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Pero Mićić

Die fünf Zukunftsbrillen

So werden Sie zum Vordenker!

3., völlig überarbeitete
und aktualisierte Auflage

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhalt

1 Zu diesem Buch

1.1 Die fünf Zukunftsbrillen als mentaler Setzkasten für Zukünfte

1.2 Leser, Ziele und Nutzen dieses Buches

2 Wozu Sie Zukunftsbrillen brauchen

2.1 Starke Motive: Sie können gar nicht anders

2.2 Wecken Sie den Zukunftsmanager in Ihnen

2.3 Zukunftsverwirrungen

2.4 Was die Praxis fordert

3 Ihre Landkarte der Zukünfte

3.1 Die zehn Zukünfte

3.2 Ihre fünf Zukunftsbrillen

4 Ihre blaue Zukunftsbrille: Was kommt auf Sie zu?

4.1 Fallbeispiele zur blauen Zukunftsbrille

4.2 Sinn und Zweck der blauen Zukunftsbrille

4.3 Denkobjekte der blauen Zukunftsbrille

4.4 Denkhaltung und Prinzipien der blauen Zukunftsbrille

4.5 Checklisten zur Methodik

5 Ihre rote Zukunftsbrille: Wie könnte die Zukunft Sie überraschen?

5.1 Fallbeispiele zur roten Zukunftsbrille

5.2 Sinn und Zweck der roten Zukunftsbrille

5.3 Denkobjekte der roten Zukunftsbrille

5.4 Denkhaltung und Prinzipien der roten Zukunftsbrille

5.5 Checklisten zur Methodik

6 Ihre grüne Zukunftsbrille: Welche Zukunftschancen haben Sie?

6.1 Fallbeispiele zur grünen Zukunftsbrille

6.2 Sinn und Zweck der grünen Zukunftsbrille

6.3 Denkobjekte der grünen Zukunftsbrille

6.4 Denkhaltung und Prinzipien der grünen Zukunftsbrille

6.5 Checklisten zur Methodik

7 Ihre gelbe Zukunftsbrille: Welche Zukunft wollen Sie schaffen?

7.1 Fallbeispiele zur gelben Zukunftsbrille

7.2 Sinn und Zweck der gelben Zukunftsbrille

7.3 Denkobjekte der gelben Zukunftsbrille

7.4 Denkhaltung und Prinzipien der gelben Zukunftsbrille

7.5 Checklisten zur Methodik

8 Ihre violette Zukunftsbrille: Welche Zukunft planen Sie?

8.1 Fallbeispiele zur violetten Zukunftsbrille

8.2 Sinn und Zweck der violetten Zukunftsbrille

8.3 Denkobjekte der violetten Zukunftsbrille

8.4 Denkhaltung und Prinzipien der violetten Zukunftsbrille

8.5 Checklisten zur Methodik

9 Mehr von der Zukunft sehen, verstehen und haben

9.1 Die fünf Zukunftsbrillen und das Eltviller Modell

9.2 So nutzen Sie die Zukunftsbrillen in der Praxis

Anhang

Checklisten zu Methoden und Techniken

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

1 Zu diesem Buch

Sind Sie ein Vordenker? Ein Zukunftsmanager? Gutes Zukunftsmanagement ist einer der bedeutendsten Erfolgsfaktoren im Leben und im Unternehmen. Ob Sie Konzernlenker oder Vorstandsvorsitzender in Ihrem eigenen Lebensunternehmen sind, Sie können Ihren Lebenserfolg umso leichter schaffen und sichern, je besser es Ihnen gelingt, kommende Veränderungen und die darin liegenden Chancen früh zu erkennen und zu nutzen.

Seneca sprach es schon vor zweitausend Jahren aus:

Die meisten Trends, Technologien und Themen, die unsere Zukunft in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren bestimmen werden, sind bereits heute sichtbar. Die Zukunft ist also schon da, sie ist nur noch nicht bei allen gleichmäßig angekommen. Wie können Sie die Zukunftsforschung als Quelle für Orientierung, Inspiration und Innovation nutzen? Wie können Sie auf sinnvolle und vernünftige Weise mehr von der Zukunft sehen, verstehen und haben?

Ich habe rund 25 Jahre lang Entscheidern in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik geholfen, ihre Zukunft wirksamer vorzudenken. Mit diesem Buch möchte ich nun Sie zum Vordenker machen.

1.1 Die fünf Zukunftsbrillen als mentaler Setzkasten für Zukünfte

Selbst unter Fachleuten herrscht eine geradezu babylonische Sprachverwirrung über die wesentlichen Konzepte und Begriffe der Zukunft. Es fehlt uns eine schlüssige Sprache für die Phänomene der Zukunft. So bleibt der Nutzen der Zukunftsforschung und des Zukunftsmanagements verborgen. Es fehlt uns ein Modell, mit dem wir genau oder zumindest etwas genauer als üblich ausdrücken können, was wir sehen und fühlen und woran wir denken, wenn es um die Zukunft geht. Es fehlen uns schlicht die Begriffe für die Zukunft. Der Wein trinkende Laie kann seine Geschmackseindrücke nur mit wenigen Worten wie herb, trocken oder lieblich beschreiben. Der Weinkellner aber hat tausend Worte dafür. Er hat Modelle und Begriffe für die verschiedenen Anlässe, bei denen man Wein genießen und erleben kann, und er unterscheidet sehr genau, wie sich ein und derselbe Wein in unterschiedlichen Situationen geriert. Um wie viel reicher und klarer mag seine Wahrnehmung von der Welt des Weines sein?!

Sehen wir uns fünf Aussagen über das Jahr 2020 an, die heute in Ihrer Tageszeitung stehen könnten:

1. Die Demografin aus dem Statistischen Bundesamt schreibt in einem Forschungsbericht an die Regierung, dass im Jahr 2025 dreißig Prozent der Bevölkerung älter als sechzig Jahre sein werden.

2. Eine Virologin aus der Weltgesundheitsorganisation mahnt, dass es bis 2025 zu einer Pandemie kommen kann, in deren Folge in kurzer Zeit mehrere Millionen Menschen sterben könnten.

3. Ein junger Ingenieur verkündet, im Jahr 2025 werde die Hälfte aller Geschäftsreisen durch virtuelle Meetings ersetzt.

4. Der Betriebsrat sagt, er wolle erreichen, dass die Menschen in seinem Unternehmen im Jahr 2025 nur noch dreißig Stunden in der Woche arbeiten müssen.

