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Hans-Otto Thomashoff

Im Wahn gefangen

Kriminalroman

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Zum Buch

Gegensätze Inspektor Sperling ist kultivierter Bohemien, Opernliebhaber und Dackelbesitzer: ein Wiener aus vergangenen Tagen. Widerwillig stolpert er in einen Fall, bei dem er selbst zum Opfer wird. Ein Psychiatrieprofessor hat ein Heilmittel für Schizophrenie gefunden und ist untergetaucht, weil ein Pharmamulti ihn und seine Entdeckung vernichten will, um das eigene Medikament zu schützen. Da Sperling von der Tochter des Professors um Hilfe gebeten wird, gerät er auf die Abschussliste des Pharmakonzerns. Eines Mittags wird er von Fremden niedergeschlagen und entführt. Der Inspektor erwacht in der Psychiatrie am Steinhof, wo er als vermeintlich psychisch Kranker gegen seinen Willen festgehalten wird. Als ihm klar wird, welch grauenvollen Plan der Pharmamulti in Wahrheit verfolgt, kämpft er mit allen Mitteln, um ihn aufzuhalten. Kann Sperling aus der Psychiatrie fliehen und die Umsetzung des Plans verhindern?

Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater und Kunsthistoriker. Er arbeitet als Psychoanalytiker und Psychotherapeut in eigener Praxis in Wien. Er ist Ehrenmitglied des Weltpsychiaterverbandes und Präsident der Sektion für Kunst und Psychiatrie, wissenschaftlicher Beirat in der Sinn-Stiftung und Aufsichtsrat der Sigmund-Freud-Privatstiftung. Zudem ist er Autor von Sachbüchern zur praktischen Anwendung von Hirnforschung im Alltag und Schöpfer von Wiener Kriminalromanen, die die Atmosphäre der alten Kaiserstadt einfangen zwischen Oper und Psychoanalyse, zwischen Big Business und den Abgründen der Geschichte.

 

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Karl Allen Lugmayer /
stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6682-3

Widmung

Alexandra gewidmet

Gedicht

Mir ist der Hals wie ein Fabrikschlot

Ein Schornstein in größter Not !

Die Luft ist wie ein Schwangeres Tier

Es will raus aus mir

Die Wehen pressen sich Kratzcent

Durch den Schlund

Auf macht sich der Muttermund

Tut Schmatzen Schlucken gar Spucken

Wieder eine Totgeburt

Wieder ein Lebensriss

Heinz Müllerh, 02. November 2004

Bevor es losgeht

Die vorliegende Geschichte ist frei erfunden. Alle Orte, an denen die Geschichte angesiedelt ist, sind reale Orte, die mit ihrer allgemeinen Bekanntheit und ihrer historischen Bedeutung die Authentizität der Geschichte ermöglichen. Der Steinhof ist wie die Staatsoper ein bekanntes Kulturgut, ein Gesundheitszentrum Nibelheim gibt es jedoch weder am Steinhof noch anderswo und wird es so hoffentlich nie geben. Sämtliche Firmen, Kliniken, Sekten sind ebenfalls frei erfunden – dies gilt auch für die handelnden Personen – und sollen in keiner Weise realen nahekommen oder gar suggerieren, hier trage sich Vergleichbares wie in der Geschichte zu. Dem Kenner wird nicht entgehen, dass die Figuren von der Welt aus Richard Wagners Ring inspiriert wurden. Wagner und Psychiatrie, das war einfach eine zu verlockende Kombination, um sie nicht literarisch zu nutzen. In dem langjährigen Bestreben, auf die Stigmatisierung psychisch Kranker und deren Ausgrenzung aufmerksam zu machen, war es mir ein Anliegen aufzuzeigen, dass es keine scharfen Grenzen zwischen »krank« und »gesund« gibt, dass jeder von uns in Situationen geraten kann, in denen er auf das Verständnis und auf die genuin menschliche Hilfe anderer angewiesen ist. Mein Wunsch ist, dass dieses Verständnis den Grundstein für das Bestreben legt, jedem anderen mit Achtung und Würde zu begegnen, wie auch immer sein aktueller Zustand gerade sein mag. Dafür war es wichtig, in die Extreme der menschlichen Psyche einzusteigen, mit ihren Ängsten, ihrer Aggression, ihrer Verzweiflung, ihrem Wahnsinn, aber auch mit ihrem unausrottbaren situativen Humor, der gelegentlich bitter sein kann.

1

»Sie müssen mir helfen!«

Die Angst in ihrer Stimme war spürbar. Noch bevor er seinen Namen hatte nennen können, warf ihm die Unbekannte diese Worte durch das Telefon an den Kopf.

»Ja, bitte, mit wem spreche ich denn?«

»Es geht um meinen Vater. Er ist in höchster Gefahr!«

Sperling befand sich gerade auf dem Weg in die Mittagspause, hatte kurz innegehalten, als der Anruf gekommen war, wäre beinahe über seinen zu lang geratenen Zwergdackel Marilyn gestolpert und ärgerte sich jetzt darüber, dass seine Neugier größer gewesen war als sein Hunger. »Ich glaube, Sie sind bei mir nicht an der richtigen Stelle. Hier ist die Mordkommission. Das heißt, wir sind nur zuständig, wenn es einen Mord gegeben hat. Ich stelle Sie zu einem Kollegen durch.«

Er wollte sie abwimmeln. Wer in Gefahr war, lebte allem Anschein nach noch. Doch sie unterbrach ihn.

»Lassen Sie mich nicht im Stich.«

Ihre Not traf einen Nerv in ihm. Er versuchte, sich dagegen zu wehren. »Es tut mir leid, aber bei uns hat halt alles seine Ordnung.«

Ein solcher Satz aus seinem Munde, er biss sich auf die Zunge. Mit seiner Zuständigkeit war es wie bei den Leichenwagen, in denen keine Kranken transportiert werden durften, so wie umgekehrt in Krankenwagen keine Leichen. Sie waren kein Mordverhütungsdezernat, leider. Das Gesicht seines Vorgesetzten wollte er sehen angesichts einer Messingtafel an dessen Tür: »Oberst Stankovic, Verhütungsdezernat Wien«.

