Annas

Befreiungskrieg

Eine Frau gegen Napoleon

Biografischer Roman von

Truxi Knierim


Impressum

© 2018

Text: Truxi Knierim

Herausgeber: Kathrin Brückmann

Rigaer Str. 102

10247 Berlin

brueckmann.kathrin@web.de

Umschlaggestaltung: Kathrin Brückmann

unter Verwendung von

gemeinfreien Abbildungen aus Wikipedia

Vorbemerkung

Liebe Leser,

der vorliegende Roman erschien 1996 erstmals im Bremer Donat-Verlag. Nachdem die Rechte an die Autorin zurückgefallen waren, habe ich das Manuskript neu überarbeitet und auf neue Rechtschreibung angepasst. Mit erweitertem Glossar versehen, ist der Roman nun erstmals auch als E-Book erhältlich.

Ich wünsche viel Freude beim Lesen und würde mich freuen, wenn Sie Ihren Leseeindruck in Form einer Rezension mit anderen teilen.

Berlin im Dezember 2018, Kathrin Brückmann, Herausgeberin

Dies ist die Geschichte der Anna Lühring, »die durch ihren unbefleckten Ruf, ihren Mut und ihre jungfräuliche Sittsamkeit Bremens Namen noch rühmlicher nennen gemacht hat« – und alsbald vergessen wurde.


Prolog

Juli 1814 in Berlin. Die Helden kehren heim. Das Leibgrenadierregiment der 3. westpreußischen Landarmee, litauische Dragoner, Husaren, die Lützower Jäger. Ihre Schuhsohlen sind durchlöchert, die Uniformen zerlumpt und zerrissen. Holzstümpfe, Krücken, Augenklappen, Arme in Schlingen – Männer ohne Arm.

Stinkend und schwitzend marschieren sie durch das Brandenburger Tor, um dessen Säulen sich staubgraue Girlanden winden. »Willkommen, brave Brüder« ist in kunstvollen Buchstaben auf ein Plakat gemalt.

Es ist heiß. Die Julisonne glüht am Himmel, und die Berliner glühen vor Begeisterung, schwenken Hüte und Tücher und Fähnchen. »Victoria! Victoria!«, schreien sie. Tränen der Rührung und der Dankbarkeit rinnen über die Gesichter.

Nach Jahren der Fremdherrschaft ist Preußen befreit.

Eduard strafft seine Schultern, wundert sich über die enthusiastischen Berliner und schüttelt den Kopf. »Mensch, Cordes«, sagt er staunend und stößt seinem Kameraden in die Rippen. Dann springt die Begeisterung der Umstehenden auf ihn über, vertreibt die Müdigkeit des langen Marsches und die Sorge um die Zukunft. Jetzt wird gefeiert! Er reißt den Tschako vom Kopf und wedelt den Jubelnden zu, die sich am Straßenrand drängen.

Zwei halbwüchsige Jungen haben Stöcke wie Gewehre geschultert und marschieren im Stechschritt neben ihm her, ernsthaft und konzentriert. Junge Mädchen in weißen Musselinkleidern verteilen patriotische Gedichte. Plötzlich ergreift ein Mädchen seine Hand, zieht ihn zu sich heran und drückt ihm einen Lorbeerkranz auf das struppige Haar. Verwirrt bleibt er stehen. Mit leicht verdrehten Augen schaut sie ihn an, dann schließt sie die Lider, holt tief Luft, umarmt und küsst ihn – mitten auf den Mund.

Eduard genießt es. Er genießt den berauschenden Triumph, er genießt es, ein Held zu sein und umjubelt und umarmt zu werden. Schüttelt Hände, lässt sich immer wieder küssen, grölt: »Heil dir im Siegerkranz« und nimmt im Weitermarschieren ein Gedicht entgegen:

»An die heimkehrende preußische Landwehr

Willkommen aus blut’gem, heiligen Streit:

Ihr wackeren Landes- und Landwehrleut.

Der Kampf ist nun aus.

Ihr strittet mit Gott für König und Land,

wir reichen euch dankbar die Bruderhand.

Willkommen zu Haus.«

Es regnet Blumen. Anemonen und Levkojen, Ringelkraut und Rittersporn fallen herab und werden von Soldatenstiefeln zertreten. Allmählich verlangsamen sich die Trommelschläge der Tamboure, und die bunte Riesenraupe kommt zum Stillstand.

General von Tauentzien redet und dankt, General Graf Bülow von Dennewitz redet und dankt, Prinzessin Charlotte redet – nicht. Dekorativ sitzt sie in ihrer Kutsche und dankt durch ihre adelige Anwesenheit.

Eduard steht in der Menge, eingekeilt von den Kameraden, die ihn überragen und ihm leider den Blick auf Kutsche und Königskind versperren. Dennoch – es ist großartig. Es ist der Höhepunkt im Leben des Lützower Jägers Eduard Kruse.

»Morgen geht’s endlich heim zu Vatern, den Sieg feiern«, sagt Cordes.

Morgen? Kälteschauer. Eduards Glücksgefühl fliegt davon. Mechanisch nimmt er den lächerlichen Lorbeerkranz vom Kopf und zerpflückt ihn.

Morgen. Alles vorbei. Endgültig. Die Hosen aus und die Freiheit weg, und ob sich der Vater über seine Heimkehr freuen wird, ist fraglich. Der zornige Vater. Ist er immer noch so aufbrausend wie damals vor vier Jahren, an jenem Tag im Oktober?

