Cover

 

Die magisch-realistische Inselwelt, die Katharina Köller in ihrem bildstarken Debütroman erschafft, ist nicht nur ein ungewöhnlich faszinierender Schauplatz, sondern funktioniert zugleich als Brennglas auf gesellschaftliche und ökologische Probleme unserer Zeit. Das emotionale Kraftzentrum ihrer Erzählung sind die originellen und geheimnisvollen Figuren, denen man Seite für Seite auf den Grund kommt, während sich die Handlung dramatisch zuspitzt.

Der tätowierte Oktopus auf ihrer nunmehr flachen Brust schützt sie vor den Blicken, und zugleich ist er ein Zeichen ihres Triumphs: Denn Klarissa hat gesiegt. Ihre Kräfte kehren langsam wieder zurück, umso fester steht ihr Entschluss: Sie wird sich nichts mehr wegnehmen lassen. Es ist Jahre her, dass sie die Insel verlassen hat. Nun kehrt sie zurück – zurück zur »Schwankenden Weltkugel«, dem Gasthaus auf der Klippe, zurück zu ihrem Vater, dem wortkargen Meister der Fischkunst, zu ihrem gutherzigen Bruder Bill und ihrer Schwester Irina, die an jenem Tag zu ihnen stieß, als Klarissa fast im Meer ertrank. Irina, dieses seltsam-schöne Mädchen mit den kalten Fingern und goldenen Augen, von dem niemand weiß, woher es kam. Doch die Insel hat sich verändert: Fischerboote und Fischmarkt liegen brach, hoch in der Luft rotieren gläserne Windräder, und am Boden tummeln sich zeckenartige, metallene Gebilde, deren Funktion strengster Geheimhaltung unterliegt. Dann aber werden die Inselbewohner vom Großkonzern STARFISH, der über die Insel herrscht und als Vorreiter grüner Energie gilt, aus ihren Wohnungen verdrängt, der Pachtvertrag der »Schwankenden Weltkugel« aufgekündigt, und in ihrer Schwester gehen rätselhafte Veränderungen vor. Das Leben scheint Klarissa erneut bestehlen zu wollen. Doch sie hat eine Ahnung, wo das Epizentrum des Schwankens zu finden ist.

 

Titel
Verlagslogo

 

Inhalt

Sie sind doch sonst so zart

Es sieht ja schon ganz gut aus

Was ich im Wasser sah – 1

Klarissa sagt, dass Oktopusse Krebse fressen

Wo willst du eigentlich hin

Lass dir doch helfen

Seekrank kann man immer werden

Was ich im Wasser sah – 2

In meiner Jackentasche ist Schokolade

Ihr seid ja nicht blutsverwandt

Ja, hier tut sich was

Du siehst ziemlich kaputt aus

Was ich im Wasser sah – 3

Sie hat mir geholfen

Kannst du nicht mehr essen

Ich mache Kinder, du machst Gasthaus

Schau sie dir an

Was ich im Wasser sah – 4

Kannst du Oktopussprache

Da ist jemand

Du hast da was

Lange wird es das hier alles nicht mehr geben

Was ich im Wasser sah – 5

Du weiß nicht, wer ich bin

Der Flusswels glaubt, er könne alles fressen

Will er was von mir

Ich will die Fische sehen und die Knochen

Was ich im Wasser sah – 6

Sie filmt ständig irgendwas

Und sie klebt die ganze Zeit an dir

Ich bin schon ganz ausgetrocknet

Ich komme nicht mehr

Was ich im Wasser sah – 7

Du bist der gute Geist der nackten Männer

Ich bin gegen einen Baum gefahren

Die Insel ist zu klein für uns beide

Was machen die Zecken

Was ich im Wasser sah – 8

Was passiert mit uns

Wir werden uns langsam verwandeln

Warum konnte ich nicht dich heiraten

Wir gehen zum Wasser

Was ich im Wasser sah – 9

Es sieht aus, als würden sie Erde essen

Und alles für die Fische

Wir hätten uns retten können

Jetzt sind wir zwei ganz alleine

Was ich im Wasser sah – 10

Irgendwo muss man ja anfangen

Hier gibt es keinen Piratenschatz

 

SIE SIND DOCH SONST SO ZART

Ich hatte keine Brüste mehr.

Was würden sie zu Hause sagen, wenn ich zurückkäme und sie sehen würden, dass ich meine Brüste auf dem Festland gelassen hatte?

