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Inhalt

Kapitel 1 – Das ist Beaky

Kapitel 2 – Jetzt kommt Tante Jas

Kapitel 3 – Besuch im Schloss

Kapitel 4 – Abfahrt vom Schloss

Kapitel 5 – Die Heimfahrt

Kapitel 6 – Die Wahrheitsmaschine

Kapitel 7 – Die Heimreise

Kapitel 8 – Die Romankritik

Kapitel 9 – Der Zeitungsjunge

Kapitel 10 – Das Hochseil

Kapitel 11 – Die Offenbarungen

Kapitel 12 – Die Jagd

Theo rückte seinen Rucksack auf der Schulter zurecht und warf mir einen zweifelnden Blick zu.

„Du glaubst mir nicht, oder?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Dass man dich gefragt hat, ob du mit auf eine Expedition zum Nordpol gehst?“, schnaubte er. „Nein, Beaky, nicht wirklich.“

Gekränkt verzog ich das Gesicht. „Das tut weh, Theo“, sagte ich. „Wenn man bedenkt, dass du mein bester Freund bist, dann tut das wirklich weh.“ Ich holte tief Luft. „Aber gut, du hast recht. Ich wurde nicht gefragt, ob ich mit auf eine Expedition zum Nordpol gehen möchte.“

„Wusste ich es doch!“, triumphierte Theo.

„Ich wurde gebeten, die Expedition zu leiten.“

„Oh, klar“, antwortete Theo. „Na, das ist natürlich viel glaubwürdiger.“

„Entschuldigung akzeptiert“, sagte ich. Wir waren an der Ecke zu unserer Straße. Theo wohnte nur drei Häuser weiter, und seit der ersten Klasse liefen wir den Schulweg zusammen.

Früher waren wir gleich groß, aber in letzter Zeit ist er in die Höhe geschossen und hat mich dabei weit überholt.

„Ich habe mich nicht entschuldigt!“, brummte Theo.

„Doch, du hast dich in Gedanken entschuldigt“, sagte ich. „Glaub mir, ich kann Hellsehen.“

Theo lachte. „Klar. An welche Zahl denke ich ge­rade?“

Ich klopfte mit dem Finger an meine Stirn. „Vier.“

Theo riss die Augen weit auf, dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Zufalls­treffer.“

„Ich wusste, dass du das sagen würdest“, ant­wortete ich.

Er grinste. „Du bist so ein Lügner, Beaky.“

„Wie können Sie es wagen, mein Herr!“, sagte ich und erhob meine Fäuste. „Haben Sie eine Ahnung, was mit dem letzten Kerl passiert ist, der es gewagt hat, mich einen Lügner zu nennen?“

„Ja, nichts“, antwortete Theo. „Denn der letzte war ich heute Morgen, als du mir weismachen wolltest, dass Hunde explodieren, wenn sie Marmelade fressen.“

„Das stimmt auch!“, protestierte ich. „Das hab ich in einem Buch gelesen.“

Wir blieben vor Theos Haus stehen.

„Egal, und du?“, fragte ich. „Irgendwelche Pläne fürs Wochenende?“

„Na ja, da ich mit deiner Expedition zum Nordpol nicht mithalten kann“, gestand Theo, „werde ich wohl nur Xbox zocken und Chips futtern.“

Ich nickte. „Wie immer also.“

Er beugte sich über das Gartentor.

„So ziemlich. Genieß den Schnee, Beaky, und pass auf die Eisbären auf.“

„Oh, ich werde da nicht mitgehen“, sagte ich. „Die haben von mir verlangt, eine dicke Jacke zu tragen, aber ich trage nie Jacken, also habe ich Nein gesagt.“

„Du hast eine an“, sagte Theo.

„Das ist ein Regenmantel“, erklärte ich. „Das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge, Theo. Das weiß doch jeder.“

Theo lachte. „Oh, na dann nehme ich alles zurück. Also bis morgen?“

„Wir nehmen deine Xbox, ich bringe die Chips mit“, schlug ich vor.

Dann verabschiedeten wir uns mit unserem speziellen Händedruck, von dem keiner so wirklich wusste, wie er richtig ging.

Den Rest des Heimwegs musste ich grinsen. Xbox und Chips. Das perfekte Wochenende. Zumindest dachte ich das.

