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Joachim Anlauf / Peter Gerdes (Hrsg.)

Tod unterm Schwanz

Kurzkrimis aus Hannover

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Veröffentlichung dieser Anthologie erfolgte
mit Unterstützung des SYNDIKATs e. V.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © May_Lana / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6052-4

Der kriminal-literarische rote Faden durch Hannover

Im Jahre 1969 bescheinigte eine von der Stadtverwaltung in Auftrag gegebene Image-Studie dem Hannoveraner an sich, »kühl, steif und beamtenhaft« zu sein, »keinen Spaß zu verstehen« und »weder sich noch anderen Freiheiten zu erlauben«. Daraufhin ersann der damalige Oberstadtdirektor Martin Neuffer eine Image-Kampagne mit zwei Komponenten: dem Straßenkunstprogramm und der Hannover-Werbung. Dazu gehörte eine 4,2 Kilometer lange Linie, die mit roter Farbe über das Pflaster der Innenstadt gezogen wurde und insgesamt 36 Sehenswürdigkeiten miteinander verband und immer noch verbindet. Was nun hat dieser »Rote Faden« mit der Anthologie zur CRIMINALE 2020 zu tun?

Die in dieser Anthologie enthaltenen 20 Kurzkrimis sind eng mit den liebenswerten Eigenarten und den Sehenswürdigkeiten dieser Stadt verwoben, kreuzen sogar an mehreren Stellen den real existierenden roten Faden. Zwei Dutzend Krimiautorinnen und -autoren des SYNDIKATs haben anlässlich der CRIMINALE Geschichten erdacht, in denen Hannover ganz und gar nicht kühl, steif oder beamtenhaft gezeigt wird, sondern im Gegenteil: cool, emotional und humorvoll.

Und ähnlich wie beim roten Faden, der an der Tourist Information gegenüber vom Hauptbahnhof beginnt und am Ernst-August-Denkmal endet, ist das Reiterstandbild der Dreh- und Angelpunkt dieses Sammelbandes, der seinen verwegenen Titel »Tod unterm Schwanz« vollkommen zu Recht trägt. Unsere Krimiautorinnen und -autoren, darunter GLAUSER-Preisträger, alte Hasen und Newcomer, haben historisch oder aktuell, kulinarisch oder politisch, lokal oder grenzüberschreitend einen kriminal-literarischen roten Faden durch Hannover gezogen. Seien Sie gewiss: Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie manche Sehenswürdigkeit mit anderen Augen sehen.

Deshalb ist Hannover im CRIMINALE-Jahr 2020 eine würdige Krimihauptstadt. Wen wundert’s, kommen doch in diesem Verkehrsknotenpunkt so viele begabte Menschen aus Politik, Showbusiness und Wirtschaft zusammen, die sicherlich auch künftig zuverlässig guten Stoff für weitere Geschichten liefern werden. Nicht zu vergessen: Das jährlich stattfindende Krimifest, die vielen gut sortierten Buchhandlungen und liebevoll organisierten Bibliotheken. Aber genug der Vorrede: Vorhang auf und Bühne frei für die Anthologie zur CRIMINALE 2020 in Hannover.

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre!

Joachim Anlauf

Peter Gerdes

Liebe Leserinnen und Leser,

seit über dreißig Jahren veranstaltet das SYNDIKAT, die Vereinigung der deutschsprachigen Krimiautorinnen und -autoren, an wechselnden Orten die CRIMINALE, das größte Krimifestival im deutschsprachigen Raum. 2020 ist Hannover unser Gastgeber. Einige ausgewählte Mitglieder unserer Ehrenwerten Gesellschaft haben wir schon vorher heimlich ausgesandt, um mögliche Tatorte für Verbrechen auszubaldowern. Diese Verbrechen möchten wir Ihnen mit der vorliegenden Anthologie präsentieren.

Und wir möchten Sie einladen, mit uns die CRIMINALE zu feiern, wenn über zweihundert Krimiautorinnen und -autoren für fünf Tage in die Stadt kommen, um Lesungen abzuhalten, Seminare über das kunstvolle Morden zu besuchen, sich auf der Bühne mit professionellen Ermittlern auszutauschen und dem Publikum das ganze Spektrum der deutschsprachigen Kriminalliteratur vorzustellen.

Doch nun lassen Sie sich verführen in die chaotische, sinnliche und immer kriminelle Welt unserer Mitglieder, der höchst Ehrenwerten Gesellschaft des SYNDIKATs.

Mit criminellem Gruß

Jens J. Kramer

(Vorsitzender des SYNDIKAT e.V.)

Inhalt

Impressum

Der kriminal-literarische rote Faden durch Hannover

Liebe Leserinnen und Leser,

Inhalt

Wencke und Wilsberg auf der schiefen Bahn

Dorfklatsch

Tante Beeke muss weg!

Unterm Schwanz

Eiskalt

Die Begegnung

Frösche ohne Masken

Das letzte Spiel

Der Fluch der Beginen

Ausgeliefert

Mit Schirm und Charme

Blödmann!

AFFA!

