Cover

Johann Hinrich Claussen
Ulrich Lilie

Für sich sein

Ein Atlas der Einsamkeiten

C.H.Beck


Zum Buch

Jeder scheint die Einsamkeit zu kennen, und doch ist sie wie ein unerforschter Kontinent. Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie vermessen in ihrem kurzweiligen Atlas Zufluchtsorte, an denen man endlich «für sich» ist, die Weiten der «Loneliness», die man melancholisch durchwandert, das Reich der Solitüde, in das sich Mönche, Wissenschaftler und Künstler zurückziehen, und die eisigen Regionen der Isolation, in denen man zu erfrieren droht. Sie erklären, was die Forschung über Einsamkeit sagt, und weisen Wege der Befreiung. Ein hilfreicher Führer für alle, die den Kontinent der Einsamkeit näher erkunden und sicher wieder verlassen wollen.

Über die Autoren

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Gottes Häuser» (2. Aufl. 2012), «Gottes Klänge» (2. Aufl. 2015) sowie zuletzt «Die seltsamsten Orte der Religionen» (2020).

Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie in Deutschland und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung. Zuletzt erschien von ihm «Unerhört. Vom Verlieren und Finden des Zusammenhalts» (2018).

Inhalt

Einleitung

1. Koordinaten der Einsamkeit

Das dreifache Selbst

Einsamkeit und Krankheit

Mehr oder weniger oder gleich viel?

