Wenn niemand nach dir sucht

Über Laura Lippman

LAUA LIPPMAN, geboren 1959 in Atlanta, hat nach ihrem Journalismus-Studium zwanzig Jahre lang in diesem Beruf gearbeitet, davon zwölf bei der Baltimore Sun. Literatur spielte schon früh eine wichtige Rolle in ihrem Leben, aber erst die Begegnung mit weiblichen Detektiven von Schriftstellerinnen wie Sara Paretsky, Sue Grafton und Marcia Muller ermutigte sie dazu, selbst zu schreiben. Lippmans Kriminalromane wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem weltweit renommiertesten Preis für Kriminalliteratur, dem Edgar Allan Poe Award. Lippman ist mit dem Drehbuchautor David Simon (The Wire) verheiratet.

Rob Hiaasen

Gerald Fischman

John McNamara

Rebecca Smith

Wendi Winters

Du warst in der Minderheit damals, warst in unserem Viertel, und fast jeder andere dort hätte mich gewählt. Mich, die ich jünger, größer und kurviger war. Vielleicht sogar Milton, dein Mann. Du fielst mir unter anderem deshalb auf, weil du neben ihm standst. Er sah inzwischen exakt so aus wie sein Vater, ein Mann, an den ich mich mit einer gewissen Zuneigung erinnere. Von Milton kann ich das nicht behaupten. So, wie die Leute sich auf den Stufen der Synagoge um ihn scharten, ihm auf den Rücken klopften und seine Hände in ihre

In all den Jahren, in denen ich in der Nähe gewohnt habe, habe ich es nie geschafft, den Namen der Synagoge mit den vielen zusätzlichen Konsonanten richtig auszusprechen. Für mich hörte es sich so an, als würde ein Komiker aus der Ed Sullivan Show mit einem lustigen Akzent sprechen.

Die Synagoge lag einen Block vom Park entfernt. Der Park und der See und die Fontäne. Interessant, nicht? Ich habe an jenem Nachmittag wahrscheinlich einen Umweg gemacht und bin mit einem Buch in der Tasche zum Druid Hill gegangen. Nicht, dass ich so gerne draußen gewesen wäre, aber wir lebten zu acht in unserer Wohnung – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und zwei Brüder, meine beiden Jungs und ich – und man hatte nie eine ruhige Minute, um meinen Vater zu zitieren. Ich schmuggelte für gewöhnlich ein Buch in meine Handtasche – Jean Plaid oder Victoria Holt – und sagte: »Ich gehe in die Bibliothek«, und meine Mutter brachte es nicht übers Herz, es mir zu verbieten. Sie hat es mir nie zum Vorwurf gemacht, dass ich mir zwei Nichtsnutze ausgesucht hatte und hinterher wieder zu Hause auf der Matte stand. Ich war ihre Erstgeborene und ihr Liebling. Aber die Liebe war nicht so groß, als dass ich mit einem dritten Fehler davongekommen wäre. Mama hockte mir auf der Pelle, damit ich wieder in die Schule ging und Krankenschwester würde. Krankenschwester. Ich konnte mir nicht vorstellen, eine Arbeit anzunehmen, bei der ich Leute anfassen musste, die ich nicht anfassen wollte.

Wenn es mir zu Hause zu viel wurde, wenn da zu viele Körper und Stimmen waren, ging ich für gewöhnlich in den Park, spazierte auf den Wegen, genoss die Stille, ließ mich dann auf eine Bank fallen und versank im England alter Zeiten. Später

Okay, vielleicht konnte ich mir also doch vorstellen, einen Job anzunehmen, bei dem man Leute anfassen musste, die man eigentlich nicht anfassen wollte.

Aber, welche Frau tut das nicht? Bei dir war es vermutlich genauso, als du Milton Schwartz geheiratet hast. Denn in den Milton Schwartz aus meiner Jugend konnte sich niemand märchenhaft verlieben.

Es war – ich kann mich erinnern, wenn ich mir klarmache, wie alt meine Babys damals waren – im Spätherbst 1964, mit einem Hauch Kälte in der Luft. Du trugst einen schlichten Pillbox-Hut, keinen Schleier. Ich wette, die Leute haben dir gesagt, du würdest aussehen wie Jacky Kennedy. Und ich wette, das hat dir gefallen, selbst wenn du es mit einem lachenden Wer, ich? abgestritten hast. Der Wind zerzauste dein Haar, aber nur ein bisschen; die Frisur hielt, Haarspray sei Dank. Du hattest einen schwarzen Mantel an, mit Fellbesatz an Kragen und Ärmeln. An den Mantel erinnere ich mich, das

Inzwischen war ich sechsundzwanzig und Milton musste fast vierzig sein, und da standst du neben ihm, und ich konnte gar nicht fassen, was für eine feine Frau er abbekommen hatte. Vielleicht ist er jetzt netter, dachte ich. Menschen ändern sich, das tun sie, in der Tat. So wie ich. Nur, dass niemand es je erfahren wird.

Was hast du gesehen? Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich getragen habe, und kann nur raten. Einen Mantel, selbst für die milde Jahreszeit zu dünn. Wahrscheinlich aus der Gemeinde-Kleiderkiste, also voller verfilzter Fusseln, formlos und mit schlaffem Saum. Abgewetzte Schuhe, abgelaufene Sohlen. Deine Schuhe waren schwarz und glänzten. Meine Beine waren nackt. Du trugst eine von diesen Strumpfhosen, die fast schimmern.

Als ich dich sah, erkannte ich den Trick dahinter: Um an einen Mann mit Geld zu kommen, musste ich aussehen, als würde ich kein Geld brauchen. Ich musste mir einen Job suchen, in dem das Trinkgeld aus gefalteten Scheinen bestand, nicht aus achtlos auf den Tisch geworfenen Münzen. Problem war nur, dass solche Läden keine Schwarzen einstellten, zumindest nicht als Kellnerinnen. Ein einziges Mal hatte ich einen Job in einem Restaurant und war Tellerwäscherin, hing dort fest, wo kein Trinkgeld hinkam. Die besten Restaurants stellten keine Frauen als Bedienung ein, selbst wenn sie weiß waren.