Der Sieger bekommt alles

Onkel Fred – Held meiner Jugend

Ein eiskaltes Händchen

Die Göttinger Drei

Schande in Changde

Silke, Brigitte und Melanie

Hannoverbrechen oder: Die tödliche Kunst

Kurzbiografien CRIMINALE-Anthologie

Dank an die Komplizen

Wencke und Wilsberg
auf der schiefen Bahn

Sandra Lüpkes und Jürgen Kehrer

»Georg! Aufwachen!«

Ich wusste sofort, wem die Stimme gehörte. Eine energische, nicht unfreundliche Frauenstimme, aktuell von einer gehörigen Portion Besorgnis durchdrungen. Die Besorgnis gefiel mir besonders gut. Ich bekam einen sanften Klaps gegen die Wange. »Georg, mach die Augen auf, verdammt!«

Na gut. Ich öffnete die Augen und erblickte zuerst einen Pferdearsch aus Bronze und dann Wencke Tydmers’ Gesicht. Die Polizistin aus Hannover beugte sich über mich.

»Na endlich! Wie fühlst du dich?«

Ich richtete mich auf, sofort durchzuckte ein stechender Schmerz meinen Hinterkopf. Ich ertastete eine fette Beule. »So lala.«

»Dann geht’s dir im Vergleich zu Hast-ma-ne-Mark ja blendend.«

»Hast-ma-ne-Mark?«

»Er liegt neben dir.«

Ich drehte meinen Kopf in schmerzvermeidender Zeitlupe und blickte in die leeren Augen des Mannes, mit dem ich verabredet gewesen war. Es hätte nicht die klaffende Wunde am Hals und die riesige Blutlache gebraucht, um zu wissen, dass er tot war.

»Was ist passiert?«, fragte Wencke.

»Weiß nicht. Wir waren verabredet. Hier, unterm Schwanz, wie ihr Einheimischen das nennt. Um Mitternacht.«

»Warum?«

»Er hat mir meinen Fotoapparat geklaut. Und ich habe ihm 300 Euro für die Rückgabe der Speicherkarte geboten.«

»Und darüber ist es zu einem Streit gekommen?«

»Nee«, sagte ich. »Bevor er aufgetaucht ist, hat mir jemand eins über die Rübe gezogen.«

»Und weshalb bist du überhaupt in Hannover?«

»Ein Auftrag, was sonst?« Ich streckte meine Hände aus, um mich von Wencke hochziehen zu lassen. »Jede weitere Frage beantworte ich erst, nachdem du mir ein paar Schmerztabletten besorgt hast.«

Ein paar Stunden zuvor, genauer gesagt: 16.25 Uhr, in einem schicken Seminarraum in einem noch schickeren Hotel in Bahnhofsnähe:

Seit Wencke denken konnte, beneidete sie Antonia Zündel. Die hatte aber auch mal wirklich alles Glück der Welt hinterhergeschmissen bekommen. Durfte in den 70ern das Ferienprogramm für Kinder moderieren, in den 80ern in einem Scorpions-Videoclip mitspielen, in den 90ern Werbung für Nivea machen und in den 00ern für Nivea-Age. Ach ja, und Schauspielerin war sie auch noch.

Dass dieses Glückskind gerade unter einer Leinwand saß, auf der »Auf der schiefen Bahn« geschrieben stand, war reiner Zynismus. »Ich weiß, wie es sich anfühlt, obdachlos zu sein«, flötete sie. »Welche Kälte einem entgegenschlägt, wenn man seinen Körper an wildfremde Männer verkaufen muss, um den nächsten Schuss zu bezahlen.« Auf der Leinwand startete der Trailer des neuesten Films mit Antonia Zündel, in dem die Schauspielerin in makellos blutroten Stiefeln an einer mit Grafitti besprühten Wand vorbeilief und ihren legendären Hüftschwung aus drei verschiedenen Kameraperspektiven präsentierte. »Zur Vorbereitung auf meine Rolle habe ich zwölf Stunden auf der Straße gelebt. Ich kenne die Bitterkeit des wahren Lebens.«

Als Antonia Zündel eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, erhellte ein Blitzlichtgewitter den Raum. Sie hatte es eben drauf. Weil sie zu bewegt war, um weiterzureden, übernahm ihr PR-Manager es, den Grund der Pressekonferenz zusammenzufassen: Frau Zündel habe durch ihre aufreibende Rollenrecherche und auch durch die politische Arbeit ihres Mannes verstanden, dass die Zustände auf Deutschlands Straßen erbärmlich seien und man dringend etwas unternehmen müsse. Deshalb habe sie die Stiftung »Auf der schiefen Bahn« gegründet und wolle sie heute hier in ihrer Heimatstadt Hannover der Öffentlichkeit vorstellen.

Warmer Applaus erfüllte den unterkühlten Raum. »Endlich tut mal jemand was!«, jubelte es aus dem Publikum. Und Wencke hasste Antonia Zündel noch ein kleines bisschen mehr.