Es waren große Brüste gewesen. Schwere, fleischige Bälle.

Sie hatten sich immer ein bisschen anders verhalten als mein restlicher Körper mit ihrem Eigenleben, ihren eigenen Naturgesetzen, ihrer eigenen Gravitations- und Zentrifugalkraft.

Während ich mich durch meinen Alltag bewegte, hatte ich immer aufpassen müssen, sie zu schützen. Dafür hatte ich mir eine eigene Körperhaltung zugelegt. Ich hatte die Schultern nach vorne geschoben, meinen oberen Rücken gekrümmt und meine Arme vor meinem Brustkorb verschränkt. Wenn ich gerannt war, hatte ich sie mit beiden Händen festhalten müssen, und ich hatte eine Technik entwickelt, sie mit meinen Ellbogen zusammenzupressen, wenn ich im Auto über eine holprige Straße gefahren war. Sie waren zitternd auf und ab gehüpft, in meinen Händen und zwischen meinen Ellbogen.

In meiner Schule auf der Insel fragte mich ein Junge einmal, ob er meine Brüste anfassen dürfe, er würde mich bezahlen. Meine Brüste hatten damals gerade erst angefangen, sich bemerkbar zu machen, und ich wusste noch nicht recht, was ich von ihnen halten sollte. Der Junge versprach mir Geld, viel Geld für meine damaligen Begriffe. Und er erhöhte den Preis sogar, als ich ablehnte.

Ich überlegte.

Geld war prinzipiell immer erstrebenswert, und es schien nicht viel Aufwand, kurz stillzuhalten.

Der Junge rückte den Geldschein raus. Ich erinnerte mich noch, wie er näher kam, mit immer größer werdenden Augen und ausgestreckten Händen. Wie seine Finger zu der Ware, die er erworben hatte, hin zuckten. Wie ihm egal war, dass ich sein zu einer brünstigen Fratze verzogenes Gesicht sehen konnte.

Dann die Berührung.

Ein Wühlen im Fleisch. Seine Finger wie Krallen, hart und steif und heiß vor Angst. All sein Blut in den Händen, das Spatzenhirn leer, der Spatz ausgeflogen.

Ich warf ihm sein Geld hin, ließ ihn mit seinem lüsternen Blick und seinen zuckenden Fingern stehen und rannte zu meiner Schwester (deren Brüste verhältnismäßig klein waren und damals etwa die Größe von Mückenstichen hatten), um mich mit ihr zu beraten. Sie fand es dumm, dass ich das Geld nicht genommen hatte, und verstand nicht, was mein Problem gewesen war. Ich konnte es ihr nicht erklären, weil ich es selbst nicht verstand. Und keine Worte kannte, die beschrieben hätten, was es war.

Auf mir war eine Ware gewachsen, still und leise, ohne dass ich es bemerkt hatte, wie bei einem wild aufgehenden Kirschpflaumenbaum, der auf einmal Früchte trug.

Jetzt hatte ich sie verloren, die Ware – und die Waffe – der Frau. Sie hatte sich gegen mich gewendet.

In meiner Brust war ein Feind gesessen, ein todbringender Feind, und als er geschlagen war, hatte er auch den Schauplatz des Kampfes mit sich genommen, ein kontaminierter Busen musste gehen, war verloren, mein Gewebe unersetzlich verloren, obwohl man mir unbedingt einen Ersatz aufdrängen wollte.

Meine Mitmenschen schienen nicht zu verstehen, dass ich wusste, was ich wollte und nicht wollte. Dass ich mich bewusst entschieden hatte.

Sie waren alle sehr freundlich, die Damen und Herren Ärzte, und sie gaben sich viel Mühe, mich von der verrückten Idee, Brüste ersatzlos herzugeben, abzubringen.

»Sie können die Größe und Form der Implantate selbst wählen. Wir können gut verstehen, dass Sie sich von der ursprünglichen Größe belastet gefühlt haben, Sie sind doch sonst so zart.«

Man hatte mich vor der Operation gefragt, und man fragte mich nach der Operation, als es mir wieder ein bisschen besser ging. Ich verstand nicht, warum sie sich mit meiner ersten Antwort nicht zufriedengaben und weiter versuchten, in mich zu dringen. Was ging es denn sie an, ob ich Brüste hatte oder nicht? Und warum schickten sie mir, um meine Brüste zu diskutieren, ausgerechnet einen männlichen Psychologen? Er sah ja sehr vertrauenswürdig aus, der junge Herr Frauenversteher, mit seinen schwarzen Haaren und weißen Zähnen und dem freundlichen Blitzen in den Augen, das mir das Gefühl von Komplizenschaft vermitteln sollte. Er war wahrscheinlich auch hochkompetent und wusste alles über weibliche Trotzreaktionen, die symptomatisch waren für post-operative Belastungsstörungen.

