© 2018 Eckard Wulfmeyer

Pfoten-Pfad

Eckard Wulfmeyer

Medemstade 64

21775 Ihlienworth

Mail: info@pfoten-pfad.de

www.pfoten-pfad.de

Alle Fotos, wenn nicht anders gekennzeichnet, von: Eckard Wulfmeyer

Foto Seite 35: Sarah Wulfmeyer

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9 783752 863758

Inhaltsverzeichnis

Danke an all die fleißigen Helfer und Unterstützer,
die ihren Beitrag geleistet haben, für dieses Buch.
Reinhold Pannenberg und Andrea Rahe für das Lektorat und Korrektur.
Sarah Wulfmeyer für das Layout und das Titelbild.
Eva, Kirsten, Lisa, Malte und Susanne für das Probelesen.
All den Menschen, die uns in den letzten Jahren begegnet sind und diese
Begegnungen auf dem Pfoten-Pfad im Grunde geschrieben haben.

Ihlienworth im März 2018
Eckard Wulfmeyer

Mein Name ist Eckard Wulfmeyer und ich bin Mentalcoach, nicht nur für Menschen mit Hunden. Ein Hundetrainer bin ich nicht, wie gerne angenommen wird, weil ich Ausbildung durch Beziehung ersetze. Die Menschen, die zu mir kommen, waren zuvor schon in mehreren Hundeschulen. Der Hund ist also entsprechend gut ausgebildet. Die Menschen haben in diesem Zusammenhang meistens nur das Problem, dass ihr Hund zwar alles kann, es aber nicht tut. Und dann komme ich ins Spiel. Benötigt ein Hund Ausbildung, dann verweise ich an die entsprechenden Fachleute. So, wie diese gerne an mich verweisen, wenn sie bemerken, dass der Hund in der Beziehung nicht das Problem ist.

Mentalcoach ist eine Tätigkeit, die ich mit Leidenschaft betreibe, bei der aber Leidenschaft alleine nicht ausreicht. Diese Leidenschaft teile ich mit einigen weiteren Trainern, die in Vollzeit bei uns tätig sind. Dazu bedarf es einer enormen Begeisterung. Und diese Begeisterung tragen wir zu den Menschen, die jede Woche zu uns kommen und denen wir weiterhelfen, weiterhelfen zu mehr Lebensqualität, nicht nur mit ihrem Hund.

Als Coach von Menschen mit Hund erlebst du Geschichten, die du dir zu Beginn deiner Tätigkeit gar nicht vorstellen konntest. Du erlebst Sachen, da wärst du nicht mal auf die Idee gekommen, dass Menschen sowas machen. Und das vor deinen Augen. Du erlebst hoch emotionale Ereignisse voller Frust, Resignation und Enttäuschung, die nach einiger Zeit umschlagen in Glück, Euphorie und Tränen der Freude. Und manchmal, da hörst du Leidensgeschichten, bei denen du nur noch weinen kannst, trauern mit den Menschen und deren Hunden. Du hörst von aufwühlenden Momenten im Leben deines Gegenübers. Man berichtet dir Geschichten, die ins Persönliche gehen, manchmal ins Intime, die dich berühren, weit über die Zusammenhänge mit dem Hund hinaus. Persönliche Geschichten und Schicksale, in denen du mal Wut verspürst, mal Fassungslosigkeit, mal Trauer und oft das starke Bedürfnis zu helfen und sei es nur durch einmal in den Arm nehmen, Geborgenheit geben. Für ein besseres Leben. Man berichtet dir Geschichten, bei denen du strahlst vor Freude, du aus vollem Herzen lachst, deine Arme in die Höhe streckst und denkst: geschafft! Wunderbar! Und du erlebst Grenzen. Grenzen, die du nicht überschreiten kannst, um zu helfen. Sei es, dass der Betroffene keine Hilfe möchte oder diese nicht umsetzen kann. Aus welchen für den Betreffenden auch immer wichtigen Gründen. Du darfst diese Geschichten nicht mit nach Hause nehmen. Zu deinem Lebensgefährten und deinen Hunden. Du musst abschalten können, wenn du deine Wohnung betrittst. Bei all den Emotionen immer einen gewissen Abstand haben und einhalten. Ansonsten gehst du alsbald am Stock.