5. Ein Multimilliardär sagt in einem Interview, dass er bis 2025 den größten Teil seines Vermögens gespendet haben wird.

Worin unterscheiden sich diese Zukunftsaussagen über das Jahr 2025? Sind es die mit ihnen verbundenen Absichten? Sind es die Methoden, auf denen die Aussagen beruhen? Ist es die Überprüfbarkeit? Ist es der Grad der Vorhersagbarkeit des angesprochenen Bereiches? Es ist von allem etwas.

Der Unterschied wird schnell klar, wenn wir jedem der fünf Zukunftsdenker eine Wette anbieten. Sie sollen mit uns um 10 000 Euro wetten, und zwar nicht um Firmengeld, sondern um eigenes versteuertes Geld, wetten, dass es genauso kommen wird, wie sie es sagen. Wenn sie Recht haben, winkt ein ordentlicher Gewinn, denn die Quote sei 1:10. Wie werden sie reagieren?

image Würde die Demografin auf die Wette eingehen? Vielleicht würde sie eher als die anderen zustimmen. Denn schließlich ist Demografie einer der wenigen Bereiche, in denen die Zukunft wenigstens einigermaßen abschätzbar ist. Die Quote 1:10 würde sie wahrscheinlich überzeugen. Die Demografin hat eine klare Annahme über die wahrscheinliche Zukunft formuliert. Sie sieht mit der blauen Zukunftsbrille in die wahrscheinliche Zukunft.

image Was hören wir von der Expertin aus der Weltgesundheitsorganisation, wenn wir ihr unser Wettangebot unterbreiten? Es ist nicht auszuschließen, dass sie uns beleidigt die Tür weist. Es gehe ihr doch darum, die Menschheit zu warnen und Veränderungen in der Einstellung zu Hygiene, Vorsorge und Notfallplanung zu erreichen. Sie wird unsere Wette schon aus moralischen Gründen strikt ablehnen und vielleicht noch nachschieben, dass sie ja nicht auf etwas wetten würde, was sie gerade zu verhindern versucht. Sie sieht durch die rote Zukunftsbrille für die überraschende Zukunft, ob positiv oder negativ.

image Wie reagiert der Ingenieur, wenn man ihn auffordert, 10 000 Euro darauf zu verwetten, dass im Jahr 2025 wirklich fünfzig Prozent der Geschäftsreisen virtuell stattfinden? Wir können davon ausgehen, dass er seine Aussage relativieren wird. Er habe es ja gar nicht als sichere Prognose gemeint. Nur von der Möglichkeit habe er gesprochen, man könne das ja schon heute leicht tun. Er sieht durch die grüne Zukunftsbrille und sieht dabei die Chancen im Sinne von Handlungsmöglichkeiten und Optionen.

image Was macht der Betriebsrat? Man wird vermutlich von ihm hören, dass es eben seine Vision sei, den Menschen von allzu viel Arbeit zu befreien. Geld und Materielles sei doch nicht alles im Leben. In den 1970ern habe die Gewerkschaft mit dem Slogan geworben »Samstags gehört Papi mir«. Nun sei der nächste Schritt dran, der Globalisierung zum Trotz. Es habe ja auch seinen Wert, mehr Zeit mit den Kindern und der Familie zu verbringen. Sicher sei es natürlich nicht, dass er seine Vision verwirklichen kann. Daher könne er darauf nicht wetten. Der Betriebsrat sieht durch die gelbe Zukunftsbrille für die erstrebte und gewünschte Zukunft, für die Vision.

image Der Multimilliardär wird sich von 10 000 Euro sicher nicht beeindrucken lassen, aber Spiel ist Spiel. Wird er die Wette annehmen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Denn schließlich hat er es geplant, hat es sich fest vorgenommen, bereits angekündigt. Kaum jemand kann ihn daran hindern, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er sieht die Zukunft durch die violette Zukunftsbrille der Planung und der Tat.

Viele Probleme im Zukunftsmanagement resultieren aus unterschiedlichen Sichtweisen auf die Zukunft. Viele Menschen neigen dazu zu glauben, dass jeder ihre Gedanken und Worte über die Zukunft genau so versteht wie sie selbst. Sie setzen einfach voraus, dass die anderen die gleiche Zukunftsbrille tragen, und schaffen damit viel Frustration, Missverständnis und Misserfolg.

1.2 Leser, Ziele und Nutzen dieses Buches

Ich habe dieses Buch für Entscheider geschrieben, also für Lebensunternehmer, Familienoberhäupter, Vereinsvorsitzende, Unternehmer, Geschäftsführer, Vorstände, Bürgermeister oder Regierungschefs. Im Grunde sind wir ja alle Vorstandsvorsitzende im eigenen Lebensunternehmen, ganz gleich, in welcher Rolle wir sind und ob wir nur uns selbst oder Millionen von Menschen führen. Alle müssen wir über unsere Zukunft nachdenken.

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Abb. 1: Die fünf Zukunftsbrillen

Die Ziele dieses Buches

Wenn Sie die fünf Zukunftsbrillen kennen und mit ihnen routiniert umgehen können, sind Sie ein Profi im Zukunftsdenken. Das erntet daraus eine Reihe von Vorteilen:

1. Klares Zukunftsdenken: Dieses Buch schafft Klarheit über die Sichtweisen, die Begriffe und die Denkobjekte des Zukunftsmanagements. Mit den fünf Zukunftsbrillen und dem darauf beruhenden Eltviller Modell des Zukunftsmanagements (siehe Kapitel 9 “Mehr von der Zukunft sehen, verstehen und haben”) erhalten Sie eine mentale Landkarte für Ihr Zukunftsmanagement. Sie bekommen einen mentalen Setzkasten für Zukünfte, der Ordnung und Präzision in Ihr Zukunftsdenken bringt.

2. Klare Kommunikation: Dieses Buch gibt Ihnen eine präzise Sprache für Ihre Kommunikation über die Zukunft, ob privat oder beruflich. Ich erlebe täglich, wie viel leichter es einer Gruppe von Menschen fällt, über die Zukunft zu sprechen und zu schreiben, wenn sie sich gegenseitig über die gerade getragene Zukunftsbrille informieren. Es gibt wesentlich weniger Missverständnisse und Konflikte und die Kommunikation führt zu besseren Ergebnissen in kürzerer Zeit.

3. Brücke in die Zukunft: Dieses Buch hilft Ihnen, die Trend- und Zukunftsforscher besser zu verstehen. Es baut Ihnen eine Brücke von der Gegenwart in die Zukunft und wieder zurück, damit Sie die oftmals theoretischen und abstrakten Aussagen der Trend- und Zukunftsforscher leichter als Ressource für Orientierung und Inspiration im täglichen Leben nutzen können.