Kapitel 1

Die Ohrfeigen brannten. Entsetzt duckten sich Anna und ihre Schwester, zogen die Arme vor die Gesichter. »Ihr Herumtreiberinnen, ihr – ihr …«, brüllte der Vater. Ihm fiel vermutlich so schnell kein anständiges Wort für ›Huren‹ ein. »Diese Schande! In aller Öffentlichkeit!« Schmerzhaft hagelten seine Zimmermannsfäuste auf ihre Rücken.

»Hab doch gar nichts getan!«, schrie Anna.

Ungerührt drosch der Vater weiter auf die Mädchen ein, auf Anna und auf Trine, gemäß dem Bibelwort: Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie. Meister Lühring liebte seine Kinder.

»Vadder! Vadder! Lass doch gut sein, lass endlich gut sein!«, flehte seine Frau.

Im Dunkel des Flurs sah Anna die schemenhafte Gestalt von Tante Mariechen. Also doch! Die hatte spioniert und gepetzt! Und das Ärgerlichste war, dass Anna gar nichts Unrechtes getan hatte. Ihre Schwester Trine, die hatte mit diesem Theo …

Von St. Pauli schlug es sieben Uhr, Zeit zum Abendessen. Mit dem letzten Glockenschlag verrauchte der Zorn des Vaters. Wortlos drehte er sich um und ging in die Küche.

Die Mutter tröstete ihre Töchter und untersuchte sie. Nein, er hatte keine sichtbaren Schäden hinterlassen, keine Blutergüsse oder aufgeplatzten Lippen, keine ausgeschlagenen Zähne. »Kommt zum Abendbrot«, sagte sie und strich über ihre Köpfe.

Unwirsch schüttelte Anna die Hand der Mutter ab, presste die Lippen zusammen und folgte mit steinernem Gesicht. Dabei hatte sie sich so sehr auf diesen Tag gefreut. Freimarkt in Bremen, das war der Höhepunkt des Jahres, das hieß Erregung und Kribbel. Die Buden und Zelte, die Bärenführer und Moritatensänger, die Gaukler und Wahrsager, die fremden Aussteller aus allen Teilen des Deutschen Reiches, sie verwandelten den Bremer Marktplatz in einen orientalischen Basar, und ein bisschen verzauberten sie auch die Bremer Bürger. Die Kinder brauchten nachmittags nicht in die Schule zu gehen – falls sie überhaupt gingen –, und manches lose Verhalten wurde mit »Ischa Freimaaakt!« entschuldigt.

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Am frühen Nachmittag schon wollte Anna mit ihrer Schwester Trine losziehen. Der Geldbeutel schlackerte, am Rockbund befestigt, unter der Schürze. Wer nimmt die Lampe für den Heimweg?

Tante Mariechen stand im Flur. »Anna!«, sagte sie. »Anna! Wie siehst du denn schon wieder aus? Struppig wie ein Kerl und ein Fleck auf der Schürze. So willst du doch nicht in die Stadt gehen?«

»Doch!«

»So sieht kein anständiges Mädchen aus. Na, wenn ich deine Mutter wäre …« Zu Trine gewandt mahnte die Tante: »Seid nur hübsch vorsichtig! Die Zeiten werden immer schlimmer. Gerade zu Freimarkt huscht viel fremdes Gesindel an den Torwachen vorbei.«

»Natürlich«, sagte Trine.

»Und vor allem hütet euch vor den französischen Soldaten«, fuhr die Tante fort. »Das sind ganz gefährliche Subjekte! Völlig verderbt, und gerade auf anständige junge Mädchen haben sie es abgesehen!«

Trine beruhigte die Tante, sie würde schon aufpassen. Im Gegensatz zu Anna kam sie gut mit ihr zurecht, vielleicht, weil sie von Natur aus ordentlich und adrett und ein richtiges junges Mädchen war, bis hin zu den sauberen Fingernägeln, mit Rapsöl poliert. Manchmal bemühte auch Anna sich, ordentlich und adrett zu sein, aber es war schwierig.

Auf den Weserbrücken herrschte reger Verkehr. Zu Fuß, zu Pferd, auf Planwagen und in Kutschen strömten die Menschen in die Altstadt. Händler und Käufer aus dem Oldenburgischen und aus der Grafschaft Hoya schimpften laut über die vielen Grote, die ihnen am Hohentor und Buntentor abgeknöpft worden waren. Ein junger Reiter erschreckte die Mädchen mit forschem Galopp. Französische Soldaten schlenderten lässig und selbstbewusst mitten auf der Fahrbahn und zwinkerten Trine zu. Sie war nicht nur ordentlich und adrett, sie war außerdem, wie Anna fand, ekelhaft hübsch und zog ständig die Blicke und Bemerkungen der jungen Männer auf sich.

Anna wurde nur von Madda Böschen wahrgenommen, die ihnen mit ihrem Hundekarren entgegen schuffelte und freundlich »Tach, Anna!« sagte.

»Tach!«, antwortete Anna einsilbig. Peinlich. Was fiel der Böschen ein, so vertraut zu tun? Tochter eines Lumpenhändlers!