Immer wieder sprach man mich an: Erzähl doch mal, was du schon alles erlebt hast. Was hast du für Hunde hier gehabt? Hat dich schon mal ein Hund gebissen? Was war dein schwierigster Fall? Und in den Gruppen, die ich unterrichtete, hörte man mir nur allzu gerne zu, wenn ich von Fällen erzählte, die ich auf dem Pfoten-Pfad erlebt habe.

So lag es eigentlich nahe, dass mir irgendwann jemand sagte: Mensch, Eckard, schreib die Geschichten doch mal auf! Das ist zwar schon Jahre her, dass man mir das sagte, aber ich fing über die Jahre an, die interessantesten Fälle, die mir begegnet sind, aufzuschreiben. Und es haben sich so viele angesammelt, dass ich davon mehrere Bücher schreiben könnte. Wer weiß, womöglich wird das ja sogar so geschehen.

Alle beschriebenen Geschichten sind so passiert. Ich habe lediglich die Namen der Personen, Hunde und Wohnorte geändert. Sollten diese Angaben auf jemanden real existierenden passen, so ist das rein zufällig.

Wie darfst du dir den Weg auf dem Pfoten-Pfad vorstellen? Kurz gesagt: Wir suchen Ursachen für ein Verhalten, finden diese und beheben sie, soweit möglich und gewünscht. Ich arbeite hauptsächlich in Einzelstunden. Es wird zu Beginn ein Ziel festgelegt. Ziele können zum Beispiel sein: entspannte Hundebegegnungen, ein selbstbewusster Hund, erholsame Ausflüge mit Pferd und Hund, Abruf von Ablenkungen, Akzeptanz von Grundstücksgrenzen, gegenseitiges Vertrauen und als beliebtestes Ziel: der kontrollierbare Hund in der Öffentlichkeit, also der Hund, den ich überall mit hinnehmen kann. Und anhand dieser abgesprochenen Ziele entwickeln wir dann einen Weg. Wir entwickeln einen Weg zu dem Ziel. Und bei uns ist das Ziel auch das Ziel und nicht der Weg das Ziel. Wie dieser Weg aussieht, das wissen wir manchmal noch nicht nach der ersten Stunde. Manchmal wissen wir das erst nach der zweiten Stunde. Das hat den Hintergrund, dass wir die Menschen und den Hund erst kennenlernen. Bei diesem Kennenlernen suchen und finden wir Ursachen für das Verhalten des Menschen und damit des Hundes. Um dann, anhand der Stärken und Schwächen des Menschen und des Hundes, diesen Weg konkret für den einzelnen Menschen mit seinem Hund zusammenzusetzen, die gefundenen Ursachen zu beheben. Der Weg, der zum Ziel führt.

So manches Mal arbeiten wir auch bei uns parallel mit mehreren Trainern in Einzelstunden. Da kann es schon mal vorkommen, dass drei Menschen mit ihren Hunden unsere Auffahrt entlang gehen, alle begleitet von ihrem eigenen persönlichen Trainer. Und dann kommt oft die Frage auf, warum der eine denn z.B. nur die Auffahrt geht, der andere aber noch viel weiter gehen muss. Oder der eine die Leine so hält, der andere aber ganz anders. Auch das liegt wieder daran, dass wir mit unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Hunden und unterschiedlichen Ursachen zu tun haben und natürlich auch die Zielsetzungen unterschiedlich sind. Dadurch wird mit jedem Menschen mit seinem Hund individuell gearbeitet. Es findet eben keine methodische Ausbildung statt. Eine Ausbildung ist nur in den seltensten Fällen notwendig, denn die Hunde können bereits alles, da sie schon ausgebildet wurden.

Ein Schwerpunkt liegt darauf, keine Handlungshilfen zu geben, sondern Denkhilfen. Deswegen brauchen wir auch keine Hilfsmittel wie Halti, Schleppleinen, Futterbeutel, Klicker oder ähnliches. Wichtig ist es dabei, diese Denkhilfen so klar und einfach wie nur möglich zu halten. Eine grundsätzliche Zielsetzung ist dabei immer die Simplifizierung, die Vereinfachung des Zusammenlebens zwischen Mensch und Hund, soweit es innerhalb des festgesetzten Zielrahmens und der Ursachen möglich ist.