»Mein Vater ist Professor Lapinsky.«

»Aha.« Den Namen hatte Sperling nie gehört, wartete ungehalten auf eine Erläuterung.

»Sie kennen ihn sicher aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung, der Biochemiker aus Heidelberg.«

»Der Biochemiker aus Heidelberg«, wie sie das sagte, als ob es dort nur den einen gäbe. Nicht, dass Sperling überhaupt einen Biochemiker gekannt hätte oder einen gewöhnlichen Chemiker oder auch sonst jemanden aus Heidelberg. Da beschlich ihn ein Verdacht. »Mit Verlaub, aber heißt das, dass Ihr Vater in Heidelberg und gar nicht in Wien ist?«

»Ja, das stimmt. Aber ich, ich lebe doch in Wien.«

Sperling räusperte sich, fragte sich, was ihn dieser nicht einmal existierende Fall überhaupt anging. Nervös blickte er auf seine Taschenuhr, wie um irgendetwas Sinnvolles zu tun, die Zeit, die er mit diesem Telefonat vergeudete, zu legitimieren. Hätte ihn nicht die Verzweiflung im Klang ihrer Stimme eigentümlich in ihren Bann gezogen, er hätte den in Wien üblichen, immer die Form wahrenden Umgangston über Bord geworfen und wäre dem Drängen seines wenig auf Etikette bedachten Magens gefolgt, der inzwischen zum Protest aufrief. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, rufen Sie mich also bei der Mordkommission an wegen eines Mordes, der sich erstens gar nicht ereignet hat und zweitens nicht einmal hier, sondern in Deutschland?«

Sein Bemühen um eine förmliche Sprache sollte seinen Worten Autorität verleihen, was sie ignorierte, vielleicht, weil sie die Gepflogenheiten der Stadt nicht kannte oder weil stärker war, was sie von ihm wollte. Sie wirkte verletzlich, war voller Furcht, das berührte ihn. Er hatte Hunger, und doch ertappte er sich dabei, wie er sich in Gedanken ihr Erscheinungsbild auszumalen begann. Die Direktheit ihres Hilferufes hatte etwas Schamloses an sich, dem er sich nicht entziehen konnte.

»Sie müssen mir helfen. Ich habe es schon überall versucht. Mein Vater ist ein Genie. Er hat die Lösung gefunden. Er weiß, wie man Schizophrenie heilen kann, für immer. Er ist die Hoffnung für Millionen Kranke. Deshalb sind sie hinter ihm her.«

»Die Kranken?« Sperling kannte sich nun gar nicht mehr aus, verlor die Geduld.

»Die Industrie mit ihren Machenschaften, sie wollen ihn beseitigen. Da ist eine Verschwörung im Gange.«

Eine Verschwörung, wie ein Signal wirkte dieses Wort. Sperling hatte genug. Wie oft schon waren ihm unsinnige Verschwörungstheorien aufgetischt worden, gefragt und ungefragt, bei seinen Ermittlungen oder einfach so, irgendwo im Gewirr der Gassen dieser Stadt, die den Irrsinn magisch anzuziehen schien. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber könnte es sein, dass Sie selbst mit der Psychiatrie, ich meine …?«

»Ja sicher, gerade deswegen ist es doch so wichtig für mich. Sie dürfen mich nicht abweisen. Ich muss Sie treffen und Ihnen alles erzählen. Aber wir müssen vorsichtig sein, auch ich werde verfolgt.«

Sperling seufzte, während Marilyn, ganz Dackel, ausgehbereit an der Bürotür stand und ihn mit ihren dunklen Augen anbettelte. Warum ich?, schoss es ihm durch den Kopf, doch er hütete sich davor, das zu fragen. Irgendeine geisteskranke Person rief ausgerechnet ihn an, zwängte sich ohne Rücksicht in seine geschätzte Mittagspause, hielt ihn gefangen, verpflichtete ihn ganz gegen seinen Willen. Kam er nicht sonst immer zu spät, dann, wenn ein Mord bereits geschehen war und es kein Zurück mehr gab? Sperling war durcheinander, fühlte sich einer unsichtbaren Macht unterworfen, sah offenen Auges dabei zu, wie er sich auf etwas einließ, das ihn nicht nur um sein Mittagessen zu bringen drohte. Ratlos blickte er zu Marilyn hinab und beneidete sie um die Selbstverständlichkeit, mit der sie schwanzwedelnd auf ihr Recht pochen konnte.

Sperling gab also nach. In dem Versuch, das Beste aus der Situation zu machen, verabredete er sich mit der Unbekannten »zu einem kurzen Treffen«, wie er sagte, in der Börse. Sie arbeite dort in dem Blumenladen, hatte sie gemeint. Der Wiener Wertpapierhandel selbst hatte das prachtvolle Gebäude am Ring längst verlassen, weil er sich dessen Luxus nicht mehr hatte leisten können. Die Zeiten Maria Theresias, als Wien größter Börsenplatz der Welt gewesen war, lagen weit zurück. So wie das ganze Land entgegen dem Willen seiner Protagonisten lediglich noch eine Nebenrolle auf der Weltbühne spielte, hatte auch die Börse jahrelang in einem Etagenbüro in einer kleinen Seitengasse ihr karges Dasein gefristet. Erst jüngst war sie dann ausgerechnet in jenes Innenstadtpalais übersiedelt, in dem angeblich zum ersten Mal in Wien die Marseillaise erklungen war. Wie dem auch sei, an das Blumengeschäft lag ein Restaurant angeschlossen – eingebettet in die Pracht und in den Duft frischer Blüten –, weshalb Sperling sich für seinen außerordentlichen und ungewollten Einsatz zumindest mit einem guten Essen belohnt wissen konnte.