Ich musste kreativ werden und irgendwo einen Job finden, wo ich die Art von Männern kennenlernen würde, die einer Frau schöne Dinge kauften, die mich dann anziehender für

Als du mich also sahst – und das hast du, dessen bin ich mir sicher, denn unsere Blicke trafen sich –, hast du meine abgewetzten Klamotten gesehen, aber auch meine grünen Augen und die gerade Nase. Das Gesicht, dem ich meinen Spitznamen zu verdanken habe, obwohl ich später einen Mann kennenlernte, der meinte, ich würde ihn eher an eine Herzogin erinnern als an eine Kaiserin, und Helen passe besser zu mir. Er sagte, ich sei schön genug, um einen Krieg auszulösen. Und, habe ich das nicht auch? Ich weiß nicht, wie man es anders nennen soll. Vielleicht keinen großen Krieg, aber immerhin einen Krieg, in dem Männer aufeinander losgingen und Verbündete zu Feinden wurden. Und alles nur meinetwegen. Es war wie ein kurzes Aufblitzen, mit dem du mir gezeigt hast, wo ich hinwollte und wie ich dort hinkam. Ich hatte noch eine Chance. Ein weiterer Mann.

An jenem Tag hätte ich nicht gedacht, dass sich unsere Wege jemals wieder kreuzen würden, so klein Baltimore auch sein kann. Du warst einfach nur die Frau, die den widerlichen Teenager geheiratet hatte, der mich immer quälte, und jetzt war der widerliche Junge ein gutaussehender Mann, der seinen Vater beerdigte. So einen Ehemann brauche ich, dachte ich. Keinen Weißen, natürlich nicht, aber einen Mann, der mir einen Mantel mit Pelzbesatz am Kragen und Ärmeln kaufen kann, einen Mann, der allen Respekt abnötigte. Eine Frau ist nur so gut wie der Mann an ihrer Seite. Mein Vater hätte mir eine Ohrfeige gegeben, wenn er solche Worte aus meinem Mund gehört hätte, er hätte mich gezwungen, alle Bibelverse über Eitelkeit und Stolz herauszusuchen und auswendig zu lernen. Aber das war nicht Eitelkeit meinerseits. Ich brauchte

Mein Tod hat mich verändert, so viel steht fest.

Im Leben war ich Cleo Sherwood. Im Tod wurde ich zur Lady im See, zu einem ekligen, zersetzten Etwas, das man aus dem Brunnen der Fontäne zerrte, nachdem es dort monatelang eingeweicht wurde, den ganzen kalten Winter über, dann während des launischen Frühjahrs, fast bis in den Hochsommer. Gesicht weg, der Großteil meines Fleisches weg.

Und keinen Menschen interessierte das, bis du gekommen bist, mir diesen blöden Spitznamen verpasst und angefangen hast, an Türen zu klopfen und Leute zu belästigen und an Orten aufzukreuzen, an denen du nichts zu suchen hattest.

Niemand außerhalb meiner Familie hätte es eigentlich kümmern sollen. Ich war ein unvorsichtiges Mädchen, das mit dem Falschen ausgegangen war und nie mehr gesehen wurde. Du bist am Ende meiner Geschichte aufgekreuzt und hast sie zu deinem Anfang gemacht. Warum war das nötig, Madeline Schwartz? Warum konntest du nicht in deinem wunderschönen Haus und deiner passablen Ehe bleiben und mich auf dem Boden des Brunnens lassen? Dort war ich sicher.

Alle waren sicherer, als ich da unten war.

»Wie meinst du das, du hast Wallace Wright zum Abendessen eingeladen?«

Maddie Schwartz hätte die Frage am liebsten direkt wieder zurückgenommen, sobald sie ihr über die Lippen gekommen war. Maddie Schwartz benahm sich nicht so wie die Frauen in den Songs und Unterhaltungsshows im Fernsehen. Weder keifte sie, noch intrigierte sie. Sie brauchte keinen Song von Jack Jones, der sie daran erinnerte, dass sie ihre Frisur in Ordnung zu bringen und frisches Make-up aufzulegen hatte, bevor ihr Mann am Abend durch die Tür trat. Maddie Schwartz war stolz darauf, sich von nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Den Chef spontan zum Abendessen einladen? Mit zwei Cousins aus Toledo auftauchen, die noch nie erwähnt worden waren, oder einen alten Freund aus der Highschool mitbringen? Maddie war stets bereit für eine neue Herausforderung. Sie führte ihren Haushalt, wie ihre Mutter ihn geführt hatte, mit routiniertem Esprit und müheloser Effizienz – zumindest wirkte es mühelos.

Doch im Unterschied zu ihrer Mutter basierten ihre Haushaltswunder auf einem sehr großzügigen Umgang mit Geld. Miltons Hemden kamen in die beste Wäscherei von North Baltimore, obwohl sie dafür einen riesigen Umweg machen musste. (Sie brachte hin, Milton holte ab.) Zweimal die Woche kam eine junge Reinemachefrau. Maddies »berühmte« Hefebrötchen kamen aus der Dose, ihre Gefriertruhe war immer gut gefüllt. Für die anspruchsvolleren Gesellschaften der Schwartzens beauftragte sie Caterer, wie die

Ja, Maddie Schwartz war eine gute Gastgeberin, und es bereitete ihr Freude. Besonders stolz war sie darauf, fast ohne Vorlauf ein Abendessen auszurichten. Selbst wenn sie mal von einem Gast nicht begeistert war, nörgelte sie nie. Also war Milton an diesem Nachmittag über ihren gereizten Tonfall zu Recht überrascht.