»Sehen Sie sich die Implantate doch wenigstens einmal an.«

Und er legte den schweren, wabbelnden Pudding vor mir auf den weißen Tisch. Er war durchsichtig wie Fischlaich und künstlich wie Verpackungsmaterial.

»Nehmen Sie sie ruhig in die Hand.«

Ich dachte an den Wal, der in Norwegen in eine Bucht geschwommen war, um dort zu sterben. Die norwegische Küstenwache hatte versucht, ihn ins Meer zurückzutreiben, aber er war immer wieder zum Hafen zurückgekehrt. Er hatte den Magen voll Plastik gehabt, sie hatten mehrere vollständig erhaltene Plastiktaschen in seinem Magen gefunden, sie gewaschen und in einem Museum aufgehängt, damit alle Leute sie anschauen konnten.

»Sehen Sie? Es fühlt sich ganz natürlich an.«

Ich war in einem Krankenhaus, das auf einer schwankenden Weltkugel stand, in einem weißen Zimmer, das mitschwankte. Die große männliche Hand des Psychologen griff nach dem wabbelnden Pudding, der auf dem weißen Tisch lag, und grapschte ein bisschen daran herum. Der Psychologe wusste zweifellos, wie natürlich sich Brüste anzufühlen hatten und wie gut der Vergleich standhielt. Mir wurde übel, und ich zweifelte, ob meine Hand überhaupt die Kraft hätte, den transparenten Klops festzuhalten.

Robin, der neben mir saß, nahm ihn dem Psychologen ab und bestätigte: »Ja stimmt, fühlt sich ganz natürlich an, Klarissa, fühl mal, es ist gar nicht unangenehm.«

Ich sackte in mich zusammen und schloss die Augen. Gut, dass die beiden sich einig waren. Sie konnten zu zweit über die innovative Entwicklung der Silikontechnik diskutieren.

Ich hätte mich gerne auf mein Bett gelegt, aber ohne Hilfe war an ein so wildes Unterfangen nicht zu denken, und Robin fand sicher, dass ich dem Psychologen noch mehr Aufmerksamkeit schenken und mir seine Argumente anhören musste, bevor ich mich wieder in meinen Dämmerzustand verkroch.

»Wollen Sie uns nicht sagen, was Ihre Bedenken sind?«

»Ich will kein Plastik eingesetzt bekommen«, sagte ich.

»Plastik? Nein, Sie missverstehen, Silikon ist doch kein Plastik, es ist eine ganz besondere Mischung aus organischen und anorganischen Stoffen, es ist ganz und gar nicht mit Plastik vergleichbar.«

»Ist es biologisch abbaubar?«, fragte ich, obwohl mir das in dem Moment vollkommen egal war. »Stell dir vor, meine Leiche verrottet, aber meine Brüste bleiben ewig«, sagte ich zu Robin, der es nicht lustig, sondern dumm fand.

Ich hatte mir Videos und Bilder von Silikonbrüsten angesehen. Sie sahen alle scheußlich aus. Hart wie Tennisbälle schienen sie sich jenseits der Gesetze der Schwerkraft zu bewegen, die Nippel zeigten immer steif nach oben. So, als hätte sie jemand mit einem Schraubenschlüssel strammgezogen. Mich gruselte, bis mir einfiel, dass ich ja gar keine Nippel mehr hatte. Und sie auch nicht ersetzt bekommen würde.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Heutzutage ist das gang und gäbe. Denken Sie an … diese Schauspielerin, wie heißt sie noch mal, mir fällt jetzt leider ihr Name nicht ein …«

Ein kurzer Moment verging, in dem Robin und er gemeinsam über den Namen der Schauspielerin nachdachten, die – wie ich wusste – ihre Brüste präventiv durch Implantate hatte ersetzen lassen.