Draußen sprang Marilyn erleichtert voraus. Da sie nicht wusste, wohin sie gingen, drehte sie sich immer wieder vergewissernd um. Es war ungewöhnlich warm draußen. Als sei es ihr letztes Mal, bäumte sich die Sonne auf und gewährte den Bewohnern der Stadt eine Atempause vor den frostigen, nebelverhangenen Tagen und Nächten, aus denen es bald kein Entrinnen mehr geben würde. Sperling sog ihre Kraft ein, so tief es ging, ließ sich von ihren Strahlen in Gedanken zurücktragen zu den Sommerwochen am Meer. Dort, fern jeder Alltagsrealität, waren Chiara und er sich näher gewesen als jemals zuvor. Sie war seine langjährige Geliebte, seine einzige Vertraute, seine Ahnung vom wahren Leben. Und doch blieb ihre Beziehung verworren, war es ein Hin und Her, in dem sie lebten und sich liebten. Zu viel trennte sie. Sie entstammte einer steinreichen Reederfamilie aus Triest. Ihr Urgroßvater war vom Kaiser in den Adelsstand erhoben worden, und standesgemäß hatte er sich ein Palais in Wien in Hofburgnähe gekauft. Während Chiara in der Welt herumjettete und sich vor allem in Afrika für Wohltätigkeiten engagierte, war Sperling ein klassischer Wiener Staatsbeamter wider Willen. Aus dem Streben nach Sicherheit heraus war er dem Reiz des Beamtendaseins erlegen, obgleich es so gar nicht zu seiner wahren Natur passen wollte. Mehr durch Zufall, genauer durch die Empfehlung eines alten Schulfreundes, der seinen Posten zuvor innegehabt hatte, war er bei der Kriminalpolizei gelandet. Sein Vorgänger, ein Inspektor Federer, war einfach verschwunden. Wahrscheinlich hatte er Hals über Kopf das Handtuch geworfen und war ausgestiegen. Komplett auf irgendeine Südseeinsel. Sogar seinen Hund hatte er dagelassen, im Dezernat bei seinen Kollegen. Keiner hatte ihn in ein Tierheim geben und keiner hatte ihn haben wollen, und so war Sperling zusätzlich zu seiner Anstellung auch gleich auf den Hund gekommen. So verschieden Chiara und er auch waren, verband sie beide dennoch mehr, als andere je erfahren würden. Ihm war, als könne er sie jetzt beinahe spüren. Er lehnte sich auf gegen ihre Unerreichbarkeit. Der vergangene Sommer hatte sein Versprechen erfüllt, war jedoch unwiederbringlich zu Geschichte geworden. Sperling war wieder allein. Im Herbst hatten sie sich noch einmal gesehen, seither hatte er nichts von Chiara gehört. Aber brauchten sie nicht diese Trennungen, weil ohne die Distanz zwischen ihnen die Bedingungslosigkeit ihrer Liebe nicht aufrechtzuerhalten wäre? Oder redeten sie sich das nur ein?

Erst als Marilyn wie angewurzelt stehen geblieben war, weil sie sich weigerte, ihre Pfoten auf die in das Souterrain führende Metalltreppe zu setzen, bemerkte Sperling, dass er bereits am Ziel seines kurzen Spaziergangs angelangt war. Er hob den Hund hoch und trug ihn hinab. Das prachtvolle Stiegenhaus durchquerend, trat er auf eine unscheinbare Tür mit dem Namen des Restaurants zu, öffnete und fand sich in dem schmalen Gang direkt neben der Küche wieder, in der gerade Hochbetrieb herrschte. Von dort aus erreichte er den Speisesaal und zwängte sich zwischen geschäftig speisenden Büroangestellten und Damen auf Einkaufspause hindurch, bis zur halbrunden Verkaufstheke des Blumenladens, wo er, den Blicken einer der Verkäuferinnen nach zu urteilen, bereits erwartet wurde.

Der Hund auf dem Arm war das vereinbarte Erkennungszeichen, aber die Wartende schien nur Sperlings Augen zu sehen, gab sich wie von ihnen hypnotisiert. Das schmeichelte ihm, traf sich auch mit der lasziven Barmusik, die den Raum erfüllte, doch Sperling mochte ihre Begehrlichkeiten nicht erwidern. Hatte ihn seine Fantasie so trügen können, fragte er sich erschrocken. Er rechnete sich nicht zu den Menschen, die nach Äußerlichkeiten urteilten, aber ihre Erscheinung übte so gar keine Anziehungskraft aus auf ihn. Er fand die Art, wie sie ihn anstarrte, aufdringlich und ohne jeglichen Reiz. Er war beruflich hier, bestärkte er sich. Der wahre Beweggrund für sein Kommen, diese undefinierbare Anziehungskraft ihrer Stimme am Telefon, schien nie existiert zu haben. Sie sog ihn förmlich auf, doch er widerstand ihr spielend leicht und zog sich zurück auf seine Rolle als ermittelnder Kriminalbeamter in einem Fall, den es gar nicht gab.

2

Die Blumenfrau sprang auf Sperling zu und redete auf ihn ein, ohne ihren Vater eines einzigen Wortes zu würdigen. Ihr Blick hing fest an seinen Lippen, und seine höflich hilflosen Versuche, sie abzuschütteln, scheiterten kläglich. Es war helllichter Tag, und sie spielten »Strangers in the Night«. Unweigerlich musste Sperling an die Fangarme des Oktopus denken, der ihm vorhin in einer Vitrine der Restaurantküche aufgefallen war. Die immer noch Unbekannte stand zu dicht vor ihm. Er hasste aufgezwungene Nähe. Der Regen feiner Speicheltropfen, den sein Vorgesetzter regelmäßig versprühte, wurde durch die Weite von dessen übergroßem Schreibtisch abgefangen, hier war es anders. Marilyn lag an Sperlings Brust, ruhig, unbeteiligt. Die Distanzlose sagte, sie liebe Hunde.