»Ich dachte, du wärst begeistert«, sagte Milton. »Er ist, nun ja, relativ berühmt.«

Maddie fing sich schnell wieder. »Alles gut. Ich mache mir nur Sorgen, dass er Exquisiteres gewohnt ist als das, was ich auf die Schnelle improvisieren kann. Aber vielleicht kann man ihn mit Hackbraten und Kartoffelgratin bezaubern? Wenn man Wallace Wright heißt, besteht das Leben vermutlich nur aus Hummer Thermidor und Steak Diane.«

»Er meinte, er würde dich flüchtig kennen. Aus der Schule.«

»Oh, wir waren Jahre auseinander«, sagte Maddie in dem Wissen, dass ihr wohlwollender Ehemann annehmen würde, Wallace Wright sei der Ältere gewesen. Genau genommen war er zwei Jahre jünger, auf der Park School eine Klasse und auf der gesellschaftlichen Leiter der Highschool viele Stufen unter ihr.

Damals war er noch Wally Weiss. Heute konnte man kaum noch WOLD TV einschalten, ohne Wally Wright ausgesetzt zu werden. Er moderierte die Mittagsnachrichten und interviewte für die Sendung Berühmtheiten, die sich gerade auf der Durchreise in Baltimore befanden, und außerdem »Wright at Night«, ein relativ neues Abendformat, das sich mit Verbraucherbeschwerden befasste. In letzter Zeit sprang Wallace auch ein, wenn Harvey Patterson, der beliebte

Und Wally war ebenfalls, obwohl eigentlich ein wohlgehütetes Geheimnis bei WOLD, der stumme Landstreicher, der Donadio moderierte, ein aufgezeichnetes und samstags ausgestrahltes Kinderprogramm. Donadio, Baltimores einfallslose Antwort auf Bozo den Clown, sprach nie ein Wort, und sein Gesicht war unter mehreren Lagen Schminke versteckt. Doch damals, als Seth noch klein war und die Sendung guckte, hatte Maddie die Maske sofort durchschaut.

Inzwischen war Seth auf der Junior High. Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal Donadio gesehen hatte, oder sonst was auf WOLD. Sie bevorzugte WBAL, den Marktführer.

»Ist ein netter Kerl, dieser Wallace Wright«, fuhr Milton fort. »Überhaupt nicht eingebildet. Ich habe dir doch erzählt: Wir spielen immer Einzel in der neuen Tennishalle in Cross Keys.«

Milton neigte zum Namedropping und war gerade einfältig genug, um beeindruckt zu sein, wenn ein Fernsehpromi Tennis mit ihm spielte, selbst wenn es einer war, den man wegen seines unverkennbaren Baritons Mittagsnebel nannte. Süßer, ehrfürchtiger Milton. Maddie konnte ihm seinen Hang zur Heldenverehrung nicht übelnehmen, wenn man bedachte, wie sehr sie bisher davon profitiert hatte. Selbst nach achtzehn Ehejahren gab es noch unbeobachtete Momente, in denen er sie ansah, als wäre er nicht sicher, wie er je einen solchen Hauptgewinn hatte landen können.

Sie liebte ihn, das tat sie wirklich, und sie führten eine harmonische Ehe, und während sie, so, wie es sich gehörte, nach außen hin darüber klagte, dass ihr einziges Kind in zwei Jahren aufs College gehen würde, konnte sie es in Wahrheit kaum erwarten. Sie fühlte sich, als lebte sie in einem dieser Schukarton-Dioramen, die Seth in der Grundschule gebastelt hatte – die sie gebastelt hatte, seien wir ehrlich –, und

Mehr Auswahl gibt es nicht?, hatte Maddie sich gefragt. Die beiden Seiten von Florida? Die Welt ist doch sicher größer als das. Gesagt hatte sie allerdings nur, dass ihr Naples gefiele.

»Bis später, Liebling.« Sie legte den Hörer auf und erlaubte sich den Seufzer, den sie unterdrückt hatte. Es war Ende Oktober, die Hohen Feiertage waren endlich vorbei. Sie hatte keine Lust mehr, die Gastgeberin zu spielen und die Unterbrechungen ihrer gewohnten Tagesabläufe gingen ihr auf die Nerven. Rosch ha-Schana und Jom Kippur sollten Zeiten der Reflexion sein, der inneren Einkehr, doch Maddie konnte sich nicht erinnern, wann sie es zum letzten Male geschafft hatte, vor dem Fastenbrechen zu beten. Schließlich war der Haushalt wieder zur Normalität zurückgekehrt, da wollte Milton einen Gast mit nach Hause bringen, und ausgerechnet Wally Weiss.

Es war jedoch wichtig, Wallace Wright mit dem Abendessen zu beeindrucken. Die Hühnerbrust, die im Kühlschrank abtaute, hielt sich noch einen weiteren Tag. Und Hackbraten war, selbst mit überbackenen Kartoffeln, nicht der Ton, den sie anschlagen wollte. Maddie kannte einen cleveren Trick, ein Boeuf Bourguignon so zuzubereiten, dass es jedem schmeckte; es war zwar nicht à la Julia Child, jedoch blieb nie etwas übrig. Niemand ahnte, dass die Schlüsselzutat aus zwei Dosen Campbell’s Champignoncremesuppe bestand, plus zwei großzügig bemessenen Schuss Wein. Der Trick war, einen solchen Rinderschmortopf mit Dingen zu umgeben, die Eleganz und Planung durchschimmern ließen – Brötchen aus der Bäckerei Hutzler’s, die Maddie eigens zu diesem Zweck in der Tiefkühltruhe lagerte; einen Caesar Salad, den Milton

Maddie begutachtete die Bar, doch die war immer gut gefüllt.

Vor dem Abendessen würden sie zwei Runden Cocktails trinken – oh, sie würde etwas Raffiniertes mit Nüssen vorbereiten, oder vielleicht Pâté auf Toast-Ecken servieren –, während des Essens würde der Wein fließen und hinterher Brandy und Cognac. Sie wusste nicht, ob Wally viel trank, aber sie hatte ja auch seit dem Sommer, als sie siebzehn war, nicht mehr mit ihm gesprochen. Damals hatte niemand getrunken. Heute trank jeder in Maddies Umfeld.

