Buchcover

 

Deutschland nach 1945: Klara und Leon haben überlebt – mit der Geburt ihres Sohnes Bärel wollen sie die Erinnerungen an Lager, Flucht und Verfolgung hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. Doch eine erschütternde Begegnung zwingt Klara, die dunklen Kapitel erneut aufzuschlagen.

Eisblumen am Fenster sind der einzige Schmuck bei der Trauung von Klara und Leon Bromberger im Januar 1946. Eine Feier ohne Familie, Klara und Leon sind die einzigen Überlebenden, nur eine goldene Armbanduhr ist als Andenken geblieben. Mit der Geburt ihres Sohnes Bärel – er ist das erste jüdische Kind seit Kriegsende, das in Frankfurt in einem katholischen Krankenhaus geboren wird – soll die Zeit endlich vorwärtslaufen. Doch dann, bei einem Spaziergang im Park, trifft es Klara wie ein Schlag: In einer kleinen, sichtlich schwangeren Frau erkennt sie Liliput, ihre ehemalige Oberaufseherin im KZ. Klara steht unter Schock, hört auf zu sprechen und Bärel zu versorgen. Ihr Mann ist verzweifelt, er sieht nur einen Ausweg: »Schreibe, Klara, schreibe. Bann das Böse auf Papier! Fessele es mit deinen Worten!« Und Klara wagt den Blick in den Abgrund, zurück ins Leben. Sie schreibt: über das elegante Schuhgeschäft ihres Vaters, die hübsche Pescha, das Ghetto Zamość und den hastigen Abschied von ihren Eltern, die Flucht, die seltsam blitzenden Augen der alten Piasecki, die verführerisch schöne Hanka und ihre Arbeit im Kasino in Radom, der Höhle des Löwen, über das Lager und Marthas glockenhelles, unvergessliches Ave-Maria – und über die zierliche, eiskalte Oberaufseherin mit der Kinderstimme, die sie Liliput nannten.

In »Es wird wieder Tag« erzählt Minka Pradelski die zutiefst tragische und berührende Geschichte von Klara, verbindet sie mit Bärels ebenso allwissendem wie frechem Säuglingsblick auf die Welt und dem rauen, zupackenden Temperament Leon Brombergers zu einem bewegenden Panorama. Kenntnisreich und mit viel Feingefühl leuchtet Pradelski die Zwischenwelt aus, in der sich ihre Figuren in der Nachkriegszeit befinden: Dem Tod genauso nah wie dem Leben, ringen sie um eine Zukunft.

»Wie meisterhaft Minka Pradelski über dieses Kapitel der Geschichte schreibt, ist große Kunst auf dünnem Eis. Sie kann das, und sie darf das! Ein ganz wunderbares Buch, ich bin mehr als begeistert.« Iris Berben

 

Titel
Verlagslogo

 

Inhalt

1 – Der Spion in der Wiege

2 – Klara

3 – Der starke Krabeiski

4 – Klara

5 – Bromberger

6 – Ein Papagei, der nicht fliegen kann

 

1

Der Spion in der Wiege

Am Tag meiner Geburt hatte ich bereits verloren. Kaum war ich mit meinem Köpfchen auf der Welt, stürmte ein Mann in den grün getünchten Kreißsaal, steckte der erstarrten Hebamme eine Packung Kaffeebohnen in die Kitteltasche und riss mich aus ihren stocksteifen Armen. Er drückte mich fest gegen sein raues Gesicht. Sein wirres, dunkelgewelltes Haar kitzelte mich. Bloß nicht lachen, dachte ich und hielt mich zurück, kein Säugling begrüßt die Welt mit einem Lächeln.

Der Kerl, der mich im Arm hielt, gefiel mir nicht. Er trug neumodische Schuhe mit quietschenden Gummisohlen, schwitzte in seinem verknitterten Hemd, war schlecht rasiert und stank obendrein noch nach abgestandenem Tabak. Ich hasse Tabak, besonders amerikanischen, musste sofort niesen.

Mein winziges Auge blinzelte ihn verstohlen an. Er war hässlich und uralt. Das also ist mein Vater, dachte ich zutiefst enttäuscht. Hätte es nicht ein anderer sein können? Draußen auf dem Korridor vertraten sich aufgeregte Männer die Beine; das helle Linoleum war bereits am frühen Morgen von einem schwarzbraunen Geäst fingerbreiter Schleifspuren überzogen. Wie gerne hätte ich mir meinen eigenen Vater ausgewählt, so wie man sich eine leckere Eistüte aus lauter wohlschmeckenden bunten Farben zusammenstellt. Einen lustigen, einen begeisterten Vater, der es kaum erwarten kann, den langweiligen Säugling in ein aufgewecktes Kind verwandelt zu sehen, um ihn endlich in das Spiel einzuweihen, das ihm selbst in seiner Jugend am meisten Freude bereitet hatte: einen roten Gummiring auf ein verzweigtes Stöckchen spannen, einen spitzen Stein einlegen und auf nackte Mädchenbeine zielen. Ein herrliches Vergnügen! Und ich, sein gelehriger Sohn und Schüler, würde später das berühmte Familienunternehmen erben, eine ruhmreiche Stoffwindelfabrik, unser Name, Generationen von Müttern geläufig, in jede einzelne Windel eingewebt. Vater würde mir seinen gesamten Besitz vertrauensvoll übergeben und ich unser Vermögen gewinnbringend anlegen, meinetwegen sogar in der jungen aufstrebenden Zellstoffwindelindustrie. Stattdessen dieser hier, ein wilder, ungehobelter Mann, der dreist die Vaterschaft beanspruchte. Am liebsten wäre ich ihm aus dem Arm gesprungen. Seine Hände umspannten meinen weichen Hinterkopf, als könne er meine Gedanken erraten, und ich beschloss, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Grummelnd fing er an, meine feinen, knospengleichen Fingerlein und Zehen in Augenschein zu nehmen, als ob ihn die Anzahl meiner vollendeten Extremitäten etwas anginge. Geschwind zog er ein entsetzlich großes glühend rotes Taftband aus seiner Jackentasche und ließ es langsam vor meinem Näschen von links nach rechts gleiten. Sechs Augen folgten gebannt der Bewegung seiner Hand. Er aber achtete nur auf die Beweglichkeit meiner Augen, nickte zufrieden, zauberte eine silberne Glocke aus seiner Tasche, von der Größe einer Kuhglocke, und klingelte ohrenbetäubend vor meiner empfindlichen winzigen Ohrmuschel. Ich zuckte entsetzt zusammen, und als sei das noch nicht genug, kniffen seine groben Finger das ungewaschene zarte Rosa meines Arms. Ich schrie, schrie und schrie. Unbeeindruckt von meinem lautstarken Klagen, hielt der Unbekannte mich im Arm und wandte sich einer schweißgebadeten Frau zu, von der ich annahm, dass sie von mir in Kürze Mutter genannt werden wollte. Ich blickte auf ihren monströsen Bauch. Die Blöße der Fremden war notdürftig von einem verrutschten Flügelhemd bedeckt. Ein Bein war angewinkelt, als sei es zu erschöpft, sich an das andere zu schmiegen.

