Facettenaugen.

»Ist schon gut!« Der Chefarzt Drogan Steflov trat aus dem Bereitschaftsraum, der ihm als Büro diente, und machte einen respektvollen Bogen um den Okrill. »Um ihr Haustier kümmern Sie sich bitte später, Hawk. Schonen Sie Ihre Kräfte noch für ein paar Minuten. Es ist eigentlich ein Wunder, dass Sie überhaupt noch leben.«

Hawk sank aufs Lager zurück. »Sie übertreiben. Wann lassen Sie mich hier raus?« Inzwischen drängte es ihn danach, in die Zentrale zurückzukehren. NATHAN hatte ihn nicht ausgesandt, um die Mission im Bett zu verbringen. Auch wenn sein ursprüngliches Ziel Plophos gewesen war.

Der Mediziner eilte von Liege zu Liege, zeichnete die Behandlungsvorschläge der Positronik ab und legte einem jungen Techniker tröstend die Hand auf die Stirn. »Bald, Hawk. Ich musste Sie vorzeitig wecken. Wie Sie erkennen, gab es einen Zwischenfall. Ihr Zustand lässt mich rätseln, aber ich benötige jedes verfügbare Bett.«

Hawk nickte. »Das dachte ich mir schon. Was ist geschehen?«

»Die Shafakk.« Gucky fing wieder zu kippeln an. Diesmal wirkte es eher nervös als übermütig. Seine Schnurrhaare zitterten. »Diese Scheusale haben uns grundlos attackiert. Mentro Kosum hat die CREST II beinahe überfordert, um uns aus der Reichweite ihrer Waffen zu holen. Zum Glück wollten sie uns nur verscheuchen. Die hätten uns sonst pulverisiert.« Bezeichnend wies er auf die Verletzten.

Hawk begriff. Guckys gute Laune war gespielt. Der Mausbiber litt mehr unter dem abscheulichen Äußeren und dem kriegerischen Verhalten seiner »Verwandten«, als er zugab. War er aus diesem Grund hergekommen? Wollte er mit dem »Krankenbesuch« sein schlechtes Gewissen beruhigen? Immerhin stammte sein Volk von den Gegnern ab.

Ein Angriff von Shafakk, obwohl sich ein Omnit an Bord aufhält. Was geht im Compariat vor? Hawks Verlangen, endlich aktiv zu werden, wuchs.

Steflov trat vor die Medoeinheit am Fußende des Krankenlagers und klappte sie um, sodass der Oxtorner auf das holografische Anzeigefeld sah. Ein Sensorarm entfaltete sich und glitt über Hawk hinweg, um ihn von Kopf bis Fuß zu durchleuchten.

Hawk lag da und betrachtete sein Inneres. Schicht um Schicht entstand ein dreidimensionales Abbild seines Körpers. Sein schmales Skelett wurde von Blutbahnen überlagert, dann von Organen. Muskeln zeichneten sich über dem Knochengerüst ab. Schließlich überzog Haut die Holokopie. Sie blieb halbtransparent.

Watson hockte wie versteinert hinter Steflov, glotzte auf das Holo. Hawk fragte sich, was der Kreatur durch den Kopf ging.

»Es geht Ihnen schon besser?« Der Arzt wirkte erstaunt.

Hawk horchte in sich hinein, wertete die Schmerzimpulse aus, die seine Nerven lieferten. Die bleierne Müdigkeit verflog mit jedem Atemzug mehr. Der Schwindel ließ nach. Sein Herz schlug unregelmäßig, wohl infolge des Herzanfalls, den er bei seiner Ankunft erlitten hatte. Doch die Rhythmusstörungen waren zu vernachlässigen. Einem Terrageborenen, vermutete er, wären sie gar nicht aufgefallen.

»Ja«, antwortete er schließlich. »Ich vermute, in Ihren Augen ist das ungewöhnlich.«

»Alles an Ihnen ist ungewöhnlich. Ich habe nie Muskulatur in solcher Dichte gesehen.« Steflov rief ein zweites Hologramm auf und schob es zum Vergleich neben das erste.

Auf einen flüchtigen Blick zeigten beide Holos das identische Bild: die Anatomie eines Manns, mit halbtransparenter Haut und darunter sichtbaren Knochen sowie Organen. Erst beim zweiten Hinsehen begriff Hawk, dass es sich um verschiedene Personen handelte.

»Diesen Scan habe ich von mir selbst angefertigt, beim Aufbruch der CREST II. Er war Teil der üblichen Funktionstests.«

Als Steflov die oberen Hautschichten komplett ausblendete und die Schulterpartien beider Abbildungen vergrößerte, wurden die Unterschiede deutlich erkennbar. Hawks Muskelfasern waren dünner, dafür hatte er in etwa die doppelte »Muskelmasse« – ohne dass seine Arme merklich dicker gewesen wären.