»Ist der süß, Ihr kleiner Dackel. So einen habe ich auch einmal gehabt. Aber er ist leider gestorben, es war schrecklich.«

»Entschuldigen Sie, ich denke, wir sollten jetzt …«

»Sie verstehen das sicher. Stellen Sie sich vor, ihn einfach zu verlieren.«

»Ihr Vater …«

»Mein Vater? Ach, der ist so süß, der Kleine. Lässt er sich streicheln? Wie heißt er denn?«

Während die an Reizen Arme so weitersprach, ohne dass ihr an einer Antwort auf ihre Fragen gelegen zu sein schien, streckte sie ihre Hand nach Marilyn aus. Auch der Hund entkam ihr nicht, dachte Sperling. Marilyn nahm es gelassen. Da berührte die Hemmungslose Sperlings Arm, wie zufällig und doch plump. Er schreckte zurück, reflexartig. Wo war sein sonst von Toleranz geprägtes Menschenbild angesichts der penetranten Aufdringlichkeit dieser Person? Ihm war, als müsse er sich gegen einen Angriff zur Wehr setzen, und dabei hatte er doch nur helfen wollen. Doch für die Art von Hilfe, die sie von ihm begehrte, war er nicht der richtige Mann, dessen war er sich sicher. Er gab sich Mühe, brüsk und abweisend zu wirken. Noch machte er nicht auf dem Absatz kehrt, weil ihn aus reiner Neugier interessierte, was es mit der ominösen Bedrohung auf sich haben mochte. Sie aber blieb bei ihren verbalen Belanglosigkeiten.

»Feiern Sie und Ihr süßer kleiner Hundi denn bald Weihnachten zusammen?«

»Nein, wir feiern nicht. Sie ist Jüdin, gerade konvertiert, aber …«

»Oh, er ist eine sie.« Und schon floss er weiter, der Wortschwall, in dem es für Sperling kein Halten gab. Es gelang ihm nicht, sein Anliegen vorzubringen, das ja eigentlich das ihre war. Nickend wie einer jener Plastikdackel auf der Hutablage eines Autos stand er an der Theke mit knurrendem Magen und ließ es mit sich geschehen. Er betrachtete sie, ohne ihr zuzuhören, rätselte, was einen Menschen wie sie nur dazu bewegen mochte, sich so gehen zu lassen. Ihre Körpermaße versinnbildlichten ihre ausufernde Gier, alles zu verschlingen, selbst ihn, hier vor aller Augen. In dem zaghaften Bestreben, ihr zu entkommen, setzten sich Sperlings Füße kaum merklich in Bewegung und trugen ihn in kleinen rückwärtigen Schritten zu den Blumenregalen hin, aber die mutmaßlich Wahnsinnige – hatte sie nicht selbst von der Psychiatrie gesprochen? – blieb an ihm hängen wie eine Klette. Da, wieder wurde er berührt, diesmal an der Schulter. Sperling erschrak aufs Neue, sprang zur Seite.

»Entschuldigen Sie.«

Jetzt war es gar nicht sie, die ihn antippte, sondern ein ihm engelsgleich erscheinendes Geschöpf. Herausgerissen aus seinem erfolglosen Fluchtversuch, hatte er sich umgewandt und blickte nun in zwei grünlich schimmernde Augen, deren jugendlicher Glanz eine so große Anziehung auf ihn ausübte, dass seine Wangen schamhaft erröteten.

»Sie müssen der Inspektor sein.«

»Ich? Ja. Wieso?«

»Ich hatte Sie vorhin angerufen.«

»Ach Sie waren das. Und nicht Sie?« Die zweite Frage hatte er an seine bisherige Gesprächspartnerin gerichtet, aber keine der beiden Frauen verstand ihn, und es gab eine verlegene Pause. Sperling kannte sich zwar aus auf dem glatten Parkett der Wiener Förmlichkeiten, doch wenn Konflikte in der Luft lagen, wurde es ihm zu viel und er kam zu dem Entschluss, dass er heute auf sein Mittagessen verzichten würde. »Ich, ich glaube, ich gehe dann jetzt. Es war eine absolut unsinnige Idee von mir, hierherzukommen.«

»Nein. Gehen Sie nicht.«

Wie einstudiert kam die Antwort gleichzeitig aus beider Munde. Sperlings Sympathie flog ganz der ihm himmlisch anmutenden Schönen zu, was die Gesichtszüge ihrer unvorteilhaften Gegenspielerin zum Entgleisen brachte. Nervös zupfte sich Sperling am Kragen. Er war kein Freund von Auseinandersetzungen, schon gar nicht, wenn sie seinetwegen eskalierten, und fühlte sich bestärkt in seinem Entschluss zu gehen, selbst wenn er dafür darauf verzichten müsste, die Hintergründe des ominösen Anrufs zu erfahren, und nicht nur darauf.

»Gudrun, lass uns allein. Ich habe eine Verabredung mit dem Herrn.«

Widerwillig folgte die Aufgeforderte, verschwand hinter dem Grün der dicht gestellten Topfpflanzen.