Chronischer Stress und Schmerz

Isolation durch Schmerz

Begabungen für das Alleinsein und das Zusammensein

Das Hormon der Nähe

Nicht-Orte

Schritte aus der Einsamkeitsfalle

Der schnelle Selbsttest

SÜDEN2. Das Reich der Solitude

In der Wüste: Antonius

Die einsamste Insel: Skellig Michael

Mystische Abgeschiedenheit: Meister Eckhart

In der Waldeinsamkeit: Genoveva und die deutsche Romantik

In der Studierstube: Isaac Newton

SÜDWESTEN3. Zufluchtsorte des Für-sich-Seins

Die Sprache der Stille: Haikus

Raus aufs Land: Petrarca

Ins Spiel versunken: Solitaire

Am Meer: Caspar David Friedrich

WESTEN4. Die Weiten der Loneliness

In der Höhle: Robert Voorhis

Auf Wanderschaft: Frederick William Robertson

In einem Lied verloren: Fado

Zu Hause: Emily Dickinson

Im Urwald: Horacio Quiroga

NORDEN5. Die Inseln der Isolation

Allein in der Menge: Der ägyptische Hiob

In der Grube: Jeremia

Im Versteck: Homosexuelle Menschen

Mutterseelenallein: Aharon Appelfeld

In der Erinnerungseinsamkeit: Wolfskinder in Ostpreußen

Auf der Flucht: Vier Etappen

Im Zimmer: Die japanischen Hikikomori

Unsichtbar werden: Greta Garbo und Marlene Dietrich

Ins Grab: Einsame Bestattungen

NORDOSTEN6. Ankerplätze im Mahlstrom

Gedichte: Erich Kästner und Mascha Kaléko

Tagebuch schreiben: London im Zweiten Weltkrieg

Bücher lesen: Kauffmann, Waite, Moltke

Hundefreundschaften: Gabriele Bärtels

Netzwerke: Ein Gespräch mit Franz Müntefering

Begleitung: Die Ausgeschlossenheit der Obdachlosen

OSTEN7. Wege und Orte der Befreiung

Zu Besuch: Die frühen Christen und die moderne Gefängnisseelsorge

Die Sprache entdecken: Helen Keller

Zuhören: Die Geschichte der Telefonseelsorge

Philosophie: Der Trost des Boethius

Weihnachten feiern: Charles Dickens und Ebenezer Scrooge

In der Sackgasse: Das britische Einsamkeitsministerium

Offene Türen: Adolf von Harnacks Aufgeschlossenheit

Literaturhinweise

Allgemeines

1. Koordinaten der Einsamkeit

2. Das Reich der Solitude

In der Wüste: Antonius

Mystische Abgeschiedenheit: Meister Eckhart

In der Studierstube: Isaac Newton

3. Zufluchtsorte des Für-sich-Seins

Die Sprache der Stille: Haikus

Raus aufs Land: Petrarca

Ins Spiel versunken: Solitaire

Am Meer: Caspar David Friedrich

4. Die Weiten der Loneliness

In der Höhle: Robert Voorhis

Auf Wanderschaft: Frederick William Robertson

In einem Lied verloren: Fado

Zu Hause: Emily Dickinson

Im Urwald: Horacio Quiroga

5. Die Inseln der Isolation

Allein in der Menge: Der ägyptische Hiob

Im Versteck: Homosexuelle Menschen

Mutterseelenallein: Aharon Appelfeld

In der Erinnerungseinsamkeit: Wolfskinder in Ostpreußen

Auf der Flucht: Vier Etappen

Im Zimmer: Die japanischen Hikikomori

Unsichtbar werden: Greta Garbo und Marlene Dietrich

6. Ankerplätze im Mahlstrom

Gedichte: Erich Kästner und Mascha Kaléko

Tagebuch schreiben: London im Zweiten Weltkrieg

Bücher lesen: Kauffmann, Waite und Moltke

Hundefreundschaften: Gabriele Bärtels

Begleitung: Die Ausgeschlossenheit der Obdachlosen

7. Wege und Orte der Befreiung

Zu Besuch: Die frühen Christen und die moderne Gefängnisseelsorge

Die Sprache entdecken: Helen Keller

Zuhören: Die Geschichte der Telefonseelsorge

Philosophie: Der Trost des Boethius

Weihnachten feiern: Charles Dickens und Ebenezer Scrooge

In der Sackgasse: Das britische Einsamkeitsministerium

Offene Türen: Adolf von Harnacks Aufgeschlossenheit

Angebote für Einsame

Silbernetz

Schreibenstattschweigen

Gemeinsam statt einsam

TelefonSeelsorge

Malteserruf

«… stieg er auf einen Berg,
um für sich zu sein …»

Matthäusevangelium 14,23

Einleitung

Es ist an der Zeit, dass mehr und anders über Einsamkeit gesprochen wird als bisher. Auch dies hat die Corona-Pandemie gezeigt, die vielen Menschen ganz neu die Erfahrung des Isoliertseins aufgezwungen hat. Einsamkeit ist kein Privatproblem weniger vermeintlich schwieriger oder bemitleidenswerter Personen, sondern hat sich zu einem Massenleiden entwickelt, das jeden betrifft und das den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Daher wird über Einsamkeit zunehmend wie über eine Krankheit gesprochen, die man heilen kann, oder wie über ein sozialtechnisches Problem, für das es doch eine Lösung geben muss. Es ist eine gefährliche Mode, dass sie zunehmend als «neue Epidemie» oder gar als «Lepra des 21. Jahrhunderts» bezeichnet wird. Dadurch werden die von Einsamkeit betroffenen Menschen krankgeschrieben und sprachlich ausgegrenzt. Das vorliegende Buch will dazu beitragen, angemessen über die vielen verschiedenen Formen von Einsamkeit zu sprechen.

Denn Einsamkeit hat die unterschiedlichsten Gesichter: Da ist das gehänselte Kind, der unpopuläre Teenager, die Studentin im ersten Semester in der fremden Stadt, der Migrant ohne Deutschkenntnisse, die alleinerziehende Mutter, der Dauerpendler, der Künstler ohne Erfolg, die überarbeitete Leistungsträgerin, der Ehemann, der seine Frau pflegt, die Hochbetagte im Heim, die keinen Besuch bekommt, und ungezählte Einzelne mehr. Einsamkeit ist eine sehr persönliche Erfahrung, hinter ihr steht eine individuelle Lebensgeschichte, und doch gibt es allgemeine Faktoren, die sie auslösen können: Krankheit, Behinderung, Sucht, schlechte Verkehrsanbindung und Infrastruktur, vor allem Armut, aber auch ganz normale, wenngleich heikle Lebenswenden wie der Abschied von der Schule, der Eintritt in Ausbildung und Studium, ein neuer Job in einer anderen Stadt, später der Verlust des Arbeitsplatzes oder des Ehepartners.

Einsamkeit kann jeden treffen. Deshalb wäre es so wichtig zu wissen, wie sie entsteht, wie sie sich anfühlt und auswirkt, was aus ihr herausführen kann – aber auch, wie sie sich gestalten und manchmal sogar genießen lässt. Es muss nicht nur ein Unglück sein, allein zu sein. In lauten Zeiten, im Gedränge wird Abgeschiedenheit oft als Befreiung erlebt: Endlich bin ich nur für mich! Darum soll hier gleichermaßen von Einsamkeit, Alleinsein und Für-sich-Sein die Rede sein. «Einsam» will niemand sein, wer aber nie «allein» gewesen ist, hat Wesentliches versäumt. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen besteht darin, ob das Für-sich-Sein selbstgewählt ist, von einem selbst gestaltet und dann auch beendet werden kann. Im schlimmsten Fall kann aus einem Für-sich-Sein als einer glücklichen Unterbrechung eine lange Isolation werden, aus der man keinen Ausweg mehr findet und die als chronischer Schmerz und Stress empfunden wird. Von einer eher technisch und medikamentös orientierten Medizin wird noch zu wenig wahrgenommen, dass in der Einsamkeit eine der großen Gesundheitsgefahren der Gegenwart liegt.

