Mehr Action, weniger Zucchini

 

 

 

Für Dad

Kapitel 1

Ich heiße Alex Harmon. Falls du mich nicht persönlich kennst, hast du sicherlich noch nie von mir gehört. Ich bin ja auch für nichts berühmt. Das würde ich auch gar nicht sein wollen. Lieber würde ich mit weit aufgerissenem Mund in den Hecklader eines Müllwagens hechten, als berühmt zu sein.

Erstens, weil ich von Natur aus nicht so gern auf Menschen zugehe, und zweitens, weil ich jemanden kenne, der berühmt ist, und ich einen kurzen Blick darauf erhascht habe, wie das so ist. Die Menge an Fanpost ist gigantisch. Wusstest du, dass Leute immer noch Briefe auf Papier schreiben? Die türmen sich zu riesigen Stapeln auf.

Die berühmte Person, die ich kenne, ist L.M.Knight. Ich wette, du hast schon mal von L.M.Knight gehört. Man kann ja nicht mal in einen Lebensmittelladen gehen, ohne in einen Pappaufsteller voller L.-M.-Knight-Bücher hineinzurennen: Gerald im Zeitstrudelwehr des Zauberers und das neue, Gerald in der Grotte der Gargoyle. Vielleicht hast du ja für Gerald in der Grotte der Gargoyle bis Mitternacht Schlange gestanden (wenn es so war, ziehe ich meinen Hut vor dir). Selbst wenn du sonst fast nie Bücher liest, hast du bestimmt mindestens eines von den Gerald-Büchern gelesen. Deshalb ist ihre Autorin ja auch so berühmt.

Aber nur so eine Frage: Wie alt ist L.M.Knight eigentlich? Welche Haarfarbe hat L.M.Knight? Ist L.M.Knight eher ein Hunde- oder ein Katzenmensch?

Du glaubst vielleicht, L.M.Knight sieht aus wie dein cooler Onkel: groß, mit einem kleinen Bart. Vielleicht irgendein Hut. Aber das ist nur das Bild in deinem Kopf. Das Mädchen, das gerade neben dir im Bus sitzt, ist wahrscheinlich anderer Meinung. Sie würde vielleicht sagen, dass L.M.Knight wie ihre lustige Großmutter aussieht: klein, mit grauen Haaren und dieser rahmenlosen Brille, die trotzdem unverkennbar eine Brille ist.

Und noch eine Frage: Wofür steht L.M.? Weißt du nicht, oder? Deine Lehrerinnen und Lehrer wissen es auch nicht. Nicht mal die Bibliothekarin im Hauptgebäude weiß es.

Na ja, sagst du, es weiß ja auch niemand, wofür J.K. oder J.R.R. stehen. Worauf ich nach ein paar Minuten Googeln antworten kann: Joanne Kathleen und John Ronald Reuel (wieso gibt es heutzutage keine Jungs mehr, die Reuel heißen?).

Versuch’s doch mal mit L.M. – nichts? Gar nichts? Nee. Nichts. Keine Namen, keine Fotos – weder mit noch ohne Hut oder Brille –, kein Geburtsdatum, keine Heimatstadt, keine Familie. Nur Bücher.

Neugierig? Wäre ich auch. Wer ist diese »bekanntermaßen zurückgezogen lebende Autorin« (sagt Wikipedia), die sogar die größten Lesemuffel lieben?

Das will ich dir verraten. Es ist eine lange Geschichte, aber nicht annähernd so lang wie Gerald in der Grotte der Gargoyle – für die braucht man ja einen Tragegriff. Ich werde dir alles erzählen, was die Leute schon immer über die mysteriöse L.M. wissen wollten. Aber keine Angst – das wird keine Biografie. Das wäre unmöglich. Weil L.M.Knight nämlich gar nicht existiert.

Kapitel 2

»Gerald rannte die Eingangsstufen zum Haus seines Großvaters hinauf.«

So fängt es an, oder? Das ist der erste Satz von Gerald im Zeitstrudelwehr des Zauberers, Buch 1 in der Reihe. Du hast diesen Satz natürlich erst gelesen, nachdem das Buch veröffentlicht wurde. Ich hingegen habe ihn ungefähr ein Jahr vorher schon gelesen, als ich zwölf war. Eigentlich, bevor die Geschichte überhaupt geschrieben wurde.

Es war ein Samstagnachmittag mitten in diesem leeren, grauen, nicht enden wollenden Winter. Ich war oben in meinem Zimmer und kümmerte mich um meinen eigenen Kram. Meine Mutter und ihre Schwester, meine Tante Caroline, waren in der Küche. Ich konnte hören, wie sie sich unterhielten, worüber, interessierte mich aber gar nicht. Bis ich ein altbekanntes Wort von unten heraufwabern hörte wie einen üblen Geruch. Und dieses Wort war »Lesemuffel«.

Die Leute sagten es nur, wenn sie glaubten, ich würde es nicht hören, aber ich wusste, dass sie mich damit meinten. Ich hörte es in der zweiten Klasse, als ich draußen vor dem Klassenzimmer auf meine Eltern wartete, die drinnen mit meinem Lehrer sprachen. Ich hörte es wieder in der vierten Klasse, als mein Lehrer sich während unserer Stunde in der Bibliothek mit der Schulbibliothekarin unterhielt. Ich hörte es von meinem Vater, der mit dem Kinderbuchexperten aus dem örtlichen Buchladen redete. Und dann kam es mir schon wieder zu Ohren, diesmal von meiner Mutter.