4. Realistischere Erwartungen: Dieses Buch macht klar, was Sie realistisch gesehen von einem methodisch fundierten Zukunftsmanagement erwarten können und was nicht.

5. Werkzeugkasten: Mit den fünf Zukunftsbrillen können Sie prinzipiell jede Methode und jedes Werkzeug des Zukunftsmanagements einsetzen. Sie sind methodenneutral. Die Zukunftsbrillen machen es Ihnen leichter, die vielen Methoden, Techniken und Werkzeuge in ihrer Eignung zu beurteilen und sie ins richtige Fach in Ihrem Werkzeugkasten zu legen.

6. Mehr von der Zukunft sehen: Dieses Buch stärkt Ihre Zukunftskompetenz und verschafft Ihnen im zunehmenden Wettbewerb um Voraussicht einen Wettbewerbsvorteil. Wer eine gute Landkarte hat, ist denjenigen mit nur ungefähren Vorstellungen deutlich überlegen und kann mehr von der Zukunft sehen, verstehen und haben als andere.

7. Vorlage für die Gestaltung von Zukunftsprojekten: Dieses Buch gibt Ihnen eine Vorlage für die Gestaltung Ihrer Zukunftsprojekte.

Die fünf Zukunftsbrillen sind deskriptiv, da sie die Gemeinsamkeiten der Menschen im Nachdenken über die Zukunft beschreiben. Durch die präzise Systematisierung sind die fünf Zukunftsbrillen aber auch präskriptiv. Sie zeigen, in welchen Schritten und Phasen man fundiert und praktisch über die Zukunft nachdenken und Kernfragen des Zukunftsmanagements ganzheitlich beantworten kann.

Die fünf Zukunftsbrillen sind so einfach wie möglich und so komplex wie nötig. Das macht sie zu einem besonders wertvollen Denkwerkzeug.

Was ist neu?

Die Zukunftsbrillen müssen Sie nicht mühsam lernen. Eher werden Sie entdecken, dass Sie die fünf Zukunftsbrillen unbewusst schon kennen. Die fünf Arten des Blicks in die Zukunft, die durch die fünf Zukunftsbrillen illustriert werden, sind jedem Menschen in ganz natürlicher Weise eigen und vertraut. Nur sind die Begriffe in jedem Kopf etwas anders definiert, die Denkobjekte sind anders sortiert und beides ganz individuell miteinander verbunden.

In Praxis und Wissenschaft fehlte bisher ein konsistentes Modell, das die dem Menschen eigenen Sichtweisen, Denkprozesse und Denkobjekte für die Zukunft vollständig und dennoch einfach integriert, mit klaren Definitionen und Relationen beschreibt und im täglichen Leben anwendbar macht. Die fünf Zukunftsbrillen und das Eltviller Modell sind ein solches Modell. Es ist das Ergebnis aus 250 Interviews mit Führungskräften und gut 1000 Projekten und Workshops mit Führungsteams verschiedenster Branchen und Organisationsgrößen und ihrer systematischen Auswertung.

Was kann dieses Buch bewirken und was nicht?

Ein Buch kann weder Wunder bewirken noch die Mühe der praktischen Umsetzung ersparen. Selbstverständlich eigentlich. Ich verspreche nicht, dass sich mithilfe dieses Buches alle Probleme und Aufgaben im Zukunftsmanagement mit Leichtigkeit lösen lassen. Wenn es leicht wäre, könnte es jeder und es wäre nichts Besonderes mehr.

Ich verspreche allerdings, dass die fünf Zukunftsbrillen und das darauf aufbauende Eltviller Modell Ihr Zukunftsmanagement im Sinne der oben genannten Nutzenpunkte wesentlich verbessern kann und Sie damit mehr von der Zukunft sehen, verstehen und haben können.

Hinweise

1. Die fünf Zukunftsbrillen basieren nicht auf anderen Konzepten, die ebenfalls allegorisch Farben und Gegenstände verwenden, wie es in Wissenschaft und Praxis unzählige Male getan wurde. Die fünf Zukunftsbrillen unterscheiden sich insbesondere deutlich von de Bonos Denkhüten1, da sie

a. ausschließlich für Zukunftsanalysen gedacht sind (die Denkhüte richten sich auf alles Mögliche),

b. verschiedene Objekte betrachten (die Denkhüte betrachten ein und dasselbe aus verschiedenen Perspektiven),

c. nicht nur Perspektiven, sondern auch ein konsistentes Ergebnismodell beinhalten (siehe Eltviller Modell in Kapitel 9),

d. schon in Zahl und Charakter der Perspektiven nicht vergleichbar sind.

2. Auch mit den schon vor de Bono entwickelten sechs Denkmodi von Hall und mit Spiral Dynamics sind die Zukunftsbrillen nicht vergleichbar.

3. Die männliche Schreibweise gilt für Leser beiderlei Geschlechts.

4. Zu diesem Buch gibt es eine Website: www.Zukunftsbrillen.com.

2 Wozu Sie Zukunftsbrillen brauchen

Wollen Sie ein besserer Vordenker werden? Wenn ja, brauchen Sie gutes Zukunftsmanagement und dafür wiederum die fünf Zukunftsbrillen. Unter anderem natürlich. Schauen wir uns an, warum ich das glaube.

2.1 Starke Motive: Sie können gar nicht anders

Warum denkt der Mensch überhaupt über die Zukunft nach? Warum will er in die Zukunft blicken? Schon seit den ersten frühen Kulturen haben sich Menschen darum bemüht, mehr von der Zukunft zu sehen, zu verstehen und zu haben. Wir können offenbar gar nicht anders.

Auch Sie sind neugierig auf die Zukunft. Warum sonst würden Sie das hier lesen? Neugierig werden wir, wenn etwas anders als das Bekannte ist oder wenn es dem Vertrauten widerspricht.1 Wir ahnen, dass die Zukunft anders sein wird als die Gegenwart. Deshalb haben Szenarien der Zukunft eine nahezu magische Anziehungskraft.

Nach meiner Erfahrung und Einschätzung treiben uns fünf wichtige Motive und Ziele zum Blick in die Zukunft:

1. Wir wollen bessere Entscheidungen treffen. Wir wollen dafür die wahrscheinliche Zukunft kennen, wir wollen wissen, was kommt, was bleibt und was geht. Deshalb ging man früher zu Wahrsagern. Heute investieren professionell geführte Unternehmen viel Zeit und Geld, um die Zukunft ihres Marktes auszuleuchten. Zwar weiß jeder, dass man die Zukunft nicht vorhersagen kann, aber gleichzeitig kann niemand ohne Zukunftsannahmen auskommen. Jeder Entscheidung liegen bewusst oder unbewusst Zukunftsannahmen zugrunde.