Der Alte sagte freudig: »Mein Kaddisch ist da! Mein Kaddischsager ist zur Welt gekommen!« Kaum gesagt, blickten mich seine dunkel umschatteten Augen recht freundlich an. Ich hingegen beobachtete seine höchst sonderbare, hochstehende linke Augenbraue, die aussah wie ein bewaldeter Hügel. Dröhnend klangen mir die Worte des Greises im Ohr. Ich, sein Kaddischsager, sei angekommen? Er wagte es, in der kostbaren Stunde meiner Geburt seinen eigenen lächerlichen Tod ins Spiel zu bringen? Sah er in mir, dem vielversprechenden Däumling, nur den späteren Erwachsenen, den gehorsamen Sohn, der Tag für Tag, elf Monate lang, für den dann verstorbenen Vater das Totengebet aufsagt? Kaum auf der Welt, bedrängt er mich mit seinem eigenen Ende. Wie geschmacklos, mich so auf Erden zu empfangen! Freut sich denn keiner über das neue frische Leben, das ich bin? Das zappelige kleine Wesen, das ich so viele lange Jahre bleiben werde? Wutschnaubend blitze ich ihn an. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht spucken. Doch fröstle ich. Seine gewaltigen Hände wärmen mich. So ist es recht, weiter so, endlich begreift er, dass er mir zu Diensten ist, und keinesfalls ich ihm. Wie gerne hätte ich ihm kräftig in die Hand gebissen, allein es fehlt mir an Kraft. Ich will fort von ihm. Am liebsten zurück in den bauchigen, warmen Leib, wo ich zuvor war. Ich verspreche, genügsam zu sein und auch nicht weiterzuwachsen. Nur ein wenig Nahrung, ein paar bescheidene Schwimmzüge zur Bauchwand hin und zurück, mehr soll es nicht sein. Ich will alles vergessen, was ich von der Welt gesehen habe, sehne mich zurück zu dem sanften Stimmengewirr, das abgedämpft durch die fleischige Wand drang. Auf allen vieren krieche ich heimwärts in den weichen Schoß, zurück zu der Frau, die mich in ihrem Bauch genährt und beschützt hat. Ab jetzt will ich mein Parasitendasein aufgeben, ihr zur Hand gehen, falls sie es wünscht, jeden Morgen ihre Leber begrüßen, ihre Lungen anpusten, ihr Herz prüfen, ihr verdauen helfen, den vorgewölbten Bauch sanft von innen massieren, damit sie sich wohlfühlt mit mir. Gerne will ich ihr zur Seite stehen, falls der Alte ihr Kummer bereitet oder sie sich einsam fühlt. Sie soll sich mir nur anvertrauen. Nachts, wenn der Alte ins Bett kommt, ziehe ich mich still in die Bauchhöhle zurück. Wir beide halten zueinander, sind ein unzertrennliches Paar, eine ewige Schwangere und ein glückliches Ungeborenes, das beschließt, bis zum Ende aller Tage im Mutterleib zu verweilen.

Bekümmert halte ich Ausschau nach einer Rückkehr, doch augenblicklich richtet sich die Frau auf und schließt mühsam, unter größter Anstrengung, ihre riesigen Beine. Sie versperrt mir den Weg, will mich nicht mehr bei sich haben! Rot im Gesicht, wehre ich mich, schwitze, meine kleinen Hände und Füße zappeln, doch die langen Beine der Frau bleiben geschlossen. Der künftige Tote scheint belustigt, lächelt vergnügt, hält mich noch fester im Arm.

»Na, komm schon. Sieh ihn dir an«, lockt er und legt mich sanft in ihre Arme. Als habe sie auf eine Ermunterung gewartet, blickt die entkräftete Frau mich unsicher an.

Mein Gott, was hatte sie sich bei dem einzigartigen Vorgang meiner Geburt dämlich angestellt. Von den Schmerzen einer Wehe überflutet, rief sie verängstigt nach ihrer eigenen Mutter. Es fehlte nur noch, dass sie all ihre weiblichen Verwandten um sich versammelt, ganze Generationen schlichter Frauen, die alle schon mal geboren haben und sie nun mit ihren als Weisheiten getarnten, törichten Ratschlägen überhäufen, so dass die verstörte Frau nicht mehr wissen kann, welchen sie zuerst befolgen sollte.

»Tja«, meinte die knochige Hebamme, während sie das Hörrohr barsch auf den arg gewölbten Bauch presste, »Wehen kommen nun mal von wehtun.«

»Wehen kommen von wehtun«, wiederholte die einsame Frau beschwörend, als sei dies eine unfehlbare Anleitung zum Gebären, bis ein unbekannter Schmerz in ihrem Unterleib sie plötzlich überrannte und ihre Kehle Urlaute hervorstieß, die sie noch nie gehört hatte. Erschrocken bäumte sie sich auf.

»Ich will nicht wissen, woher sie kommen!«, schrie sie in einem so schrillen Ton, dass ich in ihrem Bauch aufmerksam wurde und das hübsche Spiel mit der Nabelschnur für einen Augenblick unterbrach.