Natürlich würde er sich verändert haben. Jeder verändert sich, aber ganz besonders pickelige Teenager. Man sagt, die Welt sei eine Männerwelt, aber man hört nie jemanden sagen, es sei eine Jungs-Welt. Das wurde Maddie sprichwörtlich klar, als Seth auf die Highschool kam. Sie hatte ihm gesagt, dass er Geduld haben solle. Irgendwann würde er so groß sein wie sein Vater, und sein Gesicht wäre glatt und hübsch, und ihre Prophezeiungen hatten sich bereits bewahrheitet.

Zu Wally hätte sie das nie sagen können. Trauriger, kleiner Wally. Wie er sich nach ihr verzehrt hatte. Wenn es ihr gerade gelegen kam, hatte sie diese Sehnsucht ausgenutzt. Aber das tun Mädchen nun mal, diese Macht besitzen sie. Wem wollte er etwas vormachen? Er mochte inzwischen größer sein, keine Pickel mehr haben, einen gebändigten Haarschopf, aber jeder in Northwest Baltimore wusste, dass er Jude war. Wallace Wright!

Jetzt, mit siebenunddreißig, genoss sie das Beste aus beiden Welten. Im Spiegel sah ihr eine wunderschöne Frau entgegen, immer noch jugendlich, aber in der Lage, sich all das leisten zu können, was dafür sorgte, dass dies auch so blieb. Sie hatte eine silberne Haarsträhne und sich entschieden, sie als eleganten Stilbruch anzusehen. Den Rest zupfte sie aus.

Als sie Wally an jenem Abend die Tür öffnete, freute sie sich über seine unverhohlene Bewunderung.

»Junge Dame, ist deine Mutter zu Hause?«

Das ärgerte sie. Es war ein so plattes Geschmeichel, etwas, was man zu einer einfältigen Oma sagte, die zu viel Rouge aufgetragen hatte. Dachte Wally, sie hätte diese Art von Aufmunterung nötig? Während sie die erste Runde an Drinks und Snacks servierte, versuchte sie, ihre Frostigkeit zu überspielen.

»Also«, sagte Eleanor Rosengren, nachdem sie ihren ersten Highball heruntergekippt hatte, »kennen Sie sich wirklich schon von der Park?« Wie Milton hatten die Rosengrens eine staatliche Highschool besucht.

»Flüchtig«, gab Maddie mit einem Lachen zu, einem

»Ich war in sie verliebt«, sagte Wally.

»Warst du nicht.« Lachend, ein wenig verlegen und – wieder – nicht geschmeichelt. Als machte man sich über sie lustig, als bereitete er einen Witz vor, dessen Pointe sie sein würde.

»Natürlich war ich. Weißt du nicht mehr – ich bin mit dir zum Abschlussball gegangen, als – wie hieß er noch gleich – dich versetzt hat.«

Ein neugieriger Blick von Milton.

»Oh, er hat mich nicht versetzt, Wally. Entschuldige, Wallace. Wir haben zwei Wochen vor dem Abschlussball Schluss gemacht. Das ist etwas ganz anderes, als versetzt zu werden.« Sie hätte auch gut auf den Ball verzichten können, wäre da nicht das neue Kleid gewesen. Es hatte 39,95 Dollar gekostet – ihr Vater wäre außer sich gewesen, wenn sie es nach all der Bettelei nicht getragen hätte.

Mit dem Namen, nach dem er gesucht hatte, half sie ihm nicht aus. Allan. Allan Durst Junior. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte der Name jüdisch genug geklungen, um ihre Mutter zu besänftigen. Sein Vater war ja auch Jude, zumindest irgendwie. Aber nachdem Mrs. Morgenstern ihn erst einmal gesehen hatte, ließ sie sich nicht mehr täuschen. »Das sollte besser nichts Ernstes werden«, hatte ihre Mutter gesagt, und Maddie hatte nicht widersprochen. Mit jemand anderem wurde es gerade ernst, jemandem, der ihrer Mutter vermutlich noch weniger gefallen würde.

»Gehen wir ins Esszimmer?«, schlug Maddie vor, obwohl die Gäste ihre Cocktails noch gar nicht ausgetrunken hatten.

Wally – Wallace – war der Jüngste von den fünf, die am Tisch saßen, doch er war es eindeutig gewohnt, dass die Leute Wert auf seine Meinung legten. Die zuvorkommenden Rosengrens löcherten ihn mit Fragen. Wer würde für das Amt

Für jemanden, der seinen Lebensunterhalt mit Interviews verdiente, stellte Wallace nur wenige Fragen. Als die Männer ihre Meinungen zu aktuellen Ereignissen kundtaten, hörte er mit geduldiger Herablassung zu und widersprach ihnen dann. Maddie versuchte die Unterhaltung in Richtung eines Romans zu steuern, den sie gelesen hatte, Die Hüter des Hauses, der einige ausgezeichnete Argumente bezüglich der Rassenproblematik im Süden anführte, doch Eleanor meinte, sie hätte es nicht zu Ende lesen können, und die Männer hatten noch nie davon gehört.

Vermutlich war es aber doch ein gelungener Abend, dachte Maddie. Milton war hocherfreut, einen berühmten Freund zu haben, und die Rosengrens waren von Wallace überaus angetan. Er schien sie offensichtlich auch zu mögen. Später am Abend, tief in seinen Brandy versunken, das Licht gedämpft, sodass die Enden ihrer Zigaretten wirkten wie sich langsam durch das Wohnzimmer bewegende Glühwürmchen, sagte Wallace: »Du hast dich ja ganz ordentlich geschlagen, Maddie.«

Ganz ordentlich? Ganz ordentlich?