»Bitte, bleiben Sie.«

Sperling war allein mit der Anruferin, allein unter dem weiten Tonnengewölbe, inmitten der Farbenpracht tropischer Orchideen und riesig anmutender Farnwedel, umwoben von Musik, die sonst nur gewissen Stunden vorbehalten war. Sie war schön. Nicht nur ihre ebenmäßigen Züge und ihre grünlich schimmernden Augen, ihre vollen Lippen und ihr luftig wallendes offenes Haar hatten etwas unverschämt Verführerisches, es war vor allem das Direkte ihrer Art, das die Anbetungswürdige noch jugendlicher erscheinen ließ, als sie sein mochte, und etwas entwaffnend Lebendiges hatte. Sperlings Kompliziertheiten schien sie einfach zu überspringen. Der fleischfressende Kelch einer Kannenpflanze, von dem er Marilyn fernhielt, erinnerte ihn noch einmal flüchtig an die unliebsame Begegnung, der er soeben entkommen war. Worauf er sich jetzt einließ, lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Unvermittelt blickte die Anmutige irritiert um sich, drängte ihn in eine zwischen Sträuchern versteckte Ecke und flüsterte ihm zu: »Ich sagte Ihnen schon, ich werde verfolgt.«

Geheimnisvoll und zugleich keck sah sie ihn an, stand unter einer Vanillestaude, deren Duft betörend war. Einen kaum merklichen Augenblick lang nur lag ein zerbrechlicher Ausdruck in ihrem Blick, der Sperling signalisierte, dass sie hinter ihrer Stärke und Bestimmtheit zart war und seines Schutzes bedurfte. Er spürte, wie das die Macht seines Willens brach. Stundenlang hätte sie jetzt sprechen können, er hätte ihr nur dabei zuschauen, sich dem wohligen Kitzel, den sie in ihm weckte, aussetzen mögen. Beinahe achtlos streifte ihre Hand eine der samtenen schneeweißen Blütenspitzen, offenbar ohne dass ihr klar war, welche Wirkung sie damit auf ihn ausübte. Oder ahnte sie es doch? Warf sie nicht ihr Haar mit einem leichtfertigen Schwung zur Seite, der absichtsvoll sein musste, vom Spiel ihrer Lippen ganz zu schweigen? Ihre Worte nahm Sperling nur noch gedämpft wahr, wie durch einen Nebel betörender Klänge hindurch.

»Wie ich Ihnen am Telefon bereits andeutete, hat mein Vater den entscheidenden Durchbruch in der Behandlung der Schizophrenie erzielt.« Wieder schaute sie sich nervös um. »Weltweit suchen alle großen Pharmakonzerne danach.«

Ihn ging nichts an von dem, was sie sagte. Sein Hunger war längst verflogen. Der süßliche Blütenduft, ihr Anblick, die Bewegungen ihres Körpers, alles war losgelöst von ihrem Bericht, sprach eine eigene Sprache, die ihn in einen gemeinsamen Tanz mit ihr zu ziehen schien, in den er sich willig hineinfallen ließ.

»Sie wollen seine Arbeit vernichten, haben bereits bei ihm zu Hause nach Unterlagen gesucht, ihm gedroht!«

Ein Einbruch in Deutschland, das hatte wirklich nichts mit seinem Aufgabenbereich zu tun, bestätigte Sperling sich und lächelte doch verständnisvoll.

»Wenn er nicht bereit ist, mit ihnen zu kooperieren, dann werden sie ihm etwas antun. Ich habe Angst um ihn!«

Ihre Anziehungskraft auf Sperling wurde mit jedem Moment, den er ihr weiter lauschte und zusah, unwiderstehlicher. Marilyn lag immer noch ruhig an seiner Brust, und beiläufig begann er sie zärtlich zu streicheln.

»Der Markt für Psychopharmaka ist ein Milliardengeschäft, das sich die Firmen sorgfältig untereinander aufgeteilt haben. Das sind Dimensionen, von denen man sich normalerweise keine Vorstellung macht. Nehmen Sie nur zum Beispiel Prozac®. Das wird in den USA so häufig verschrieben, dass es sich bereits im Trinkwasser angereichert hat und für die zunehmende Unfruchtbarkeit vor allem in den großen Städten mitverantwortlich gemacht wird.«

Sperling hatte von all dem bislang nichts gehört, fragte sich, ob es schon bald mit Viagra® ähnliche Probleme geben würde – wenn auch mit anderen Konsequenzen.

»Durch die Entdeckung meines Vaters werden alle existierenden Medikamente zur Schizophreniebehandlung mit einem Schlag überflüssig und erst recht die ganzen Mittel gegen deren Nebenwirkungen. Er ist in Gefahr, hält sich jetzt an einem geheimen Ort versteckt, um dort die letzten Ergebnisse zusammenzutragen und sie auf einer Internetseite zu veröffentlichen, damit sie für jeden zugänglich werden. Wenn ihm das gelingt, können sie ihm nichts mehr anhaben, weil sein Wissen sich dann blitzartig verbreiten wird und nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.«

Ihre Geschichte, sofern sie denn stimmte, gewann an Konturen. Sie hatte immer noch nichts mit Sperling zu tun, doch etwas an der Art der Fremden übte eine unwiderstehliche Macht auf ihn aus, war das passende Gegenstück zu seiner komplexbehafteten Gehemmtheit. Sie hielt inne, blickte ihn fragend an, ob er sie verstanden habe, und er nickte. Ja, er fühlte, er würde sie verstehen.

»Wir müssen vorsichtig sein. Ich denke, wir sollten besser nicht zusammen gesehen werden. Können wir irgendwohin verschwinden, wo wir ungestört sind?«

Nichts wünschte er sich im Moment mehr, und gerade das irritierte ihn. Und doch, wenn ihre Augen auch nur eine Spur von dem hielten, was er in sie hineinzulesen versucht war … Er zögerte, blickte verstohlen zur Seite. Je stärker es ihn zu ihr hinzog, desto mehr gemahnte ihn eine innere Stimme zur Flucht. »Also ich weiß nicht, und eigentlich wollte ich etwas essen.«

Sie lächelte ihn an, entwaffnend.

»Ich kümmere mich darum. Bleiben Sie noch einen Moment hier, und gehen Sie dann zu dem Ausgang, der gleich hinter der Küche liegt. Ich werde Sie im Stiegenhaus wieder treffen.«

Noch bevor er etwas entgegnen konnte, war sie verschwunden.