Am Ende der Brücke drehte sich die Wasserkunst, ein riesiges, hölzernes Rad, das unentwegt Weserwasser in eine Rinne schaufelte und die reichen Kaufleute in der Altstadt mit fließendem Wasser versorgte. Anna hingegen musste es eimerweise vom Brunnen holen.

Hefig-mehliger Maischegeruch aus der Brauerei kitzelte in ihrer Nase, wurde schließlich vom Teergestank eines kalfaterten Weserkahns verdrängt, und dann erschnupperte sie den Freimarkt. Nie roch es in Bremen so gut wie zur Freimarktszeit. Heilkräuter, Parfüms und Badeöle, Lebkuchen und saurer Hering und Pfeffernüsse. Allein der Gedanke an die berühmten Pfeffernüsse des Bernhard Unverzagt aus Braunschweig ließ Anna das Wasser im Munde zusammenlaufen. Weniger gut roch es hinter den Schankzelten.

Durch das Brückentor betraten sie die Altstadt. In der Wachtstraße verdichtete sich der Menschenstrom zu einem Knäuel, aus dem ein Bänkelsänger herausragte und eine schauerliche Ballade ankündigte, vom Leben geschrieben und vom Vortragenden höchstpersönlich gereimt. »Höret, Leute, die Geschichte …«

Anna drängelte und schubste, schob sich energisch nach vorn, zog die Schwester hinterher. Der Bänkelsänger stand auf einem Podest, neben sich ein halbwüchsiger Junge, vermutlich sein Sohn, der lustlos und schräg auf einer Violine kratzte. Die Vorstellung begann.

»Höret, Leute, die Geschichte,

Die erst kürzlich ist geschehn.

Die ich treulich euch berichte,

Lasst uns dran ein Beispiel sehn.

Lasst uns redlich hier nur handeln,

Treu erfüllen unsere Pflicht.

Stets der Tugend Pfad nur wandeln,

Tugend gibt uns reines Licht.«

Nach dieser Einleitung trug er die Geschichte eines Rabenvaters vor, der kürzlich in der Nähe von Hildesheim seine vier unmündigen Kinder hatte verhungern lassen. Die Zuschauer sangen den Refrain mit, und auch Anna dröhnte:

»Er hatte zwar der Kinder vier,

Doch’s Geld braucht er für Schnaps und Bier,

Kauft Brot nicht ein, nicht Kohl, nicht Speck,

Die Kinder starben alle weg.

Das tut ein guter Vater nicht!

An’n Galgen muss der Bösewicht.«

Und noch einmal, weil es so schön war! Begeistert sang Anna: »Das tuuut ein guhuter Vaaater nicht! An’n Gaa –«

Ein alter Mann knuffte sie in die Seite und ließ sie abrupt verstummen. »Bölk nicht so laut! Man kriegt ja Ohrenschmerzen.«

Ohrenschmerzen? Frechheit! Zugegeben, Anna besaß eine tiefe Stimme, leicht spröde und rau, weshalb sie leider aus dem Kirchenchor ausgeschlossen worden war.

Mit einem Zeigestock wies der Sänger auf farbige Zeichnungen, die den tragischen Werdegang der Familie illustrierten: magere Kinder, bettelnd um ein Stück Brot. Der grausame Vater, schieläugig, mit wirrem Haar, auf den ersten Blick als Bösewicht erkennbar, schwenkt eine Schnapsflasche. Und dann das gute Ende. Der Bösewicht dreht sich mit heraushängender Zunge am Galgen, von Krähen umkreist.

Anna musste an ihre beste Freundin Lenchen Meyerdierks aus dem Achelisgang denken, die seit Ostern als Ladenmädchen bei Strohm arbeitete. Ihr Vater trank mindestens ebenso viel wie jener Hildesheimer Rabenvater, und er trank sogar noch mehr, seit Napoleon die Kontinentalsperre verhängt hatte. Jetzt durften nämlich keine Schiffe mit amerikanischem Rohrzucker mehr in Bremen landen. Acht Zuckerraffinerien lagen still, und neunundachtzig Arbeiter saßen auf der Straße, einschließlich Lenchens Vater. Ihre Mutter verdiente ein paar Grote als Wäscherin, das reichte gerade für Vaters Schnaps. Außerdem war sie ständig schwanger. Ein Kind nach dem anderen gebar sie – mal lebendig, mal tot.

Trine drängte weiter. Es zog sie zum Judenmarkt, zu den seidenen Strümpfen und Taschentüchern, zu dem gefärbten Samt von Samuel Hertz. Jedes Jahr zum Freimarkt kam er nach Bremen, und jedes Jahr wurde Trine ganz kribbelig. »Guck mal, französischer Batist!« Sie zog eine der weichfließenden Stoffbahnen hervor, verdrehte die Augen und seufzte: »Daraus ein Hemdchen. Erregend!« Zu ihrem Bedauern durfte sie niemanden erregen. Da hatte der Vater ein scharfes Auge drauf.

Anna suchte die Bude von Bernhard Unverzagt, dem Honigbäcker. Und während ihre Schwester noch in Batisten und Schleifenbändern wühlte, kaufte sie die ersehnten Pfeffernüsse. Süß, zuckerbeschneit – genüsslich leckte sie den Guss ab. Doch hart waren sie, dass sie fürchtete, sie werde sich die Zähne daran ausbeißen.