Da ich jetzt wusste, dass sie und meine Tante über mich redeten, hörte ich doch zu.

»Dann wäre er perfekt«, sagte Caroline. »Genau ihn brauche ich. Ich frag ihn einfach mal, okay? Wenn er Nein sagt, fange ich nicht noch mal davon an, versprochen.«

Falls das jetzt so klingt, als würden meine Mutter und meine Tante eine Verschwörung planen, um mich als Versuchskaninchen für ein unangenehmes Experiment zu benutzen, ist das nur so, weil sie genau das taten.

»Alex«, rief meine Mum, »kannst du mal kurz runterkommen? Tante Caroline würde dich gerne um einen Gefallen bitten.«

Wenn das jetzt eine erfundene Geschichte und nicht mein echtes Leben wäre, hätte ich die Gelegenheit ergriffen und wäre aus dem Fenster geklettert, um mich auf der Suche nach einem spannenden Abenteuer aus dem Staub zu machen. Aber von meinem Zimmerfenster aus ging es ganz schön steil runter. Und außerdem war Tante Caroline ja keine wahnsinnige Wissenschaftlerin. Sie arbeitete in einem Büro. Sie würde mich wohl kaum an eine Maschine anschließen und meine Persönlichkeit mit der eines echten Versuchskaninchens vertauschen.

Als ich langsam die Treppe herunterging, sagte ich mir, dass Tante Caroline mit mir wahrscheinlich nur die Kindersicherungen bei ihr zu Hause testen wollte. Caroline und ihre Frau, meine Tante Lulu, bekamen in ein paar Monaten ein Baby. Aber sie machten ein Theater darum, als ob sie Besuch von wirklich kritischen Mitgliedern des Königshauses erwarteten. Die Wandfarbe im Kinderzimmer musste die perfekte Schattierung von »frühem Dämmerungsblau« haben. Der Teppich wurde schon zwei Mal ausgewechselt, da er nicht »flauschig« genug war. Und überall haben sie Kindersicherungen einbauen lassen, als würde ihr Kind, kaum zu Hause angekommen, aus ihren Armen springen und innerhalb von Sekunden alles Giftige unter dem Spülbecken in sich hineinkippen.

Einige dieser übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen könnten mit meinem kleinen Bruder Alvin zu tun haben. Da gibt es ein paar Vorgeschichten.

In der Küche angekommen, hatte ich mich bereits damit abgefunden, bald in Carolines und Lulus Haus herumzukrabbeln und zu versuchen, mich selbst zu vergiften, zu erwürgen und mir einen Stromschlag zu verpassen. Aber das war überhaupt nicht der Gefallen, um den es ging. Der würde nicht einmal annähernd so viel Spaß machen.

Caroline wollte, dass ich ein Buch las.

Kapitel 3

Tante Caroline hätte ein Buch für Kinder in meinem Alter geschrieben und bräuchte einen »Testleser«, sagte sie.

Der Papierstapel auf dem Küchentisch war eher niedrig. Wenigstens hatte sie die Freundlichkeit besessen, ein kurzes Buch zu schreiben. Aber trotzdem. Nicht nur, dass es überhaupt ein Buch war – es war ein Buch, das jemand geschrieben hatte, den ich kannte. Das konnte nur schiefgehen.

»Warum gibst du es nicht Alvin zum Lesen?«, fragte ich. »Der liest alles.«

Alvin war acht und das Gegenteil eines Lesemuffels. Er war, was Eltern und Lehrkräfte und Leute aus Bibliotheken einen »Bücherwurm« nannten. Was viel cooler klingt, als es ist. Es klingt, als ob Alvin wie ein Wurm durchs Bücherregal kriecht, zuerst ein Loch in wehrlose Bücher frisst und sie dann in einem Stück verschlingt, wie die kleine Raupe Nimmersatt. In Wirklichkeit sitzt er stundenlang auf seinem Bett herum, beinahe reglos, und liest, während er sich ab und zu einen Käse-Nacho in den Mund schiebt.

»Das ist es ja«, sagte Caroline. »Wir dachten, du wärst geeigneter, da du … schwieriger zufriedenzustellen bist.«

»Du meinst, ich bin ein Lesemuffel.«

»Nein, überhaupt nicht!«, sagte Caroline.

»Bin ich nämlich nicht. Ich mach nur ein paar andere Sachen lieber als Lesen.«

»Was die Definition eines ›Lesemuffels‹ ist«, sagte meine Mutter.

Ist es nicht. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Es war nämlich so, dass ich lieber Sachen tat, die nicht so viel mit Still-Herumsitzen und Gut-Aufpassen zu tun hatten. Wie Laufen – immer und überall. Auf dem Fußballfeld, den Gehsteigen, in den Schulkorridoren – wenn mich keiner daran hinderte. Und wenn ich schon still sitzen und aufpassen musste, schaute ich mir lieber einen Film oder eine Fernsehserie oder ein Video im Internet an, als zu lesen. Ich konnte auch ganz gut kochen. Ich war also wenigstens vielseitig, auch wenn ich keine Bücher mit vielen Seiten las.