»Stell dir mal vor«, fuhr er fort, »du wärst bei diesem Kerl hängengeblieben. Durst, so hieß er. Er ist Anzeigentexter. Ein Werbefritze.«

Sie sagte, sie hätte Allan Durst seit der Highschool nicht mehr gesehen, was der Wahrheit entsprach. Dann ergänzte sie, sie wisse aus dem Ehemaligenblatt der Park School von seinem Job, was nicht stimmte.

»Ich wusste gar nichts von einer großen Highschool-Liebe«, meinte Milton.

Gegen elf hatten sie sie alle schwankend und darauf bestehend, dass es eine Wiederholung geben müsse, auf den Heimweg geschickt. Die Drinks und die Aufregung hauten Milton schlagartig um und er stolperte ins Bett. Normalerweise hätte Maddie das Saubermachen ihrer Freitagshilfe überlassen. Es war kein Verbrechen, schmutziges Geschirr im Becken stehen zu lassen, sofern man es abgespült hatte. Tattie Morgenstern hätte allerdings noch nicht einmal eine Gabel in ihrem Spülbecken liegenlassen.

Doch Maddie beschloss, aufzubleiben und Ordnung zu schaffen.

Im Jahr zuvor war die Küche umgebaut worden. Maddie war so stolz auf ihre neue Küche gewesen, als sie fertig war, so glücklich mit ihren neuen Geräten, doch die Freude war schnell verflogen. Jetzt erschien der Umbau töricht, regelrecht sinnlos. Was bedeutete es schon, die neuesten Geräte zu haben, all diese schicken Einbauten? Man sparte überhaupt keine Zeit, obwohl der Umbau der Schränke den Gebrauch zweier Essgeschirre einfacher machte.

Wally hatte sich überrascht gezeigt, als er während des Salats feststellte, dass die Familie Schwartz einen koscheren Haushalt führte, was ein Zugeständnis an Miltons Elternhaus war. Zwei Sets Geschirr, kein Vermengen von Fleisch und Milch, Vermeidung von Schweinefleisch und Schalentieren – es war nicht allzu schwer, und es machte Milton glücklich. Sie verdiente seine Hingabe, sagte sie sich, während sie die Kristallgläser einschäumte und abspülte, das gute Porzellan von Hand abtrocknete.

Als sie sich umdrehte, um die Küche zu verlassen, erwischte sie mit der Spitze ihres Ellenbogens ein Weinglas, das auf dem Abtropfgestell stand. Es stürzte zu Boden, wo es zersprang.

Wir müssen ein Glas zerbrechen.

Egal. Ich vergesse immer, was für eine Heidin du bist.

Das zerbrochene Glas bedeutete, dass sie fünf weitere Minuten mit Besen und Kehrblech zubringen musste, um jeden Splitter zu finden. Als sie fertig war, war es fast zwei Uhr, doch Maddie hatte Schwierigkeiten, einzuschlafen. Ihr schwirrte der Kopf, im Geiste ging sie Listen von unerledigten oder übersehenen Dingen durch. Doch nichts davon war Teil der Gegenwart. Die Dinge, die sie nicht getan hatte, lagen zwanzig Jahre zurück, damals, als sie Wally kennengelernt hatte – und ihre erste Liebe, denjenigen, von dem ihre Mutter nie etwas ahnte. Sie hatte sich geschworen, sie würde – ja, was eigentlich? Ein kreativer und origineller Mensch werden, jemand, der sich nicht im Geringsten um die öffentliche Meinung scherte. Sie – sie beide – würden nach New York City gehen und im Greenwich Village leben. Er hatte es versprochen. Er würde sie aus dem trübseligen Baltimore herausholen, und sie würden ein leidenschaftliches Leben führen, das der Kunst und dem Abenteuer gewidmet wäre.

All diese Jahre hatte sie ihn aus ihren Gedanken verbannt. Nun war er zurück, Elias, der kommt, um seinen Pessach-Wein zu trinken.

Maddie schlief ein, während sie einen imaginären Kalender durchblätterte und herauszufinden versuchte, welcher Zeitpunkt der beste wäre, um ihre Ehe hinter sich zu lassen. Nächsten Monat hatte sie Geburtstag. Dezember? Nein, nicht während der Feiertage, so unwichtig Chanukka auch war. Februar erschien zu spät, Januar ein Klischee, ein Nachäffen der guten Vorsätze fürs neue Jahr. Der 30. November ist es, entschied sie. Am 30. November würde sie gehen, zwanzig Tage nach ihrem siebenunddreißigsten Geburtstag.

Wir müssen ein Glas zerbrechen.

Worüber redest du da?

Egal.

Ich umfasse das Lenkrad meines neuen Cadillac und führe den ganzen Weg von Maddies bis zu meinem Haus Selbstgespräche, so kurz er auch ist, eine scharfe Kurve die Greenspring runter, vorbei an der Park School – unsere Alma Mater, obwohl die Uni zu unserer Zeit noch woanders war –, dann links abbiegen und den Hügel hinauf nach Mount Washington. Ich rede mit mir wie ein Trainer, nicht, dass ich je für irgendein Team gespielt hätte. Habe es noch nicht mal bis zum Wasserträger geschafft. Konzentrier dich, Wally, konzentrier dich.

In meinem Kopf bin ich immer Wally. Jeder sieht zu Wallace Wright auf, ich eingeschlossen. Ich würde es nicht wagen, mit ihm genauso zu reden wie mit Wally.

Ich habe panische Angst, die Mittellinie zu überqueren und ein anderes Auto anzufahren, oder Schlimmeres. Verkehrsunfall – WOLD-Anchorman Wallace Wright in der Nähe seines Hauses in Northwest Baltimore wegen fahrlässiger Tötung verhaftet.

»Der Journalist darf nie als Schlagzeile enden, Wally«, ermahne ich mich. »Fokussiere dich.«

Von der Polizei angehalten zu werden wäre allerdings fast genauso schlimm. WOLD-Anchorman wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet. Nur deshalb eine Nachricht, weil ein Nachrichtenmann drin vorkommt. Wer fährt denn nicht von Zeit zu Zeit mal ein bisschen beschwipst? Doch ein Cop könnte mich auch weiterwinken, vielleicht sogar um ein Autogramm bitten.