Gucky stieß einen Pfiff aus. Er verließ den Platz an Moncadas' Seite und watschelte vor das Holo. »Im Armdrücken hättest du gegen diese ... Kompaktkonstitution keine Chance, Drogan. Es sei denn, ich helfe telekinetisch nach.«

Steflov wischte beide Holos beiseite. »SENECA hat mir Überwachungsaufzeichnungen Ihrer Ankunft gezeigt, Hawk. Ich wusste, dass Sie über ungewöhnliche Körperkräfte verfügen. Ich hatte auf Implantate getippt, Prothesen oder eine Stimulation durch hyperanabole Substanzen. Die Umweltanpassung an Ihren Heimatplaneten erklärt jedoch Ihre Widerstandsfähigkeit.«

»Es hat seine Vorteile. Oxtorne ist eine harte Welt.« Hawk lächelte. NATHAN hatte seine Kolonie im Geheimen aufgebaut. Zum Genom der Bevölkerung war außerhalb der Hyperinpotronik nichts verzeichnet. Die Verblüffung des Mediziners war somit verständlich. Hawk seinerseits kamen die Menschlein von der Erde geradezu zerbrechlich vor.

Ein Signalton kündigte eine Nachricht aus der Zentrale an. Wenig später klang Perry Rhodans Stimme aus einem Akustikfeld. »Gucky, ich brauche dich.«

»Soll ich wieder das Universum retten? Ich dachte, Kosum hätte die Lage im Griff.«

Hawk hörte zu. Durch Gucky wusste er von dem Beinahegefecht gegen die Streitkräfte des Omnitischen Compariats, wobei ihm noch immer ihm die Hintergründe fehlten. Konnte er aus dem Gespräch mehr erfahren?

»Die CREST II steht im Ortungsschutz eines Blauen Riesen«, informierte Rhodan. »Unsere Langstreckensensoren konnten die Raumregion kartieren. Inzwischen liegen erste Ergebnisse vor. Die solltest du dir ansehen!« Er beendete die Verbindung.

Gucky zeigte den Nagezahn. »Ich könnte aus seinen Gedanken lesen, worum es geht. Aber ich würde mir die Überraschung verderben.« Er grüßte zum Abschied und wandte sich zum Gehen. Das verdickte Hinterteil mit dem ausladenden Biberschwanz wiegte bei jedem Schritt auf und ab.

»Warte! Ich komme mit.« Hawk setzte sich auf. Sekundenlang kehrte das Schwindelgefühl zurück, sein Herz pochte unter der Belastung.

Steflov legte ihm die Hand auf die Brust, wollte ihn aufs Lager zurückdrücken. »Sie sind noch nicht so weit. Ich muss noch weitere Untersuchungen anstellen, bevor ich Sie entlassen kann.«

Der Versuch, Hawk aufzuhalten, war lächerlich. Der Oxtorner spürte die Berührung kaum. Mühelos schüttelte er den Griff ab und schwang die Beine über den Rand der Liege. »Sagten Sie nicht, Sie bräuchten freie Betten?«

Steflov rollte mit den Augen. »Positronik! Patient fixieren!«

»Übertreibst du's nicht, Drogan?« Gucky hielt am Ausgang inne.

Omar Hawk kannte die Konfiguration von Rechnern, wie sie auf der CREST II verbaut waren. Die Positronik der Medostation war ein untergeordnetes System von SENECA, das unabhängig vom Bordgehirn entschied. Sie befolgte den Befehl des Chefarztes, indem sie einen Emitter im Kopfende der Liege aktivierte und ein Fesselfeld aufbaute.

Hawk fühlt sich jäh niedergedrückt. Er spannte die Arme, kämpfte gegen die unsichtbare Macht an, doch das Feld passte sich seinen Kräften an. Normalerweise hätte er sich durchsetzen können. Aber nicht in seinem geschwächten Zustand. Hatte der Mediziner recht, wenn er den Patienten dabehalten wollte? Aber Hawk hatte einen Auftrag zu erfüllen. Seine Gesundheit war zweitrangig.

Es war Watson, der ihn rettete. Der Blick des Okrills war starr auf ihn gerichtet. Als Hawk vor Anstrengung ächzte, öffnete Watson das breite Maul.

Es ging zu schnell, als dass Hawk jemanden hätte warnen können. Die rosafarbene Zunge schoss fingerbreit an Steflovs Oberarm vorbei und blieb am Fesselfeldemitter kleben.