Sollte er sie mit in sein Büro nehmen, schließlich handelte es sich ja um einen Fall? Möglicherweise jedenfalls. Er musste sich im Internet vergewissern. Gäbe es die Website, von der sie gesprochen hatte, wirklich, konnte etwas dran sein an ihrer Schilderung. Aber das ließe sich auch von Zuhause aus überprüfen, dazu musste er nicht aufs Dezernat. Sicher, er war Kriminalbeamter, aber bislang gab es keine offizielle Ermittlungssache, sondern eher so etwas wie eine persönliche Beratung außerhalb jeder beruflichen Zuständigkeit. Eine Biene setzte sich direkt vor seiner Nase auf eine der weißen Orchideenblüten, und Marilyn versuchte nach ihr zu schnappen – erfolglos. Ihm war heiß. War er im Begriff, sich zu verlieben? Es war ein Gefühl, das ihn kribbelnd packte, ihn mit sich riss wie ein rauschender Strom, dem er sich nicht entgegenzustemmen vermochte und auch nicht wollte. Hatte er dieses ewige Alleinsein nicht satt? Sie war ein Engel, vom Himmel gefallen, er kannte sie erst seit Minuten, wusste nicht einmal ihren Namen, und doch war sie wie ein offenes Buch für ihn. Oder redete er sich das alles nur ein, erlag er einer Illusion? War es nur der Reiz ihrer Jugend, weil er damit haderte, dass sein Alter mit ersten grauen Haaren sein Recht einforderte? Ratsuchend blickte er Marilyn an, die er immer noch eng an sich gepresst hielt, doch sie wusste ihm nicht zu helfen.

Er beschloss, es einfach geschehen zu lassen, was auch immer es sein mochte, und begab sich, ihrer Anweisung folgend, ins Stiegenhaus, wartete dort an eine der Marmorsäulen gelehnt. Mit Chiara verband ihn viel. Hatte er nicht doch die ganzen Jahre über mit der versteckten Hoffnung gelebt, er könne sie eines Tages zum Bleiben bewegen, und war er damit nicht gescheitert, endgültig? Starr blickte er vor sich hin. Seine Liebessehnsucht war eindeutig im Moment stärker als sein analytisches Denken.

Marilyn wurde unruhig, da legten sich ihm von hinten Hände auf die Augen. Sperling erschrak nicht, schmunzelte stattdessen. Das konnte nur die vertraute Fremde sein. Und sie war es auch.

»Ich habe etwas Feines für uns«, hauchte sie ihm zu. »Austern.«

Mochte er, zuckte es ihm durch den Kopf, sich am helllichten Tag mit Austern satt essen? Spielte sie damit subtil an auf die kommenden Stunden oder auf den Altersunterschied zwischen ihnen? Er lächelte zustimmend.

»Sag, wo müssen wir hin? Wir sollten nicht zusammen gesehen werden, und da ist es besser, wenn ich vorausgehe und du mir dann einen Augenblick später nachkommst.«

Sein Lächeln hielt sich, und er nickte wortlos.

»Nun?«

»Ach so, ja. Schottengasse.«

Der Koch musste sie gut kennen, Austern, dachte Sperling.

»Ja, und wo in der Schottengasse?«

»Nummer drei, Melkerhof. Im hinteren Hof. Das Haustor steht offen. Sie … man kann drinnen im Hof warten.«

»Gut.«

Schon sprang sie davon, wandte sich an der Tür nach draußen noch einmal kurz ihm zu, um zu signalisieren, dass die Luft rein war, und war schon entschwunden.

Das »Du« war ihr ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. Sollte er lange warten? Nein, entschied er sich und war schon hinter ihr her. Sollte ihr etwas zustoßen, wäre er so zumindest rechtzeitig zur Stelle. Beim Verlassen des Börsegebäudes wurde er wieder von der Sonne geblendet, doch es hätte auch schneien können und ihm wäre warm gewesen. Er sah gerade noch, wie sie, oben an der Metallstiege angekommen, auf die Straße trat. Hastig erklomm er selbst die Stiege und folgte ihr dann mehr oder weniger unauffällig auf ihrem Weg durch die Innenstadt, ein Stück weit hinter ihm sein Hund, der sich nur widerwillig damit abfand, jetzt nicht getragen zu werden, sondern selbst laufen zu müssen.

Sperling behielt die vorauseilende Schöne die ganze Zeit über fest im Auge, verfolgte jede Bewegung der bezaubernden Fremden und malte sich aus, wie sie sich lieben würden, denn dass sie sich lieben würden, davon war er überzeugt.

Streifige Wolken kündigten einen Wetterwechsel an, doch das tangierte ihn nicht. Ein wenig außer Atem erreichte er den Melkerhof, wo sie bereits auf ihn wartete.

3

»Übrigens, ich heiße Alice.«

Sie gingen die Stiege hinauf. An seiner Wohnungstür angekommen, schloss er auf.

»Ich bin …, ich heiße …, ja, Benedict.« Er bat sie hinein und nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn an die Garderobe, dann den seinen gleich daneben. »Einfach geradeaus, da ist mein … Arbeitszimmer, mein Computer.«

Die Wegbeschreibung zu seinem Arbeitszimmer galt weniger ihr als ihm selbst als Bekräftigung für seine hehren Absichten. Er wollte wissen, woran er bei ihr war, bekräftigte er sich. »Damit kannst du ins Internet und mir dann alles zeigen. In der Zwischenzeit werde ich mich um das Essen kümmern. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«

»Ja, bitte ein Wasser.«

»Oder etwas anderes?«

»Nein, ist schon fein. Ich trinke immer nur Wasser.«

Das Wiener Wasser war zwar berühmt für seine besondere Qualität, aber zu Fines de Claires? Sperling war nach Gehaltvollerem zumute. Alice nahm vor dem Computerbildschirm auf seinem Arbeitssessel Platz. Er musste sich über sie beugen, um das Gerät einzuschalten, wobei seine Wange flüchtig ihr Haar streifte, dessen Duft ihn betörte. Er fühlte sich erinnert an Maiglöckchen im Frühling. Sperling öffnete den Browser und zog sich dann mit der Tasche, in der die Austern auf ihn warteten, in die Küche zurück. Er breitete die Schalentiere vor sich auf der Anrichte aus – zwei Dutzend waren es – und stand nun vor dem Problem, sie zu öffnen. Ein Austernmesser besaß er nicht. Er überlegte, kramte suchend durch Küchenschubladen und -schränke.