»Die hat ihre Brüste durch Implantate ersetzen lassen, um dem Brustkrebsrisiko vorzubeugen. Und es sieht ganz natürlich aus.«

Ich wusste den Namen der Schauspielerin, aber ich wollte ihn nicht sagen. Ich hatte mir ihre natürlichen Plastikbrüste angesehen. Ich konnte nicht erkennen, auf welchen Fotos es noch ihre Brüste waren und auf welchen sie schon Implantate hatte. Ihre Brüste waren so oder so perfekt, immer perfekt gewesen, davor und danach – nicht zu groß, nicht zu klein, wie zwei frisch gebackene Krapfen, knetbar, cremig, formvollendet.

»Ich würde Ihnen davon abraten, etwas zu tun, was Sie später bereuen. Sie sind doch eine junge, attraktive Frau. Wollen Sie das wirklich aufgeben?«

Ich merkte, dass Robin und er mich ansahen.

Wollte ich das wirklich aufgeben?

Ich würde kein Geld mehr verlangen können, dafür, dass mir jemand an die Brüste fasste. Würde ich das später bereuen?

Keiner sagte etwas, bis es dem Psychologen zu blöd wurde.

»Sie müssen wissen, wenn Sie den Eingriff jetzt machen lassen, wird es die Krankenkasse bezahlen. Zu einem späteren Zeitpunkt müssen Sie selbst die Kosten tragen.«

Der Psychologe stand auf. »Denken Sie in Ruhe darüber nach.«

Ich hob den Kopf und sah ihn an. Was für einen großen, schweren Kopf ich hatte und wie anstrengend es war, ihn zu heben.

Der Psychologe lächelte ein gewinnendes Lächeln, wünschte uns einen schönen Tag und ging. Robin half mir zurück ins Bett, sodass ich endlich wieder zwischen den Kissen liegen und die weiße Decke anstarren konnte. Ich wünschte, meine Schwester wäre hier.

Robin saß neben mir und hielt meine schlaffe Hand.

Ich wusste, dass er einen inneren Kampf mit sich selbst austrug, den er so oder so verlieren würde.

Er hatte sich den Kopf rasiert, als mir die Haare ausgefallen waren. Andererseits hatte er geweint, als er mich nach der Operation besucht hatte.

»Jetzt weinst du.« Meine Stimme war ein Hauch gewesen, nicht einmal ein Flüstern. »Jetzt bin ich dir zu hässlich, oder?«

Robin, der seine Wange an meinen kahlen Schädel gepresst und seine Tränen auf meine Stirn fallen gelassen hatte, war zurückgezuckt, hatte mich wütend angesehen und geschnaubt: »Nein. Gar nicht.« Dann hatte er sich die Nase geputzt. »Ich weine, weil das für dich sehr schwer sein muss.«

Schwer waren seine Hände auf meinen Schultern und sein Kopf auf meinem Schädel gewesen.

Er hatte sich noch mal die Nase geputzt und war sich mit einer Hand über seine Glatze gefahren, auf der bereits kräftige blonde Haarstoppeln zum Vorschein gekommen waren.

»Fühlst du dich deiner Weiblichkeit beraubt?«

Ich wusste es nicht.

Fühlte ich mich meiner Weiblichkeit beraubt?

»Ich habe gelesen, Frauen ohne Brüste fühlen sich ihrer Weiblichkeit beraubt.«

»Ich fühle mich nicht meiner Weiblichkeit beraubt.«

»Fühl dich bitte nicht als halbe Frau oder als Un-Frau, du bist noch immer genau derselbe Mensch, der du vorher warst, du bist immer noch genauso wundervoll und großartig und wunderschön wie vorher. Bitte. Du bist dieselbe Frau wie vorher.«

Ich bin dieselbe Frau wie vorher.

Keine halbe Frau oder Un-Frau.

Ich hatte schon immer meine Probleme mit dem Wort »Frau« gehabt.

Robin weinte und umarmte mich und weinte. Er trauerte um meine Brüste und verkrampfte sich in dem Versuch, nicht um meine Brüste zu trauern.

Ich erinnerte mich an den Moment, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Entblößt, ohne den Sport-BH, der sie in Schach gehalten hatte. Er hatte mich angesehen, als wäre ich ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk. Als hätte er einen Schatz gefunden.