„Also“, sagte Mama und ließ ihren Blick über den Tisch schweifen. „Wie war euer Tage so?“

Mom grinste uns irgendwie enthusiastischer an als sonst. Außerdem hatte sie uns einen grandiosen Auflauf gezaubert, den es sonst nur zu besonderen Anlässen gab, was mich vermuten ließ, dass sie was im Schilde führte. Ich beobachtete sie genau und ver­suchte herauszufinden, um was es ging. Aber Mom konnte verschwiegen sein wie ein Grab, wenn sie wollte.

Dad lächelte. „Ich hab heute ein Lied geschrieben über …“

Er klopfte mit seinen Fingern auf dem Tisch einen Trommelwirbel. „… Klopapier“, verkündete er. Dann tunkte er ein Stück Brot in sein Essen, lehnte sich zurück und sagte: „Jaja, ich weiß schon, ihr seid jetzt total beeindruckt, aber bitte … keine Autogramme.“

„Klopapier? Ich wette, das stinkt“, sagte ich und grinste stolz über meinen zweifelsfrei ausgezeichneten Witz. Blöd nur, dass den außer mir mal wieder niemand verstand.

„Das nimmst du sofort zurück, Dylan“, sagte Mom und benutzte wie immer meinen richtigen Namen. Ich heiße nämlich eigentlich Dylan. „Dein Vater arbeitet sehr hart, jeden Tag muss er diese albernen kleinen Lieder schreiben, damit wir Essen auf dem Tisch haben.“

„Alberne kleine Lieder?“, sagte Dad, schnappte nach Luft und schlug sich auf die Brust. „Noch nie wurde ich so beleidigt!“

„Du weißt schon, was ich meine“, sagte Mom und machte eine herablassende Handbewegung.

Dad zuckte mit den Achseln. „Na dann.“

Offenbar lag sie nicht ganz daneben, dachte ich. Trotzdem war ich nicht davon überzeugt, dass mein Vater Schwerstarbeit leistete. Der letzte Jingle, den er für eine Hundefutter-Werbung geschrieben hatte, ging nur „Wau, wau, wau, wau, wau“, immer und immer wieder.

„Sorry, Dad“, entschuldigte ich mich. „Natürlich ist dein Lied großartig.“

Dad schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Es ist schrecklich. Aber trotzdem danke.“

„Was ist mit dir, Jodie?“, fragte Mom.

Alle Augen richteten sich auf meine Schwester, die mit der Gabel gelangweilt Bohnen auf ihrem Teller zur Seite schob. Sie schaute kurz auf und zog einen Stöpsel ihrer Kopfhörer aus dem Ohr.

„Was?“

„Wie war dein Tag?“, fragte Mom.

„Ganz okay.“ Sie zuckte mit den Achseln und stöpselte den Hörer wieder ins Ohr.

Mom schaute sie weiter lächelnd an, vielleicht gab´s ja noch ein bisschen mehr Information. Aber da kam nichts.

„Okay“, sagte sie schließlich und drehte sich zu mir um. „Dylan?“

„Ich habe gegen einen Schwan gekämpft.“

Mom blinzelte. Diese Antwort hatte sie definitiv nicht erwartet. Sie schaute zu Dad, der ebenfalls mit den Augen rollte.

„Gut, gut“, sagte Mom, „ein rundum produktiver Tag also für alle.“ Dann räusperte sie sich nervös und griff rüber zu Jodie, um ihr den Stöpsel aus dem Ohr zu ziehen.

„Hey!“, protestierte Jodie.

„Ich habe gute Neuigkeiten für euch“, sagte Mom und grinste unnatürlich breit. „Tante Jas kommt zu Besuch!“

Ich prustete in mein Glas und merkte, wie Orangensaft durch meine Nasenlöcher lief. Wie überraschend erfrischend.

„Was?“, fragte Dad. „Was meinst du mit, ‚Tante Jas kommt zu Besuch’?“

Tante Jas ist meine Tante, wie schon der Name sagt. Sie ist die Schwester meiner Mutter und eigentlich auch ein bisschen wie sie. Nur jünger, dunkelhaarig und viel, viel lauter. Ihr letzter Besuch ist über ein Jahr her, trotzdem haben wir uns erst jetzt von der Tortur erholt.

Tante Jas neigt, nun sagen wir … zur Übertreibung. Sie spricht 100 Prozent zu laut – immer. Sie schreit geradezu, das klingt, als würde man mit Fingernägeln auf einer Tafel entlang kratzen. Sie und Mama haben irgendwie ständig Stress miteinander und sie versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Ihr letzter Besuch endete mit einer Schreierei im Kino vor 200 Menschen. Während des Films.