Mit ihrer Schwester schlenderte sie weiter, stöberte hier und dort, Drehleierklang wehte an ihr Ohr, Ausrufer priesen die Waren an. Als die Domuhr sechsmal schlug, war es schon dunkel. »Komm«, sagte Anna zu ihrer Schwester. »Lass uns zurückgehen. Ich will noch zum Brautwall zu Amigoni.« Amigoni und seine Raubtiere, das war für sie, neben den Pfeffernüssen, das Beste vom Freimarkt. Löwen, Tiger, Waschbären, Hyänen und Affen hatte der Schausteller in den Wöchentlichen Nachrichten versprochen, und bei der abendlichen Fütterung sei ihre reißende afrikanische Wildheit am eindrucksvollsten.

Reißende Tiger – die gab es nicht alle Tage! Das war fast so aufregend wie eine öffentliche Hinrichtung. Die gab es auch nicht alle Tage.

Sie verließen den lärmenden Marktplatz, betraten die Böttcherstraße. Unangenehm still war es hier, und um so lauter klackten die Schritte einiger junger Männer, die plötzlich hinter ihnen aufgetaucht waren. »Schneller! Ich glaube, wir werden verfolgt«, sagte Trine und packte Annas Arm.

Anna drehte sich um, sah in der Dunkelheit drei Laternen tanzen, sah Schatten von langbeinigen Wesen. »Ach Quatsch! Was können die uns schon tun?«

»Du ahnungsloser Unschuldsengel«, antwortete Trine überlegen. »Ich weiß genau, was die uns tun können.« Mit festem Griff zerrte sie Anna voran.

Im Licht der schwankenden, funzeligen Öllämpchen eilten sie durch die Straßen der Altstadt. Sie wichen den Beischlägen aus, steinernen Vorbauten seitlich der Haustüren, auf denen abends die Bremer saßen und sich über die Vorübergehenden das Maul zerrissen. Heute Abend saß natürlich keiner da. Im Schatten der Hauswände hasteten sie voran, und ausgerechnet jetzt stolperte Trine über einen Haustritt, der tückisch auf die Straße ragte. Anna zog die Schwester in die Straßenmitte, in die Abwasserrinne. Stinkende Brühe durchdrang Schuhe und Strümpfe.

Als die Männer näherkamen, zog Anna ihre Schwester links in die Martini-Straße. Schon hörte sie die Wasserkunst knarren, gleich hätten sie die Brücke erreicht. Vor ihnen gähnte das schwarze Loch des Brückentores wie der Eingang in den Höllenschlund. In der Neustadt drüben am anderen Ufer der Weser gab es noch nicht den Glanz beleuchteter Straßen, sie lag völlig im Dunkeln. Nur hier und da ließen schwache Lichtflecken auf bewohnte Häuser schließen. Albtraumhaftes Dunkel, böse und drohend. »Mach die Laterne an, Anna.«

»Die Laterne? Die hast du doch!«

»Ich? Wieso ich? Du solltest sie mitnehmen …«

Sie hatten das Licht vergessen.

»Mein Gott, keine Laterne!«, rief Trine, und ihr Entsetzen war echt. Sie zitterte, fürchtete sich vor den Männern.

Anna fürchtete sich vor allem vor den beiden dunklen Brücken, die sie überqueren mussten, vor losen Holzbohlen und huschenden Ratten. Erst letzte Woche war des Nachts eine junge Näherin ins Wasser gefallen und als Wasserleiche wieder aufgetaucht.

Einer der Männer rief: »Da vorn wandeln zwei einsame Weiberröcke. Wollen wir denen heimleuchten?«

»Überm oder unterm Rock?«, fragte ein anderer anzüglich und wieherte über seinen derben Scherz.

»Lumpenhunde!«, zischte Anna und drehte sich um. Sie sah, wie sich ein Licht aus der Männergruppe löste.

Kurze, entschlossene Schritte hallten auf dem hölzernen Brückenboden und kamen näher. »Mamsells, es ist gefährlich so allein, und dann noch ohne Laterne!«

Mist! Nun wird das passieren, wovor uns die Tante vorhin gewarnt hat, schoss es Anna durch den Kopf, als Trine sich an sie klammerte. Schon roch sie den sauren Bieratem des Mannes; der Schein seiner Lampe fiel auf ihr Gesicht, blendete sie. Anna öffnete den Mund zum Schrei, da –

»Lührings Töchter! Oh – äh – ich meine –«, stotterte der Mann, und mit einem Mal klang er höflich, besorgt und gar nicht mehr anzüglich. »Ich meine, es ist wirklich gefährlich ohne Licht! Erst letzte Woche …«

»Ach, Theo! Theodor Bohnenkamp aus dem Pferdegang! Du hast uns aber ’nen Schrecken eingejagt!« Trine kannte den jungen Mann offensichtlich und setzte auch gleich zur Erklärung an: »Vor sechs Jahren ist er mit Andreas konfirmiert worden, in der St. Pauli-Kirche.«

Jetzt erinnerte sich auch Anna an den Bekannten ihres älteren Bruders.

Der schob sich zwischen sie und verwandelte sich von einem Belästiger in einen Beschützer. Trine ließ sich mit Wonne beschützen. Sie gestattete ihm sogar, dass er seine Hand auf ihre Schulter legte. Sicher nur, weil ihr der Schreck von eben noch in den Knochen sitzt, dachte Anna.

»Ich begleite euch nach Haus«, sagte Theo.