Wir waren auf seinem Bett gelegen, und er hatte minutenlang mit meinem Monstrum von BH gekämpft, bis er ihn endlich aufbekommen hatte. Dann hatten meine Brüste sich in seine Hände ergossen. Sie waren zu groß für seine Hände gewesen, und er hatte versucht, so viel wie möglich von ihnen zu fassen zu kriegen. Er hatte seine Nase in die weiche, fleischige Landschaft meiner Brüste gebohrt. Ich war erstarrt.

Er war zurückgewichen, alarmiert durch meine plötzlich krampfhafte Starre, und hatte mich angesehen.

»Du bist wunderschön«, hatte er gesagt. Sein Blick war über meine Hüfte gewandert, die ich so zurechtgerückt hatte, dass sie zu meiner Taille hin steil abfiel, über meinen Bauch, der mir damals zu speckig erschienen war, und hatte sich dann an meinen Brüsten festgesaugt. Und ich hatte mich schüchtern auf seinem Bett gerekelt, versucht, hübsch zu sein, und vor Scham gekichert. Mir war nichts Besseres eingefallen, als zu kichern. Ich hatte seinen Blick kaum ausgehalten. Der Blick, der meine Brüste gewogen und ihren Wert geschätzt hatte. Der sich meine Nacktheit einverleibt und zu etwas gemacht hatte, das ihm gehörte und auf das er stolz sein konnte.

»Ich sitze einfach nur hier und schaue deine Brüste an«, hatte Robin manchmal gesagt, wenn ich ihm gegenüber an meinem Computer gearbeitet hatte.

Jetzt würde vor ihm eine halbe Frau oder Un-Frau sitzen.

 

ES SIEHT JA SCHON GANZ GUT AUS

Ich starrte stundenlang in den Spiegel und sah mich an. Um mich an mich zu gewöhnen. Um mein Aussehen durch meinen Blick zu glätten. Ich erkannte mich nicht und erschrak jedes Mal von Neuem, wenn ich mich ansah.

Das war ich, dieses dürre, blasse Wesen mit der gelben Haut. Die Augen so trüb. Das Gesicht so groß und so leer. So erstarrt. Ich versuchte zu lächeln, und es sah aus, als täte es weh. Meine Wangen schoben sich zu schmerzenden Grübchen zusammen. Es war anstrengend, zu lächeln.

Ich betastete meinen kahlen Schädel, fühlte die einzelnen Platten unter der dünnen Haut. Nackte weiße Knochen. Dünne Kalkgebilde, die Fleisch und schleimige Masse zusammenhielten. Ich fühlte, wie mein Gehirn pochte. Hinter meinem Gesicht konnte ich den Schädel – den Totenschädel – sehen. Meine Haut war durchsichtiger geworden.

Mein flacher Brustkorb hob und senkte sich unter dem Verband. Ich drehte mich um und sah über meine Schultern in den Spiegel. Die Rippen im Rücken stachen heraus wie Reibeisen. Meine Wirbelsäule wie der Kamm eines Drachen. Die Schulterblätter sahen aus wie die Flügel frisch geschlüpfter Vögel. Die Beckenknochen hart und knollig wie Weinstöcke.

Meine Armgelenke waren von den vielen Infusionen verhärtet. Meine vernarbten Knie waren dicke Knoten auf meinen Zahnstocherbeinen. Mein nackter Kopf eine Blase auf meinem dürren Hals.

Ich war doch eine junge, attraktive Frau.

Ich legte meine Hände auf meine Brust und fühlte, wie flach sie war.

Meine Brüste. Ich hatte mich geschützt und beschützt gefühlt, wenn ich meine Brüste festgehalten hatte, wenn ich mich an meinen Brüsten festgehalten hatte.

Jetzt lagen meine Hände auf dem Verband über der knochigen Brustplatte und spürten die Vibrationen meines pochenden Herzens und das Fehlen meiner Brüste, das Nichts, wo meine Brüste gewesen waren.

Es war eine Wunde.

Ich konnte nicht. Ich konnte jetzt nicht auch noch Kunststoff in diese Wunde einsetzen lassen, nicht das Nichts mit Kunststoff auffüllen. Auch wenn es halborganischer Kunststoff war.

Als das Schalentier auf meinem Oberkörper gewütet hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, ich hätte einen Fremdkörper in mir. Einen Feind im Busen, der unter meiner Haut wohnte. Einen Parasiten, der mich verseuchte.