Eines der wichtigsten Werkzeuge bei der Ursachenfindung ist für mich mein analytisches Denkvermögen, das Cold Reading und das Hot Reading. Bei letzteren beiden werden während eines Gespräches bestimmte relevante Informationen erlangt. Bei der geübten Anwendung lassen sich durch die Techniken viele Informationen erhaschen, die die Person sonst bewusst nicht offenbart hätte, zum Beispiel sogenannte Glaubenssätze oder Gedankenmuster, weil diese nicht bewusst ausgeübt werden. Diese Informationen haben eine hohe Relevanz bei der Ursachenforschung. Ich habe mich eine Zeitlang auf meine Intuition und meine Empathie verlassen. Doch lag ich allein damit manchmal bei der Ursachenforschung daneben. Alsbald bemerkte ich immer wieder, dass Cold und Hot Reading meine Intuition und Empathie nicht nur ergänzt, sondern in der Genauigkeit bei weitem überschreitet. Beides ist zuverlässiger und genauer, da es nicht so sehr vom Unbewussten und Emotionen gesteuert wird, wie die Intuition. Dies erfordert zwar eine enorme Konzentration und es bedarf eines langen Trainings, bis gute Ergebnisse damit erzielt werden können, doch ist es erheblich hilfreicher und genauer. Ist die Vernunft ein besserer Ratgeber als das Bauchgefühl? Nein. Aus guten Gründen haben Menschen beides, Gefühl und Verstand. Das Geheimnis richtigen Entscheidens besteht darin, beide mitreden zu lassen. Das Bauchgefühl bildet ja letztlich unser jahrelanges Erfahrungswissen ab. Aber selbst bei einem guten Bauchgefühl kann man auch mal danebenliegen. Deswegen berücksichtige ich beides, und man sagt mir gerne nach, dass ich ein reiner Kopfmensch sei. So ganz verkehrt ist das sicherlich nicht. Mittlerweile sehe ich Intuition und Empathie als Ergänzung. Hier ein Beispiel, um die Unterschiede deutlich zu machen: Mit einem Individuum identifizieren wir uns auf empathischer Ebene immer deutlich stärker, als mit einer Gruppe. Bilder aus einem Kriegsgebiet mit einem Einzelschicksal sprechen uns empathisch deutlich stärker an, als ein Foto mit einer Gruppe getöteter Zivilisten. Das gleiche gilt für Hunde. Ein Gruppenfoto von verwahrlosten Hunden in einem Zwinger lassen wir schneller und emotionsloser an uns vorbeiziehen, als ein Foto von einem einzelnen verwahrlosten Hundeschicksal, das traurig durch die Gitterstäbe guckt. Dies machen sich natürlich zum Beispiel Hilfsorganisationen, Werbeagenturen oder Parteien zunutze. Dabei zeigen sowohl die Gruppenfotos als auch die einzelnen Fotos im Grunde dasselbe. Gestorbene Soldaten bzw. verwahrloste Hunde. Wenn ich mich nun nur auf meine Empathie verlasse, werde ich immer auch ein Stück weit in die Irre geleitet. Wenn Menschen ihr Gehirn gebrauchen, also denken, neigt dieses dazu, möglichst wenig Energie für die Bewältigung einer Aufgabe einzusetzen. Denn Energie ist ein knappes Gut. Dabei macht es aber auch leicht Fehler, wie auch in diesem Fall.