Anna wollte noch nicht nach Haus, sie wollte zum Brautwall, zu Amigoni, und sagte das auch.

»Dann auf zu den wilden Tieren!«, rief Theo.

Aufgeregt stand Anna bald darauf bei den Käfigen. Ein Tiger und eine Löwin zerfetzten hinter den Gitterstäben blutige Fleischbrocken, die sie knurrend verschlangen. Die Bestien verbreiteten einen penetranten Gestank. Da sah sie die Schwester. Wie nah Trine bei diesem Theo stand, wie sie sich im Schutz der Dunkelheit an ihn lehnte und ihn anstrahlte. Genauso, wie sie es manchmal mit Vaters Wandergesellen machte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Diese heimlichen Zeichen und Gesten, diese zufälligen Berührungen. Anna mochte das nicht. Es war peinlich, wenn Trine sich so verhielt.

Sie zuckte mit den Schultern und wollte sich wieder den Tieren zuwenden. Plötzlich stutzte sie. Hatte sie eben Tante Mariechen gesehen? Aus den Augenwinkeln hatte Anna eine hagere Gestalt wahrgenommen, die jetzt allerdings hinter einem Käfig verschwunden war. Tante Mariechen bei einer Raubtierfütterung? Nein! Ohne ihre Schwester schob Anna sich zwischen den Schaulustigen hindurch, schlenderte an verschiedenen Käfigen vorbei, an den Hyänen und Waschbären. Im letzten Käfig saß die Schimpansin. Ungeschützt hockte sie in einer Ecke, drückte sich eng an die Gitterstäbe, die Arme um die Beine gelegt, so wie Anna sich manchmal auch hinhockte. Anna stand und schaute. Schaute auf die großen Ohren, die runzelige Stirn, die menschlich wirkenden Hände mit den Fingernägeln. Plötzlich drehte das Tier seinen Kopf und erwiderte Annas Blick aus dunklen Augen.

Anna konnte ihn nicht ertragen, diesen Blick einer resignierten Kreatur. Sie senkte die Lider und trat zurück. Eine Hand griff nach ihrer, und sie erkannte ihre Schwester.

»Komm, Anna. Theo will uns noch eben über die Brautbrücke bringen.« Zu dritt verließen sie die Weserinsel und schlenderten in die Neustadt, gut beleuchtet und behütet und in gesittetem Abstand zu Theo.

Er verabschiedete sich von ihnen. Sie dankten für die Begleitung, öffneten die Haustür und – ehe sie begriffen, was geschah, brannten die Ohrfeigen auf ihren Wangen.

Kapitel 2

In der Küche saßen alle am großen Tisch, die Tante, die Brüder, der Lehrling, der Geselle, die Magd. Anna und Trine schoben sich auf die Bank, senkten die Köpfe und falteten die Hände. Der Vater sprach das Tischgebet. »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen, guten Appetit!« Dann klapperten Löffel und Teller, Biersuppe wurde geschlürft und schwarzes, saures Roggenbrot in den Mund gestopft.

Während Anna mechanisch die Suppe löffelte, beobachtete sie aus dem Augenwinkel Tante Mariechen, die ihr schräg gegenübersaß. Diese alte Ziege!, dachte sie. Wie sie dasitzt, spazierstockgerade und spazierstocksteif!

Das war die Tante, die Anna wahrnahm. Ihre verborgene Seite sah sie nicht, die vertrockneten Träume einer Frau, die als Achtzehnjährige einen Witwer mit sechs Kindern hatte heiraten sollen. Dabei hätte sein zweitältester Sohn viel besser zu ihr gepasst, nicht nur vom Alter her. Aber der Witwer suchte eine Frau und keine Schwiegertochter. Mariechen lehnte ab. Ihr Herz gehörte einem anderen, und wenn sie den nicht bekam, dann wollte sie keinen. Nun lebte sie im Hause und auf Kosten des Bruders und ärgerte sich über dessen jüngste Tochter. Ständig litt sie unter Magenschmerzen und Migräne, gegen die weder doppeltkohlensaures Natron noch Pfefferminzöl halfen, und versuchte, ihre Unpässlichkeiten heimlich mit einem Klaren erträglich zu machen – nur zur Gesundheit, versteht sich. Sie glaubte, dass keiner merkte, wie rapide der Pegel von Lührings Schnapsflasche sank. Der einzige Lichtblick in ihrem grauen Alltag waren die sonntäglichen Predigten des Pastors Gottfried Menken in der St. Pauli-Kirche und der Blick auf ihr Medaillon mit dem Scherenschnitt ihres Liebsten. Das verwahrte sie stets in ihrem Beutel.

Lustlos löffelte Anna die bittere Suppe. Seitdem die Franzosen die Stadt besetzt hatten und keine englischen Waren mehr hineinließen, musste sie auf vieles verzichten. Bei der Baumwolle machte es ihr wenig aus, denn im Gegensatz zu ihrer Schwester interessierte sie sich kaum für indischen Madras oder Bänder und Litzen. Aber Kaffee, Gewürze und vor allem Zucker waren ebenfalls knapp, und diese Leckereien vermisste sie schmerzlich.