2. Wir wollen uns sicherer fühlen. Wir wollen Angst und Furcht vermeiden. Wir wollen von der Zukunft weniger überrascht sein. Der dänische Philosoph Søren Kierkegard unterschied die Angst von der Furcht. Angst hat keine bestimmte Ursache, sie ist das unangenehme Gefühl, dass uns etwas passieren könnte. Und so schauen wir uns um und suchen nach Anzeichen für unliebsame Überraschungen, die uns gefährlich werden könnten. Furcht hingegen empfinden wir vor einem konkreten Ereignis, das uns offensichtlich Nachteile bringen würde. Im besten Falle versuchen wir, mehr darüber zu erfahren und uns vorzubereiten. Im schlechtesten Falle stecken wir, wie so oft, den Kopf in den Sand.

3. Wir wollen uns entwickeln, mehr aus unserem Leben machen, erfolgreich und glücklich sein. Wir streben nach dem schönen Gefühl der Hoffnung und Zuversicht. Daher suchen wir nach Möglichkeiten und Chancen, um uns und unsere Situation in der Zukunft zu verbessern. Wir wollen es in Zukunft besser haben als heute. Und wir wollen es besser haben oder besser sein als andere. Manchmal ahnen wir, dass wir allein schon deshalb besser werden müssen, damit es uns nicht schlechter geht als heute.

4. Wir wollen unserem Leben und Tun einen Sinn und eine Richtung geben. Wir wollen wissen, wo wir uns hinentwickeln sollen und wozu wir all die Mühen des Tages auf uns nehmen. Dafür entwickeln wir eine Vision von der erstrebten Zukunft, in der wir Erfüllung zu finden hoffen.

5. Wir wollen wissen, was wir tun sollen. Aus diesem Grund setzen wir uns Ziele, planen und verwirklichen Projekte und Prozesse und setzen uns in Bewegung in Richtung Zukunft.

Diese fünf Ziele in Sachen Zukunft sind tief in uns verankert. Immanuel Kant hat sein ganzes philosophisches Lebenswerk lang Antworten auf drei Fragen gesucht:

1. Was kann ich wissen? Hier erkennen wir das Streben nach Wissen über die wahrscheinliche Zukunft und die möglichen Überraschungen.

2. Was darf ich hoffen? Hierin finden wir die Fragen nach Chancen und nach der Vision.

3. Was soll ich tun? Das ist eindeutig die Frage nach dem richtigen Handeln für die Zukunft.

Ist Ihnen bei den Zielen etwas aufgefallen? Richtig, es sind derer fünf. Zufall? Wir werden sehen.

2.2 Wecken Sie den Zukunftsmanager in Ihnen

Den Begriff Zukunftsmanagement begann ich Anfang der 1990er-Jahre zu verwenden. Damals begannen professionell geführte Unternehmen, sich immer intensiver systematisch mit der über ihre strategische Planung hinausgehenden Analyse der Zukunft beschäftigten.

Ihre Brücke in die Zukunft

Die Zukunftsforschung und die mit ihr verwandte Trendforschung bezeichnen die Manager und Unternehmer häufig als ungenau, unverbindlich und unzuverlässig. Zwischen ihrem Wissensbedarf und dem Wissensangebot der Zukunfts- und Trendforscher klafft oftmals eine große Lücke. Diese Lücke schließt das Zukunftsmanagement. Zukunftsmanagement definiere ich so:

Zukunftsmanagement ist die Brücke zwischen der Lebensführung und Unternehmensführung einerseits und der Zukunftsforschung andererseits. Es bezeichnet die Gesamtheit aller Modelle, Regeln und Methoden zur Früherkennung und Analyse zukünftiger Entwicklungen und ihrer Einbringung in Strategien.

Zukunftsmanagement ist die unternehmerische Zukunftsforschung. Es ist das im Vergleich zur Zukunftsforschung eher in der Natur des Menschen liegende und praktischere Konzept. Es macht aus der primär auf die Antizipation fokussierten Zukunftsforschung wieder ein ganzheitliches Konzept mit Nahtstellen zum strategischen und operativen Management. Es schließt die Lücke zwischen der oftmals abstrakten und theoretischen Zukunftsforschung und den praktischen Anforderungen der Entscheider in Unternehmen und anderen Organisationen, in dem es systematisch hilft, die Zukunft der Märkte besser zu verstehen und daraus praktisch umsetzbare und erfolgswirksame Strategien zu erarbeiten. Zukunftsmanagement baut auf den Erkenntnissen der allgemeinen Zukunftsforschung auf und schafft die Verbindung zu (unternehmerischen) Entscheidungen und Taten im Alltag.

Gutes Zukunftsmanagement braucht klares und präzises Denken. Dafür werden Ihnen die fünf Zukunftsbrillen ein wertvolles Werkzeug sein.

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Abb. 2: Was ist Zukunftsmanagement?

Die Drei-Siebzig-Regel

Frage ich ein beliebiges Publikum, das auch nur ein wenig von Wirtschaft versteht, welcher Anteil des Erfolges im Leben und im Unternehmen von langfristigen Weichenstellungen abhängt, weiß die Mehrzahl, dass es ein großer Anteil ist. Frage ich »wie viel ist viel in Prozent«, bekomme ich interessanterweise immer ungefähr die gleiche Antwort: siebzig Prozent. Niemand kann diese Zahl messen oder gar beweisen, aber man hat ein Gefühl für die große Bedeutung des Zukunftsmanagements. Seien es auch nur fünfzig oder sechzig Prozent, es ist ein sehr großer Teil des Erfolges, ob man ihn nun als Lebensglück versteht oder in Geld misst. Unsere langfristig wirksamen Richtungsentscheidungen, ob bewusst oder unbewusst gefällt, bestimmen, wie wir investieren, wie wir konkurrieren, wie wir arbeiten und wie wir entscheiden. Eine strategische Ausrichtung mit all den Konsequenzen und auch eine Unternehmenskultur lassen sich nicht mal eben schnell ändern.