»Ich will diese Wehen loswerden«, flüsterte sie schwer atmend und schlug das Hörrohr fort.

»Sie müssen pressen!«, rief die Hebamme. »Die Herztöne werden schwächer!«

»Die Frau will nicht pressen«, petzte die Hebamme dem Arzt, der leise das Entbindungszimmer betrat.

»Nun, Mutter«, sagte er forsch, »warum wollen wir denn nicht pressen?«

»Ich fürchte mich, Herr Doktor«, antwortete sie mit letzter Kraft, »ich weiß nicht, ob ich einen Dackel oder ein Kind zur Welt bringe.«

Meine Herrlichkeit mit einem Dackel im gleichen Atemzug zu nennen! Wie einfältig, die stupide Drohung der Hundebesitzerin, die ich durch die Bauchwand hörte, so ernst zu nehmen!

Nun wurde es für mich ungemütlich in ihrem Bauch. Ich spürte die Hand des Arztes erbarmungslos die Bauchdecke nach mir abtasten. Geschickt entzog ich mich, doch der Arzt verfolgte mich, bis er mich in einem unachtsamen Moment am Bein packte. Flugs schlängelte ich mich aus seiner Hand und schwamm befreit ein paar fröhliche Runden.

»Zange«, hörte ich den Arzt zischend zur Hebamme sagen. Zum ersten Mal während meines unbehelligten Werdens erschrak ich. Bisher hatte keiner gewagt, Hand an mich zu legen, geschweige denn eine kalte, unbarmherzige Zange. Dem galt es zuvorzukommen. Bedroht von dem eisernen Löffelpaar, das mich wie ein welkes Salatblatt schnappen würde, lockerte ich eilig die Nabelschnur, die ich mir als Schmuck um den Hals gelegt hatte, schwamm mit einem eleganten Schwung noch ein letztes Mal durch die Schlinge, paddelte zum Abschied traurig mit den Armen, besann mich, nabelte mich hurtig ab, ehe ich mich kopfüber durch den tosenden Geburtskanal in die Hände des Arztes fallen ließ.

Zu meiner Überraschung waren die Hände jung, nicht allzu groß, es waren die Kinderhände eines uralten Arztes. Ein glatter, gut gepolsterter Handrücken, gerade so, als habe der Zahn der Zeit vergessen, die Hände des Arztes altern zu lassen. Gewiss freut der Arzt sich seiner jugendlichen Hände. Die zwillingsgleichen Hände haben ein endlos langes Leben vor sich, noch auf seinem Totenbett leben sie fort, begleiten ihn hinunter in sein Grab. Zwei stumpfe Löcher werden seitlich in das Holz des Sargs geschnitzt, ein luftiger Sarg für einen Toten mit lebendigen Händen.

Wo bin ich? Bin ich im Kreißsaal eines Altersheims zur Welt gekommen? Alle um mich herum sind verwirrend groß und steinalt. Werde ich auch einmal so abscheulich aussehen? Ich schaue mir die unbekannte Greisin an, die ab jetzt die Mutterschaft übernommen hat. Warum wollte sie mich nicht mehr bei sich haben? Wie schön wäre es gewesen, immer in ihr zu leben, geschützt vor Kälte und Schnee, Hitze und Regen, gut genährt und versorgt, ich, der nackte König in seinem Reich, ihrem Bauch. Sie wird bald erkennen, wie mühselig es ist, mich außerhalb ihrer selbst zu nähren, zu kleiden, zu pflegen, mir die Langeweile zu vertreiben, und alles begleitet von meinem unerhört nervigen Geschrei. Sie wird sich nach dem alten Zustand, bauchpack mit mir, zurücksehnen.

Ich nehme ihr übel, dass sie mich nicht zurücknimmt. Meine Rache wird süß sein, langwierig und quälend. In ein paar Monaten wird sie von mir erwarten, dass ich Mama zu ihr sage. Sag schön Mama. Ma-ma wird sie jede Silbe betonend sagen. Nichts da. Von mir hört sie keinen Ton. In froher Erwartung wird sie die zwei Silben aussprechen, die Lippen erwartungsvoll aufeinandergepresst lauschen, ob ich es wiederhole. Ich bleibe stumm. Sie wird erneut versuchen, beide Silben melodisch zu wiederholen, um sie schließlich zu einem Lied zu vertonen. Vergeblich, mein Mund bleibt verschlossen.

Ich könnte augenblicklich Mutter zu ihr sagen, um den Spuk zu beenden, aber wozu ihr eine so tiefe Furcht vor einem sprechenden Neugeborenen einjagen? Sie würde mich vor Schreck fallen lassen und sich weigern, mit mir zusammen das Krankenhaus zu verlassen, und ich bliebe jämmerlich als Waisenkind zurück.

Die Arme weit von sich geschoben, als könne sie sich bei mir anstecken, hielt sie mich vorsichtig im Arm. He, pack mich ruhig an, ich bin nicht aus Glas, wir Säuglinge mögen es hart, wir liegen gerne im Arm einer Frau, die keine Angst vor uns hat. Neugierig beäugte sie mich wie einen auf dem Rücken liegenden zappelnden Käfer. An einem hübschen kleinen Maikäfer hätte sie gewiss mehr Freude. Den könnte sie von einer Hand zur anderen laufen lassen, bis er sich im Labyrinth ihrer überkreuzten Arme verirrt, und ihn dann mit dem Zeigefinger schnell in einem Gefängnis, einer leeren Zündholzschachtel verschwinden lassen. Meine feinen Arme ruderten, ich wollte sie näher ansehen, kam aber nicht vom Fleck. Die Greisin war gewiss mal ein schönes Kind gewesen, ich schaue interessiert ihre zarten Wangen an, die sanft gewölbten rosigen Lippen mit dem ausladenden Schwung, von einem pastellfarbenen Rand liebevoll eingerahmt, aus welchem Winkel ich sie auch betrachtete. Ihr unbewegliches Gesicht wirkte blässlich, die blonden Haare hingen ihr klebrig im Gesicht. Sie hätte sich zu meiner Begrüßung ruhig kämmen können! Plötzlich trieb es mich zu den schmackhaft riechenden Rundungen unter ihrem cremefarbenen Spitzennachthemd, das ihr die knochige Hebamme gerade übergezogen hatte. Hunger tobte in meinem Bauch, ein hässliches, widerliches Gefühl, das ich sogleich weghaben wollte. Hunger, schrie ich. Aber die beiden hörten mich nicht.