Ich hatte Carolines Papierstapel immer noch nicht angefasst oder mich ihm auch nur genähert.

»Ich habe gehofft, es jemandem geben zu können, der nicht so gerne liest, um zu sehen, ob er oder sie es auf längere Sicht interessant findet«, sagte Caroline. Sie seufzte und spielte mit den Haarspitzen ihres Pferdeschwanzes herum. »Die Sache ist nämlich die: Ein paar meiner Freunde haben es gelesen, und Lu hat es gelesen, und sie sagen, dass es toll ist – wirklich gut geschrieben und berührend und süß.«

Das klang nicht gerade nach einem Buch, das ich lesen wollte, aber ich war kein Maßstab – ich wollte die meisten Bücher nicht lesen.

»Aber Lu hat eine Freundin, die Literaturagentin ist«, erzählte Caroline weiter und wickelte eine Haarsträhne so eng um ihren Finger, dass die Fingerspitze schon ganz rot wurde. »Du weißt schon – die Leute, die den Verlagen Bücher verkaufen. Und sie hat es gelesen, um Lu einen Gefallen zu tun. Und …« Noch ein Seufzer. »Sie war anderer Meinung.«

»Was hat sie denn gesagt?«, fragte ich.

Meine Mutter schaute von ihrer Teetasse auf. Offenbar war sie zu höflich gewesen, um nachzufragen, was die Agentin gesagt hatte, war aber eindeutig neugierig.

»Sie hat gesagt, dass es gut geschrieben ist, aber …« Caroline rutschte auf ihrem Stuhl herum und befreite ihren Finger aus der Pferdeschwanzsträhne. »Aber dass ein Buch für Kinder in deinem Alter nicht nur gut geschrieben sein muss. Sie hat gesagt, in einem Buch muss heutzutage genauso viel Action vorkommen wie auf Bildschirmen – oder zumindest so viel wie vor Fensterscheiben.«

Autsch, dachte ich.

»Also darf es nicht langweilig sein«, sagte ich laut.

»Genau. Es darf nicht langweilig sein. Und ich hoffe, dass du eventuell Lust darauf hast, mir zu sagen, ob etwas davon langweilig ist.«

»Ernsthaft? Du willst, dass ich es lese und dir die langweiligen Stellen zeige?« So ging ich beim Lesen nämlich eigentlich immer vor – zumindest in meinem Kopf.

»Ernsthaft. Nimm dir einen Stift und kreise die langweiligen Stellen ein. Ich bezahle dich sogar dafür.«

»Caroline!«, sagte meine Mutter. »Du musst doch deinen Neffen nicht dafür bezahlen, dir einen einfachen Gefallen zu tun.«

»Zehn Mäuse«, sagte Caroline zu mir. »Und kein Mitleid.«

»Abgemacht.« Ich schnappte mir den Papierstapel und ging nach oben.

Kapitel 4

Zuerst las ich Carolines Namen und Adresse. So weit, so gut. Dann den Titel: Gerald besucht Opa. Was nicht besonders vielversprechend war. Denn sicherlich stimmst du mir darin zu, dass dieser Titel eher nach einem Bilderbuch klingt und nicht, wie Caroline gesagt hatte, nach einem Buch für Kinder in meinem Alter.

Ich machte trotzdem weiter. Immerhin gab es ja zehn Mäuse, oder? Zehn sehr einfache Mäuse. Und da war auch schon der erste Satz, wie Gerald bei dem Haus seines Großvaters ankommt.

Na gut, das Rätsel ist gelöst, denkst du jetzt. L.M.Knight ist also die Tante eines Jungen, der Alex Harmon heißt – Caroline irgendwas. Das war’s also. Dann mal weiter zu etwas anderem, vielleicht zu irgendeinem Bildschirm.

Aber nicht so schnell. Meine Tante Caroline ist nicht L.M.Knight. Wenn sie es wäre, dann wäre L.M.Knight nur ein Künstlername – wie Dr. Seuss (Theodor Geisel) oder Lewis Carroll (Charles Lutwidge Dodgson). Ein bisschen komplizierter ist es schon. Ich fürchte also, du wirst weiterlesen müssen.

Genau das tat ich auch. Ich las, wie Gerald das Haus seines Großvaters betrat. Nach den nächsten paar Sätzen wurde klar, dass Gerald – aus irgendeinem Grund – ein Frosch war. Gerald war ein Frosch, der sich in jeder Hinsicht wie ein Mensch verhielt. Warum also war er ein Frosch? Ich holte einen roten Stift von meinem Schreibtisch und schrieb an den Rand, genau so, wie meine Lehrer es in meinen Aufsätzen immer taten: Warum ein Frosch?

Was sich gut anfühlte. Endlich war ich einmal der Herr über den alles-infrage-stellenden, alles-kritisierenden Rotstift des Schicksals. Ich las weiter und genoss meine Macht.

Und, na ja, Gerald besuchte tatsächlich seinen Großvater (der auch ein Frosch war, das war also wenigstens einheitlich). Aber ich war erst auf Seite 3, und nun begann der Papierstapel doch ziemlich hoch auszusehen, und es schien, als stünden noch ziemlich viele Wörter zwischen mir und meinen zehn Mäusen.