Wo hat Maddie so zu trinken gelernt? Vermutlich ist es wie

Mount Washington ist um Mitternacht so dunkel, so leise. Warum ist mir das noch nie aufgefallen? Das einzige Geräusch ist das Knirschen des Herbstlaubs unter meinen Reifen. Als ich endlich die South Road hochkrieche, erscheint es mir vernünftiger, am Bordstein zu parken, als zu versuchen, die Einfahrt hochzufahren, geschweige denn in die Garage.

Warum bin ich so lange geblieben? Es lag bestimmt nicht an der glänzenden Unterhaltung. Du bekommst nicht jeden Tag die Chance, deiner ersten großen Liebe zu zeigen, welchen Fehler sie begangen hat.

Selbst wenn man mich heute Morgen gefragt hätte – und die Leute fragen mich viele Sachen, Sie würden staunen, was für ein Orakel ich bin –, hätte ich aufrichtig geantwortet, dass ich nie an Maddie Morgenstern gedacht habe.

Doch in dem Moment, als ich sie auf ihrer Türschwelle stehen sah, wurde mir klar, dass sie immer bei mir gewesen war, mein Einpersonenpublikum. Von Montag bis Freitag, wenn ich zwischen zwölf und halb eins in den Mittagsnachrichten vor der Kamera stand, war sie dort. Mittwochabends, wenn ich »Wright sorgt für Ihr Recht« drehte. Wann immer ich das Glück hatte, für Harvey Patterson einzuspringen, dessen Job ich eines Tages übernehmen werde. Irgendwie hatte Maddie den Trick raus, ein siebzehnjähriges Mädchen zu sein und gleichzeitig eine Vorstadtmutti, die nach getaner morgendlicher Hausarbeit bei einer Tasse Kaffee daheim sitzt, Kanal 6 schaut und denkt: Hätte ich meine Karten richtig ausgespielt, könnte ich heute Mrs. Wright sein.

Ich hatte beim Radio gearbeitet, wo man mich wegen meiner Stimme schätzte, aber nicht für telegen hielt. Der Donadio-Auftritt bedeutete 25 Dollar mehr pro Woche. Einzige Bedingung war, dass ich nie jemandem davon erzählen durfte, und ich habe mehr als glücklich eingewilligt.

Eines Samstags, als ich mich gerade abschminkte, kam die Nachricht eines Polizistenmordes herein. Ich war der einzige verfügbare Journalist. Irgendwie war ich während der vierzehn Monate der Donadio-Maskerade ein Stück gewachsen, mein Haar war weicher und mein Teint seltsamerweise glatter. Vielleicht hatte ich mein Gesicht besser gereinigt, nachdem ich angefangen hatte, regelmäßig Make-up zu tragen. Jedenfalls passten mein Gesicht und mein Körper nun endlich zu meinem dröhnenden Bariton. Ich fuhr zum Tatort, ich trug die Fakten zusammen, ein Star ward geboren. Nicht Maddie, nicht dieser Poz, mit dem sie auf der Highschool gegangen ist, und auch nicht ihr tadelloser Anwaltsehemann. Ich, Wally Weiss. Ich bin der Star.

Kennengelernt haben wir uns ausgerechnet in der Amateurfunk-AG unserer Schule. Wir stellten schnell fest, dass wir beide Edward R. Murrow verehrten, dessen Kriegsberichterstattung aus London einen tiefen Eindruck bei uns hinterlassen hatte. Ich hatte vorher noch nie ein Mädchen getroffen, das sich über Murrow und Journalismus unterhalten mochte, und schon gar kein hübsches. Es war wie dieses erste große Kunstwerk, das einen in Bann schlägt, dieser eine Roman, der einen für den Rest des Lebens begleitet, selbst, wenn man später viel bessere liest. Ich konnte mich kaum zurückhalten, sie mit offenem Mund anzustarren.

Maddies Erscheinen in der Funk-AG stellte sich als ein einmaliges Ereignis heraus; sie hatte gedacht, es sei eine -AG, also für Leute mit Interesse am Schreiben und an Hörspielen, kein Raum voller Schluffis, die gern herumtüftelten. Sie wechselte zur Schülerzeitung, zog sich schnell eine Kolumne an Land und schloss sich einer sehr zügellosen, nichtjüdischen Clique an, zu der auch Allan Durst gehörte. Ganz offensichtlich konnte Maddie Morgenstern es nicht ernst mit ihm meinen, aber ihre Eltern waren schlau genug, nicht gegen eine Highschool-Liebelei einzuschreiten. Ich habe gehört, dass sie Allans Eltern sogar am Schabbes zu sich eingeladen haben. Die Mutter war eine bekannte Malerin riesiger abstrakter Bilder, die in Museen hingen, der Vater ein fähiger Porträtmaler, der sich auf Baltimore-Witwen spezialisiert hatte.

Kurz vor dem Abschlussball machte Allan mit Maddie Schluss. Ich entdeckte sie zufällig in einem leeren Klassenraum, weinend. Sie vertraute sich mir an, was eine Ehre für mich war. Ich schlug vor, dass sie mit mir zum Ball ging.

»Was könnte ihn mehr treffen?«, sagte ich und klopfte ihr mit einer streichenden Bewegung auf den Rücken, fast wie einem Baby, dem man beim Aufstoßen hilft. Meine Hand berührte etwas, das sich wie der Verschluss eines BHs anfühlte, meine bis dahin erotischste Erfahrung.

Sie stimmte meinem Plan mit fast schmerzlichem Eifer zu.