Damals hatte sich mein Bedürfnis nach körperlicher Hygiene stark reduziert, weil ich es lächerlich gefunden hatte, außen sauber und innen schmutzig zu sein. Jetzt versuchte ich mir einzureden, dass ich sauber war, innerlich gereinigt, das Schalentier herausgekratzt, wieder nur ich hier, ich ganz allein, kein Nicht-Ich, das ich durch die Welt trug.

Ich umarmte mich. Schützte meine flache Brust und meinen durchsichtigen Körper vor Feinden.

Wie ein einsamer Embryo ohne Mutterbauch.

Ich dachte an meine Schwester, die mich nicht besuchen kam, und wünschte, sie würde kommen. Sie würde wider Erwarten einfach durch die Tür kommen, barfuß, wie sie ging, auf leisen Sohlen, lautlos stehen bleiben, jetzt gleich, meine Schwester, meine Schöne, meine Liebe. Sie würde sich neben mich in das weiße Bett legen und ihre langen, dünnen Beine mit meinen verkeilen, wie damals, als wir Kinder waren. Sie würde neben mir sitzen, wenn sie mir den Verband abnahmen und ich die nackte Wunde, wo meine Brüste gewesen waren, mit Augen und Händen erforschen musste. Sie würde keinen inneren Kampf mit sich kämpfen. Sie würde wirklich finden, dass ich noch dieselbe war, und Worte wie »halbe Frau« oder »Un-Frau« wären ihr gar nicht eingefallen.

Aber sie kam nicht, natürlich nicht.

Sie kam nicht, als man mir den Verband abnahm, und ich sah an mir hinunter und wurde vor Schreck fast ohnmächtig.

Es sah so hässlich, so unglaublich hässlich aus, die zwei Narben, die von meinen Achselhöhlen in einer perfekten Linie schräg nach unten über meine Brustplatte liefen. Sie wurden mit dicken schwarzen Nähten zusammengehalten. Es sah so grob und roh aus, so unsensibel, wie man mir da mein Fleisch malträtiert und wieder zusammengenäht hatte. Die Narben, als hätte ein ungeübter Lehrling mit dem Fleischermesser hantiert. Alles war wund und empfindlich, geschwollen und schillerte in allen möglichen Farben.

Ich sah nicht hin, als die Pflegerin mir einen leichten Verband anlegte und dabei beruhigende Worte gurrte: »Es sieht ja schon ganz gut aus.«

Ich starrte an die Decke, atmete so flach ich konnte und wünschte mir, wünschte mir von ganzem Herzen, dass diese Wunde nicht zu mir gehörte, dass das nicht mein Körper war und nichts Derartiges wirklich passierte.

Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste

Ho ho ho und ’ne Buddel voll Rum …

Die Pflegerin sagte noch irgendwas mit ihrer weichen Stimme, vielleicht, dass es bald Abendessen oder Frühstück geben würde, ich konnte nicht zuhören, ich sang vor mich hin und sah sie nicht an. Warum auch immer mir dieses Lied eingefallen war, ich hatte es zum letzten Mal vor hundert Jahren mit meiner Schwester gesungen, wir hatten uns die Melodie selbst ausgedacht und so laut gegrölt, dass die aufgeschreckten Möwen sich kreischend von den Klippen erhoben hatten. Ich hielt die Augen geschlossen, als die Pflegerin hinausging. Ihre klappernden Schritte hallten durch den Gang.

Ich sang den ganzen restlichen Tag vor mich hin. Mit geschlossenen Augen. Durch zusammengepresste Zähne. Wirklich singen konnte man es eigentlich nicht nennen. Es war mehr ein Wörter-keuchend-Hervorstoßen. Damit hielt ich meine Tränen und mein Zähneklappern in Zaum.

Meine Finger waren verkrallt in dem Leintuch. Mein Oberkörper pochte dumpf. Dort verliefen zwei gerade Schluchten, auf jeder Seite eine, zusammengehalten durch eine dicke schwarze Naht. Ich versuchte, nicht hinzufühlen.

Suff und der Teufel, die holten den Rest

Ho ho ho und ’ne Buddel voll Rum …

Auf Robin konnte ich jetzt nicht mehr zählen. Ich könnte mich niemals wieder vor ihm nackt zeigen. Ich würde mich nie wieder vor ihm ausziehen. Er dürfte niemals, niemals die Verwüstung an meinem Oberkörper sehen.

Ho ho ho und ’ne Buddel voll Rum …

Die Piratenbande, die dieses Lied normalerweise sang, saß zu fünfzehnt auf dem Sarg eines toten Kameraden. Vielleicht. Vielleicht saßen sie aber auch auf der Schatzkiste eines toten Kameraden.