Einsamkeit ist schambesetzt. Ihr haftet, viel stärker als etwa einer Krebserkrankung, der Geruch des persönlichen Scheiterns, einer eigenen Schuld, Unverträglichkeit und Unwürdigkeit an. Man kann über sie kaum heroische Geschichten des Leidens, des Kämpfens und Überwindens erzählen. Wer von ihr betroffen ist, versucht, sie zu verheimlichen. Dabei wäre ein ehrliches und öffnendes Gespräch über diese Lebenswirklichkeit so vieler Menschen die Voraussetzung dafür, dass man sinnvoll mit ihr umgehen und mit anderen Wege aus ihr heraus finden kann. Dies ist das Anliegen dieses Buches: Es will ein freies Nachdenken und eine anregende Unterhaltung über die vielfältigen Gestalten der Einsamkeit eröffnen. Es wendet sich nicht an eine bestimmte Zielgruppe, sondern an neugierige Leserinnen und Leser, die mehr über dieses Menschheitsthema erfahren und vielleicht ihre eigenen Erfahrungen des Alleinseins darin spiegeln möchten.

Dazu bietet dieses Buch Entdeckungsreisen in die Welt der Einsamkeit an. Es möchte Unbekanntes und Überraschendes vorstellen, beispielhafte Geschichten erzählen, in denen man sich wiedererkennen kann, aber nicht muss, die einen dazu bringen, über das eigene Leben und das der anderen nachzudenken. In diesem Sinn werden hier Orte – reale und symbolische, historische und gegenwärtige – besichtigt: Orte der Angst, der Sehnsucht, des Schmerzes, der Heilung, des Glücks. Entstehen soll so ein Atlas der Einsamkeiten, der Orte und Länder vermisst, aber auch weiße Flecken auf der Landkarte verzeichnet und Kontinente erschließen hilft, die bisher kaum erkundet sind.

Die Gliederung dieses Atlasses orientiert sich an der englischen Sprache, die für «Einsamkeit» drei Wörter kennt: das schreckliche isolation, das bittersüße loneliness und das geradezu vornehme solitude. Das Buch beginnt mit dem Reich der Solitude, das wir im Süden lokalisieren. Wir begegnen hier Menschen, die sich dauerhaft zurückgezogen haben, um ihr Glück oder Seelenheil zu finden. In der Neuzeit wurden solche dauerhaften Rückzüge zunehmend von zeitweisen abgelöst: Man will eine Zeit lang «für sich sein», spielt mit der Fiktion der Solitude, um dann zu seinen Geschäften zurückzukehren. Das Reich des Für-sich-Seins liegt im Südwesten. Weiter im Westen finden wir die Weiten der Loneliness, in denen Menschen die Süße des Alleinseins auskosten, aber auch ihren Schmerz aushalten. Wer sich in diese Regionen begibt, läuft Gefahr, den kalten Inseln der Isolation im Norden zu nahe zu kommen. Man kann in den Sog der Einsamkeit geraten. Im Nordosten liegen Ankerplätze, die einen noch halten. Im Osten finden sich schließlich die Orte und Wege der Befreiung aus Einsamkeit. Dieser fiktiven Topographie haben wir ein Kapitel über die «Koordinaten der Einsamkeit» vorangestellt, in dem es vor allem darum geht, was die Einsamkeitsforscher aus Medizin, Psychologie und Soziologie heute zu dem Thema beitragen.