Die setzte sich frisch frisiert und geschminkt in ihrem Designerdress hin, ließ sich den Kaffee bringen, rührte die Kekse nicht an und bekam in zehn Minuten mehr Lob und Anerkennung als Wencke in den letzten drei Jahren, die sie sich als LKA-Expertin durch das Milieu geschuftet hatte.

»Nennen wir es doch beim Namen«, meldete sich die blöde Kuh wieder zu Wort. »Die Polizei hat auf ganzer Linie versagt. Rund um den Bahnhof existiert eine Parallelwelt, in der die Gesetze nicht gelten. In der Menschen in ihrem Elend …«

Es reichte. Wencke griff zu, leerte den gesamten Keksteller in ihre Handtasche, denn solch leckeres Backwerk war in der Polizeistation am Raschplatz nie im Angebot. Dann stand sie auf und verließ den Raum. Niemand schaute ihr nach.

Doch, einer folgte ihrem Abgang mit interessiertem Blick. Wencke bemerkte es erst, als sie schon fast durch die Glastür war. Blondes, halblanges, mit Stirnband zurückgefasstes Haar, schwarze Lederweste, die das Tattoo-Gesamtkunstwerk, welches er als Arme benutzte, in Szene setzte: Konny Fassan. Was machte der denn hier?

17.05 Uhr, vor einem Hotel, das sich bemüht, schick auszusehen:

Ich kannte Hannover bislang nur vom Durchfahren, als ICE-Haltestelle auf der Strecke von Münster nach Berlin. Eine Frau, eine Polizistin genauer gesagt, die ich mal in Münster kennengelernt hatte, wäre wahrscheinlich ein Grund gewesen, länger als zehn Minuten in Hannover zu bleiben. Aber Wencke Tydmers hatte mich nie eingeladen.

Wieso hätte ich Hannover also eine Chance geben sollen, den Ruf als langweiligste Metropole Deutschlands zu widerlegen? Obwohl ich zugeben musste, dass sich Hannovers Elite – nach allem, was man so las – reichlich Mühe gab, gegen das Image anzukämpfen: Anrüchige Milliardäre wurden Fernsehstars; Volksvertreter feierten ihren runden Geburtstag im Rotlichtbezirk; Kirchenobere fuhren alkoholisiert Auto.

Womit wir bei meinem Klienten wären: Gisbert Schrunder, Ministerpräsident von Niedersachsen. Schrunder tat alles dafür, den Einzug ins Kanzleramt zu schaffen. Er hatte sich zusätzliche Haare auf den Kopf verpflanzen lassen, modernere Anzüge gekauft, an seiner Rhetorik gefeilt, seine Walle-Walle-Kleider tragende Ehefrau in die Wüste geschickt und dafür eine Filmschauspielerin zur First Lady befördert. Jetzt musste er nur noch die nächste Landtagswahl gewinnen, dann konnte ihn niemand mehr stoppen.

Nur: Schrunder hatte ein Problem. Und so kam ich ins Spiel. Der Ministerpräsident glaubte nämlich, dass die zukünftige Kanzlergattin die Sache mit der ehelichen Treue nicht so eng sah. Im Gegensatz zu seiner Altfrau, die abends gerne Migräneanfälle bekam und lieber zu Hause blieb, ließ sich die schauspielernde Neue keine Chance auf eine Party entgehen. Und sie war fit genug, um bei jedem Event bis zum frühen Morgen durchzuhalten. Meist schlief sie bis in den mittleren Nachmittag, eine Tageszeit, in der ihr regierender Gatte schon eine Kabinettssitzung geleitet und zwei Autobahnabschnitte eröffnet hatte. Kein Wunder, dass Schrunder immer öfter schlappmachte und seine Frau alleine zurücklassen musste – inmitten einer Horde testosterongesteuerter Männer. Was, wenn die Klatsch-und-Tratsch-Medien davon Wind bekommen würden? Ein einziges Foto, das seine Frau in inniger Umarmung mit einem x-beliebigen Schönling zeigte, hatte das Potenzial, Schrunders Karriere zu zerstören.

Inzwischen hatte ich den Hauptbahnhof verlassen und war bis zu dem Hotel getigert, in dem Antonia Zündel – ihren Schauspielerinnennamen hatte Schrunders Frau sich nicht wegheiraten lassen – eine Pressekonferenz gab. Es ging um eine Charity-Initiative für Obdachlose, so viel hatte ich dem Internet entnommen, aber auch wenn Antonia Zündel für gradere Bananen gekämpft hätte, wären die hannoverschen Medien vermutlich genauso zahlreich erschienen. Ich sparte mir die Reden und das Blitzlichtgewitter und wartete auf den Moment, in dem die Schauspielerin den Ort ihrer wohltätigen Ankündigungen verlassen würde.