Dies kann mir mit Cold Reading in diesem Zusammenhang nicht passieren. Hier sehe ich das Einzelschicksal, als das, was es ist, ein Einzelschicksal, während bei den Gruppenbildern durch das Cold Reading erst die Dimension bekannt wird. Gerne mal ein Beispiel, wie ich Cold Reading einsetze. Jemand kommt mit seinem geräuschempfindlichen Hund zu mir. Ich achte dann sowohl auf den Menschen als auch auf den Hund. Ich frage den Menschen, wie sich das denn darstellt, wie das aussieht, wenn der Hund geräuschempfindlich reagiert. Und vor allem auf welche Geräusche er reagiert. Dann ist es möglich, an der Stimme des Menschen zu hören, zum Beispiel dass sie bei der Beschreibung der Geräusche etwas heller wird, als es sonst beim Reden der Fall ist. Oder die Beschreibung der Lärmquelle so detailliert wiedergegeben wird, dass es die Art und Weise oder die Intensität von anderen, vorherigen Beschreibungen von Begebenheiten übertrifft. Dann habe ich schon einen Hinweis, der mir nur durch Intuition oder Einbringen von Erfahrungswerten entgangen wäre: der Mensch ist zumindest ebenso geräuschempfindlich, wie es der Hund sein soll. Das gilt ebenso, wenn der Mensch in bestimmten Zusammenhängen beginnt, schneller zu reden. Oder anfängt, sich in der Ohrgegend zu kratzen. Oder noch ganz andere Dinge. Sehe ich beim ersten Kennenlernen eine Heavy-Metal-CD im Auto oder höre bei der Ankunft, dass Heavy Metal im Auto läuft, dann ist die Wahrscheinlichkeit um ein vielfaches geringer, dass der Mensch geräuschempfindlich ist. Ob ich dies richtig erkannt habe, sehe ich dann anhand eines kleinen Tests. Ich löse ein lautes Geräusch aus. Manchmal sind unsere Pferde auf der Weide nebenan so nett, und machen auf einmal laute Geräusche in dem leeren Container, dem Offenstall, auf der Weide, als wenn sie wüssten, dass ich es genau jetzt bräuchte. Ansonsten lasse ich auch gerne mal was auf den Tisch fallen, zum Beispiel eine mit großen Kieselsteinen gefüllte Gießkanne. „Rums“ macht es dann sehr laut, oder ich klatsche spontan mehrmals in die Hände, wie bei einem Applaus. Reagiert der Mensch darauf, z.B. durch das leichte Zukneifen der Augen, Anspannung der Backenmuskulatur, dem Ballen der Hände zu Fäusten, dem Hochziehen der Schultern bei gleichzeitigem Kopf einziehen, Reiben der Finger aneinander oder Kopf von der Geräuschquelle wegziehen, dann ist eine Ursache für die Geräuschempfindlichkeit gefunden. Es ist der Mensch, der geräuschempfindlich ist. Würde ich mich auf meine Empathie verlassen, dann würde mich die durch die Körpersprache dargestellte Aufregung auf eine falsche Fährte führen. Reagiert der Hund auf das Geräusch ebenso, dann muss ich mich um beide kümmern.

Ein weiteres wichtiges Instrument ist es, unserem Gegenüber zu sagen, was wird, und nicht das, was war. Wir wollen ihn ja schließlich in eine bessere gemeinsame Zukunft führen. Da hilft es nicht, immer wieder rückwärts zu denken, an die Vergangenheit zu denken, sondern es hilft, an die Zukunft zu denken. Mein Gegenüber weiß selber am besten, was war. Daran brauche ich ihn nicht auch noch immer wieder zu erinnern. Viel lieber möchte er an die Zukunft denken. Was passieren wird. Wie das Ziel aussieht. Dazu gehört es, Bilder und Vorstellungen zur Zukunft in dem Kopf meines Gegenübers zu erzeugen. „Oh, was hast du denn da? Da oben, an deiner Stirn? Über deinem rechten Auge. Was ist denn das? Das sieht ganz schön groß aus. Und tiefrot ist es. Da wächst aber ganz schön was zusammen, da oben an deiner Stirn über deinem rechten Auge. So groß, wie das ist, muss es doch schon jucken. Da wächst echt was heran. Alter Schwede. Der wird nicht von schlechten Eltern. Juckt es dich da noch nicht? Du musst mal in den Spiegel schauen. Ich an deiner Stelle würde mich vermutlich schon die ganze Zeit da oben über dem rechten Auge immer nur kratzen.“ Du hast gemerkt, was mit dir passiert ist, nicht wahr? Du hast gespürt, dass etwas über deinem rechten Auge ist, nicht wahr? Sowas habe ich mal angewendet bei jemandem, der unbedingt alles richtig machen wollte, einem Perfektionisten. Der sich so sehr darauf konzentrierte, dass er völlig angespannt war. So sehr angespannt, dass er sich damit schon wieder selber im Wege stand und damit auch den Veränderungen bei seinen Hunden. Ich habe ihm dann genau das Bild mit dem Jucken über dem rechten Auge in den Kopf gesetzt, und ab da wurde es merklich besser. Immer wieder begann er sich über seinem rechten Auge zu kratzen, obwohl da tatsächlich gar nichts war. Aber sein Gehirn hatte ihm dieses Bild durch meine Worte projiziert. Und dir ging es beim Lesen ähnlich, nicht wahr? Und deswegen fing sein Unterbewusstsein immer wieder an sich da oben zu kratzen. Und dieses Kratzen bei dem rechten Auge führte dazu, dass sein Bewusstsein ein klein wenig abgelenkt war. Genauso viel, wie wir es brauchten, damit er seine überzogene Anspannung verlor und seine Hunde und er ruhiger wurden und ein besseres Leben hatten.