»Diese Franzosen!«, schimpfte die Tante, als hätten sie ähnliche Gedanken bewegt. »Wann sind wir das liederliche Pack endlich los?«

Lühring nickte, knurrte, räusperte sich und spuckte verächtlich auf den Fußboden, zum Missfallen von Magd Gesine. »Vier lange Jahre haben wir sie schon am Hals. Vier Jahre lang füttern wir sie mit weißem Brot und zwei warmen Mahlzeiten täglich. Am liebsten würde ich jedem der Hundesöhne einen Tritt in den Hintern geben!« Heute Abend durfte er ungeniert reden, denn ausnahmsweise saß kein französischer Soldat bei ihnen zu Tisch.

»Ich weiß nicht«, meinte der preußische Wandergeselle und bröckelte sein Brot in die Suppe, »so schlecht sind die Franzosen gar nicht. Sie haben sogar ganz vernünftige Ideen.«

Anna erstarrte. Hand und Löffel verharrten in der Luft. War der Preuße verrückt? Wie konnte er dergleichen bei Tisch und in Gegenwart des Vaters äußern?

Schon warnte Lühring: »Kerl – überleg dir gut, was du sagst!«

»Gewiss«, versicherte der Geselle arglos. »Ich habe mir das oft überlegt, und ich sag Euch, von denen können wir noch etwas lernen.«

Sieben Augenpaare blickten ihn an, neugierig, zweifelnd, entrüstet.

Conrad, Lührings Lehrling, runzelte die pickelige Stirn, als dächte er: Von den unmoralischen Franzosen kann man nur eines lernen, und das darf ein Lehrling leider nicht.

Nur Trine schien dem Preußen insgeheim zuzustimmen. Anna wusste: Für sie waren die Franzosen Männer mit Charme und Kultur in gut sitzenden weißen Hosen.

Der Geselle erläuterte die napoleonischen Gesetze, die bereits in Westfalen angewandt wurden. Sie räumten tatsächlich mit vielen Ungerechtigkeiten auf. Vor allem hatten sie den geheimen Inquisitionsprozess abgeschafft. Von nun an sollten alle Verhandlungen und Urteilsverkündungen öffentlich sein, eine erste Maßnahme gegen Mauschelei und Bestechung.

Als der Preuße jedoch davon sprach, dass auch die Zünfte aufgehoben und die Gewerbefreiheit eingeführt werden solle, stach er ins Wespennest. Lühring sprang auf, langte über den Tisch und packte den jungen Mann am Hemd. »Was redest du da? Die Zünfte aufheben? Verräter! Willst ein ehrlicher Handwerker sein? Ein Hund bist du! Ein Schweinepriester! Ein …«

»Vadder!« – »Bruder!« Rechts und links packten ihn Frau und Schwester an den Armen, versuchten, ihn zu mäßigen und auf den Stuhl zu ziehen. »Dein Herz! Dein Herz!«

Gesine bewahrte den kippenden Krug mit dem Bier geistesgegenwärtig vor dem Umsturz.

»Geh mir aus den Augen! Weg! Weg!«, brüllte der Vater und schleuderte die Frauen von sich wie lästige Kletten. »Steck dir deine Gewerbefreiheit an den Hut und lauf hin zu den Welschen! Unter diesen Tisch steckst du deine Füße nicht mehr!«

Weiß wie ein Laken auf der Wäschebleiche sagte der Preuße: »Meister Lühring, die Zeit der Zünfte ist vorbei, und die Gewerbefreiheit wird kommen. Das werdet auch Ihr nicht aufhalten können.« Er erhob sich und stürmte hinaus. Die Küchentür fiel ins Schloss.

Anna seufzte auf.

»Ochgottegott!«, stöhnte Gesine. »Ochgottegott! Da wird einem ja die Milch im Magen sauer.«

»Willst du den Preußen wirklich rausschmeißen?«, wagte Frau Lühring zu fragen.

»Natürlich! So ein Kerl arbeitet nicht bei mir.« Diese Wandergesellen!, stöhnte er innerlich. Aufrührerische Reden halten sie, und ehe man sich versieht, poussieren sie mit den Töchtern herum oder liegen mit dem Dienstmädchen im Bett. Er dachte an Hermann, seinen zweiten Sohn, der schon seit drei Jahren auf Wanderschaft war und noch nicht ein einziges Mal geschrieben hatte. Wo er wohl steckte? Ob er überhaupt noch lebte? »Ach«, seufzte Lühring nun laut, »in meiner Jugend war es besser. Da galt des Meisters Wort noch was.«

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Oktober in Bremen. Man spart Lampenöl und Torf, man verschwindet früh im Bett.

Der Preuße hatte bereits mit seinem Bündel das Haus verlassen. Gesine war zu ihrer schwindsüchtigen Mutter in den Duckwitzgang gegangen. In einer kleinen Kammer neben der Küche standen die Betten der Schwestern. Anna lag auf dem Rücken und starrte auf einen feinen Mondstrahl, der durch die geschlossenen Fensterläden fiel. Sie hörte von oben die Mutter husten, der Vater räusperte sich und spuckte. Draußen im Stall ruffelte das Schwein, eine Ratte raspelte im Gebälk. Unruhig und stöhnend wälzte sich die Schwester auf dem raschelnden Strohsack.

Anna konnte nicht einschlafen. In buntem Reigen wirbelten die Bilder des Tages in ihrem Kopf herum. Die traurige Äffin, dieser Theo, der gehenkte Rabenvater, Zuckermangel. Hunger nagte in ihr, nicht der normale Hunger, sondern jener Heißhunger auf etwas Süßes, der sie häufig des Nachts überfiel. Sie schlüpfte aus dem Bett und tastete sich in die Küche vor, griff in die Rosinentüte.