Bloß: Der kam und kam nicht. Die letzten Reporter waren längst gegangen und ich fürchtete bereits, dass Zündel durch einen Hinterausgang verschwunden sein könnte, da öffnete sich die Hoteltür. Heraus trat – ein Motorradpärchen. In voller Lederkluft und mit aufgesetzten Helmen. Enttäuscht verfolgte ich, wie die beiden zu einer fetten Harley Davidson stapften. Die Lederbraut reichte trotz einer beachtlichen Größe ihrem Biker-Freund nur bis zur Schulter und … Verdammt, das war er doch, der unverwechselbare Hüftschwung der Antonia Zündel. Ein männerherzenerweichendes Wackeln mit dem Po, auf den der Biker jetzt seine behandschuhte Hand legte.

Ich hastete zu dem nächstbesten herumstehenden Taxi und wies den Fahrer an, dem Motorrad zu folgen.

Der Mann kicherte. »So ’ne richtige Verfolgungsjagd?«

»Ist nur Spaß«, sagte ich, zog meinen Fotoapparat aus dem Rucksack und schoss schon mal ein paar Fotos, die zeigten, wie Zündel ihren bulligen Vordermann umklammerte.

»Ihre Frau?«, fragte der Taxifahrer.

»Nee. Aber auch nicht seine.«

Wir fuhren nach Osten, die Straßen wurden grüner und die Villen herrschaftlicher.

»Wie heißt das hier?«, fragte ich.

»Philosophenviertel. Am Rand der Eilenriede, wo die Bonzen wohnen.«

Das Motorrad stoppte vor einer Gründerzeitvilla. Zündel und ihr Begleiter stiegen ab und zogen sich die Helme vom Kopf. Ich hob den Fotoapparat.

22.12 Uhr, in der Polizeistation am Raschplatz, die etwas schicker ist als noch vor zehn Jahren:

Zehn, allerhöchstens fünfzehn Minuten, und die Kekse waren weg. Die unleckeren mit der Creme hatte zum Schluss einer der Kleinganoven weggefuttert, der sich gern mal beim Hanfdealen erwischen ließ, um in der Polizeistation ein wenig auszuruhen. Spitzname »Flip«, wie der Grashüpfer bei der Biene Maja.

Wencke musste zugeben, in einem hatte Antonia Zündel recht gehabt: Rund um den Hannoveraner Bahnhof existierte ein Parallelkosmos. Der war bereits architektonisch so angelegt. Zwei Etagen zum Flanieren, die eine verlief im Städtebaujargon auf der Minus-Eins-Ebene, was schon verdächtig nach Unterwelt klang. Vor dem Bahnhof ritt der bronzene Ernst August ins Sonnenlicht. Hinter dem Bahnhof war der graue Raschplatz immer noch grau, obwohl ein Architektenwettbewerb und viele Millionen es gut mit ihm gemeint hatten. Wäre Wencke Gaunerin, sie würde genau hier ihrem Tagwerk nachgehen.

Doch sie war Kriminalkommissarin und im Auftrag des LKA damit beschäftigt, für die Stadtmitte ein neues Sicherheitskonzept zu entwickeln. Also saß Wencke oft stundenlang vor ihren Bildschirmen, um das mit zahlreichen Überwachungskameras aufgenommene Geschehen zu analysieren. Sie musste jeden Winkel kennen, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wie konnte man die dämlichen Nicht-Hannoveraner, die sich meist nur zum Umsteigen am Bahnhof aufhielten, endlich dazu bringen, auf ihre Wertsachen aufzupassen? So wie diesen Herrn da auf Monitor 8. Sechzig-plus, hatte sich am Stehtisch bei Maxxi-Pizza gerade den Gaumen am Käse verbrannt und steckte nach dem Bezahlen das Portemonnaie in die Gesäßtasche seiner ausgebeulten Jeans. Und die mittelwertvoll aussehende Spiegelreflexkamera hing ihm allzu lässig über der Schulter. Hallo? Der wollte doch beklaut werden!

»Morgen komme ich übrigens in der HAZ, Frau Kommissarin«, sagte Flip, der satt und zufrieden wirkte. »Zusammen mit dieser Sexbombe, die von den Titelseiten am Kiosk.«

»Antonia Zündel.«

»Keine Ahnung.« Flip konnte nicht besonders gut lesen. »Aber nett is se. Will mir helfen, hat se versprochen. Und ganz lieb geguckt. So kuckste mich nie an, Frau Kommissarin.«

»Ich hab hier schon genug zu gucken.« Der Mann am Pizzastand kam Wencke bekannt vor. Wenn er endlich mal in ihre Richtung schauen würde …

»Ach nee, Hast-ma-ne-Mark is auch schon wach!« Flip zeigte auf den schlaksigen Kerl, der auf Monitor 8 näher kam. Einer, bei dem Wencke immer dachte, wie kann ein Körper das mitmachen. Der Kerl lebte schon so lange auf der Straße, dass er sich seinen Spitznamen bereits vor der Währungsreform verdient hatte. Ein harmloser Typ, der sich redlich durchs Leben schnorrte.