Geralds Großvater war ein Griesgram, wie sich herausstellte. Aber dann bot Gerald an, ihm im Garten zu helfen und … mit den Details werde ich dich verschonen. Denn ab Seite 10 musste ich mir eingestehen, dass ich das Interesse verlor. Ich konnte meinen roten Stift nicht nehmen und die langweiligen Stellen einkreisen, denn – sogar jetzt fühle ich mich noch schlecht dabei, es auszusprechen – Gerald besucht Opa war nur langweilig. Es hatte keine langweiligen Stellen – es war ein langweiliges großes Ganzes. Es gab keine einzige interessante Stelle.

Mein rechtes Bein zuckte, was es immer tut, wenn ich hibbelig werde. Ich fing an, die Seite zu überfliegen, und dachte, dass Gerald ja vielleicht in einen Abflusskanal hineingesaugt werden könnte und Opa ihn retten müsste. Oder – noch besser – Opa würde in einen Abflusskanal hineingesaugt werden, und Gerald müsste ihn retten. Aber das passierte nicht. Und selbst wenn, fiel mir ein, können Frösche ja sehr gut schwimmen. Ich überflog jetzt noch schneller viele Seiten auf einmal. Dann blätterte ich direkt zur letzten Seite, obwohl ich nicht gerade vor Spannung umkam.

Am Schluss, falls du tatsächlich neugierig bist, gewannen Gerald und Opa auf dem Dorffest eine blaue Schleife für die größte Zucchini. Was schön für sie war. Aber nicht so toll für den Lesemuffel, der wirklich mehr Action braucht, um das Interesse nicht zu verlieren.

Jetzt saß ich also in der Klemme. Ich hatte eine gemeine Buchbesprechung vor mir. Nur dass die Autorin des Buches und die Person, für die ich die Besprechung schrieb, beide meine Tante waren.

Kapitel 5

Ich entschied, eine Runde laufen zu gehen. So würde ich nachdenken können und außerdem ein bisschen Abstand zu Caroline und ihrem Buch bekommen. Ich zog mir meine Laufsachen für kaltes Wetter an und ging nach unten.

»Du kannst doch unmöglich schon fertig sein?«, fragte meine Mutter, als ich an der Küche vorbeikam.

»Äh, nein – klar bin ich noch nicht fertig«, sagte ich. »Ich geh nur mal eine Runde laufen, dann mach ich gleich weiter.«

»Du musst dich nicht beeilen«, sagte Caroline. »Lass dir ruhig Zeit.« Ich sah, wie sie einen Moment mit sich selbst kämpfte und verlor. »Wie gefällt es dir bisher?«, musste sie mich einfach fragen.

Ich war schon fast draußen. So knapp. So knapp. Aber hier war ich nun und musste die Frage beantworten, vor der ich buchstäblich versuchte, davonzulaufen. Und ich tat Folgendes (übrigens, tut das nie!): Ich grinste meine Tante breit und schmierig an und zeigte ihr beide Daumen nach oben. Ich schäme mich schon allein für die Vorstellung, wie ich dabei ausgesehen haben muss.

Als ich gerade hinter mir die Tür zuzog, hörte ich Caroline sagen: »Diese ganze Sache mit dem Laufen macht ihm wirklich Spaß, oder?«

»Jep«, sagte meine Mum. »Er läuft überall hin. Tatsächlich ist es ein bisschen komisch, aber hast du seine dünnen Waden gesehen? Sie sind so –«

Ich lief los.

Zuerst hatte ich kein bestimmtes Ziel im Kopf. Aber beim Laufen bemerkte ich dann, dass ich die Richtung zu Javiers Haus einschlug. Mein Freund Javier wohnte einen 15-Minuten-Lauf von mir entfernt, was mir zumindest eine halbe Stunde verschaffen würde, um mir eine Antwort für Caroline zu überlegen. Außerdem hatte Javier viele Verwandte, vielleicht konnte er mir also ein paar Ratschläge dazu geben, wie man mit einer umging, die ein Buch geschrieben hatte.

Um Javiers Haus zu erreichen, musste ich vorher jedoch an Marcello vorbei. Marcello war der winzige Rattenhund der Nachbarn, der jedes Mal aus dem Haus ausbüxte, sobald irgendjemand eine Tür öffnete. Natürlich kam er auch jetzt vor mir auf den Gehsteig gesprungen und japste hysterisch die Japs-Version von »Du kommst hier nicht vorbei«. Vorbei kam ich wirklich nicht. Stattdessen stieg ich wie immer über ihn drüber, und er verfolgte mich, bis jemand auf seiner Veranda die Leckerli-Dose schüttelte.

Nachdem ich dieses Hindernis überwunden hatte, lief ich weiter meines Weges.

Javier wohnt in einem großen viktorianischen Haus in einer Straße mit vielen ähnlichen Häusern. Zwei Häuser weiter steht die Alte Weintraub-Villa, wie meine Mutter sie nennt. Sie steht leer, seit Mrs. Weintraub vor ein paar Jahren zu ihrer Tochter gezogen ist. Anfangs war sie nicht gruselig, aber so langsam wurde sie es, und normalerweise lief ich etwas schneller an ihr vorbei. Aber an diesem Tag blieb ich stehen.