»Siehst du«, sagte der Fremde zu der Frau, »du bist mit einem eigenen Nachthemd in die Klinik gegangen, genau, wie du es dir gewünscht hast.«

Die Frau rang sich ein müdes Lächeln ab und nickte. Ich verhungere, während die beiden sich über Nachthemden unterhalten! Ich brüllte los: Hallo ihr beiden, hört ihr nicht, ich habe Hunger, Hunger! Was interessiert mich euer albernes Nachthemd? Bloß weil ihr im Lager keine Nachtwäsche hattet, glaubt ihr, ich, euer Sohn, sei in Freiheit geboren, weil die Fremde bei meiner Geburt ein Nachthemd neben sich liegen hatte? Ich pfeife auf euer Spitzennachthemd, zernage es, zerreiße es in tausend Stücke. Füttert mich, ich will trinken, wachsen und gedeihen, dann entscheide ich, ob ich bei euch bleibe! Ich bewege mich heftig, will mich an die monströse Frau krallen, aber ich erreiche sie nicht. Sie ist gefühllos und kalt. Wie soll sie einen brüllenden Säugling ertragen? Schon beim Bäuerchen wird sie versagen. Womöglich muss mein winziger Finger auf die volle Windel deuten, damit sie mich bitteschön trockenlegt? Sie wird mich mit Essen betäuben und füttern, bis ich unbeweglich bin. Bei so einer Mutter muss ich ja um mein Leben bangen. Ich sehe ihr an, dass sie außer mir keine weiteren Kinder zur Welt bringen wird. Auch dulde ich keine plärrenden kleinen Geschwister, die von den Freiheiten profitieren, die ich mir in hartem Kampf erobert habe. Sie gehört mir. Am liebsten würde ich sie behutsam an die Hand nehmen und mit ihr nach Hause gehen. Den hässlichen Alten brauchen wir nicht.

»Hören Sie«, sagte der Arzt jetzt laut zur ehemaligen Schwangeren, ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich kann Ihnen versichern, dass es ein gesunder kleiner Junge ist. Er schreit wie ein Dreimonatskind, ist sogar schon am Kopf behaart. Er ist ungewöhnlich kräftig für ein Neugeborenes.«

Erneut warf er einen Blick auf mich. Am liebsten hätte ich ihm aus Spaß die Zunge herausgestreckt, damit er was zum Gucken hat.

»Er sieht aus, als habe er die Welt schon einmal gesehen«, sagte der Arzt nachdenklich und kratzte sich die Stirn mit der jugendlichen Hand. Dann, mit dem entschlossenen Blick eines Mediziners, der keine weiteren Fragen duldet, gratulierte er, die Hacken zusammenschlagend, dem frischgebackenen Vater, verabschiedete sich mit einem leisen Weihnachtsgruß auf den Lippen und versprach, später nochmals nach der Fremden zu sehen.

Sobald der Arzt das Entbindungszimmer verlassen hatte, kam die vor Ehrfurcht erstarrte Hebamme zu sich, räusperte sich, legte ihre Packung Kaffee ans Fußende des Bettes. Nun war sie unumstößlich die Herrin des Zimmers. Der Arzt ahnte es nicht, aber er assistierte lediglich ihr, der Hebamme. Dammriss und Kaiserschnitt mögen sein Handwerk sein, für sie ist er der Mann fürs Grobe. Sie ist die Erste, die das Neugeborene wäscht und pflegt.

Sie nahm mich aus den Armen der Frau und trug mich zu einem hohen Waschbecken. Der harte Wasserstrahl irritierte mich so sehr, dass ich alle Anstrengungen unternahm, mich aus dem festen Griff der Hebamme zu winden. Ich kämpfte mit ihr, blickte in ihr großporiges, gelbliches Gesicht, das die Größe eines Fußballfeldes hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt sie misstrauisch inne, sah kurz meinen prüfenden Blick, drehte mich dann auf den Bauch, fuhr unbeirrt fort, mich mit Wasser zu besprengen. Nach dem Baden wickelte sie mich in eine säuerlich nach Desinfektionsmittel stinkende Decke, die meinen Geruchssinn beleidigte und mich aufschreien ließ.

»Ruhen Sie sich aus, zum Füttern bringe ich ihn wieder!«, versprach sie der Frau, griff nach der Packung Kaffee, schob sie erneut in ihre Kitteltasche, wandte sich zum Alten und herrschte ihn an:

»Und Sie verlassen jetzt sofort das Zimmer!«

Ich schrie erbärmlich, als sie mit mir den Korridor betrat. Sie verlangsamte den Schritt und schaukelte mich sanft in ihren Armen.

»Na, wer wird sich denn so aufregen, junger Mann?«

Die Hebamme strich mir über das spärliche lockige schwarze Haar. Ich brauchte ihre Liebkosung nicht, mein seidenzarter Haarwuchs war ganz ordentlich, zumindest konnte ich es schon mit jedem beginnenden Glatzkopf aufnehmen. Kaum dass wir das Geburtszimmer verlassen hatten, schien die nach gemahlenem Kaffee duftende Hebamme heiter gestimmt. Vermutlich raubt sie taufrischen Müttern allzu gerne ihre neugeborenen Kinder, trägt sie mit heimlichem Vergnügen ins Säuglingszimmer.

Sie wiegte mich aus liebgewonnener Gewohnheit im Arm, flüsterte mir Koseworte ins Ohr, summte ein Weihnachtslied. Aber statt das Gute zu genießen, schrie ich auf, weil mir der leidige Geruch der Decke erneut in die Nase stieg.