HUNDEBEGEGNUNGEN

Toni, ein junger Mann aus dem Süden Deutschlands, kam für ein Wochenseminar mit seinem Hund, einem weiß braunen Boxermischling, zu mir an die Nordseeküste. Den beiden wollten Hundebegegnungen auf zivilisierte Art und Weise einfach nicht gelingen. Es gab noch hier und da die ein oder andere Baustelle, wie z.B. das Klauen von Abendessen vom Tisch, aber primär sollte es darum gehen, dass Hundebegegnungen in Zukunft entspannt vonstattengehen sollten. Das war das Ziel.

Ich schaute mir an, wie solche Hundebegegnungen von Toni mit seinem Hund bislang aussahen. Dazu ging er unsere gepflasterte Auffahrt entlang, 100 m, bis zur Straße. Eine angenehme Aufgabe bei dem sonnigen, leicht warmen Wetter, das vorherrschte. Beide gingen gemütlich nebeneinander her. Ein angenehmes und harmonisches Bild, was sich uns dort offenbarte. Links der Auffahrt Pferde und rechts der Hundeplatz. An der Straße drehte er um und ging die Auffahrt entlang zurück. Ich schickte ihm unsere Komparsin Kirsten mit ihrer Dolly, einem hellbraunen Boxer, entgegen. Toni kam also in unsere Richtung. Er sah Kirsten mit ihrer Dolly. Er führte seinen weiß braunen Boxermischling an der linken Seite. Die erste Maßnahme von Toni war, dass er in den Bauchbeutel griff, um dort Leckerlis in Form von Käse herauszuholen. Er ging dabei weiter und schaute hinunter zu seinem Hund, während er gleichzeitig den linken Arm mit der Leine in der Hand hoch hob bis fast auf die Höhe seines Kopfes, um den Bewegungsraum des Hundes zu verringern, durch die künstliche Verkürzung der Leine. Es hatte etwas von einem Puppenspieler, der seine Puppen an den Fäden tanzen lässt. Er bewegte schnell die rechte Hand in kurzen Abständen von oben nach unten und von links nach rechts. um mit dieser hektisch anmutenden Bewegung den Hund auf seine Hand mit dem Käse aufmerksam zu machen. So ging er weiter die Auffahrt entlang. Die linke Hand in Höhe seines Kopfes, die Leine dabei stramm, auf seinen Hund schauend, und mit der rechten Hand mit Futter wedelnd. Die Brust und die Schultern angespannt, das konnte man durch die sommerliche Kleidung erkennen. Die Schritte immer steifer werdend, mit jedem zurückgelegten Meter, weil er die Beine immer mehr durchdrückte. Die beiden kamen Kirsten und Dolly immer näher und näher. Und je näher sie kamen, desto mehr interessierte sich der Boxermischling für Kirsten und Dolly. Nun fing Toni an, mit einer hellen, piepsenden Stimme zu sprechen. Das war der Augenblick, in dem sein Hund anfing, leicht zu tippeln und die Rute zu erheben. Es waren nur noch wenige Schritte, bis sie auf Höhe von Kirsten waren. Der Hund zog ganz leicht rüber zu der ihnen entgegenkommenden Dolly und Kirsten. Und je näher sie sich kamen, umso heller, fast schon schrill, wurde die Stimme von Toni. Proportional zu der aufgeregten, fast hysterischen Stimme zog Tonis Hund immer stärker zu Dolly, fast schon auf den Hinterbeinen stehend, nur gebremst von der Leine. Kaum war Toni mit seinem Hund an Kirsten vorbei, senkten sich seine Schultern, man konnte sehen, wie er tief mit der Brust durchatmete, den Kopf leicht nach vorne senkte und sein eigener Schritt wieder federnder wurde. Gleichzeitig sprach er in heller, fast schon schriller Stimme weiter zu seinem Hund, um ihn zu loben, mit den typischen Wörtern, wie fein, bravi und so weiter. Bei mir angekommen, war das erste, was Toni mir erzählte, dass dies eine ungewöhnlich einfache und ruhige Begegnung gewesen sei. Normalerweise würde sein Hund noch viel intensiver und vor allem viel früher zu dem anderen Hund hinziehen, so dass er manchmal schon Probleme hätte, den Hund überhaupt zu halten, manchmal beide Hände bräuchte, um sich abzufangen, um nicht selber hinzufallen. „Das sei jetzt wohl der Vorführeffekt“, fügte er noch hinzu.