Interessant ist nun zu prüfen, wie viel Zeit Topentscheider für gewöhnlich damit verbringen, über genau diese großen Weichenstellungen und damit über die nächste Ära ihres Unternehmens bewusst und systematisch nachzudenken. Einer Untersuchung der amerikanischen Professoren Hamel und Prahalad zufolge verwenden leitende Manager nicht mehr als 2,4 Prozent ihrer Zeit für die Arbeit an der Vision.3 Zwei bis drei Prozent der Arbeitszeit sind in den meisten Ländern immerhin 5,5 bis 6,0 Arbeitstage pro Jahr, recht viel eigentlich. Wer verbringt schon sechs volle Tage im Jahr mit systematischer bewusster Zukunftsarbeit? Auch im Privatleben dürfte das ein selten erreichter Wert sein. Viele sagen an dieser Stelle, das könne ja nicht stimmen, denn schließlich habe man Dutzende oder gar Tausende Mitarbeiter in der Forschung und Entwicklung und in der Strategieabteilung beschäftigt. Das sei ja wohl Zukunftsarbeit par excellence. Nein, es geht mir hier gerade nicht um die an Fachleute delegierte Forschung und Analyse zur besseren Besteigung des Berges, sprich für mehr Erfolg im bestehenden Geschäft mit den bestehenden Zielen. Es geht um unternehmerisches Zukunftsmanagement, um Weichenstellungen, Entscheidungen über die zu besteigenden Berge. Das ist etwas grundlegend anderes.

Mit drei Prozent des Arbeitsaufwands schaffen Sie siebzig Prozent Ihres langfristigen Erfolges. Ihr Zukunftsmanagement ist ein starker Erfolgshebel. Zukunftsmanagement ist eine der besten Investitionen. Jeder investierte Tag bringt hohe Renditen. Der Erfolgshebel wirkt allerdings auch in die andere Richtung, nämlich nach unten. Schlechtes Zukunftsmanagement kann leicht in den unternehmerischen Tod führen. Es kann Ihr Unternehmen auch ruinieren. Zukunftsmanagement ist daher nicht nur Methodik, sondern vor allem eine Verantwortung, die Sie für Familie, Kollegen, Mitarbeiter oder Mitbürger tragen.

Nein, ich fordere keineswegs, viel mehr als die drei Prozent Ihrer Zeit in Zukunftsmanagement zu investieren. Es hat seinen Sinn, dass dieser Wert in der Praxis sich so eingependelt hat. Dem systematischen Zukunftsmanagement stehen genügend andere Hindernisse im Wege, als dass ich mit der Forderung nach mehr Zeitinvestition eine weitere Hürde aufbauen sollte.

Aber diesen kleinen und so wichtigen Teil Ihrer Zeit, diese drei Prozent müssen Sie gut machen. Sie müssen mit der gleichen Professionalität an Ihr Zukunftsmanagement gehen, wie Sie das mit Ihren Projekten und Prozessen im Tagesgeschäft tun.

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Abb. 3: Die Bedeutung des Zukunftsmanagements für den finanziellen Erfolg

Was haben Sie davon?

Nur drei Prozent Ihrer Zeit in Zukunftsmanagement investieren und dann wird alles gut? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Aber Sie werden Ihre Motive für die Vorausschau deutlich besser befriedigen und die damit verbundenen Ziele wesentlich besser verwirklichen können. Das sind sehr gute Voraussetzungen, um die Früchte des Zukunftsmanagements zu ernten.

1. Mit besseren Zukunftsannahmen treffen Sie bessere Entscheidungen.

2. Mit früh erkannten potenziellen Überraschungen und geeigneten Eventualstrategien schaffen Sie mehr Sicherheit.

3. Mit früh erkannten und zukunftsgeeigneten Chancen erhöhen Sie Ihre Einnahmen und senken Kosten.

4. Mit einer klaren, faszinierenden und realisierbaren Vision aktivieren Sie Ihre Leistungsfähigkeit und schaffen Einigkeit im Team, was Mühen und Kosten spart.

5. Mit einer visionsgerichteten Strategie kommen Sie so effizient wie effektiv voran.

6. Mit einer ganzheitlichen, fundierten Zukunftsstrategie schaffen Sie sich selbst und Ihren Mitarbeitern Orientierung und Zuversicht und somit mehr Motivation für und Freude an der Zukunft.

Mit all diesen Vorteilen ist eine spürbar verbesserte Wettbewerbsfähigkeit und Marktposition fast sicher.

2.3 Zukunftsverwirrungen

Auch nach Jahrzehnten sprechen Zukunftsexperten und ihre Klienten oft unterschiedliche Sprachen. Selbst untereinander verstehen sich die Zukunftsforscher, Trendforscher und Zukunftsmanager häufig nicht. Von Unternehmern und Entscheidern habe ich darüber unzählige Klagen gehört:

image Wir haben uns die früheren Prognosen angesehen und sind sehr enttäuscht von der Prognosequalität der Zukunftsexperten.

image Wir fühlen uns mit all diesen Prognosen, Szenarien und Visionen überfordert, wir bekommen den Überblick nicht.

image Wir kennen die Ergebnisse der Zukunftsforschung, aber es ist uns nicht gelungen, dieses Wissen in unsere Sprache, unsere Konzepte und in praktikable Strategien zu übersetzen.

image Wir haben mit Szenarien gearbeitet, aber das traf unseren Bedarf nicht.

image Wir haben den Zukunftsforschern zugehört, aber was sie zu sagen hatten, enthielt für uns Fachleute wenig neue, hilfreiche und zuverlässige Information.

An solchen Zukunftsverwirrungen, die in der folgenden Tabelle zusammengefasst sind, scheitern unzählige Projekte und Vorhaben im praktischen Zukunftsmanagement.

Tabelle 1: Zukunftsverwirrungen

Art der Verwirrung

Beschreibung

Die Ziel-Verwirrung Prognose versus Gestaltung

Prognose versus Warnung

image Je stärker die Menschen ihre Zukunft gestalten können, desto weniger ist die Zukunft vorhersagbar.

image Prognose und Gestaltung stehen im Zielkonflikt, sie schließen sich gegenseitig aus.

Prognose versus Warnung

image Szenarien extremer und überraschender Zukünfte werden als Prognosen missverstanden.

image Sie sollen jedoch dem gegenteiligen Zweck dienen, nämlich genau diese Zukünfte verhindern.

Vision versus Plan

image Die Beschreibung einer langfristig angestrebten Zukunft wird als Planung verstanden und abgelehnt.

image Im engeren Sinne planen kann man heute jedoch nur über kurze Zeiträume. Vision ist nicht Planung.

Pragmatik versus Science-Fiction

image Viele verstehen unter Zukunft immer nur das für die Welt Neue, Utopische und noch nie Gedachte.

image Dabei ist die Zukunft meistens schon da. Ihre Zutaten sind meist schon heute erkennbar.