Fürs Handgelenk kaufte ich ihr ein Anstecksträußchen mit der teuersten Orchidee, die man in Baltimore auftreiben konnte. Und sie spielte mit, ignorierte Allan, der allein gekommen war, und lachte über meine Witze, als wäre ich Jack Benny. Irgendwann sprach Allan sie dann an und bat um einen Tanz, »der alten Zeiten wegen«. Maddie legte ihren Kopf schief, als versuchte sie sich zu erinnern, welche alten Zeiten genau sie miteinander geteilt hätten, und meinte dann: »Nein, nein, ich freue mich, den Abend mit meinem Rendezvous zu verbringen.«

Ich wirbelte mit ihr davon und fühlte mich vom Scheitel bis

Als ich sie nach dem Tanzabend im Buick meines Vaters nach Hause fuhr, rutschte sie über den Sitz zu mir und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Sie vertraute mir an, dass sie schreiben wolle, wirklich schreiben, Gedichte und Romane, was fast aufregender war als ihr sehr realer Kuss vor der Haustür. Wieder im Wagen, entdeckte ich, dass die Blume von ihrer Schleife abgefallen war. Vielleicht duftete sie nur nach ganz gewöhnlicher Orchidee, aber für mich war es Maddies unverwechselbarer Duft, so einzigartig wie ihre für einen Teenager sehr dezente und rauchige Stimme. Maddie quiekte nie, so eine war sie nicht. Sie war würdevoll, majestätisch, das Mädchen, das bei der Purim-Aufführung immer die Königin Esther spielte.

Drei Tage später, in der Annahme, dies sei die angemessene Frist, rief ich sie an, um zu fragen, ob ich sie ins Kino ausführen dürfte, zu einem echten Rendezvous. Ich wollte weder zu eifrig klingen noch zu distanziert. Sehr Astaire.

Ihr Ton war verdutzt, aber höflich. »Das ist süß von dir, Wally, dass du dir meinetwegen Sorgen machst«, sagte sie. »Aber mir geht’s gut.«

Innerhalb eines Jahres war sie mit Milton Schwartz verlobt, groß, behaart und älter, er zweiundzwanzig, sie achtzehn. Er hatte das erste Jahr seines Jurastudiums bereits hinter sich. Ich war bei ihrer Hochzeit. Es war, als sähe man zu, wie Alice Faye mit King Kong davonläuft.

Über zwanzig Jahre hatte ich nicht mehr an Milton Schwartz gedacht, bis ich ihn in der Umkleidekabine der Tennishalle wiedertraf, aufgrund der räumlichen Nähe zum Television Hill der einzige geeignete Ort, an dem ich vor der Arbeit Sport treiben konnte.

Bettina und ich sind inzwischen seit zwei Jahren getrennt, und obwohl ich mit Frauen ausgehe, ist es mit keiner was Ernstes. Ich entschied, allein hinzugehen, wie Allan auf den Abschlussball. Milton wusste, dass ich dieselbe Highschool besucht hatte wie Mrs. Schwartz, sagte jedoch, seine Frau hätte mich nie erwähnt. Dass Maddie nicht mit unserer Bekanntschaft prahlte, versetzte mir jedoch keinen Dämpfer, ich betrachtete es eher als Kompliment. Wenn sie ihrem Mann gegenüber nicht erwähnt hatte, dass sie den »Mittagsnebel« von Baltimore kannte, dann bestimmt, weil sie in manchen Momenten darüber fantasierte, was hätte sein können. Am Küchentisch, bei ihrem Kaffee, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, ließ sie die Erinnerung an den Abschlussball und meinen Anruf drei Tage später noch einmal aufleben und ohrfeigte sich, dass sie nicht ja gesagt hatte. Ihr dunkles Haar vermutlich vorzeitig ergraut, ihre schlanke Figur mit Wespentaille inzwischen pummelig und plump. Wie sich herausstellen sollte, entsprach nichts davon der Wahrheit, aber so hatte ich sie mir vorgestellt.

Es überraschte mich herauszufinden, dass sie einen koscheren Haushalt führten. Ich habe mich nie bewusst vom Judentum distanziert, aber ein Fernsehstar wie ich muss zu seinem Publikum eine Verbindung aufbauen, und meine Zuschauer sind hauptsächlich Christen. Das ist der Preis dafür, ein Orakel zu sein. Andererseits gibt es orthodox und orthodox, und die Weigerung der Schwartzens, Fleisch und Milchprodukte zu mischen, war das einzige Zugeständnis ihres Haushalts an den Judaismus, den ich erkennen konnte. Ich war etwas

Aber wir haben nicht viel über das Judentum geredet. Wir haben über Politik diskutiert, wobei sich die Schwartzens und ihre Gäste meiner Meinung anschlossen, wie es Leute für gewöhnlich tun. Wir haben über Spiro Agnews neuesten Schnitzer gelacht, die Rede in Gettysburg, bei der er ganz offenkundig durcheinandergebracht hatte, wer auf dem Schlachtfeld den Sieg davongetragen hatte. Als wir bei den Drinks nach dem Essen angekommen waren, war die Atmosphäre herzlich und vertraut. Ich dachte, ich könnte das Thema gefahrlos auf den Abschlussball lenken – und Maddies anschließende Weigerung, erneut mit mir auszugehen.

Und sie hat es bestritten. Sie hat darauf beharrt, dass ich sie nie angerufen hätte. Ja, stimmte sie zu, wir seien zusammen auf den Ball gegangen, aber sie bestand darauf, ich hätte sie nie mehr angerufen, obwohl ich genau weiß, dass dem so war.

»Denn natürlich wäre ich dann mit dir ausgegangen!«, sagte sie als Argument dafür, dass sie recht hätte. Aber sie musste noch einen draufsetzen: »Und wenn auch nur aus reiner Höflichkeit.«

Dennoch war ihre hitzige Reaktion bei diesem Thema unangemessen. Es gab keinen Grund, sich deswegen so zu echauffieren.