Ich bezweifelte, dass Mom sich auf den Besuch ihrer Schwester freute, aber sie tat ihr Bestes, um einen tapferen Gesichtsausdruck zu wahren. Beherzt biss sie auf ein Stück Käsekruste, knackte diese im Mund und zuckte beim Kauen mit den Achseln. „Ich meine damit, Jas kommt übers Wochenende. Sie und Steve und …“

„Nicht die Kinder“, sagte Dad und riss die Augen entsetzt weit auf. „Bitte, nicht die Kinder.“

„Natürlich bringt sie die Kinder mit“, sagte Mom spöttisch. „Was sollte sie denn sonst mit ihnen machen?“

„Sie an den Zoo verkaufen“, murmelte Jodie.

„So redet man nicht über seine Cousinen“, blaffte Mom. Langsam wurde sie sauer. Gleich würde sie anfangen, mit dem Fuß auf den Boden zu tippen, und dann würde sie explodieren. Die Situation musste entschärft werden. Und zwar schleunigst. Zeit, dass ich meinen Charme spielen ließ.

Ich prustete den Saft aus meinen Nasenlöchern und stellte das Glas auf den Tisch. „Also ich denke, es wird schön, wenn sie hier sind.“

Dad und Jodie starrten mich ungläubig an. Auch Mom blinzelte überrascht. „Du hast ja schon einige Klöpse in deinem Leben gebracht, Zinkie“, sagte Jodie. „Aber das eben war der beste.“

„Hör auf, deinen Bruder Zinkie zu nennen“, schimpfte Mom.

„Alle nennen ihn Zinkie.“

„Dann sollen sie eben alle damit aufhören“, sagte Mom und beugte sich vor, um mir tröstlich die Hand zu tätscheln. „Er kann doch nichts dafür, dass er so eine riesige Nase hat.“

„Ich würde nicht sagen, dass sie riesig ist“, protestierte ich.

Jodie nickte. „Doch ist sie. Sie ist sogar richtig riesig.“

„Sie ist statuesk“, verteidigte ich mich.

„Eher elefantesk oder so.“

Ich schoss mit der Gabel eine in Ketchup getunkte Nudel in Jodies Richtung. Sie duckte sich im letzten Moment, und unsere Deutsche Dogge, Destructo, sprang sofort vom Boden auf und schnappte sich die Nudel in der Luft. Das hatte schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Szene aus „Jurassic Park“, nur dass es hier unser Hund statt eines Dino­sauriers war und eine Nudel statt eines schreienden Touristen. Destructo hatte nicht ganz die Größe eines T-Rex, aber sein Appetit war ähnlich groß.

„Hey!“, schrie Jodie und schnappte sich eine Handvoll wabbeliges Ei.

Dad hob die Arme und ermahnte uns. „Aufhören, beide“, rief er. „Alle beruhigen sich jetzt mal wieder. Hört auf, mit dem Essen zu werfen. Und ich will nichts mehr hören über Zinkies Riesennase. Lasst uns das Problem systematisch angehen.“

Er wartete, dass Jodie das Ei wieder zurück auf den Teller legte (was sie zu Destructos Enttäuschung auch tat), dann biss er ein Stück von seiner Wurst ab, kaute nachdenklich und fragte: „Wann kommen sie denn?“

„Heute Abend“, antwortete Mom.

Dad verschluckte sich, die Wurst blieb ihm im Hals stecken. Verzweifelt riss er seine Augen weit auf und schlug sich heftig gegen die Brust. Panisch hustete er und begann zu spucken.

„Lasst mich mal, ich weiß, wie das Heimlich-Manöver geht“, kündigte ich an und sprang vom Tisch auf. Ich kannte das Heimlich-Manöver natürlich nicht wirklich, hatte im Fern­sehen aber mal gesehen, wie es jemand gemacht hat, und so schwer hatte es nicht ausgesehen.

Ich schlang meine Arme von hinten um Dad herum und hievte ihn hoch auf seine Füße. Allerdings stellte sich heraus, dass er schwerer war als gedacht, und so fiel ich nach hinten um und riss ihn mit.

Mit lautem „Ohhh“ und „Ahhh“ schlugen wir schreiend auf dem Boden auf. Durch den plötzlichen Aufprall wurde das Stück Wurst aus Dads Hals hoch in die Luft geschleudert und auf der Stelle von dem sehr erfreuten Destructo geschnappt, der überhaupt kein Problem mit dem Runterschlucken hatte.