Wir, meine Hebamme und das schreiende Ich, traten eng aneinandergeschmiegt durch die weiß gestrichene Holztür in das Säuglingszimmer. Augenblicklich beruhigte ich mich. Endlich unter Gleichaltrigen. Wir gingen an meinen Gefährten vorbei, die nur ein paar Stunden oder Tage älter als ich waren. Zur Begrüßung ließ ich einen fahren. Keiner beachtete mich. Ich zwinkerte hier und da, in der Hoffnung auf ein waches Augenpaar. Aber die Kameraden lagen hilflos wie Hirnverletzte in ihrer Bettenburg, auf die Pflege der Schwestern angewiesen, wo sie sich doch jüngst im wässerigen Leib noch freihändig und munter bewegt hatten. Kein Lachen war zu hören. Die vergitterten Bettchen standen rechter und linker Hand an den rapsgelb getünchten Wänden, der freie Mittelgang war die Versorgungsallee. Anstelle der hellen Wände wäre ein feierliches Grau zu unserer Begrüßung weitaus passender gewesen. Wir Säuglinge verfügen nun mal über Geschmack und Standesdünkel. Entscheidend für das zukünftige Leben ist der Standort des Bettes, in dem der Säugling zuerst liegt. Es gibt eine Ecke der Arrivierten und eine der Deklassierten. Ich will zu den künftigen Gewinnern gehören, den rührigen Kameraden, auch wenn sie da noch schemenhaft in ihren vollen Windeln liegen, da bin ich nicht zimperlich. Zwischen der schrumpeligen, an Gelbsucht leidenden zukünftigen Unternehmerin in Bettchen vier und der angehenden Emanze mit den winzigen Hexenbrüstchen in Bett drei will ich liegen. Keinesfalls neben der gegipsten Spreizhose, die sich in späteren Jahren am Bahnhof herumtreiben wird. Manch einer von uns schreit sich im Säuglingszimmer die Seele aus dem Leib, weil er glücklos im Eck der Verlierer liegt, den Geschmack des Versagens wie Bittermandel auf der Zunge, spuckt, würgt und ekelt sich. Von wegen Koliken und Darmbeschwerden. Äußerlich gleichen sie einander, die nackten Körper mit einer rauen Windel umwickelt. Die Kleinen, die bald an den oberen Schalthebeln sitzen werden, reifen unauffällig im steten Rhythmus zwischen Schlafen und Wachsein. Ihr unscheinbares Bettchen ist eine Brutstätte der Macht. Zarte Pflänzchen sind wir, niedlich anzusehen, und trotzdem ist es todernst bei uns im Säuglingszimmer. Ein winziger Kompass ist in uns angelegt, noch zittert die Nadelspitze, aber sie ist ausgerichtet.

»Marianne«, sagt die Hebamme, »hier bringe ich dir einen kleinen Jungen.«

Die Säuglingsschwester will mich in ihre Arme nehmen, aber ich wehre mich. Jetzt auch noch eine in bodenlanger, schwerer Schwesterntracht. Hat sich wohl zu unserer Ermunterung verkleidet. Eine erste Zirkusvorführung in unserem Säuglingszimmer. So ein gefälteltes Häubchen habe ich noch nie gesehen. Wäre schön, es runterzureißen und mir selbst aufzusetzen. Meine Hebamme reicht mich weiter. Man nimmt mich bewundernd auf den Arm. Haben wohl alle einen Narren an mir gefressen, kann ich durchaus verstehen. Aber kaum gewöhne ich mich an eine, gibt sie mich an die Nächste ab. Schade, ich lag so sicher im Arm meiner Hebamme. Ich wollte sie unmerklich zu meinem Wunschbett dirigieren, ohne ihr Misstrauen zu wecken. Die Chancen standen gut, der Kampf im Säuglingszimmer ist ihr wohl gänzlich unbekannt. Sie war sicherlich eine schlichte Hausgeburt. Damals war das Leben eines Säuglings noch bescheiden. Man lag bewegungslos in einem knarrenden Stubenwagen. Heute kämpfen wir von der Stunde der Geburt an schon um unseren Platz in der Welt. In einem Moment der Unaufmerksamkeit überrumpelt mich die Säuglingsschwester Marianne, legt mich an ihre rechte Schulter, ich erschnüffele eine wohlriechende, saubere Windel, lecke kurz daran. Hebe den Kopf und staune: wie herrlich dieser Ausblick auf meine Gefährten! Bin so stolz auf meine kleine Gemeinschaft, so froh, kein erwachsener Greis zu sein! Plötzlich klopft mir Marianne mehrmals hart auf den Rücken. Ich will mich umdrehen, aber ihre warme Hand hält meinen Kopf und hindert mich in meinem Bewegungsdrang.

He, passen Sie auf, Sie ziehen mich ja an den Haaren!, will ich ihr zurufen, bringe aber zu meinem Entsetzen außer einem unanständigen Rülpser keinen Ton heraus.

»Na, siehst du wohl«, lobt die Säuglingsschwester, »so ist es recht, mein Kleiner.« Jetzt lobt man mein Rülpsen, und später treiben sie es mir wieder aus. Da soll einer klug werden aus der Moral dieser alten Frauen. Marianne dreht mich wieder. Schade, die Lage gefiel mir, und die Schwester war auch nicht übel.

»Es ist der erste kleine Mann seit drei Tagen. Ist ja ein drolliges Kerlchen. Habe schon zehn Mädchen im Zimmer, sind alle ganz friedlich«, sagt Marianne und klopft mir sanft auf die Brust. Nun ist es aber genug. Ich mag ihr Klopfen nicht. Ich mag überhaupt nicht angefasst werden. Bin ich ein Tier in einem Streichelzoo, das jeder berühren darf? Sie haben mich, bitte schön, höflich zu fragen. Auf mein Strampeln achten sie nicht. Schreien beeindruckt die abgebrühten Schwestern nicht. Es ist aussichtslos, ich muss ertragen, dass ich ihnen ausgeliefert bin. Nur der Anblick meiner kleinen Kameradinnen tröstet mich. Voller Freude blicke ich mich um. Zehn weibliche Neugeborene, weibliche Gesichtszüge sind kaum zu erkennen, ich sehe Konturen noch ein wenig verschwommen. Aber in Bettchen vier liegt eine, in die ich mich verlieben könnte. Heute habe ich das einzigartige Vergnügen, meine erste Nacht mit zehn Jungfrauen zu verbringen. Ein paradiesischer Zustand im Säuglingszimmer.