Die Rollen-Verwirrung

Propheten oder Zukunftsmanager?

image Der Klient versteht den Zukunftsexperten meist als Propheten und Prognostiker.

image Der Zukunftsexperte sieht sich eher als Zukunftsmanager.

Propheten oder Inspiratoren?

image Die Trendkreationen der Trendforscher werden als Prognosen verstanden.

image Tatsächlich liefern sie jedoch eher inspirierende Ideen und Gedanken ohne Prognoseabsicht.

Universal-Experten oder Innovatoren?

image Vom Zukunftsexperten erwartet man, dass er die Zukunft von allem besser kennt als der Fachspezialist.

image Seine Kompetenz liegt jedoch vielmehr in seiner Interdisziplinarität und Methodenkompetenz.

Die Methoden-Verwirrung

Werkzeugkataloge ohne Bauplan

image In den Methodenkatalogen wird die Eignung der Methoden und Werkzeuge kaum behandelt.

image Das führt zur Anwendung falscher Methoden.

Grenzen der klassischen Szenarien

image Die klassische Szenario-Methode deckt viele Anforderungen der Praktiker nicht ab.

image Da sie als State of the Art gilt, sind enttäuschte Erwartungen die häufige Folge.

2.3.1 Die Ziel-Verwirrung

Im Kern der Zukunftsverwirrungen stehen die Irrationalitäten, die Menschen beim Blick in die Zukunft an den Tag legen.

Prognose versus Gestaltung

Oft höre ich zwei Wünsche von Entscheidern im gleichen Atemzug. Sie möchten, dass man ihnen die Zukunft voraussage, und sie möchten, dass sie ihre Zukunft gestalten können. Nur wenigen fällt auf, dass sich diese beiden Wünsche gegenseitig ausschließen. Könnte irgendjemand oder irgendetwas die Zukunft exakt voraussagen, wären wir alle dazu verdammt, nur noch das vorausgesagte Leben zu Ende zu leben. Ein weiteres Kind, etwas Neues lernen, die Meinung ändern, auswandern, noch einmal von vorne beginnen, den dritten Frühling einläuten? Alles das dürften wir nicht tun, wenn es nicht vorausgesagt ist. Ein furchtbares Leben wäre das. Weder ist die Zukunft so, noch wollen wir, dass sie so ist.

Da die über sieben Milliarden Menschen auf der Erde ihr Leben in gewissen Grenzen gestalten und ihre Ansichten und ihr Verhalten ändern können, kann die Zukunft nicht voraussagbar sein. Schließlich wissen wir noch nicht einmal selbst, was wir in zwei Wochen genau machen werden. Wir müssen lernen, die passive von der aktiven Betrachtung der Zukunft zu unterscheiden.

Prognose versus Warnung

Im Jahr 2003 ließ das US-amerikanische Verteidigungsministerium eine Zukunftsstudie über den Klimawandel erstellen.4 Die beauftragten Zukunftsexperten vom Global Business Network, unter der Leitung von Peter Schwartz und Doug Randall, sind ausgesprochene Szenario-Fans. Sie vertreten eine sehr einfache Szenario-Methodik, die im Wesentlichen auf einer Vier-Felder-Matrix basiert, in der zwei Unsicherheitsfaktoren so miteinander kombiniert werden, dass sich vier Szenarien ergeben. Schwartz und Randall wollten sich nicht mit der üblichen Annahme zufriedengeben, dass der Klimawandel allmählich kommen wird und dass sich die Menschheit schon daran anpassen wird. Sie wollten es dramatischer darstellen, damit der Ernst der Lage klarer wird. Also entwarfen sie ein Szenario namens »rapid climate change«, das für den Norden eine starke Abkühlung und für den Süden eine erhebliche Erwärmung beschrieb. Es bestand unter anderem aus folgenden Projektionen für die Zeit von 2010 bis 2020 (geschrieben im Jahr 2003):

image Der Golfstrom im Atlantik, die Heizung Europas, ändert in einer komplexen Reaktion seine Richtung.

image Trockenheit und Dürre prägen den gesamten Zeitraum in wichtigen Landwirtschaftsregionen und in den Gebieten um die großen Ballungsgebiete in Europa und Nordamerika.

image Die Jahresdurchschnittstemperatur fällt um bis zu fünf Grad Fahrenheit (2,8 Grad Celsius) in Asien und Nordamerika und bis zu sechs Grad Fahrenheit (3,3 Grad Celsius) in Europa. Das wäre eine dramatische Abkühlung.

image Die Jahresdurchschnittstemperatur steigt um bis zu vier Grad Fahrenheit (2,2 Grad Celsius) in Australien, Südafrika und Südamerika. Das wäre eine ebenso dramatische Erwärmung.

image Winterstürme und Winde nehmen stark zu und verstärken die Effekte der Abkühlung.

image Zum Ende des Jahrzehnts, 2020, entspricht das Klima in Mitteleuropa dem Klima in Sibirien im Jahr 2000.

Die Zukunftsforscher beschrieben dramatische Folgen: In Europa gibt es militärische Scharmützel um Wasser und Nahrung, Holländer und Deutsche wandern massiv nach Italien und Spanien aus. Aus Japan und der Karibik strebt eine Flut von Einwanderern in die USA. China interveniert militärisch in Kasachstan, um die Pipelines gegen Rebellen zu sichern. Die Menschheit kehrt zurück zur alten Gewohnheit permanenter Schlachten um Ressourcen. Der Krieg bestimmt wieder das Leben, diesmal mit den stärksten Waffen, die der Menschheit je zur Verfügung standen.

Es ist ein Szenario einer zwar denkbaren, aber nicht unbedingt wahrscheinlichen Zukunft. Die Zukunftsforscher wollten vor allem warnen. Sie hatten, wie es üblich und nötig ist, immer wieder darauf hingewiesen, dass es keine Vorhersage ist. No prediction!

Und was, glauben Sie, stand in den Tagen nach der Veröffentlichung in praktisch allen Zeitungen und Zeitschriften? Genau, »Zukunftsforscher sagen radikalen Klimawandel voraus«.

Ausdrücklich wiesen Schwartz und Randall darauf hin, dass es ihnen darum ging, das Undenkbare zu denken, darum, zu dramatisieren, um die gewaltigen Folgen zu zeigen, die eintreten können. Es war ein zweckpessimistischer Ansatz. Schließlich lehre die Geschichte, so die Forscher, dass manchmal gerade die Extreme passierten und, wenn es diese Möglichkeit gebe, sich das Verteidigungsministerium damit befassen müsse. Schwartz arbeitet hier mit dem Begriff der »inevitable surprises«, der unausweichlichen Überraschungen.