Denn mir kam die Idee, wie viel interessanter Carolines Buch wäre, wenn Geralds Großvater in einem leicht gruseligen Haus wie diesem hier leben würde. Die Veranda könnte knarzen, so wie die der Weintraub-Veranda (bestimmt). Ein paar Spinnweben wie die Weintraub-Spinnweben könnten dort hängen. Sogar ein bisschen Gefahr könnte in der Luft liegen, während Gerald darauf wartet, dass sein Großvater ihm die Tür aufmacht.

Ich drehte mich um und lief den Weg zurück, den ich hergekommen war. Ich wollte nicht, dass mir diese Ideen voller Grusel und Gefahr entglitten, bevor ich sie Caroline vorschlagen konnte. Ich hoffte nur, dass Javier nicht gesehen hatte, wie ich fast bei seinem Haus angekommen und dann wieder weggelaufen war. Er würde denken, ich wäre verrückt geworden.

Kapitel 6

Bist du verrückt geworden?, lautete Javiers Textnachricht, als ich wieder zu Hause war. Warum bist du wieder zurückgelaufen?

Lange Geschichte, schrieb ich zurück. Verwandtenkram.

Kein Kommentar, schrieb Javier.

Er verwendete oft rätselhafte Ausdrücke wie »kein Kommentar« – ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er die herhatte. Wenn er einen Ausdruck nur oft genug benutzte, fing ich früher oder später an, ihn auch zu benutzen. Irgendwann würden wir beide wie Figuren in einem Fernsehdrama klingen. Wobei, nein, doch nicht – unsere Freundin Marta würde uns das nie durchgehen lassen. Wir waren also in Sicherheit, solange sie sich über uns lustig machte.

Ich zog meine verschwitzten Sachen aus, schnappte mir Carolines Seiten und schrieb eine weitere Anmerkung unter Warum ein Frosch? an den Rand. Diese lautete: Ein bisschen Grusel und Gefahr wären gut. Dann ging ich mit dem Buch nach unten.

Caroline und meine Mum saßen immer noch am Küchentisch. Ich weiß wirklich nicht, wie Erwachsene so lange sitzen können.

»Ich hab eine Idee«, sagte ich.

»Zu dem Buch?«, fragte Caroline. Sie zog ihren Pferdeschwanz nach vorne und fing wieder an, die Haarspitzen um ihren Finger zu wickeln.

Meine Mum schaute mich mit einem Blick an, der sagte: Vorsicht! Gefahr im Verzug! Vorsicht!

Es war möglich, wie ich erst jetzt erkannte, dass Caroline vielleicht gar nicht so glücklich darüber sein würde, dass ich eine Idee zu ihrem Buch hatte. Aber wenn sie keinen Input von außen wollte, hätte sie mir keine zehn Mäuse anbieten sollen, um welchen zu bekommen.

»Ich dachte mir«, sagte ich, »dass es vielleicht ganz gut wäre, wenn am Anfang ein bisschen Gefahr in der Luft liegen würde. Um das Interesse der Leute zu wecken.«

»Gefahr in einem Kinderbuch?«, fragte Caroline. »Meinst du wirklich?«

Ich nickte. »Für ein bisschen mehr Spannung, du weißt schon.«

»Ähm, klar«, sagte Caroline. »Okay. Etwas, das die Kinder packt.«

Sie ließ ihre Haare los, was ich für ein gutes Zeichen hielt.

»Genau. Ich dachte mir zum Beispiel, Gerald könnte zu dem Haus kommen, und es könnte ein bisschen gruselig sein. Die Veranda könnte knarzen, und da könnten ein paar Spinnweben hängen.«

»Würde das nicht bedeuten, dass Opa im Haushalt ein bisschen schlampig ist?«, fragte meine Mum, was nicht gerade hilfreich war. Sie hat einen leichten Putzfimmel.

Caroline wusste das und ignorierte sie. »Und dann würdest du weiterlesen?«, fragte sie mich.

»Ja«, sagte ich. »Aber es muss auch nach der ersten Seite noch spannend bleiben. Gerald könnte ja klopfen, und niemand antwortet. Also würde er versuchen, die Tür zu öffnen, und sie ist nicht verschlossen, und er geht rein. Und drin ist es irgendwie finster, und er kann seinen Opa nicht finden.« Die Sache fing an, mir Spaß zu machen. Ein Buch zu schreiben, war ja gar nicht schwer.

»Genau!«, sagte Caroline. »Dann könnte Opa vom Keller hochkommen oder so und ihn erschrecken. Das wäre witzig.«

»Aber ein bisschen zu früh, oder?«, sagte ich. »Um die ganze Gefahrensache schon wieder zu beenden?«

»Ich mag es, wenn alles gut ausgeht«, sagte Caroline.

Wer mag das nicht, im echten Leben? Aber in Büchern? Wenn alles sofort gut ausgeht … dann hätten wir ja nichts, außer Gerald besucht Opa, oder?