»Die Nummerierung des kleinen Bromberger können wir uns sparen«, reißt die Hebamme mich aus meinen vergnüglichen Gedanken. »Er ist der einzig Behaarte unter den kahlen Mädchen. Schau nur die kleinen Löckchen.«

»Übertragen?«, fragt Marianne, wirft einen routinierten Blick auf meine Nägel und zieht mir Fäustlinge aus hellem Baumwollstoff über, die sie am Handgelenk mit Schleifen festbindet. So ein Blödsinn, denke ich wütend, warum fesselt sie mir die Hände? Ich werde mir doch nicht mein eigenes zartes Gesicht zerkratzen! Was glaubt sie! Ich prüfe die Fessel, zum Glück sind die Enden nicht fest verknotet, so dass es mir zweifellos gelingen wird, sie unauffällig am Gitterbett abzustreifen.

»Nein, eine Spontangeburt. Der Kleine hat die Nabelschnur durchgebissen.«

»Auf Station lernt man nie aus.«

»Es ist ein kleiner Jude. Ist halt doch eine eigene Rasse.«

»Ich dachte, die seien alle tot.«

»Nein, einige leben noch. Seine Eltern. Wir haben schon seit Jahren keine von denen auf Station gehabt. Du, Marianne, denk doch mal nach. Der ist an Heiligabend geboren. Wie unser Heiland«, fügt sie bedeutungsvoll hinzu.

Marianne blickt mich fassungslos an.

»Jesus kam auch als Jude zur Welt«, flüstert sie verängstigt und reicht mich an die Hebamme zurück. Na, endlich bin ich wieder bei meiner nach Bohnenkaffee duftenden Hebamme. Ein wunderbarer Geruch.

»Ob das ein Zufall ist?«, fragt die Hebamme.

»Wer weiß. Du, Helga, ich traue mich nicht, den Kleinen anzufassen.«

»Ach was. Hier, nimm sein Händchen.« Sie zieht mir einen Fäustling wieder aus und steckt Mariannes Finger in meine Hand. Ich packe zu wie ein junger Gott und spüre Mariannes Hand zittern.

»Du, ich mag den nicht anfassen«, wiederholt sie schüchtern.

»Ach was, der kommt wie gerufen. Den leihen wir uns für eine Nacht aus und nehmen ihn mit zur Weihnachtsfeier. Kleiden ihn um. Ich bringe die Krippe, sie steht bei uns im Keller. Die Holzfiguren habe ich noch von meinem gefallenen Bruder, er war Pfarrer. Sie wurden in unserem Keller eingelagert. Ich müsste sie nur etwas sauber machen. Dann stelle ich sie im Schwesternzimmer auf. Schau mal, ich habe echte Kaffeebohnen bekommen, für unsere Weihnachtsfeier. Willst du mal riechen?«

»Wo hast du denn den her? Habe mich vorhin schon über den fantastischen Duft gewundert.«

»Geschenk vom Vater«, sagt die Hebamme und deutet auf mich. Zum ersten Mal, seitdem ich ihr begegnet bin, lacht Helga.

Ich zapple vor Wut in ihren Armen. Sie legt mich in ein freies Bett, wickelt mich fest in eine Wolldecke, die sie am Fußende einschlägt, schränkt meinen Bewegungsdrang ein, deckt mich bis zum Hals zu, so dass ich kaum noch etwas sehe. Sie will mich loswerden. Schon eilt sie zur nächsten Geburt. Tonnenschwer liegt die straffgezogene Wolldecke auf mir. Ich achte nicht mehr auf die Platzierung. Nehme sogar in Kauf, neben einer künftigen Toilettenfrau zu liegen. Ich kämpfe um mein Leben. Ich wollte die Säuglingsschwester warnen, mit mir können sie nicht Heiland spielen und dabei genüsslich den geschenkten echten Bohnenkaffee trinken. Doch meine Lippen gehorchen mir nicht, sie bleiben stumm, aus meiner Kehle dringt kein Laut. Ich bin der Sprache noch nicht mächtig. Tränen schießen mir in die Augen. Bringen Mütter ihre Kleinen so hilflos zur Welt, um mit ihnen spielen zu können? Nicht mit mir. Ich spiele mit keinem, und wenn, dann bestimme ich das Spiel. Wenn sie mich jetzt für ihre Feier missbrauchen, mich auf stacheliges Heu legen, spiele ich toter Mann, täusche eine Lungenentzündung vor, oder, besser noch, ich ersticke am Kerzenrauch, versetze sie alle in Panik. Wie klingt wohl die reißerische Schlagzeile der neu gegründeten Tageszeitungen: Der erste nach dem Krieg in einem katholischen Krankenhaus in Frankfurt zur Welt gekommene jüdische Säugling stirbt an einer Rauchvergiftung bei der Weihnachtsfeier im Schwesternzimmer? Das wäre doch zum Lachen, sie mit einem kinderleichten Trick von ihrem unverschämten Vorhaben abzubringen. Doch anstatt zu lachen, gelingt mir nur ein schwaches Hüsteln. Muss wohl erst das Lächeln erlernen, den kleinen Bruder vom Lachen, diese komische Gesichtszerrung, die alle Herzen im Nu erweicht. Verteufelt schwierig, diese Engelsfratze. Als Vorübung schürze und dehne ich meine Lippen, verziehe meine Mundwinkel unter Aufwendung aller Kräfte, auch ein Lächeln will mir nicht gelingen. Wiederholt übe ich, aber erst beim vierten Versuch spüre ich ein erstes Lächeln in meinem Gesicht. Eines, das sich sehen lassen kann, ein richtig schönes, ein bezauberndes Lächeln, das ich, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, testen werde.