Die Medien und auch eine Reihe unserer Gesprächspartner in den Wochen nach der Veröffentlichung sahen die Studie als ziemlichen Unsinn an. So schnell werde sich das Klima doch mit Sicherheit nicht wandeln. Und für so eine unsinnige »Prognose« habe das Pentagon 100 000 Dollar ausgegeben? Schwartz und Randall erstellten ihre Studie mit der roten Zukunftsbrille, der überraschenden Zukunft. Die Masse der Leser aber tat, was sie meistens tut. Jede Aussage über die Zukunft wird als Prognose (mit der blauen Zukunftsbrille) verstanden, was gleich in die Diskussion über Wahrscheinlichkeiten führt.

Ein anderer bekannter Fall ist die 1972 erschienene Studie Grenzen des Wachstums von Dennis und Donella Meadows. Ein siebzehnköpfiges Forschungsteam beschrieb im Auftrag des Club of Rome auf der Grundlage eines Computermodells unmissverständlich, dass wir um die Jahrtausendwende katastrophale Zustände unserer Umwelt erleben würden. Kaum jemand hat gehört, dass die Thesen immer mit der Anmerkung »ceteris paribus« geschrieben wurden. Wenn wir also so weitermachen, werde es so kommen. Es waren Warnungen, gesehen, gesprochen und geschrieben mit der roten Zukunftsbrille. Und auch in diesem Falle sah und sieht die Öffentlichkeit diese Szenarien durch die blaue Zukunftsbrille, also als Prognosen. So als hätten die Autoren hinter jeden Satz »Wahrscheinlichkeit: 100 Prozent, egal was noch passiert« geschrieben. Im Klappentext zur Ausgabe von 1973 im Rowohlt-Verlag steht: »Die MIT-Studie nutzt erstmals die neuartigen Techniken der wissenschaftlichen Systemanalyse und Computersimulation (gemeint waren die Arbeiten über systems dynamics von Jay Forrester), um durch die Kombination großer Informationsmengen präzise Prognosen über die langfristige Entwicklung weltweiter Probleme abzugeben.«

Selbst schuld, könnte man denken, dass der deutsche Übersetzer für das englische Wort forecast das Wort Prognose verwendete, denn darunter verstehen die meisten Menschen eine Aussage, die sich auf jeden Fall bewahrheiten wird, egal was passiert. Ein einfaches Denkwerkzeug wie die fünf Zukunftsbrillen kannte man nicht. Mit ihnen hätte man schnell klären können, worum es geht.

Vision versus Plan

2025? Man bewundere meinen Mut, so höre ich häufig, so weit in die Zukunft zu planen. Man könne doch noch nicht einmal morgens den Tag so gut planen, dass es sich genau so verwirklichen lässt. Es sei ja allerhand, was ich da täte. Ein weiteres Mal stoßen wir hier auf die sprachliche Zukunftsverwirrung.

Wieder wird der dringende Bedarf nach einem klärenden Denk- und Kommunikationsmodell für die Zukunft deutlich.

Pragmatik versus Science-Fiction

Wie jetzt? Dass die Menschen älter werden und damit die Gesellschaft im Durchschnitt altert, dass ein Sechstel aller physischen Produkte nanotechnologische Komponenten enthalten wird, dass die Speicherkapazitäten exponentiell gewachsen sein werden, dass die Brennstoffzellentechnik langsam, aber sicher vorankommt, dass der globale Energiebedarf steigt und dass Functional Food ein Zukunftsmarkt ist, wisse man doch schließlich. Wo sei denn da der neue Megatrend?

Viele verstehen unter »Zukunft« immer nur das Neue und noch nie Gedachte. Für sie sind Spekulationen über den Personal Fabricator, den 3D-Drucker für zu Hause, mit dem man sich beliebige Produkte einfach ausdrucken kann, über den an geostationären Satelliten aufgehängten Weltraumaufzug, die Transatlantik-Brücke und sich selbst replizierende Nanoroboter gerade Zukunft genug. Ich kann das in gewisser Weise verstehen, aber nur, wenn es um Unterhaltung und Science-Fiction geht. Wo solches aber so gut wie nie hingehört, ist in die unternehmerischen Praxis des Zukunftsmanagements. Dort geht es um ernsthafte Analysen dessen, was bereits am Horizont absehbar ist.

Die meisten heute relevant werdenden Trends und Technologien sind ja schon lange in der Welt. Die Brennstoffzelle gibt es seit 1837. 1896 schrieb Svante Arrhenius über die Erderwärmung durch Kohlendioxid. Den Hybridantrieb gibt es seit 1902. Die ersten Mobiltelefone setzte die Deutsche Reichsbahn 1932 ein. Die ersten vegetarischen Restaurants gab es in den 1920ern. Die kommende Alterung in Deutschland beschrieb Reinhold Lotze im Jahr 1932. Die ersten Online-Tagebücher wurden in den 1970ern publiziert und schon 1995 wurden beim Wiener Marathon die Zeiten der Läufer durch in die Laufschuhe eingebaute RFID-Chips ermittelt.

Nehmen Sie als Ausgangspunkt, was heute schon irgendwo in der Welt ist. Das ist sinnvoller als das naive Streben nach weltrevolutionär Neuem. Es geht um das Phänomen der Innovationsdiffusion, den Verbreitungsprozess von Innovationen vom Innovator bis zur Allgemeinheit, der einer s-förmigen Kurve folgt. Was für wen eine Innovation darstellt, ist denkbar relativ. Für einen Technologiekonzern ist die Einführung eines Wissensmanagements Teil seiner Geschichte. Für ein mittelständisches Bauunternehmen stellt die gleiche Chance eine enorme Herausforderung dar. Die Zukunft ist selten das für die Welt absolut Neue. Die Zukunft ist viel häufiger das für den Betrachter relativ Neue, das es schon lange woanders gibt. Blockieren Sie sich nicht durch die Suche nach revolutionär Neuem. Neu ist schon, was Sie in Ihrem Unternehmen noch nicht umgesetzt haben. Es muss nicht neu für die Welt sein. Es reicht, wenn es neu für Ihren Markt oder für Sie ist.