»Klar«, sagte ich. »Aber es muss erst später gut ausgehen. Nicht gleich am Anfang. Wie wär’s damit?«, fragte ich und begann jetzt, frei draufloszuplappern und alles zu sagen, was mir gerade in den Sinn kam, oder vielleicht sogar noch bevor es mir in den Sinn kam. »Wie wäre es, wenn Gerald Opa nirgends finden kann? Opa ist weg. Aber Gerald spürt auf einmal eine Anwesenheit im Haus …«

Caroline hatte ein Notizbuch aus ihrer Tasche geholt und schrieb mit. Gleichzeitig schrieb ich an den Rand des Buches: Gerald spürt Anwesenheit. Opa ist weg. Wo ist er?

»Nicht dass jemand anwesend ist«, sagte ich, als ich über ihre Schulter auf die Notizen schaute. »Es sollte eine Anwesenheit sein, irgendeine.«

»Wo ist der Unterschied?«

»Eine unbestimmte Anwesenheit ist viel gruseliger. Glaub mir.«

Sie änderte es. Das gefiel mir.

»Darüber muss ich erst mal nachdenken«, sagte sie. Aber sie klang eher aufgeregt als weinerlich. »Ich werde den ganzen Anfang umschreiben müssen.«

»Den ersten Satz aber nicht«, sagte ich. »Der erste Satz ist gut so, wie er ist.«

»Da bin ich ja erleichtert«, sagte Caroline.

 

Als Caroline ging, war ich ziemlich beeindruckt von mir selbst. Sie sagte, sie würde sich an meinen Vorschlägen orientieren und mich fragen, was ich davon hielt, wenn sie fertig war. Sie bat mich darum, ihr alle möglichen anderen Ideen, die ich noch hatte, zu schicken. Dann wollte sie mir an Ort und Stelle mein Geld geben, aber meine Mum sagte, dass ich es mir noch nicht verdient hatte.

Der Anfang des Buches war nun viel interessanter. Aber ich wusste, dass Bücher nicht nur interessant sein müssen. Sie müssen auch glaubhaft sein. Man muss sich so fühlen, als wäre man richtig dabei, im Kopf der Figur, oder zumindest ganz nah dran. Und um etwas glaubhaft zu machen, braucht man realistische Details. »Schreib über Dinge, die du weißt oder kennst«, sagte mein Lehrer immer. Ich wusste überhaupt nichts darüber, wie es war, in einem gruseligen, leeren Haus herumzulaufen. Aber ich wusste genau, wie ich das herausfinden konnte.

Kapitel 7

Meine Mutter arbeitet als Grafikdesignerin von zu Hause aus, führt nebenbei aber auch ein kleines Haustier-Sitter-Unternehmen. Wahrscheinlich, weil sie noch nie einem Tier begegnet ist, das sie nicht anhimmelte (sogar Marcello). Weil mein Dad allerdings gegen Tierhaare allergisch ist und immer wie eine donnernde Kanone niest, wenn er einem Tier zu nahe kommt, passt Mum auswärts auf sie auf. Über ihrem Schreibtisch hinten im Hausflur hängt eine Stecktafel mit Schlüsseln zu den Häusern der Leute, für die sie haustiersittet. Und an dieser Stecktafel hing auch ein Schlüssel zu der Alten Weintraub-Villa, denn meine Mum hatte sich um Mrs. Weintraubs Katzen gekümmert, bevor Mrs. Weintraub und die Katzen zu ihrer Tochter gezogen waren.

Ich zog wieder meine verschwitzte Laufkleidung an, holte meinen Rucksack hervor und packte Carolines Buch und den Rotstift der realistischen Details ein. Auf dem Weg nach draußen schnappte ich mir ganz unauffällig den Weintraub-Schlüssel vom Weintraub-Haken und schmiss den auch noch mit in den Rucksack. Dann lief ich schnell zu Javier.

Javier wartete schon auf mich, weil ich inzwischen ziemlich gut darin war, gleichzeitig eine Nachricht zu tippen und zu laufen, ohne auf die Nase zu fallen. Okay, einmal hab ich vielleicht mein Handy geschrottet.

»Wo ist denn Großtante Rosa?«, fragte ich, als ich die Stufen zu seiner Veranda hochging.

Javiers Großtante Rosa saß oft draußen auf der Hollywoodschaukel und las Taschenbücher so dick wie Ziegelsteine. Sogar wenn es kalt war, wie heute, mummelte sie sich dick ein und kam mit einem heißen Getränk nach draußen.

Laut Javier tat sie das, um dem Rest der Familie zu entkommen.

Er zuckte mit den Schultern. »Im Seniorenzentrum, höchstwahrscheinlich. Sie verbringt viel Zeit dort, seit Großtante Marina bei uns eingezogen ist.«

Großtante Rosa sagte so gut wie nie etwas zu mir, ganz zu schweigen davon, mich anzulächeln, aber irgendwie vermisste ich es, sie zu sehen.

Javier und ich setzten uns auf die Hollywoodschaukel, und ich erklärte ihm meine Situation.