Neben der topographischen Verortung der unterschiedlichen Einsamkeiten spielt die historische Dimension eine wichtige Rolle, denn es erscheint unvermeidlich zu sein, im Gespräch über Einsamkeit «früher» und «heute» miteinander zu vergleichen. Oft wird dabei die Vergangenheit verklärt und die Gegenwart entwertet: Früher, so wird oft unterstellt, hätten die Menschen in festen Bindungen miteinander gelebt, heute habe sich die Einsamkeit wie ein unkontrolliertes Virus pandemieartig verbreitet. Solche Behauptungen trüben den Blick auf das, was heute der Fall ist, und lähmen die Phantasie für das, was jetzt heilsam wäre. Zudem gibt es überhaupt keine überzeugenden Argumente oder ausreichenden Daten dafür. Auch für eine explosionsartig gestiegene Alterseinsamkeit – sieht man von den akuten Folgen der Corona-Maßnahmen einmal ab – finden sich kaum stichhaltige Belege. Was sich allerdings stark verändert hat, ist die Dauer des Alters und damit die Länge einer möglichen Alterseinsamkeit. Auch gibt es in der späten, mobilen Moderne mehr Gelegenheiten, zumindest eine Zeitlang einsam zu werden. Nicht zuletzt scheint die negative Bewertung der Einsamkeit in der Öffentlichkeit zugenommen zu haben.

Gegen eine solch einseitige Be- oder gar Verurteilung der Einsamkeit hilft ein Blick auf ihr Wortfeld. Es ist weiter, als manche denken, wie diese unvollständige Liste zeigt: Allein, einsam, selbstgenügsam, zurückgezogen, ausgeschlossen, abgeschnitten, abgeschrieben, isoliert, abgeschieden, ungebunden, losgelöst, frei.

Das heutige Verständnis von «einsam» verdankt sich Martin Luthers Bibelübersetzung. Im Mittelalter bedeutete «einsam» das Gleiche wie das lateinische unus, also «eins sein». Es bezeichnete eine göttliche Eigenschaft: eins, mit sich identisch, vollkommen sein. In der mittelalterlichen Mystik wurde daraus die Hoffnung der Mönche und Nonnen, in der «Abgeschiedenheit» selbst «einsam/unus» zu werden und mit dem Einssein Gottes zu verschmelzen: «Einsamkeit» war hier ein anderes Wort für «Erlösung».

Luther dagegen verwendete «einsam» als deutsche Übersetzung von solus und gab dem Wort damit eine ganz andere Bedeutung. Es war für ihn ein Inbegriff menschlicher Existenz, des tiefen Unglücks, aber auch der Hoffnung auf Gottes Hilfe. In der Luther-Bibel kommt das Wort «einsam» nur wenige Male vor, dann aber sehr eindrucksvoll. So in diesem Gebetsvers (Psalm 102,7 f.):

Ich bin gleich wie ein Rhordomel in der wüsten,

ich bin gleich wie ein Kützlin in den verstöreten Stedten.

Ich wache,

Und bin

wie ein einsamer Vogel auff dem dache.

Die Rohrdommel, ein nachtaktiver Vogel, dessen dunkler Ruf in der Finsternis noch Søren Kierkegaard als die «heimliche Stimme der Einsamkeit» galt, oder das Käuzchen, das in einer kriegszerstörten, menschenleeren Stadt seine Klageseufzer anstimmt, oder der Vogel auf einem Dach, der kein Nest hat – dies sind Bilder für eine existentielle Erfahrung, aus der religiöse Menschen zu Gott rufen: «Wende dich zu mir und sey mir gnädig, denn ich bin einsam und elend.» (Psalm 25,16)

1. Koordinaten der Einsamkeit

Allmählich ist mir das
Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen:
Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen.

Friedrich Nietzsche

Das dreifache Selbst

John T. Cacioppo ist so etwas wie der Vater der modernen Einsamkeitsforschung und hat mit seinem Koautor William H. Patrick 2008 seine Forschungsergebnisse in dem Buch Loneliness – Human Nature and the Need for Social Connection veröffentlicht. 2011 ist es unter dem Titel Einsamkeit. Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie man ihr entkommt auf Deutsch erschienen. Cacioppo und Patrick unterscheiden darin, angelehnt an die Psychologinnen Wendi Gardner und Marilynn Brewer, drei Dimensionen des «Selbst». Diese formen und bestimmen die jeweilige Prägung und Qualität von Einsamkeit oder Gemeinschaftlichkeit und beeinflussen sich wechselseitig.

Da ist erstens das «persönliche, intime Selbst»: das aus ganz individuellen Merkmalen zusammengesetzte, unverwechselbare «Ich», das noch ganz ohne Bezug zu anderen ist. Diesen «Kern» der Persönlichkeit bilden zum Beispiel individuelle Begabungen oder Vorlieben.