Kühn hebe ich meinen schweren Säuglingskopf und beobachte, wie Marianne ihren Dienst versieht. Eine weiße Schürze über das lange graue Gewand gebunden, wickelt sie die Kleinen, schiebt einem schreienden Neugeborenen ihren Finger in den Mund, als ob sie seinen Hunger prüfe. Mir wird sie keinen Finger in den Mund stecken, oder ich beiße zu. Ich fühle schon, wie sich im Unterkiefer etwas regt. Bloß kein frühzeitiges Zahnen, nur keine Aufmerksamkeit erregen. Nur nicht auffallen, vielleicht vergessen die Schwestern mich und nehmen statt meiner eine geschnitzte Holzfigur als Jesuskind. Aber falls sie mich holen, werde ich mich zu wehren wissen. Die widerlichen Fäustlinge an meinen Händen stören mich, mühsam streife ich die Fesseln an der Bettdecke ab. Mädels, könnt ihr sehen, wie stark ich bin? Ich stütze mich auf einen Arm, plötzlich gelingt es mir, mich vorwärtszubewegen. Vor Freude kann ich nicht aufhören, robbe langsam aus der wärmenden Bettdecke heraus, wie eine aus dem Meer kommende Amphibie, die sich kriechend auf dem warmen Sand bewegt, presse meinen Kopf erneut gegen die Stäbe. Unverändert liegen die Gefährtinnen auf dem Rücken, den Kopf auf das Kissen gebettet. Wie man von Marianne gebettet wird, so liegt man. Ich fürchte, meine Kameradinnen beachten mich nicht. Dabei will ich sie beeindrucken mit meinem Talent, sie sollen mich als ihren Helden verehren, mich, den einzigen Mann im Säuglingszimmer.

Aus einem halb geöffneten Auge beobachte ich, wie Marianne sich über die Bettchen beugt. Warum heißt sie Marianne? Reimt sich auf Kanne und Pfanne. Und ich, wie heiße ich? Der kleine Bromberger, so nannten mich die Schwestern. Meine Nenneltern haben sich offenbar noch nicht für einen Vornamen entschieden. Wenn sie mich bloß nicht Spitzi oder Hemdi nennen, will ich schon zufrieden sein. Bis zur Beschneidung haben sie noch Zeit, einen Namen für mich auszuwählen. Vielleicht aber vergessen sie es, weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt sind: Die vergesslichen Eltern tragen mich nach Hause, füttern mich, ziehen mich groß. Sie gewöhnen sich so sehr an ihr namenloses Kind, dass sie später keinen Vornamen mehr finden. Falls sie beim Spaziergang angesprochen werden, wie denn das hübsche Kind im Kinderwagen heiße, nicken die Eltern freundlich und streichen mir stumm über den Kopf. Namenlos bin ich, und namenlos bleibe ich. Namenlos ist mein Name. N. N., noch zu nennender Name, wird auf meinem Schild im Waschraum des Kindergartens stehen, in Kinderhöhe angebracht, oberhalb des Hakens, an dem mein bunter Waschlappen hängt. Während andere Kinder stolze Besitzer von zwei oder gar drei Vornamen sind, reise ich im Familienpass bloß mit Bild und Geburtsdatum. Ohne schützenden Vornamen dem Gespött meiner hänselnden Klassenkameraden ausgesetzt, bin ich wie ein Haus ohne Tür, ungebetene Gäste dringen ungehindert zu mir vor. Ich benenne mich selbst, um meine Namensblöße zu überdecken. Werde meinen beiden Schöpfern leise meinen Lieblingsvornamen einflüstern, bis sie gar nicht anders können, als mich so zu nennen, im festen Glauben, sie hätten den Namen selbst gewählt.

Da, mit einem Mal Geräusche hinter der Glaswand, die uns vom Besucherzimmer abtrennt. Endlich was los in diesem langweiligen Zimmer: Ich entdecke ein paar neugierige Gesichter, Väter, Tanten, Geschwister drücken sich die Nasen platt, pressen Lippen und Hände gegen das Glas, um einen Blick auf uns zu erhaschen, winken, als ob wir sie beachten würden. Pustekuchen. Noch gehören wir uns. Wir sind schillernde Fabelwesen, glitzernde Zwitter, ein Füßchen noch frech im Mutterleib, das andere schon freischwebend in den Lüften. Wir Säuglinge gehören einer von der Wissenschaft vernachlässigten Spezies Mensch an. Noch vernabelt mit der Erde hören und spüren wir, wie sie sich seit Milliarden Jahren mit mächtigem Getöse ächzend und stöhnend um die eigene Achse dreht. Nur als Säuglinge und später am Ende des Lebens, auf dem Sterbebett, bevor wir zerfallen, sind wir der Natur so nahe, so anverwandt gleich.

Zu viert verließen wir das Krankenhaus. Der widerwärtige Greis, die Frau, die darauf bestand, meine Mutter zu sein, meine Hebamme Helga und ich. Ich hatte Helgas Herz vollständig erobert, sie verzaubert, sie mir gefügig gemacht. Um sie für mich zu gewinnen, spielte ich an Heiligabend, hinter dem Rücken der Frau, die mich geboren hatte, für die gesamte Belegschaft des Krankenhauses das Christkind in der Wiege. Der Coup gelang. Mit offenen Augen lag ich wach und brav in der sauber gebürsteten, geflochtenen Krippe und spielte die Rolle des Christkindes so präzise, so täuschend ähnlich, dass drei Oberärzte, vor Rührung ergriffen, vor mir niederknieten.

Scharfsichtig erkannte Helga mein göttliches Potential. Sie ließ ihre gebärenden Frauen im Stich und bot sich den künftigen Erziehungsberechtigten als Säuglingsschwester an. Der Alte hatte nichts einzuwenden, erleichtert willigte die Alte ein. Offenbar hatte ich sie durch die Tatsache meiner Geburt in arge Verlegenheit gebracht, wusste sie doch mit mir, dem König Säugling, der sich aus ihrem schlichten Schoß in die Welt fallen ließ, herzlich wenig anzufangen.