»Unter keinen Umständen solltest du die Kunst eines Verwandten kritisieren«, sagte Javier. »Das kann nur schiefgehen.«

»Deshalb, glaube ich, könnte ich ja mal einen Blick in die Alte Weintraub-Villa werfen«, sagte ich. »Um zu sehen, wie es da so ist. Und es filmen, damit ich mir die Details merken kann. Dann berichte ich Caroline alles, und sie kann es in die Geschichte einbauen. Das ist doch nicht kritisieren, sondern helfen, oder?«

»Kannst du dir nicht einfach vorstellen, wie es da drin ist?«, fragte Javier. »Das machen Schriftsteller doch so. Sich Sachen vorstellen und sie dann aufschreiben?«

»Klar, Schriftsteller schon«, sagte ich. »Aber ich bin doch kein Schriftsteller. Und ich hab auch keine Fantasie. Erinnerst du dich nicht an Kreatives Schreiben im letzten Jahr?«

Und wie er sich erinnerte – er war nämlich mein Partner gewesen. Wir waren beide dankbar, als wir mit Meinungsaufsätzen weitergemacht hatten.

»Alles klar«, sagte Javier. »Kurze Verständnisfrage: Mit ›ich‹ meinst du in diesem Fall ›wir‹, oder? Wir können ja mal einen Blick hineinwerfen und sehen, wie es so ist. Und übrigens, niemand außer dir nennt das Haus die Alte Weintraub-Villa. Es hat keinen Sehenswürdigkeiten-Status oder so.«

»Gut«, sagte ich. »Und klar meine ich ›wir‹. Einer von uns übernimmt das Erleben – das mach ich –, und der andere übernimmt das Filmen. Das machst du. Ist ja logisch.«

Javier machte Filme, seit er zu seinem Geburtstag vor einem Jahr eine Videokamera geschenkt bekommen hatte. Manchmal machte er Stop-Motion-Filme mit Alvins Legofiguren, aber meistens filmte er Actionszenen mit Marta, die halsbrecherische Live-Stunts vollführte.

»Cool«, sagte Javier. »Ich geh meine Kamera holen.«

Kapitel 8

Javier filmte von der Eingangspforte aus, wie ich – à la Gerald – die Stufen zu der Alten Weintraub-Villa hochlief.

Die Veranda war schön knarzig, und die Spinnweben hatten ihren gewünschten Effekt.

»Hast du das alles drauf?«, fragte ich Javier.

»Alles was?«

»Die ganzen Sinneseindrücke. Die wir immer in Kreativem Schreiben verwenden sollten.«

»Ich hab die Umgebung und Geräusche drauf«, sagte Javier. »Die anderen Sinne nimmt diese Kamera nicht auf. Aber wenn du das Geländer ablecken willst, nur zu.«

Ich wollte das Geländer nicht ablecken. Wahrscheinlich war es voller Vogelkacke.

Stattdessen sog ich die Luft ein. Ich roch die Tannenzweige neben den Stufen, was angenehm war.

Dann legte ich die Hand auf die Haustür und fühlte das raue Holz und die brüchigen Ränder der abblätternden Farbe. Ausgezeichnet. Caroline würde begeistert sein. Ich holte ihr Buch und meinen Rotstift der Inspiration heraus und schrieb einige Notizen an den Rand.

Dann nahm ich den Schlüssel und steckte ihn in das Schloss. Zuerst war das Schloss nicht sehr erfreut darüber, benutzt zu werden, aber schließlich gab es doch nach. Langsam öffnete ich die Tür und betrat das Haus. Javier folgte mir mit einer Kameralänge Abstand. Als er drinnen war, schloss ich die Tür, damit die Nachbarn uns nicht sehen und für Einbrecher halten würden.

Der Duft der Tannenzweige war weg und wurde von etwas ersetzt, das mehr nach altem Staub roch. Die Fußbodenbretter knarzten lauter in dem stillen Haus als die Verandabretter draußen. Die Eingangshalle war finster und, wie ich erfreut feststellte, irgendwie gruselig. Perfekt. Rechts von mir: das Wohnzimmer, die Möbel mit weißen Laken zugedeckt, sodass sie wie Geistermöbel aussahen. Links von mir: das Esszimmer – mit den Geistern eines Tischs und einiger Stühle. Über dem Tisch war eine kronleuchterartige Lampe angebracht, von der Spinnweben herunterhingen.

Ich zeigte darauf.

»Hab ich schon gesehen«, sagte Javier und richtete die Kamera an die Decke.

»Opa«, rief ich probeweise. »Bist du da?«

»Du suchst jetzt nicht wirklich –«, fing Javier an.

»Natürlich nicht!«, sagte ich. »Nur damit ich weiß, wie es klingen würde.«

»Alles klar«, sagte Javier. »Dann mal los. Du musst aber wahrscheinlich ein bisschen lauter rufen. Opas können schwerhörig sein.«

Javier hatte sehr viel mehr Erfahrung mit Opas als ich. Er hatte mindestens drei, vielleicht auch noch mehr. Ich hatte gar keinen.

Ich rief ein bisschen lauter: »Opa?« Dann drehte ich mich zu Javier um. »Hast du das drauf?«

»Wenn du mich das noch mal fragst, sind wir hier fertig.«

»Okay, okay.«

Ich ging weiter die Eingangshalle entlang bis in den hinteren Teil des Hauses, vorbei an einem Raum, der aussah wie ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek – viele Regale, nichts darin –, und dann einem Schrank (leer) und einem Badezimmer (antik). Ich schrieb noch ein paar Notizen auf Carolines Seiten.

»Marta hätte hier jede Menge Spaß«, sagte Javier mit leicht schuldbewusster Stimme.