Wencke rückte näher an die Mattscheibe. Hast-ma-ne-Mark schlenderte auf den Pizza-Stand zu. Manchmal fragte er die Leute, ob er was vom Rand abhaben könne. Meistens gaben sie ihm was. Wahrscheinlich, weil er aussah wie Jesus, wenn der etwas älter geworden wäre. Nun, ein Heiliger war Hast-ma-ne-Mark nicht, aber auch keine Gefahr für die Allgemeinheit. Doch jetzt … das war nicht zu glauben … griff er, für seine Verhältnisse blitzschnell, nach dem Fotoapparat, zog ihn von der Schulter, so heftig, dass dem Kauenden die Pizza von der Pappe rutschte, und rannte davon. Der Bestohlene schien perplex. Als er endlich begriff und die Verfolgung aufnahm, hatte Hast-ma-ne-Mark trotz seines schlaksigen Ganges schon einen kleinen Vorsprung gewonnen und humpelte die Rolltreppe zur U-Bahn hinunter.

Wencke drückte die Sprechtaste. »Jungs, geht mal in den Keller, Diebstahl eines Fotoapparats. Der Täter hat lange Haare, der Verfolger dafür kaum noch welche …« Wencke schärfte den Blick. Dieb und Opfer waren jetzt auf Monitor 2 angekommen, der die U-Bahn-Gleise zeigte. Um diese Uhrzeit war kaum noch jemand auf dem Bahnsteig. Hast-ma-ne-Mark schien aus der Puste zu sein, er drehte sich um und erkannte wohl die Ausweglosigkeit. Doch statt das Diebesgut einfach rauszurücken, stellte er sich dem Verfolger mit einer Drohgebärde entgegen.

»Jungs, beeilt euch. Sie sind an Gleis drei und das könnte böse ausgehen!«

Die Rangelnden näherten sich gefährlich der Bahnsteigkante.

»Jungs, wo bleibt ihr denn?«

Hast-ma-ne-Mark nahm all die Kraft seiner dünnen Ärmchen zusammen und schubste seinen Gegner von sich. Der strauchelte, knickte mit dem Fuß um – und stürzte ins Gleisbett.

»Jungs, haltet die U-Bahn auf! Mann im Gleisbett! Habt ihr gehört?«

Während sich Hast-ma-ne-Mark aus dem Staub machte, blieb der Mann im Gleisbett regungslos liegen. Ausgerechnet jetzt hatte er das erste Mal eine Position eingenommen, in der Wencke ihn gut erkennen konnte. Das war nicht zu fassen! Dieser saudumme Idiot, der sich vom schlaffsten aller Hannoveraner Unterweltler hatte fertigmachen lassen und jetzt in Lebensgefahr schwebte, war gar kein saudummer Idiot. Sondern Wilsberg! Ausgerechnet Georg Wilsberg! Oder? Wencke konnte sich nicht vergewissern, denn der Monitor wurde schwarz, pechschwarz, genau wie alle anderen Bildschirme auch.

»Jungs, ich glaube, das System bricht gerade zusammen. Jungs? Hey? Könnt ihr mich hören?«

22.18 Uhr, auf Gleis drei:

Der Mistkerl hatte mich tatsächlich auf das Bahngleis gestoßen. Ich bekam keine Luft. Wahrscheinlich hatte ich mir irgendwas gebrochen, das Rückgrat oder einen anderen wichtigen Knochen. Ich konnte nur liegen bleiben, darauf warten, dass … Nein, so viel Zeit hatte ich nicht. In den nächsten Minuten oder Sekunden würde hier eine U-Bahn auftauchen und wollte ich nicht in mindestens drei Teile zerlegt werden, musste ich von dem Gleis runter, Schmerz hin oder her. Ich rollte mich auf den Bauch und krabbelte zur Bahnsteigkante. Es ging, der Schmerz verebbte langsam, vielleicht doch nichts gebrochen.

Nach der ersten Schrecksekunde war auch wieder Leben in die wenigen Leute auf dem Bahnsteig zurückgekehrt. Die Schaulustigen verwandelten sich in Helfer, mit vereinten Kräften zog man mich hoch, gerade rechtzeitig vor der einrollenden U-Bahn. Kollektive Erleichterung.

»Danke!«, sagte ich und hätte am liebsten eine Lokalrunde für alle geschmissen. Doch dann fiel mir ein, dass ich durch die heimtückische Attacke meinen Fotoapparat und damit eine wertvolle Einnahmequelle verloren hatte. »Wo ist der Typ hin?«, rief ich. »Haben Sie gesehen, in welche Richtung er gelaufen ist?«

Ein paar Arme wurden ausgestreckt, ein paar »Da-langs« erschallten. Dann schlossen sich die Wagentüren hinter den Leuten und ich stand allein auf dem Bahnsteig. Langsam humpelte ich in die angezeigte Richtung. Den Dieb einzuholen war bei meiner körperlichen Verfassung sowieso unmöglich. Ich konnte nur darauf hoffen, dass er sich noch in der Nähe herumtrieb und es mir gelang, ihn zu überraschen. Kein übertrieben ausgefeilter Plan, aber der Dieb schien mir auch kein Profi zu sein. Ich stieg eine Treppe hinauf, die, wie ich einem Schild entnahm, zur Niki-de-Saint-Phalle-Promenade führte. Ein hochtrabender Name für einen unterirdischen Schlauch, in dem sich in gleichförmigem Stahl- und Glasdesign ein Geschäft an das andere reihte. Bis zum Horizont, wenn es den gegeben hätte.