Noch ein Wort zu Megatrends. Auch dieser von John Naisbit Anfang der 1980er-Jahre eingeführte Begriff wird mittlerweile inflationär und oft falsch verwendet. Ein Megatrend ist stark, global und langfristig. Er beschreibt umfassende Veränderungsprozesse. Beispiele sind die Alterung in entwickelten Staaten, die weltweit steigende Lebenserwartung, die Zunahme des globalen Energiebedarfs oder die steigende Leistungsfähigkeit von Computern. Megatrends können hilfreich sein, wenn Sie sie fortschreiben und wahrscheinliche Zukünfte denken wollen. Megatrends entstehen und vergehen langsam. Neue Megatrends gibt es selten. Wer Megatrend sagt und damit »besonders toller neuer Trend« meint, missbraucht das Wort. Massive open online courses (MOOC), das rasante Wachstum der kostenlosen Videokurse im Internet, sind zwar ein Trend, aber sicher kein Megatrend. Denn entweder sprechen wir über die wirklich wirkenden Megatrends oder wir sprechen über neue Trends. Aber neue Megatrends sind kein schlüssiges Konzept.

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Abb. 4: Verfügbarkeit von Zukunftswissen

Es ist ein bedeutender Unterschied, ob Sie Orientierungsgrundlagen für das wirkliche Leben haben wollen oder ob Sie sich einfach inspirieren und unterhalten lassen wollen. Die Zukunftsbrillen können helfen, diese Zusammenhänge besser zu verstehen und leichter zu vermitteln.

2.3.2 Die Rollen-Verwirrung

Die Rollen der Zukunftsexperten, seien es die Trendforscher, die Zukunftsforscher oder die Zukunftsmanager, werden vielfach missverstanden. Die Öffentlichkeit kennt für sie nur eine einzige Schublade mit dem Namen »Wahrsager«, und dort kommen sie alle hinein.

Propheten oder Zukunftsmanager?

Sobald sich jemand beruflich mit der Zukunft befasst, stellen sich die meisten Menschen vor allem eines als dessen Kernaufgabe vor: Prognosen! Die Arbeitsqualität dieser Leute müsse, so die für selbstverständlich gehaltene Annahme, in erster Linie daran gemessen werden, wie genau es ihnen gelingt, Ereignisse und Entwicklungen der Zukunft vorauszusagen. Die Akkuratesse der »Prognose« müsse man in zehn Jahren kritisch prüfen und, wenn es nicht so gekommen ist, den Autor anprangern oder günstigstenfalls auslachen. Immer noch werden Zukunftsexperten als Prognosemaschinen verstanden, deren Existenzberechtigung und primäres Qualitätskriterium die Genauigkeit ihrer Voraussagen ist. Auch wenn es zum Allgemeingut gehört, dass die Zukunft nicht exakt vorhersagbar ist, auch wenn die Chaosforscher diese Vermutung zur Gewissheit gemacht haben, bleibt die Arbeit von Zukunftsexperten mit unmöglich zu erfüllenden Erwartungen belastet.

Der zeitgenössische Zukunftsexperte versteht sich nicht als Voraussager, sondern als Vorausdenker der Zukunft. Infolgedessen kommt dem Zukunftsforscher das Denken in Szenarien entgegen. Sie ermöglichen ihm, an Zukünften zu arbeiten und zu Innovationen zu inspirieren, ohne sich unrealistischerweise auf prognostische Aussagen festlegen zu müssen. Die Klienten jedoch verstehen seine Szenarien stoisch als Prognosen. Enttäuschung der Klienten und Verhöhnung der Zukunftsexperten sind die regelmäßige Folge eines unklaren Rollenverständnisses.

Propheten oder Inspiratoren?

Liest man heute das Buch über die Trends 2015 von Gerd Gerken und Michael Konitzer, geschrieben im Jahr 1995, kann man prüfen, wie gut die Autoren damals die Zukunft »prognostiziert« haben (wobei sie das sicher nicht beanspruchten). Unter Fachleuten sei es unstrittig, dass die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich weiter vermindert werde (Seite 124), bis auf 29 Stunden im Jahr 2030. Es werden andere Zukunftsexperten zitiert, so etwa das BAT-Freizeitforschungsinstitut oder das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Fast alle glaubten über viele Jahrzehnte hinweg an die kommende Freizeitgesellschaft, so dass man hier nicht allzu streng und schadenfroh sein sollte. Es ist schließlich nicht verwerflich, sondern sehr üblich, einen jahrzehntealten Trend fortzuschreiben.

Auch das Ende des gedruckten Wortes (Seite 88) ist noch lange nicht gekommen und wird auch bis 2015 nicht gekommen sein. Sehen wir uns einige etwas ungewöhnlichere Themen an, die wir zufällig ausgewählt haben:

image »Die Kunst der Zukunft wird eine Art Begleiter zur Ekstase … Die Kunst dient nicht mehr der Versicherung eines Sinns, sondern vermittelt das Gefühl von Dasein. Ekstatik heißt, daß es keinen Sinn mehr, keine Anklage, kein klagendes Denken gibt. Wenn man die Ekstatik einführt, scheidet die Bewertung aus.« (Seite 101)

image Die Borderline-Patienten von heute (1995) sind die Multi-Minds der Zukunft. Sie sind die eigentlich fitteren. Sie sind die voranschreitende Elite, die in der Lage ist, mit mehreren Wirklichkeiten umzugehen. »Solche Menschen geraten nie in die Sackgasse, irgendwann irgend etwas wirklich zu glauben.« (Seite 39)

image »Mode wird zum individuellen Lautsprecher der eigenen Gefühle und Befindlichkeiten, zum Transportmittel der seelischen Intimität und der persönlichen Imagination.« (Seite 167)

Faith Popcorn schreibt in Clicking, der neue Popcorn-Report aus dem Jahr 1997 beispielsweise Folgendes:

image Clanning ist ein Trend. Menschen organisieren sich in Clans und Gruppen (Seite 84 ff.).

image Fantasy-Abenteuer boomen. »Um Stress und Langeweile zu entkommen, haben die Verbraucher das Bedürfnis, Abenteuer und Anregung in einer risikofreien Umgebung zu erleben.« (Seite 103)

Wenn der Maschinenbauingenieur mit seinem positivistischen Geist (es zählt nur, was beweisbar ist) auf die Aussagen der Trendforscher schaut, kann er nur den Kopf schütteln. Scharlatanerie, hört man ihn rufen. An den Aussagen der beiden Trendforscher ist so gut wie nichts überprüfbar oder beweisbar. Zum Teil entziehen sich schon die reinen Worte einem eindeutigen Verständnis. Den prognostischen Wert, sollten die genannten Aussagen überhaupt einen haben, kann man noch nicht einmal im Nachhinein prüfen, geschweige denn a priori. Ohnehin werden oft schlicht Phänomene der Gegenwart als Trends bezeichnet, wie es bei Faith Popcorn und den meisten anderen Trendforschern der Fall ist.