»Ein bisschen zu viel«, sagte ich. »Aber wir müssen uns nicht schlecht fühlen. Sie hat sowieso Hausarrest.«

»Warum diesmal?«

»Sie hat sich selbst einen Pony geschnitten.«

»Das klingt nach ihr.«

Sie hatte sich nicht nur selbst einen Pony geschnitten. Sie hatte sich den Pony geschnitten und dann entschieden, dass er ihr nicht gefiel. Anschließend, anstatt einfach zu warten, bis er wieder herauswächst, hatte sie ihn ganz abgeschnitten, sodass ein stoppeliger Streifen über ihrer Stirn zurückblieb.

»Vielleicht ist Opa ja in die Badewanne gefallen«, sagte Javier und deutete mit seinem Kinn auf das Badezimmer. »Geh lieber mal da rein und schau nach.«

So langsam wünschte ich mir, dass ich das hier alleine machen und selbst filmen würde. Aber ich ging trotzdem in das Badezimmer und schob den spröden Duschvorhang zur Seite. Und stieß einen Schrei aus, von dem Javier mir sagte, dass er ihn nie und nimmer aus seinen Aufnahmen löschen würde, egal, was ich ihm dafür bieten oder womit ich ihn bedrohen würde.

Kapitel 9

Kennst du diese pastillenförmigen Insekten mit den Milliarden Beinen, die zu unorganisiert aussehen, um sich in die gleiche Richtung zu bewegen? Die aber trotzdem irgendwie so gut funktionieren, dass das Insekt sich immer und ausschließlich in Richtung deines Gesichts bewegt? Das größte dieser Insekten, das je existiert hat, lebte in den Falten des Weintraub-Duschvorhangs. Wenn Opa in die Wanne gefallen wäre, wäre er aufgefressen worden.

Das riesige Insekt stürzte sich auf mich – ich übertreibe nicht. Es stürzte sich auf mein Gesicht, und natürlich schrie ich. Natürlich schlug ich mit dem Buch und dem Rotstift der Selbstverteidigung danach und schrie: »Mach es weg! Mach es weg!«, obwohl es, wie sich dann herausstellte, gar nicht auf mir war.

Javier wich nicht zurück, als es zwischen seinen Turnschuhen hindurchkrabbelte, aber das hatte er vor lauter Lachen wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen. Wenn Javier ernst war, besaß er die Würde einer Statue. Aber wenn er lachte, so wie er jetzt lachte, drehte er komplett durch. Er musste die Kamera auf dem Waschbecken absetzen, so sehr lachte er.

»Tolle Hilfe, vielen Dank auch«, sagte ich. »Du weißt wirklich, wie man Freunden in Not beisteht.«

»Mit ›in Not‹ meinst du ›winzig kleine Spinnenassel‹?«

»Sie war riesig«, sagte ich. »Und nach allem, was wir wissen, war das nur ein Baby, und gleich ist die Mutter hinter uns her, um ihre Jungen zu beschützen.«

»Ich glaube, du verwechselst Spinnenasseln mit Grizzlybären«, sagte Javier und nahm seine Kamera. »Der Hauptunterschied ist hier erst einmal die Größe, und dann wären da auch noch der Grad an Wildheit und der Mutterinstinkt. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass Grizzlybären, was das Habitat angeht, normalerweise nicht in Duschvorhängen vorkommen.«

»Na ja, gefährliche Insekten auch nicht! Es hat mich überrascht, das ist alles.«

Laut Wikipedia sind die meisten Spinnenasseln eigentlich nicht gefährlich – zumindest nicht für Menschen. Aber zu meiner Verteidigung, und um das einmal festzuhalten steht da auch, dass sie »überraschend groß und schnell sein können«. Also, da hast du’s.

Wenn du Gerald in der Grotte der Gargoyle gelesen hast, ist dir vielleicht die Angriffslustige Assel aufgefallen, die Gerald in Kapitel 3 angreift. Das ist tatsächlich eine übergroße, unheimlich leuchtende Spinnenassel. Nur dass diese für wirkliche Menschen extrem gefährlich ist. Sie ist aber auch frei erfunden. Geralds Schrei, wenn sie ihn angreift? Der basiert auf Fakten. Javier hat die Aufnahme immer noch und würde sie dir nur allzu gerne vorspielen.

Kapitel 10

Als wir schließlich zurück in der Eingangshalle waren und ich damit aufgehört hatte, mir mit den Fingern wie verrückt durch die Haare zu kämmen, um sicherzugehen, dass keine Insekten mehr darin waren, schloss ich die Badezimmertür.

»Du weißt schon, dass Insekten einfach unter der Tür durchkrabbeln können«, sagte Javier.

»Aber sie hält sie zumindest ein bisschen auf«, sagte ich. »Vor allem, wenn es ein Schwarm sein sollte. Los, lass uns mal die Küche ansehen.«

»Ich weiß nicht«, sagte Javier, nun wieder mit laufender Kamera. »Was, wenn eine Bande sarkastischer Marienkäfer da drin herumhängt?«

Ich entschied, nicht darauf zu antworten, und genau in dieser Stille meines Schweigens hörten wir es dann: das Geräusch. Beide erstarrten wir, doch Javier, ein echter Profi, filmte weiter.