Zunehmend frustriert, lief ich die Einkaufs- und Fressmeile ab, guckte in Imbissbuden und Trinkhallen. Der Dieb konnte überall oder nirgends sein, wahrscheinlich eher nirgends. Und dann kam er aus einem Laden, in dem ich ihn mit Sicherheit nicht vermutet hätte: »Niki’s Nagel Studio«.

Ich humpelte schneller, aber nicht schnell genug, um ihm näher zu kommen. Im Gegenteil, nach kurzer Zeit verschwand der Dieb über eine Treppe in die Oberwelt. Ohne Fotoapparat, soweit ich das erkennen konnte. Der lag vielleicht bei Niki unter dem Behandlungstresen.

Als ich das Nagelstudio betrat, drehte sich eine schmale, nicht sehr große Asiatin unbestimmbaren Alters zu mir um. »Sie setzen sich. Bin gleich bei Ihnen.« Sie schaute auf meine Hände. »Oh, Nägel ganz rissig.«

»Ich möchte nur eine Auskunft.«

Sie schenkte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Da war vorhin ein Mann bei Ihnen«, fuhr ich fort. »Lange Haare, Bart, zerfurchtes Gesicht, ist vermutlich jünger, als er aussieht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Weiß nicht.«

»Doch. Sie wissen«, widersprach ich. »Und er hat sich bestimmt nicht bei Ihnen die Nägel feilen lassen.«

Sie schüttelte erneut den Kopf und guckte mich ein bisschen ängstlich an.

»Hören Sie«, sagte ich. »Ich hätte einen guten Grund, den Mann anzuzeigen, er hat mir nämlich meinen Fotoapparat geklaut. Aber ich verzichte darauf, wenn ich den Apparat zurückbekomme.«

»Habe keinen Apparat«, sagte die Asiatin.

»Gut. Aber Ihr Freund …«

»Ist nicht mein Freund«, unterbrach sie mich, »nur Bekannter.«

»Okay, ich mache Ihrem Bekannten ein Angebot: Er darf den Fotoapparat behalten, ich möchte nur den Speicherchip zurück. Da sind Familienbilder drauf, von meinen Enkelkindern. Sehr süße Enkelkinder. Und wissen Sie was? Ich lege auch noch dreihundert Euro obendrauf. Für den Speicherchip. Das Angebot gilt aber nur heute. Ich warte um Punkt Mitternacht vor dem Reiterstandbild …«

»Unterm Schwanz«, sagte Niki.

»Von mir aus. Punkt Mitternacht. Unterm Schwanz. Sagen Sie ihm das?«

Niki nickte.

23.01 Uhr, im »Backstagebereich«:

Seit vor einer Dreiviertelstunde die Technik ihren Geist aufgegeben hatte, fühlte Wencke sich blind, taub und stumm zugleich. Was wohl aus Wilsberg auf den Gleisen geworden war? Mehr, als dass er überlebt hatte, wusste sie nicht. Und auch diese gute Nachricht hatte mehr als zwanzig Minuten gebraucht, bis sie Wencke endlich hatte aufatmen lassen.

Sie eilte hinter dem dazugerufenen System-Experten durch das Labyrinth stickiger Katakomben, die parallel zur Einkaufspassage verliefen und in denen armdicke Kabel verwirrenden Wegen folgten, Großrechner flirrten und jede freie Stelle an der Wand mit unverständlichen Schaltplänen behängt war. Was immer im Bereich des Hauptbahnhofs funktionierte und was nicht, wurde von hier aus gesteuert.

»Na ja, oder von Ihrem Computer aus, Frau Kommissarin«, sagte der Mann, der als Einziger so etwas wie den Durchblick hatte, zumindest wenn er nicht gerade aus dem Bett geklingelt worden war, so wie heute. »Tut mir leid, so schnell kann ich das Problem nicht lokalisieren. Aber ich vermute mal, der Fehler sitzt in der IT.«

IT! Da war Wencke auf verlorenem Posten. »Vielleicht ein Hacker?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Könnte sein.« Er hielt die Tür auf, durch die Wencke wieder in die normale Welt des nächtlichen Hannoveraner Hauptbahnhofs zurückkehrte. »Auf jeden Fall ist das ’ne große Nummer. Und ich fürchte, wir kriegen das bis morgen früh nicht in den Griff.«

Einfach bis morgen zu warten kam für Wencke nicht infrage. Erstens, weil sie Wilsberg mochte und herausfinden wollte, was mit ihm geschehen war. Und zweitens, weil die Aussage des Experten, es handle sich um eine »große Nummer«, sie hatte hellhörig werden lassen.