Es klirrte. Erschrocken hielt sie inne. Das Klirren kam von draußen. Arko, der Nachbarhund, bellte kurz auf. Dann wieder Stille, als wenn jemand den Atem anhielte. Anna lauschte. Sie drückte sich seitlich an das Küchenfenster und riskierte einen Blick in den mondhellen Hof. Da – wieder ein Geräusch.

Seltsam. Anna überlegte. Ein Einbrecher? Soll ich Vadder wecken? Sie horchte, und dann öffnete sie behutsam die Tür zum Hof. Kalt und feucht spürte sie die Hofsteine unter den nackten Füßen. Sie schlich zum Zaun, spähte auf das Nachbargrundstück, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Da stand Nachbar Meyeriks Bank, die Regentonne, und aus dem Schweinestall drang ein leises Rascheln und Schnuffeln. Herabgefallene Blätter klebten auf den Steinen. Herbstgeruch.

Und ein Haus weiter, bei Strohms? Kurz entschlossen kletterte Anna über den Zaun. Dort lehnte eine Schubkarre hochkant an der Wand, Kästen und Kisten stapelten sich in einer Ecke, aus leeren Glasballons zog sauersüßer Essiggeruch an ihre Nase. Scherben funkelten im Mondlicht – das erklärte das Klirren. Einer der Ballons war umgefallen und zersprungen, vielleicht hatten Katzen darauf herumgeturnt. Und dann entdeckte Anna den kleinen, kompakten Sack. Sie hob ihn an; er war schwer. Geschickt öffnete sie die Schnüre, griff hinein, fühlte die harten, klebrigen Kristalle an den Fingerkuppen, kostete – Zucker!

Aha, dachte sie, jemand hat für Strohms Zucker organisiert. Den brauchten sie für ihren Laden, für die Gelees und Torten, für die eingesetzten Früchte in Branntwein. Damit war das Geheimnis des nächtlichen Ruhestörers geklärt. Kein Einbrecher und keine Katze, sondern ein Schmuggler – in diesen Zeiten etwas völlig Normales. Beruhigt hätte Anna ins Bett gehen können, aber der Zucker lockte. Viele Hände voll schaufelte sie in ihr geschürztes Hemd.

Sie kramte ein Leinensäckchen aus der Küchenbank hervor, schüttete den Zucker hinein und versteckte es in ihrem Nachtschrank.

Kapitel 3

Auf den Oktober folgte ein nasser, nebliger November, der die Menschen mit Gliederreißen und rheumatischen Beschwerden plagte. Graue Tage, feucht und muffig wie alte Waschlappen. Die Totengräber hatten Konjunktur.

Die Widerstandskraft von Gesines Mutter schmolz dahin, und eines Abends verstummte ihr Röcheln und Husten für immer. Gesine verließ das Haus im Duckwitzgang und zog mit einem Bündel Kleider, einem frommen Spruch im Rahmen und einem geblümten Nachttopf in die Kammer zu Anna und Trine.

Anna erhellte sich die dunklen Tage mit ihrem geheimen Zuckervorrat. Verstohlen suchte sie den Nachtschrank auf, fünfmal, zehnmal, zwanzigmal am Tag benässte sie den Zeigefinger mit Spucke, bohrte ihn in die klebrige Masse und leckte ihn ab.

Gerade scheuerte sie den Fußboden der Mädchenkammer, als es herrisch an der Haustür hämmerte. »Hausdurchsuchung!«, tönte eine Stimme. »Laut kaiserlichem Dekret werden alle englischen Waren konfisziert!«

Erschrocken richtete Anna sich auf. Der Zucker!, schoss es ihr in den Kopf, wo konnte sie ihn verstecken? Blitzschnell ließ sie das Leinensäckchen im Nachttopf verschwinden.

Im Flur stand ein Ratsdiener des Senats, begleitet von einem charmanten Douanier als Sachverständigem und einem dümmlich glotzenden Soldaten. Der bremische Ratsdiener wand sich vor Unbehagen wie ein Weseraal und verlas eine lange Liste der verbotenen Waren. Kaffee, indischer Pfeffer, Safran, Porterbier, englische Keramik, Zucker und Tabak aus den Kolonien, Kattun …

»Ochgottegott!«, rief Gesine und schlug die Hand vor den Mund. »Sie können uns doch nicht alles wegnehmen!«

»Alles nicht, nur die englischen Waren!«, erklärte der Mann.

»Aber – Vadder ist nicht da, und unsere Mudder liegt krank im Bett, und …«, wandte Trine ein. Ohne Erfolg.

»Dazu wir nischt brauchen Ihre Papa oder Ihre Maman, ma belle. Das wir können särr allein«, antwortete der Douanier und strahlte sie an.

Anna blickte auf die Straße. Die Nachbarn standen in erregt tuschelnden Gruppen zusammen, blickten böse zum Leiterwagen, auf dem das eingezogene Gut landete, murrten und schimpften und ballten verstohlen die Fäuste. In sämtlichen Häusern wurde konfisziert. Frau Büssenschütt von gegenüber versuchte gerade, einen ungewöhnlich großen und ungewöhnlich hässlichen Porzellanhund aus den Armen eines Soldaten zu winden und schrie dabei: »Den nehmt ihr mir nicht weg, ihr Halunken! Ihr Diebsgesindel!«

Ungerührt stieß der Soldat sie zurück, der Hund fiel zu Boden und zerbrach.