Ich fragte Toni, ob er mit seinem Hund regelmäßig Fahrrad fahren würde oder ähnliches. Er erzählte mir, dass er mit dem Hund Suchspiele machen würde und dass der Hund auch große Freude daran hätte. Dies soll er auch gerne fortführen. Aber bitte auch eine körperliche Auslastung wie Fahrradfahren einbauen. So setzte ich ihn auf unser Hundeschulfahrrad und schickte die beiden los, erst die Auffahrt und dann unsere kleine Straße entlang, auf der mit Begegnungen, egal ob mit Autos oder anderen Hunden kaum zu rechnen ist. Ich sagte ihm, wie weit er fahren sollte, dort dann wieder umdrehen und wieder zu uns zurückkehren. Er fuhr los. Toni auf dem Fahrrad, sein Hund am Dogrunner. Die ersten Meter waren ein wenig holprig, wackelig, schlenkernd, weil auch der Hund sich erst daran gewöhnen musste, neben dem Fahrrad zu laufen. Aber noch keine 100 m die Auffahrt entlang, hatten sich die beiden schon eingespielt, und der Hund lief neben ihm am Fahrrad und schaute dabei zu ihm hoch. Nach ungefähr 20 Minuten kam er zurück. Beide machten einen zufriedenen, fröhlichen Eindruck. „Das habe ich mir viel schwieriger vorgestellt“, freute sich Toni bei seiner Ankunft. Er war froh, dass es so einfach war. Wo sollte da auch das Problem sein? Alles, was wir in diesem Fall von dem Hund wünschten, war doch nur, dass er geradeaus läuft. Mehr nicht. Und auf dem Rückweg hatte er schon den Entschluss gefasst, dies in Zukunft öfters zu machen, weil es beiden so viel Spaß bringt. Ich sagte zu ihm, dass er dies nicht nur öfters machen soll, sondern täglich! Denn eine der Ursachen, warum sein Hund sich so in einer Begegnung verhält, wie es sich eben dargestellt hat, war die fehlende körperliche Ausgeglichenheit des Hundes. Dolly war für seinen Hund quasi ein Versprechen auf Bewegung, auf herumtollen, raufen, rennen. Dabei geht es nicht darum, den Hund so dermaßen auszupowern, dass er den Rest des Tages schlafend in der Ecke liegt, sondern wirklich nur darum, ein entsprechendes Maß zu haben, bei dem der Hund seinen körperlichen Bewegungsdrang befriedigen kann, um ein ausgeglichener Hund zu sein. Und für den Hund von Toni liegt hier in diesem Zusammenhang mit dem Fahrradfahren die Zeit bei ungefähr 20 bis 30 Minuten am Tag.

Er stieg vom Fahrrad ab. Ich bat ihn, seinen Bauchgürtel mit dem Futter abzulegen und mir zu geben. Ich legte den Bauchgürtel zur Seite und sagte ihm, dass er auf ein Ziel schauen solle, das dort am Ende der Auffahrt steht. Er sollte nirgendwo anders hinschauen. Nur zu diesem Ziel. Dort angekommen soll er umdrehen und wieder zu mir gehen. Er sollte dann nur zu mir schauen. Nirgendwo anders hin. Nur zu mir. Egal, was um mich und ihn herum passiert. Nur zu mir. Alles andere ginge ihn nichts an. Alles andere solle er ausblenden. Er durfte auch nur noch ein Wort sagen und das war das Kommando „Fuß“. Kein anderes Wort. Und dies soll er so sagen, als wenn er es mir sagen würde. Zum Vorteil für uns beide war er sehr empfänglich für bildhafte Suggestionen, die ich dazu verwendete.