Wie fünfzehn betrunkene Piraten auf einen Sarg oder eine Schatzkiste passten, konnte ich mir nicht vorstellen. Sie würden sich die ganze Zeit gegenseitig hinunterschubsen. Wenn sich einer auf einer Seite dazuquetschte, würde ein anderer auf der anderen Seite hinunterfallen. Niemals würden sie zu fünfzehnt auf einen Sarg passen.

Wenn sie ganz behutsam miteinander umgingen und sich schmal machten und nett zueinander waren, gingen sich vielleicht zehn Piraten auf einem Sarg aus. Zehn kleine Piraten. Aber Piraten – auch kleine Piraten – waren meistens nicht nett zueinander.

Die Piraten fielen vom Sarg in eine der beiden Schluchten, die neben dem Sarg entlangliefen, so gerade, als wären sie mit dem Lineal gezogen. Die Schluchten waren tief, und in ihnen pochte es dumpf. Die noch immer auf dem Sarg sitzenden Piraten hörten die Schreie ihrer Kameraden in den dunklen Schluchten verklingen. Dann klatschten sie auf das schwarze Wasser. Sie waren kurz erstaunt, nicht tot zu sein, und jubelten laut. Aber schon näherte sich ein neues Grauen. Ein riesiger Oktopus lebte in den Schluchten und ernährte sich von hineingefallenen Piraten. Die dummen Piraten hatten ihn für den Teufel gehalten, aber es war nur ein ganz normaler Riesenkrake, der sich in den Felsspalten versteckte und dann auf Jagd ging. Er war der Hüter der Schluchten und bewachte das pochende Herz, das darunterlag.

Ich öffnete die Augen.

Am nächsten Tag wurde ich entlassen.

Robin holte mich mit dem Auto seiner Eltern vom Krankenhaus ab, weil man mir die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zumuten konnte.

Ich war wie elektrisiert.

Ich hatte eine Idee gehabt.

Ich hatte schon lange Zeit keine Ideen mehr gehabt. Und es war auch noch eine gute Idee. Eine Idee, die mich retten würde. Ich hatte eine Rettung gefunden. Ich war schon wieder ein bisschen mehr Mensch und ein bisschen weniger das atmende Bündel Haut und Knochen, das man ins Krankenhaus geführt, dort an die Infusionen gehängt und dann wieder nach Hause getragen hatte, um es im Bett abzulegen und vorsichtig die Tür hinter ihm zuzumachen, damit es erneut seinen von grauenhaften Träumen durchzogenen Dämmerzustand einnehmen konnte. Jetzt wollte ich plötzlich wieder etwas, ich hatte wieder einen Willen.

Sobald Robin mich abgelegt hatte, verlangte ich krächzend nach Bleistift und Papier. Dann mühte ich mich ab, Kissen aufzurichten, sodass ich im Bett sitzen konnte, den Zeichenblock auf meinen Oberschenkeln, die Leselampe hinter mir.

Zum Glück konnte ich zeichnen. Nicht wahnsinnig gut. Aber gut genug.

Ich wusste, dass ich Zeit hatte, niemand würde so bald nach der Operation einen Eingriff an meiner geschundenen Haut vornehmen, die Schluchten mussten sich erst schließen, die Schwellungen abheilen, die Nähte entfernt werden, die schillernden Regenbogenfarben verblassen. Außerdem musste ich genug Kraft sammeln, um ohne Robin eine längere Strecke zu Fuß gehen und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können.

Ich hatte Zeit.

Und ich würde Zeit brauchen.

Mein Plan gestaltete sich schwieriger, als ich gedacht hatte. Ich konnte den Stift kaum halten, den ich mir zwischen meine zittrigen Finger klemmte, und es kostete mich viel Mühe, meine Hand über dem Papier schweben zu lassen, sie kam mir unendlich schwer vor. Oft schlief ich vor Anstrengung mittendrin ein.

Wenn ich erwachte, zeichnete ich Oktopusse Oktopusse Oktopusse.

Kraken.

Tagelang.

Zusammen mit dem Oktopus entwickelte ich einen neuen Lebensentwurf:

1. Ich würde mir nichts mehr wegnehmen lassen.

(Ich hatte mir vieles wegnehmen lassen, am wichtigsten davon: meine Schwester.)