Jodie lehnte sich über den Tisch und schaute runter zu uns. „Das war jetzt also das Heimlich, oder?“

„Das fortgeschrittene Heimlich“, keuchte ich, als Dad von mir runterrollte. „Meine neue Erfindung.“

„Heute Abend?“, jaulte Dad, als er wieder bei Stimme war. „Warum kommen sie schon heute Abend?“

„Wespen“, sagte Mom.

Jodie, Dad und ich glotzten uns an.

„Alle anderen haben auch gehört, dass sie Wespen sagte, oder?“, fragte ich.

„Sie haben ein Wespennest“, erklärte Mom.

„Das bringen sie aber nicht mit, oder?“, fragte ich.

„Sei nicht albern, Dylan. Sie haben ein Wespennest in ihrem Haus. Und vor Montag kommt niemand, der sich da­rum kümmert.“

Dads Gesicht färbte sich lustig lila und wurde dann bleich.

„Montag? Die bleiben wirklich bis Montag?“

„Natürlich nicht“, sagte Mom.

Dad schien sich ein wenig zu entspannen, doch das nur kurz.

„Sie bleiben bis Dienstag.“

„WAS?“, stöhnte Dad.

Mom grinste. „Spaß! Sie fahren Sonntag wieder heim.“

Dad setzte sich wieder auf seinen Stuhl und rutschte nervös hin und her. Er schaute auf den Rest der Wurst und schob den Teller beiseite. Ich wusste, wie er sich fühlte. Elend. Tante Jas’ Besuch bedeutete, dass ich mich von Xbox und Chips mit Theo verabschieden konnte.

„Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm“, sagte Dad. „Sind ja nur paar Tage.“

„Das ist die richtige Einstellung“, meinte Mom, war aber irgendwie genauso bleich im Gesicht wie Dad. „Und wer weiß? Vielleicht haben wir sogar Spaß“, fügte sie hinzu.

„Spaß?“, stotterte Dad. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ich meine … Spaß … ja gut, Spaß. Vielleicht hast du recht.“

Wie sich herausstellen sollte, lagen sie komplett daneben.

Wir hatten die Teller vom Abendessen weggeräumt und schleckten genüsslich unser Eis mit Schokolade, als es an der Tür klingelte. Destructo sprang auf und bellte sich die Seele aus dem Leib. Dad schaute Mom an und verzog seine Mundwinkel zu einem mageren Lächeln.

„Los geht’s.“

„Los geht’s“, sagte Mom, fasste zu ihm rüber und drückte seine Hand.

Es klingelte erneut. Destructo bellte noch lauter. „Wir sollten sie besser reinlassen“, sagte Mom.

Keiner bewegte sich.

„Ja“, stimmte Dad zu.

Aber noch immer bewegte sich niemand.

Dann klingelte es ein drittes Mal. Destructo bellte und bellte, nur dass er uns jetzt schief von der Seite ansah, als wäre er besorgt, wir seien plötzlich alle taub geworden. Die Spannung war nicht auszuhalten, und bevor es ein viertes Mal klingeln konnte, sprang ich hoch.

„Ich mach dann mal auf, in Ordnung?“, fragte ich in die Runde und ging zur Tür. In der Sekunde, als ich den Knauf umdrehte, drückte Tante Jas bereits so doll gegen die Tür, dass sie mich fast erschlagen hätte.

Sie klang wie eine Zauberin, der gerade ein echt genialer Trick gelungen war. „Wir sind daaahaaaa!“

Nun flippte Destructo komplett aus. Wie ein Irrer drehte er sich im Kreis und bellte und jaulte dabei. Tante Jas beobachtete ihn vorsichtig, während sie ihre Arme nach mir ausstreckte. „Oh, wie groß du geworden bist!“, stellte sie fest, und ihre glänzenden, roten Lippen formten sich bereits zum Kussmund.

„Das würde ich nicht tun“, warnte ich sie. „Ich habe den Braunen Tod.“

Jas zuckte zurück. „Der Braune Tod? Was soll das denn sein?“

„Der ist wie der Schwarze Tod, nur nicht ganz so schlimm“, erklärte ich. „Ich würde bisschen Abstand halten, wenn ich du wäre.“

Stirnrunzelnd schaute Jas zu Mom rüber. „Meint er das ernst?“

Mom schüttelte den Kopf. „Nein.“