Dann schickte ich ihn los. Die Auffahrt entlang zu dem angegebenen Ziel. Sein braun weißer Boxermischling an seiner linken Seite. Sein Blick nach vorne gerichtet. Und still. Das angegebene Ziel hatte er erreicht und drehte dort wieder um, zurück zu uns zum Hof. Ich stand am Ende der Auffahrt. Er schaute nur zu mir. Nachdem Toni die Hälfte des Weges zurückgegangen war, schickte ich wieder Kirsten mit ihrer Dolly los. Toni schaute weiterhin nur zu mir. Er musste sich zusammenreißen, das merkte man ihm an. Er war auch angespannt und konzentriert. Das konnte man deutlich sehen, konzentriert, alles andere auszublenden, nur zu mir zu schauen. Seine Schrittfrequenz erhöhte sich leicht und sein Schritt wurde steifer. Seine Schultern spannten sich ebenfalls an. Als sich sein Hund und Dolly von Kirsten direkt auf einer Höhe begegneten, schaute sein Hund einmal kurz rüber, zog für den Bruchteil einer Sekunde dahin, ordnete sich aber gleich wieder bei Toni an der Seite ein. Damit waren die ersten Ursachen für das Verhalten des Hundes in Hundebegegnungen gefunden und gelöst.

Toni lieh sich noch am selben Tag in der Fahrradvermietung ein Rad. Er fuhr mit seinem Hund in den kommenden Tagen täglich den Deich an der Elbe entlang. Es gab auch beim Fahrradfahren keine Probleme mehr in den Begegnungen mit anderen Hunden. Sein Hund lief in seinem Tempo an seiner gewünschten Seite geradeaus weiter.

Während wir in den weiteren Tagen des Wochenseminares das Verhalten und die Gedankenwelt von Toni festigten, erklärten wir seinem Boxermischling noch, dass man nichts vom Tisch nehmen solle. Aufgrund des veränderten Verhaltens und des neuen Blickwinkels auf seinen Hund, akzeptierte sein Hund dieses Verbot relativ schnell und problemlos.

Am letzten Tag des Wochenseminares schickte ich Toni mit seinem Hund in einen gleichzeitig stattfindenden Gruppenunterricht unserer Trainerin Christa. Dort musste Toni mit seinem Hund an den anderen Hunden vorbeigehen, bei diesen stehen bleiben, dem anderen Hundehalter die Hand geben und kurz begrüßen, während sein Hund sitzen musste. Sein Hund lief brav an seiner Seite, wenn es erforderlich war, und er blieb in allen Hundebegegnungen sitzen.

Nach einigen Wochen bekam ich von Toni eine Nachricht. Sein Hund würde noch immer ganz ruhig und gelassen durch die Begegnungen gehen. Sowohl beim Spazierengehen wie auch am Fahrrad. Und er würde natürlich jeden Tag Fahrradfahren. Immer die 20 bis 30 Minuten am Tag. Seiner Nachricht legte er ein Bild bei, wie er mit seinem Hund Fahrrad fährt. Na geht doch, war doch gar nicht so schwer. :-)

Solltest du, lieber Leser, denken, das probiere auch doch auch mal, schließlich benimmt sich mein Hund doch sehr ähnlich dem Boxermix vom Toni, so sei nicht enttäuscht, wenn es nicht zu einer Verhaltensveränderung deines Hundes kommt. Denke daran, dass du ein anderer Mensch bist, mit einem anderen Hund, mit anderen Zielen, Stärken und Schwächen.

EMPFINDLICHKEITEN

Manchmal staune ich darüber, wie viel Buchhaltung zu einem Hund gehören kann. Buchhaltung insofern, als dass mir ein junges Pärchen, Nadja und Jürgen aus Südniedersachsen, eine ganze DIN-A4-Seite aufgeschrieben hatte, mit all den Dingen, vor denen ihr Hund, Anton, Angst hätte. Dazu hatten sie ein Punktesystem ausgearbeitet und integriert. Eins bedeutete, dass Anton davor nur ein bisschen Angst hat und zehn stand für absolute Panik. Und Woche für Woche wurden alle diese Punkte mit diesem Bewertungssystem neu bewertet. Darüber konnte das Pärchen dann sehen, an welchen Punkten sie Fortschritte erzielten. An welchen Punkten sich nichts veränderte. Und an welchen Punkten es Rückschritte gab. Ich möchte als Beispiel mal den obersten Angstfaktor nennen, der auf dem Zettel stand.