2. Ich würde mir keine fremde Realität aufpfropfen lassen und nicht mehr in jemand anderes Theaterstück mitspielen. Ich würde nur mehr nach meinem eigenen Wertesystem agieren.

3. Ich hatte überlebt. Ich war eine Überlebende. Ich hatte eine schwere Krankheit besiegt und einen möglichen Tod abgewendet und musste mir meiner Kraft bewusst sein.

Es wurde langsam besser. Meine Striche wurden sicherer und meine Finger flinker, und ich schlief nicht mehr andauernd ein.

Ich zeichnete mich selbst, mein dürres, fahles Selbst mit dem vernarbten Oberkörper ohne Nippel und Brüste.

Und dann setzte ich auf die leere Stelle den Oktopus.

Die Tentakel streckten sich zu meinen Schultern und lagen wie eine Kette um meinen Hals. Unter dem Oktopus konnte man die Narben, wo meine Brüste gewesen waren, nicht mehr sehen. Die Augen des Oktopus trafen jeden, der auf mein Dekolleté starrte.

Sie starrten aggressiv zurück.

 

WAS ICH IM WASSER SAH – 1

Ich habe Irina noch nie in der Wohnung besucht.

Nicht dass ich nicht wollte, ich wollte, ich will, jeden Tag, wenn man es mir erlauben würde.

Aber das ist schwierig.

Seit dem großen Streit gehören wir zu zwei verfeindeten Lagern, Irina und ich, und ein Übertreten der Grenzen ist vor allem für Irina schwierig.

Also bleibt sie, wo sie ist, in der Wohnung unter dem Wellblechdach, und ich bleibe – soweit das möglich ist – davon entfernt.

Es ist nicht ganz möglich.

So groß ist die blaue Stadt nicht (und ihr begehbarer Teil wird immer kleiner), dass man nicht einfach, ganz zufällig, in die Nähe von welchem Gebäude auch immer gelangt, wenn man es sich – wie ich – zur Aufgabe gemacht hat, ihre Verwandlung und in letzter Konsequenz ihre Auslöschung zu dokumentieren.

Ich dokumentiere.

Ich habe auch das Hochhaus mit dem Wellblechdach dokumentiert.

Es ist das einzige Hochhaus der blauen Stadt.

Die Tür und das Fenster, die auf den Balkon gehen, der zu der Wohnung gehört, in der Irina sich befindet, sind immer geschlossen.

Keiner sitzt dort und schaut in die Bucht zum Alten Hafen oder auf die Ruinen des alten Fischmarkts. Der Balkon liegt südseitig, und die Sonne muss das kleine Zimmer unter dem Wellblechdach erbarmungslos aufheizen.

Irina hasst grelle Sonne.

Sie würde sich niemals auf diesen Balkon setzen.

Ich weiß nicht, ob sie die Wohnung verlässt, viel gibt es hier nicht mehr zu tun. Die meisten Leute sind weg, und die Radlader und Baukräne und Lastkraftwagen und Bagger, die überall herumfahren und ihre Abrissbirnen gegen die blauen Wände donnern lassen, laden niemanden zum Spazierengehen ein.

Außer mir.

Manchmal war ich versucht, bei ihr zu klingeln, habe mich dann aber nicht getraut. Ich traue mich auch nicht, sie anzurufen, weil ich ihr keine Probleme machen will. Sie hat sich entschieden und es mir erklärt. Eindringlich und in ihrer Art, Dinge zu erklären, mit wenig Worten und vielen Gesten. Ich habe es verstanden.

Dass ich nichts, gar nichts tun kann. Dass ich machtlos bin. Aber alle sind machtlos.

Und jetzt, jetzt ruft mich ihr Freund an – er mich –, obwohl er ihr gesagt hat, er will mich nie wiedersehen.

Unsere Beziehung ist kompliziert. Es gab eine Zeit, da haben wir einander gehasst, so sehr, dass ich nicht schlafen konnte, dass ich davon geträumt habe, ihn mit dem Pick-up zu überfahren.

Oder ihn von der Klippe zu werfen.

Und ich bin sicher, dass er mir da in nichts nachsteht.

Unser Hass aufeinander ist wie ein fester Knoten aus Tausenden dicken und dünnen Fäden. Sie entspringen an uneindeutigen Orten, und es gibt keine Anleitung, sie zu entwirren.

Jetzt ruft er mich aber trotzdem an.