Seit einigen Wochen kursierten Gerüchte. Jemand wollte in diesem Bezirk die Macht an sich reißen. Wollte die kleine, zwar nicht gerade gemütliche, aber dennoch überschaubare Parallelwelt rund um den Bahnhof übernehmen und mit Drogen, Schutzgeldern und käuflicher Liebe das dicke Geld machen. Bislang hatte dieser Jemand keinen konkreten Namen gehabt. Doch bei Wencke fügte sich – vielleicht auch, weil sie einmal nicht vor tausend Monitoren saß – ein klares Bild zusammen: Dieser Jemand war der Mann, der am Nachmittag bei der Pressekonferenz in der hinteren Reihe gesessen hatte, Konny Fassan! Und im selben Moment, als Wencke dachte: Au Backe, wenn Wilsberg sich mit dem angelegt hat, dann aber gute Nacht, genau in dem Moment kam einer von den Jungs herein, um ihr atemlos und analog mitzuteilen, dass sie unbedingt kommen müsse, weil zwei Typen mit eingeschlagenem Schädel unterm Schwanz lägen.

0.28 Uhr, in einer Polizeistation am Hauptbahnhof, in der anscheinend nichts funktioniert:

Ich hatte meine Schmerztabletten bekommen, dazu einen lauwarmen, dünnen Kaffee zum Runterspülen, und die ganze Geschichte im Zeitraffer erzählt: vom Auftrag des Ministerpräsidenten, von Antonia Zündels Affäre, dem Diebstahl des Fotoapparats bis hin zu Niki, der Freundin des inzwischen toten Diebs.

»Schöne Geschichte, Wilsberg«, sagte Wencke. »Einziger Punkt: Ich kenne viele Leute, die an diesem sonderbaren Ort arbeiten, eine Niki allerdings nicht.«

Ich sah, wie einer von Wenckes Kollegen, der einen so abgerissenen Eindruck machte, dass er wahrscheinlich undercover in der Kleinganovenszene arbeitete, sich langsam näherte und an den Schreibtisch hinter Wenckes Rücken setzte. »Niki arbeitet im Nagelstudio zwischen dem gefrorenen Joghurt und den Unisex-Klamotten.«

»Ach, du meinst Passerelle!«

»Französisch sah sie eigentlich nicht aus.«

»Ihr gehört das älteste Nagelstudio der Stadt und – nebenbei – es ist das einzige mit 24-Stunden-Service«, erklärte Wencke. »Als es eröffnet wurde, hieß die unterirdische Einkaufsmeile noch Passerelle.«

Wenckes Kollege zog sein Handy aus der Tasche und tippte eifrig darauf herum. Gleichzeitig kam einer der Spurensicherer herein und breitete die Schätze vom Tatort auf dem Tisch aus. Viel war das nicht: ein paar Geldmünzen und ein Tabakbeutel aus den Taschen des Toten, dazu der Fotoapparat oder, besser gesagt, das, was davon übrig geblieben war, nachdem ihn jemand mit Schmackes gegen etwas sehr Hartes geworfen hatte.

»Ist die Speicherkarte noch drin?«, fragte ich.

Der Spurensicherer schüttelte den Kopf. »Die wird der Täter mitgenommen haben.«

»Glaube ich nicht«, sagte ich. »Der Fotoapparat sieht nach einem Wutanfall aus. Ich schätze, der Täter war genauso scharf auf die Speicherkarte wie ich, aber Hast-ma-ne-Mark wollte ein doppeltes Geschäft machen, Fotoapparat und Speicherkarte getrennt verkaufen.«

Wencke griff nach dem Tabakbeutel. »Du denkst, es war der Biker, der, an dem Antonia Zündel sich festgehalten hat.«

»Der steht auf meiner Liste ganz oben«, gab ich zu. »Offenbar war meine Beschattung doch nicht so unauffällig, wie ich geglaubt habe.«

Wencke nahm das Heftchen mit dem Zigarettenpapier aus dem Tabakbeutel, klappte es auf – und zog die Speicherkarte heraus. »Na sieh mal an.«

»Wie bist du so schnell darauf gekommen?«

»Psychologie und Beobachtungsgabe. Hast-ma-ne-Marks größtes Vergnügen war das Zigarettendrehen. Sein Tabakbeutel war ihm wichtiger als eine warme Mahlzeit am Tag.«

Eine Minute später begutachteten wir meine Fotoausbeute. Als Antonia Zündel und ihr Biker-Freund vor der Gründerzeitvilla standen, ihre Helme abnahmen und knutschten, nickte Wencke. »Hab ich’s mir gedacht. Der Reitwall-Kaiser.«

»Reitwall-Kaiser? Übertreibt ihr es nicht mit eurem Tick, allen Leuten in Hannover so seltsame Spitznamen zu geben?«

Wencke lachte. »Konny Fassan, der Pate des Rotlichtviertels.«

Ich verstand, warum er etwas dagegen hatte, dass ich Fotos von ihm und der Zündel besaß. »Der Reitwall-Kaiser hat Hast-ma-ne-Mark beauftragt, meinen Fotoapparat zu klauen.«

»Sieht so aus«, stimmte Wencke zu. »Und außerdem hat er dafür gesorgt, dass hier alle Systeme ausfallen.«

Wenckes Kollege tippte schon wieder auf seinem Handy herum. Langsam ging mir der Typ auf die Nerven. »Und wem berichtet dein Kollege Großes Ohr die ganze Zeit von unserem Gespräch?«

Der Mann wurde rot und ließ das Handy blitzschnell in der Hosentasche verschwinden.