Angst vor Ehemann 10,10,10,9,9,9,8,7,7,6,5,5,4,4,3,2,1

Anhand dieses Beispiels konnte man sehen, dass der Hund innerhalb von 17 Wochen von panischer Angst gegenüber Jürgen sich so weit entwickelte, dass er keine Angst mehr hatte. Und genauso war die Entwicklung bei all den anderen über 30 Faktoren, vor denen Anton Angst hatte, abzulesen. Leider war nicht in allen Punkten eine solch positive Entwicklung zu sehen. Bei manchen verhielt es sich auch umgekehrt, die Angst wurde schlimmer bis hin zur Panik.

Als ich Nadja und Jürgen bei mir kennen lernte, war es einer der wenigen schönen Sommertage, die wir in dem Jahr hatten. Wir genossen das Wetter, die Sonne, die Wärme. Anton döste in der Sonne. Ich nahm den Zettel, dazu eine Tasse Kaffee, und studierte ihn erst mal. Ich fand es sehr interessant, dass nach diesem Punktesystem im Grunde genommen Anton immer in einem Angstzustand ist. Es gab keine Zahl, für angstfrei oder gelassen, es gab keine Null. Auf den ersten Blick konnte ich dort kein Muster erkennen. Außer die akribische Systematik, mit der dieser Zettel geführt wurde. Ich sah, dass die Striche der Tabelle mit einem Lineal gezogen, die Wörter alle in großen Druckbuchstaben geschrieben wurden. Ich sah, dass für all diese Zahlen, die im Laufe der ganzen Wochen geschrieben wurden, offensichtlich immer der gleiche Stift benutzt wurde. Der Zettel war klar, exakt und durchstrukturiert. Er war aufgeräumt, wie das Auto. Darin lag auch alles genau dort, wo es hingehört. An der Leine und dem Halsband von Anton war kein Fitzelchen Dreck zu sehen. Das alles deutete daraufhin, dass sie in dieser aufgeräumten Ordnung Gefallen und Sicherheit für den Alltag fanden. Sie hatten sich ein Gerüst gebaut, an dem sie sich durch den Alltag entlang hangeln konnten. Durcheinander, Chaos, Unvorhersehbarkeiten, wie sie Anton lieferte, passten dort nicht hinein. Das machte sie unsicher und gab ihnen ein schlechtes Gefühl. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Dazu passte eben auch, dass es in den Punktesystem keine Zahl für angstfrei gab. Aber ein Muster auf dem Zettel, das auf einen ursächlichen Zusammenhang schließen ließ, konnte ich nicht erkennen. So legte ich dann nach einiger Zeit den Zettel zur Seite.

Einige dieser Angstauslöser des Hundes hatte ich mir gemerkt und ich fragte die beiden, wie denn die Angst bei ihrem Hund zu Tage treten würde. Ich fragte sie, woran sie denn erkennen und festmachen, ob diese Angst nun einen Wert von 2, 7, oder 10 bekommt. Und ich fragte sie nach konkreten Beispielen zu einigen dieser Auslöser. Sehr schnell wurde klar, dass sie den Angstzustand ihres Hundes ausschließlich an der Rutenhaltung von Anton bewerteten. Andere Faktoren, wie zum Beispiel die Kopfhaltung oder die Haltung der Ohren oder auch der Beine ließen sie völlig außer Acht. Auch die situativen Zusammenhänge.

Während sie mir all dies erklärten, beobachtete ich gleichzeitig Anton. Und auch hier wurde sehr schnell klar, dass die Stimmung der Menschen sofort auf den Hund abfärbte. Er war für die Stimmungslagen von Nadja und Jürgen sehr sensibel. Das sprach schon mal dafür, dass Anton zumindest sich für Nadja und Jürgen interessierte, und die Beiden ihm nicht egal waren.