Helga hatte ihre Regeln der Hygiene und Ordnung, Fütterungs- und Schlafzeiten wie ein portables Krankenhaus in unsere Wohnung mitgebracht. Unruhige Nächte, Erbrochenes, stinkende Windeln, nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Augenzwinkernd nannte sie meinen unbändigen Drang, am frühen Abend aus voller Leibeskraft zu brüllen, meine Schreistunde. Schreistunde, das gefiel mir. Entzückt über die gewaltige Kraft meiner Stimme, schrie ich, als würde man mich häuten und vierteilen. Kein Schaukeln, kein gutes Zureden half. Helga wusste das. Pünktlich um achtzehn Uhr, wenn meine Schreistunde begann, verließ sie beim ersten schrillen Ton seelenruhig das Kinderzimmer. Es war ein mörderisches, lustvolles Schreien. Ich variierte, für die abgenutzten Ohren der Greise kaum hörbar, die Töne, steigerte sie nach Herzenslust, kreischte ohne Unterlass, schrie mich ins Delirium, bahnte mir brüllend einen Weg wieder hinaus. Die verunsicherte Alte im Zimmer nebenan zuckte verängstigt zusammen, wenn ich, Wände und Türen durchdringend, mit der Lautstärke von mindestens drei cholerisch gewordenen Dreijährigen zu schreien begann. Kaum fing das Gebrüll an, beglückwünschte sie sich, die Säuglingsschwester zu haben. Flaute der Lärm ab, bedauerte sie es wieder, denn Helga hatte inzwischen die Herrschaft im Kinderzimmer an sich gerissen.

In der Wohnung gab es ein ständiges Kommen und Gehen. Klingeln, Lärm, Fußgetrampel, Geräusche, fremde Stimmen, sogar das Greinen von Säuglingen war zu hören. Aufmerksam lauschte ich. Das sind deine Milchschwesterchen, klärte Helga mich auf. Ich will keine Geschwisterchen, meine Wiege teile ich mit niemandem. Die sind doch viel jünger als du, die armen Würmchen, beschwichtigte Helga, sie bekommen die gleiche Muttermilch, weil ihre Mütter nicht genügend für sie haben. Von mir aus dürfen die kleinen Schmarotzerinnen meine Überbleibsel wegnuckeln, sobald ich, der Senior-Säugling, mich sattgetrunken habe. Aber in meinem Kinderzimmer dulde ich sie nicht.

Ich horchte gespannt, wenn die Eingangstüre krachend ins Schloss fiel. Staubkörnchen flogen auf, ein Käferlein suchte krabbelnd ein schützendes Versteck, Helgas Stricknadeln hielten mit dem Klappern einen kurzen Augenblick inne, Frauenstimmen im Flur verabschiedeten sich rasch. Ich hatte ein Ohr für die Schritte des Alten, kannte sie genau, sie klangen wie die Schritte eines Eindringlings, störend, penetrant, laut. Der Alte war bei uns zu Hause. Mein Geschrei vertrieb ihn nicht, genauer gesagt, es berührte ihn kaum. Er behauptete steif und fest, das lange anhaltende Schreien stärke die schwachen Lungen seines kleinen Sohnes. Eine Beleidigung! Umpusten würde ich ihn glatt mit der gewaltigen Kraft meiner Stimme, wenn ich nur ein klein wenig größer und kräftiger wäre.

Wie auf Knopfdruck ebbte mein Geschrei pünktlich um achtzehn Uhr dreißig ab. Resolut öffnete Helga die Türe zum Kinderzimmer und sah mich prüfend an. Ich schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln, streckte ihr meine kleinen Arme entgegen und jauchzte vor Wonne, wenn sie mich auf den Arm nahm. Zu unserer beider Freude kitzelte sie mein fein gefälteltes Hälschen, freute sich über mein fröhliches Lachen. Wie hübsch und lustig es klang! Helga lachte ebenfalls. Sie verzog ihren riesigen Mund wie ein Papierschiff. Recht primitiv fand ich ihren Mund, er stachelte mich erneut zum Lachen an. Sie warf mich ein wenig in die Luft, uiii, wie schön das war! Ich zitterte vor Freude! Mein Bärchen, nannte mich ihr lachender schiffförmiger Mund. Sie schnupperte an meiner wohlriechenden Haut.

»Mein Bärchen«, sagte sie, »du duftest wie Alpenröschen.«

Königliche Lilien wären mir lieber gewesen, aber vielleicht kannte Helga sich bei Königs nicht aus. Das Spiel des Lachens mochten wir beide, wir hatten so richtig unseren Spaß. Jeder Spaß hat ein Ende. Sie hieß mich ruhig sein, verschloss ihren Mund mit dem gestreckten Zeigefinger, trug mich zum Füttern ins Schlafzimmer der Alten. Treffsicher und mit ungeheurer Geschwindigkeit schnappte ich mir die Brustwarze, umschloss sie samt Warzenhof mit meinem Mündchen, besoff mich an der Milch. Sekundenlang schielte ich unauffällig zu meiner Hebamme, die während der Fütterung kopfschüttelnd neben uns stand.

»Der Kleine ist ein Genießer, der trinkt wie ein ausgewachsener Kerl«, bemerkte sie schmunzelnd.

»Ist das gut oder schlecht?«, fragte die Greisin ängstlich und schob mich befremdet von sich.

»Wie man es nimmt«, antwortete die Hebamme in einem überheblichen Ton.

Ich beschloss, nicht weiter auf das Gerangel der beiden zu achten, kuschelte mich ein, grapschte mit meinen kleinen rosa Fingern nach der zweiten warmen Brust, trank sie mit einem Zug leer, um die Alte zu beeindrucken. Sie beachtete mich nicht, als sei sie in Gedanken versunken. Hallo! Mal hergeschaut! Hier bin ich, seine Majestät, der Säugling! Dass ihre Milch, die ohne ihr Zutun trinkfertig aus ihrem Körper fließt, mir so gut schmeckt, ist doch ein großes Kompliment! Ruppig stieß ich sie mit meinem Ellenbogen an, langsam senkte sie den Kopf, blickte mich scheu an, da riss Helga mich aus ihren Armen.