Napoleon hatte ein neues Gesetz erlassen zur ›Beschlagnahmung und Besteuerung aller englischen Fabrikerzeugnisse und Kolonialwaren‹ und ließ aus sämtlichen Haushalten, Lagerhallen, Speicherböden und Schuppen englische Manufakturartikel und Güter aus den Kolonien einziehen. Dabei verfuhren die Soldaten nicht gerade zimperlich. Sie brachen die Packhäuser an der Weser auf, zerschlitzten Baumwollballen, schütteten Säcke aus, und was sie nicht abtransportierten, das vernichteten sie mit Wasser, Vitriol und Ätzkalk.

Sie hatten Frau Büssenschütts Porzellanhund zerbrochen. Niedergeschmettert starrte sie auf die Scherben. »Aber den hat mir doch mein seliger Mann schon vor Jahrenden geschenkt!«, stammelte sie. Egal. Der Hund war englisch gewesen und trug kein Zertifikat, das ihn als verzollt auswies. Nicht ganz recht, aber recht einfach.

Nun reckte auch Tante Mariechen ihren neugierigen Kopf auf die Straße. »Oh nein, Frau Büssenschütt! Ihr wunderbarer Hund! Das gute Stück!«, jammerte sie laut. Und leise fügte sie hinzu: »Das kommt davon. Warum hat sie ihn auch so protzig ins Fenster gestellt!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und huschte in die Stube. Geübt packte sie die Schnapsflasche, zog den eingeschliffenen Glasstopfen heraus und nahm einen tiefen Schluck. In einer Notsituation wie dieser verzichtete sie auf Anstand und Sitte und auf das dazugehörige Glas.

Anna kehrte in die Kammer zurück, griff zur Wurzelbürste und scheuerte und scheuerte. Der Douanier hatte bereits die oberen Räume durchsucht und nahm sich nun den Keller vor. Er schnüffelte am Sauerkrautfass, er probierte an den Flaschen mit Himbeerwein, er stocherte in der Kartoffelkiste. Nichts, aber auch gar nichts hatte er bisher in diesem Haus gefunden. Verdächtig, äußerst verdächtig.

Mit dem dümmlichen Soldaten betrat er die Mädchenkammer. Die ältere Tochter des Hauses, die Hübsche, hatte schon eine kleine Kiefernholztruhe geöffnet und zeigte bereitwillig, dass sie nichts zu verbergen habe. Wirklich nicht? Der Douanier grinste verschmitzt. Dann riss er den Strohsack vom Bett hoch. Sacré, es gab ja doch eine Überraschung! Einige Ellen geblümten Kattuns. Die Ältere errötete bezaubernd.

»Muschjöh«, säuselte sie, schürzte die Lippen, flehte mit den Augen, »wollt Ihr mir wirklich den Stoff wegnehmen?«

Verlegen warf der Douanier einen Blick auf den Soldaten. »Nischt wollen, ma belle. Müssen!« Dann öffnete er die Tür des Nachtschranks. Mit verstärkter Kraft scheuerte Anna die Dielen. Er packte den Nachttopf, er hob den Deckel. »Qu’est-ce que c’est? Quelle surprise!«

Spitzfingrig zog er den Leinenbeutel heraus. Er öffnete ihn. »Du sucre dans le vase de nuit! Une bonne cachette – mais peu appetissant!« Und damit warf er ihn angeekelt dem Soldaten zu.

Der Zucker! Annas wohlgehüteter, kostbarer Schatz, von dem sie sich immer nur ein bisschen gegönnt hatte – nein! Ihre Hände zitterten, und ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, schleuderten diese Hände den nassen Scheuerlappen in das verdutzte Gesicht des Zöllners. Ihr Kopf wurde zu Boden gedrückt, ein Stiefel trat sie in den Po.

Trine kreischte: »Meingottannadaskannstdudochnichtmachen!«

Der gedemütigte Douanier brabbelte irgendetwas Französisches, mit hartem Tritt verließen sie die Kammer, die Tür fiel ins Schloss. »Mein Gott, Anna –!«

Anna richtete sich auf, grinste schief, rieb sich das gemarterte Hinterteil und sagte: »Ich wusste gar nicht, dass du auch was zu verbergen hattest.«

»Was anderes fällt dir dazu nicht ein? Schlägst einem französischen Staatsdiener ’nen Feudel um die Ohren! Was meinste, was jetzt passiert? Ins Loch werden sie dich stecken! Am Pranger werden sie dich bespucken.«

Es passierte gar nichts. Anna kam weder ins Loch noch an den Pranger. Die Familie entsetzte sich, aber insgeheim freute es sie, dass Anna es dem Franschen mal so richtig gegeben hatte.

An diesem Abend wollte Anna nachschauen, ob Strohms Schmuggler wieder tätig geworden war. Sie schlich aus dem Bett, als sie plötzlich die lauten Stimmen von Mutter, Vater und Tante in der guten Stube hörte. Sehr ungewöhnlich zu dieser späten Stunde.

»… Anna ist zu wild!«, sagte die Tante.

»Ach, Unsinn. Sie ist temperamentvoll. Und sie lässt sich nichts gefallen«, widersprach die Mutter.