Als ich wieder sicher vor meiner eigenen Tür stehe, lasse ich den Schlüssel zwei-, dreimal fallen, bevor ich in mein Haus stolpere, immer noch verdutzt über Maddies Feindseligkeit. Hat sie gemerkt, dass ich sie durchschaut hatte? Ich mochte derjenige mit dem Gojim-Namen sein, doch im Herzen war ich stets ein jüdischer Junge, während die Schwartzens mit

Mein Haus ist so still – und so staubig –, seit Bettina ausgezogen ist. Ich nahm an, sie würde darum kämpfen, es zu behalten. Während unserer sechs gemeinsamen Jahre war dieses Haus ihre Hauptbeschäftigung. Doch am Ende wollte Bettina nichts mehr damit zu tun haben. Oder mit mir. Wir haben keine Kinder. Ich weiß nach wie vor nicht, wie ich das finde. Ein Kind wäre begeistert gewesen, Donadio als Vater zu haben.

Obwohl ich erschöpft und stockbesoffen bin, gehe ich in das »Arbeitszimmer«, das Bettina im ersten, hoffnungsvollen Jahr unserer Ehe für mich eingerichtet hat. Nur Leder und Mahagoni, mit Drucken englischer Pferderennen, die mir peinlich sind, obwohl die Nähe zu Pimlico solche Allüren rechtfertigen. Bettina hat die Bücher nach Optik einsortiert, was mich in den Wahnsinn treibt, aber schließlich finde ich das Gesuchte: Meine alte, zerlesene Ausgabe von Arc de Triomphe, mit den anderen Taschenbüchern in eines der obersten Regale verbannt. Nachdem ich es das erste Mal gelesen hatte, wollte ich schreiben, wollte anderen Menschen die Gefühle vermitteln, die Romane mir vermittelten. Stattdessen teile ich ihnen die Schlagzeilen und das Wetter mit und hebe gelegentlich wegen eines Stars eine Augenbraue.

Und da ist sie, zwischen den Seiten 242 und 243, braun und vertrocknet, Maddies Orchidee.

Natürlich beweist die Existenz der Blume überhaupt nichts: Wir hatten verabredet, gemeinsam zum Abschlussball zu gehen. Und doch ist es der rauchende Colt, der unumstößliche Beweis – doch, von was? Dass alles so passiert ist, wie ich erzählt habe. Warum hat sie es bestritten? Meine Geschichte ist ein Beweis ihrer Macht, der Herrlichkeit ihrer Jugend.

Aber letztendlich ist es gut, dass aus der Sache nicht mehr geworden ist. Mit fünfunddreißig bin ich noch jung, mein

Erst, als der Juwelier die Lupe ans Auge hob, wurde Maddie bewusst, dass sie das Geld für den Verkauf ihres Verlobungsrings mental schon ausgegeben hatte. Was würde er ihr dafür geben? Tausend? Vielleicht sogar zweitausend?

Sie brauchte so viel. Die neue Wohnung hatte zwei Zimmer und war spärlich eingerichtet. Sie hatte angenommen, Seth würde bei ihr wohnen. Doch er weigerte sich und sagte, er würde lieber bei seinem Vater in Pikesville bleiben, in der Nähe seiner Freunde und der Schule. Selbst, nachdem sie ihm angeboten hatte, ihn zur Schule zu fahren, weigerte er sich umzuziehen. Miltons Einfluss, vermutete Maddie. Sie tröstete sich mit dem Wissen, dass Seth sowieso in zwei Jahren zu Hause ausziehen würde.

Aber hätte sie geahnt, dass Seth Widerstand leisten würde, hätte sie sich eine Einzimmerwohnung in einer besseren Gegend genommen. Und dann hätte sie auch ein Telefon gehabt, obwohl es kein großes Drama war, kein Telefon zu besitzen. Es bedeutete, dass ihre Mutter nicht jeden Tag anrufen konnte, um über Maddies Zukunft zu diskutieren und das, was Tattie Morgenstern stets ihre eingeschränkten Verhältnisse nannte.

Jetzt, da du in eingeschränkten Verhältnissen lebst, Madeline, willst du vielleicht Rabattmarken sammeln. Ich habe gesehen, dass die Hochschilds gute Sachen im Ausverkauf anbieten – du wirst dich an Ausverkäufe und Rabattmarken gewöhnen müssen, jetzt, bei deinen eingeschränkten Verhältnissen. Angesichts deiner eingeschränkten Verhältnisse ist es vielleicht sinnvoll, kein eigenes Auto zu besitzen.

Erst als sie mit dem Umzug begann, stellte sie fest, dass, so charmant die Wohnung auch war, die Nachbarschaft eindeutig gemischt war. Gemischt auf dem Weg zu weniger gemischt. Maddie hatte keine Vorurteile, natürlich nicht. Wenn sie jünger und kinderlos gewesen wäre, wäre sie vor ein paar Jahren in den Süden gezogen, um sich dem Wähler-Registrierungsprojekt anzuschließen. Dessen war sie sich fast sicher. Doch es gefiel ihr nicht, in ihrer neuen Nachbarschaft so sichtbar zu sein, eine einzelne Weiße, die zufällig einen Pelzmantel besaß. Nur Biber, aber dennoch. Sie trug ihn gerade. Vielleicht würde der Juwelier mehr zahlen, wenn sie wie jemand wirkte, der das Geld nicht brauchte.

Als Milton ihre neue Adresse erfuhr, sagte er, Seth könne sie überhaupt nicht besuchen, nicht über Nacht. Er sagte, sie könne die Wochenenden mit Seth in ihrem alten Zuhause verbringen, wenn sie wolle, Milton würde das Feld räumen, damit Mutter und Sohn zusammen sein könnten. Eine freundliche, eine großzügige Geste, aber Maddie fragte sich, ob Milton bereits eine Neue hatte. Diese Vorstellung ärgerte sie, doch sie tröstete sich damit, dass eine neue Frau an seiner Seite vermutlich die Einzige war, die Milton davon überzeugen könnte, in die Scheidung einzuwilligen.

»Den haben Sie nicht hier gekauft?« Der Juwelier ließ es wie eine Frage klingen, doch diese Information hatte sie bereits gegeben.

»Nein, er ist aus einem Geschäft in der Innenstadt. Steiners. Ich glaube, die sind dort nicht mehr.«