»Klappt bei dir alles?«

»Ja, ich bin auf der Website. Willst du sie sehen?«

»Gleich, ja.«

»Dann sende ich eben noch eine Nachricht an meinen Vater.«

»Ja, ja, mach das.«

Ein schweres Brotmesser, ein Schraubenzieher, ein Hammer und ein Korkenzieher waren alles, was er als mögliche Hilfsmittel auftreiben konnte. Wie die edlen Meeresgeschöpfe so verschlossen und lebend vor ihm lagen, fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden, welche zuerst dran glauben sollte. Wahllos griff er schließlich eine der Austern heraus, hielt sie hochkant und bemühte sich, das Messer von oben in sie hineinzurammen. Sein Angriff schlug fehl, er glitt ab, aber noch hatte er alle Finger, tröstete er sich und schüttelte den Kopf darüber, was er alles zu tun bereit war. Machte allein die vage Aussicht auf Sex ihn als Mann unweigerlich zum Trottel?

Während der Korkenzieher kaum einen Versuch wert war, versprach die Kombination von Schraubenzieher und Hammer mehr Erfolg. Doch wieder rutschte er ab, fluchte leise, aber bestimmt.

»Bist du okay?«

»Ja, ja, ich bin gleich so weit.«

Verzweifelt blickte er sich um. Sollte er sie lieber zum Essen einladen, unten in das Restaurant, den Melker Stiftskeller? Doch sie würde das sicher nicht wollen, hatte Angst, verfolgt zu werden. Das mochte ein Hirngespinst sein. Aber auch seine Absichten ließen sich nicht mit einem Restaurantbesuch vereinbaren. So griff er noch einmal zu Schraubenzieher und Hammer, schlug beherzt zu und rammte sich den Schraubenzieher in die Innenseite seiner Hand, die daraufhin heftig zu bluten begann.

»Verflucht«, zischte er durch die Zähne, wickelte sich ein Geschirrtuch um die Wunde und rannte in sein Badezimmer. Alice hatte offenbar von seinem Missgeschick nichts mitbekommen und rief ihn zu sich.

»Gleich, gleich«, wiegelte er ab.

Unter fließend kaltem Wasser ließ der Schmerz ein wenig nach. Die Salbe, die er anschließend auf den tiefen Riss in seiner Haut auftrug, brannte, obgleich auf der Packung stand, sie fördere die Heilung. Mit einem frischen Handtuch um seine Verletzung gebunden, wollte er sogleich zurück in die Küche, doch er hielt inne, um sich noch kurz seinen Mund mit einem frischen Mundwasser auszuspülen. Als er an ihr vorbeiging, fing Alice ihn ab, streckte ihren Arm nach ihm aus, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Schau einmal kurz. Das ist die Website meines Vaters. Dass er sie ›Rheingold‹ genannt hat, ist eine Anspielung auf die Bedeutung seiner Entdeckung, und außerdem liebt er Wagner. Hier kannst du sehen, wovon ich dir erzählt habe. Komm, setz dich.«

Sie machte den Platz auf dem Stuhl frei, er setzte sich und sie glitt ganz selbstverständlich auf seinen Schoß.

»Schau, hier in dem Überblick steht alles genau erklärt.«

Sperling – glücklich, einstweilen den Hartschalentieren entkommen und in körperlicher Nähe zu Alice zu sein – überflog die Zeilen, in denen vor dem Hintergrund eines stilisierten Eiweißmoleküls erläutert wurde, dass Professor H. J. Lapinsky der entscheidende Durchbruch im Kampf gegen Schizophrenie gelungen sei. Anders als bislang angenommen, sei nicht ein einzelnes Gen für die Erkrankung verantwortlich, sondern die Erkrankung entstehe aus dem Wechselspiel zwischen Umwelteinflüssen und ganz unterschiedlichen Genen. Jeder der verschiedenen Entstehungswege münde allerdings in eine einzige spezifisch veränderte hyperaktive Variante eines Transportproteins im Bereich der Nervenendigungen bestimmter Hirnzentren, vor allem im sogenannten limbischen System. Nicht mittels gentechnischer Maßnahmen, sondern durch eine irreversible Blockade des für die Proteinumwandlung verantwortlichen Enzyms sei damit eine dauerhafte und wirksame Heilung von Schizophrenie möglich, einfach, kostengünstig und zudem gänzlich nebenwirkungsfrei, da das betreffende Enzym im ganzen Körper nur diesen einen chemischen Prozess steuere. Zu den wissenschaftlichen Einzelheiten wurde auf eine andere Website verwiesen, die zurzeit noch in Arbeit sei, deren Inhalt aber in Kürze in der Zeitschrift »Science« veröffentlicht werde. Es folgte ein dringender Aufruf zur Verbreitung dieser revolutionären Entdeckung, da Teile der Pharmaindustrie mit aller Macht versuchten, sie zu sabotieren, um den milliardenschweren Psychopharmakamarkt zu schützen. Denen sei offenbar jedes Mittel recht. Eine enge Mitarbeiterin des Professors sei bereits spurlos verschwunden, und er selbst habe sich daher an einen geheimen Ort zurückgezogen, um dort den angekündigten Artikel zu schreiben und sich bis zu dessen Erscheinen versteckt zu halten.

Alles stand genau so dort, wie Alice es gesagt hatte. Sperling wandte sich ihr zu.