Wencke drehte sich um. »Ach, das ist nur Flip, der ist Analphabet.«

»Dafür schreibt er aber ziemlich schnell.«

Flip grinste dümmlich. Sekundenbruchteile später stand Wencke neben ihm und forderte mit messerscharfer Stimme: »Das Handy. Sofort!«

0.45 Uhr, auf dem schier endlosen Weg zur Maniküre:

In einem war Wencke richtig groß, nämlich darin, den Mund zu voll zu nehmen. Schwafelte von Psychologie und Beobachtungsgabe, und hatte dabei die ganze Zeit einen Typen im Nacken, der sie nach Strich und Faden verarschte.

»Passerelle könnte die SIM-Karte haben.« Selten hat eine Handynachricht so präzise aus Subjekt, Prädikat und Objekt bestanden, noch dazu mit korrektem Konjunktiv, tadelloser Groß- und Kleinschreibung sowie einem Punkt am Ende. Und Wencke hatte sich von Flip vorgaukeln lassen, er sei Analphabet! In Wirklichkeit hatte er alle naselang in ihrem Büro herumspioniert, im Auftrag von Konny Fassan. Und der Blackout ging mit Sicherheit auch auf Flips Konto. Das war nicht nur peinlich, sondern auch überaus gefährlich.

Besonders für Passerelle. Konny Fassan musste längst beim Nagelstudio angekommen sein und würde die Frau, die ihm beim besten Willen keine Fotokarte aushändigen konnte, zum Reden bringen wollen. Wencke hatte von seinen Methoden gehört, auch Fingernägel spielten dabei eine entscheidende Rolle.

»Wenn der Frau etwas zustößt, bloß weil ich so dämlich war, mir die Kamera klauen zu lassen …«, gab sich Wilsberg selbstkritisch.

Sie kamen zu spät. Die Tür zum Nagelstudio war verschlossen und hinter der Schaufensterscheibe herrschte das Chaos, Fingernägel jeder Länge und in allen Farben des Regenbogens lagen auf dem Boden verteilt. Von Passerelle keine Spur.

»Sie müssen im Hinterraum sein!«, keuchte Wilsberg und zeigte auf den innen baumelnden Schlüssel.

Wencke hasste es, nach ihrer Waffe greifen zu müssen, und durch ihren Sesselhockerjob hatte sie es sogar ein bisschen verlernt. Als sie die Pistole endlich schussbereit auf das Türschloss gerichtet hatte, war es Wilsberg längst gelungen, dieses lautlos mit einem Dietrich zu öffnen. Dennoch ließ Wencke das Ding im Anschlag, als sie ins Ladeninnere traten, sie wusste schließlich, wie groß und stark Konny Fassan war. Drinnen stank es nach Nagellack und Lösungsmitteln. Und nach Angstschweiß.

»Nicht, bitte! Bitte!«, hörten sie ein Flehen hinter dem Vorhang, der zu den Lagerräumen führte. Wencke streckte die Arme aus, kniff ein Auge zusammen, fixierte den Lauf ihrer Waffe. Dann nickte sie Wilsberg zu. Der zog mit einem Ruck den Vorhang zur Seite. Konny Fassan machte sich gerade mit einer Zange an Passerelles makellos manikürten Fingernägeln zu schaffen. Es sah nicht so aus, als wolle er sich um einen Praktikumsplatz im Studio bewerben.

»Loslassen, sofort!«, schrie Wencke.

Doch ein echter Unterwelt-Kaiser ließ sich von solchen Sätzen nicht beeindrucken. Er setzte die Zange an den Mittelfinger, Passerelle kreischte. Sie kreischte zweistimmig wie eine Sirene. Oder – nein … Wencke folgte Wilsbergs Blick, drehte sich um und sah Antonia Zündel hinter sich stehen. Fassungslos – und das war nicht geschauspielert, denn dazu war die Frau einfach zu fertig. Blass und ungeschminkt, die Frisur in sich zusammengefallen, dazu der Schock, was für einen fiesen Charakter ihr Liebhaber hatte. Konny Fassan, dem das doppelte Gekreische auf die Ohren schlug, war einen Moment nicht ganz bei der Sache, was Wilsberg ausnutzte, indem er ihm die Zange aus der Hand schlug.

»So, und jetzt die Hände hoch, aber zackig!«

Die Rockerpranken reichten fast bis an die Decke, trotzdem war Konny so klein mit Hut. Auf Wenckes Nicken hin brachte sich die zitternde Passerelle in Sicherheit. Und landete fast in den Armen der Schauspielerin.

»Lassen Sie mal sehen, ist der Nagel etwa abgebrochen?«, fragte Antonia Zündel mit herzergreifender Menschlichkeit.