»Glaubst du mir jetzt?«

Ihre Lippen glänzten, standen halb geöffnet. Ein Knopf ihrer Bluse hatte sich gelöst, gab den Blick frei auf ihren Busen, und Sperling näherte sich ihrem Mund, berührte ihn zärtlich. Sie schloss die Augen, gab sich seinem Kuss hin. Nach einer Weile hielten sie inne.

»Ich hatte dich eigentlich älter eingeschätzt nach unserem Telefonat, hatte dich für so einen grauen, pragmatisierten Beamten gehalten, der sich den ganzen Tag über grantig hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert und froh ist, wenn er in Ruhe gelassen wird.«

Sperling schmunzelte geschmeichelt, und sie küssten sich wieder, leidenschaftlicher. Ihre Unbekümmertheit ließ sie auf eine Weise frei sein, wie es ihm nie möglich gewesen war. Sie glitten hinab auf den Teppich, und er begann sie auszuziehen, strich dabei sanft über ihre Haut, was sie mit einem wohlig entspannten Stöhnen beantwortete, das ihn vollends dazu brachte, an nichts anderes mehr zu denken als an sie, wie sie hier halb neben, halb unter ihm lag, eine Erfüllung verborgener Träume hineingeworfen in seinen tristen Alltag.

»Das ist eigentlich gar nicht meine Art.« Mit diesen Worten öffnete sie den Reißverschluss seiner Hose, und wenig später liebten sie sich, elektrisiert vom Reiz des Neuen. Das Klingeln des Telefons, das auf dem Arbeitstisch neben ihnen stand, war bedeutungslos. Sie befanden sich außerhalb banaler Realitäten.

»Benedetto, ciao, mio caro, ich bin es, Chiara.«

Sperling stockte. Sie, jetzt, durchzuckte es ihn, die ihm so vertraute Stimme ausgerechnet in diesem Augenblick? Alice spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Ich muss dich sprechen. Ich bin zu Hause bei mir, hier in Triest. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« Sie machte eine Pause. »Also, nun … also … ich, ich bin … schwanger, und …«

In dem Moment war die Aufnahmezeit des Anrufbeantworters zu Ende. Hatte er richtig gehört? Alice blickte ihn fragend an, eine Ahnung vorwurfsvollen Entsetzens schlich sich in ihre Gesichtszüge. Der Liebeszauber zerstob. Ohne dass er ein Wort gesagt hatte, schien sie zu verstehen, stand auf, warf sich in Windeseile ihre Kleidung über.

»Ich …« Er war sprachlos. Wochenlang hatte Chiara nicht angerufen, Anfang Oktober hatten sie sich zuletzt gesehen, und jetzt das. Hatte er richtig gehört? Er musste sich vergewissern. Hilflos schaute er Alice nach, wie sie das Zimmer verließ. Die Haustür fiel ins Schloss, und er war allein. Noch immer nackt erhob er sich, nahm sein Handy und wählte hastig die Nummer in Italien. Ich werde Vater, schoss es ihm durch den Kopf. Er sollte sich freuen, doch war er im Augenblick unfähig dazu.

Chiara war sofort am Apparat. »Pronto.«

»Chiara, ich bin es. Ich kam gerade … durch die Tür, als ich deine Nachricht hörte.«

»Gut, dass du zurückrufst. Ich hatte es dir ja eigentlich nicht am Telefon sagen wollen, aber es ist zu wichtig. Also …« Sie hielt inne, und er fand, dass sie merkwürdig verlegen wirkte. »Ich, ich bekomme ein Kind.«

»Ja, das habe ich noch von deiner Nachricht mitbekommen.« Er wollte ihr sagen, wie sehr ihn das freute, doch es kam nicht über seine Lippen.

»Aber, es … es ist wahrscheinlich nicht von dir.«

»Bitte was?« Darauf war er nicht gefasst gewesen. Er wurde bleich, stammelte etwas Unverständliches.

»Ja, ich … es tut mir leid, dass du es so erfährst.«

»Du, du kannst doch nicht einfach …« Da schrillte die Türglocke. Marilyn sprang kläffend in die Diele.

»Entschuldige bitte kurz, es hat geläutet.«

Sperling war erleichtert über die Unterbrechung, fast so, als könne er anschließend das Gespräch von Neuem beginnen, mit verändertem Inhalt.

»Ich komme gleich«, rief er in Richtung Tür und zog sich eilig sein Hemd über. Dann warf er sich ein Handtuch um die Lenden. Ob Alice zurückgekommen war? Er könnte ihr alles erklären. »Bin schon so weit.« Er öffnete und vernahm ein blitzartiges Krachen. Dann verlor er das Bewusstsein.

4

Seine erste Wahrnehmung, die sich wie in Zeitlupe einstellte, bestand in einem rhythmisch hämmernden Pochen mitten in seinem Kopf, der darunter zu zerbersten schien. Sperling lag vollkommen reglos, versuchte nach einer Weile, vorsichtig die Augen zu öffnen, was ihm nur mühsam gelingen wollte. Alles um ihn herum war schwarz. Er strengte sich an, etwas zu sehen. Da erst bemerkte er, dass er am ganzen Körper gefesselt war. Wie von einem Stromschlag ausgelöst, setzten Muskelkrämpfe ein, durchzuckten seinen Rücken, zogen hinauf bis zum Hals, sodass der sich schmerzverzerrt wand. Schweiß trat auf seine Stirn, obwohl ihn fror. Minutenlang musste er so ausharren. Sollte er um Hilfe rufen? Doch er konnte nicht. Er bemühte sich verzweifelt, zu denken, sich an irgendetwas zu erinnern. Hatte man ihn entführt, aber warum und wohin? Da verkrampfte sich sein Unterkiefer, und er biss sich auf die Zunge. Der süßlich metallische Geschmack von Blut sammelte sich in seinem Mund. Jeder seiner Versuche, den Krämpfen entgegenzuwirken, war zwecklos. So bohrte er sich schließlich seine Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen, bis er irgendwann erschöpft einnickte.