Da ist zweitens das «soziale, relationale Selbst», gestaltet durch alles, was ein Mensch in Beziehung zu ihm nahestehenden Personen ist: zu Eltern und Geschwistern, zum Ehepartner oder zur Lebensgefährtin, zu Kindern, Freunden, Nachbarinnen. Man bedenke, was man ohne solche Beziehungen alles nicht täte, erlebte – ja nicht wäre. Nur als Vater geht man zum Elternabend in der Schule. Nur als beste Freundin ist man zu einem Fest eingeladen. Nur im Verein ist man Sportsfreund. Verliert man eine dieser nahen Personen oder engen Beziehungen – etwa durch Umzug, Streit oder Tod –, dann stirbt buchstäblich auch ein Teil des eigenen «sozialen Selbst».

Drittens gibt es noch das «kollektive Selbst». Es steht für die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer «weiter gefassten sozialen Identität», wie einer bestimmten Ethnie, Nationalität, Kultur, Glaubensgemeinschaft oder Berufsgruppe. Auch diese Dimension des Selbst existiert nur durch das Verhältnis zu anderen Personen. Sie prägt das eigene Empfinden und Verhalten auf eine so grundlegende Weise, dass man dies selbst im Alltag kaum wahrnimmt. Man erlebt es bei bestimmten Gemeinschaftsereignissen – etwa dicht gedrängt in der Südkurve des Fußballstadions, wenn man mit Zehntausenden wie aus einem Mund dem Lieblingsverein zujubelt – oder bei einer Reise ins Ausland, bei der einem auffällt, wie anders man selbst ist.

Diesen drei Dimensionen des Selbst entsprechen drei Kategorien der Bindung: die intime, die relationale und die kollektive Einbindung. Dieses zunächst abstrakt wirkende Modell macht verständlich, warum eine einschneidende biografische Veränderung – wie der Umzug in eine fremde Stadt, der Übergang von der Schule zur Berufsausbildung oder später vom Beruf in den Ruhestand, das Ausziehen der Kinder aus dem Elternhaus oder der Verlust eines Partners durch Trennung oder Tod – Vereinsamung auslösen und Ursache einer existentiellen Krise sein kann. In jedem dieser Fälle verändert sich das eigene Selbst. Man verliert nicht nur die Beziehung zu anderen, sondern wird selbst ein anderer – zumindest was die zweite und dritte Dimension des Selbst angeht. Darin kann übrigens auch die Chance liegen, endlich frei zu sein, die eigene Persönlichkeit neu und anders zu entfalten. Cacioppo und Patrick formulieren es so: «Wenn solche Ereignisse Ihnen eines der drei Beine des Stuhls – das intime, das relationale oder das kollektive – wegschlagen, auf dem Sie sitzen, dann stürzt das sichere und tröstende Gefühl der Stabilität in sich zusammen. Und selbst jemand, der sich immer sehr eingebunden gefühlt hat, kann sich plötzlich einsam fühlen.» Manchmal steht man dann aber auch auf und macht sich auf den Weg, eine neue Richtung für das eigene Leben zu suchen und anderen Einbindungen entgegenzugehen.

Einsamkeit und Krankheit

Bereits im Jahr 1948 hat die World Health Organization (WHO) erkannt, dass Gesundheit «mehr ist als die bloße Abwesenheit von Krankheit», und Gesundheit als Zustand eines «vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens» definiert. Mit anderen Menschen in guter Verbindung zu stehen, ist also auch ein Gesundheitsfaktor. Allein im Fitnessstudio oder vor dem Laptop zu trainieren, wird auf Dauer nur begrenzt das Wohlbefinden steigern. Stets isoliert Sport treibende Menschen leben im Sinne des umfassenden Verständnisses der WHO streng genommen ungesund. Sie sind zwar körperlich fit, aber sie bleiben allein. Fühlen sich Menschen nun über einen längeren Zeitraum schlecht, weil sie keine guten sozialen Beziehungen besitzen, kann dies massive Auswirkungen auch auf ihr körperliches Wohlbefinden und irgendwann auf ihre körperliche Gesundheit haben. Die amerikanische Epidemiologin Lisa Berkman von der Harvard University konnte in einer 1979 – gut dreißig Jahre nach der bahnbrechenden Neudefinition von Gesundheit durch die WHO – vorgelegten Studie statistisch nachweisen, dass Menschen «mit wenigen Bindungen mit zwei- bis dreimal höherer Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten neun Jahre sterben als solche mit vielen Kontakten». Isoliert lebende Menschen tragen ein beweisbar höheres Risiko, an Herzinfarkt, Durchblutungsstörungen des Gehirns und Störungen des Blutkreislaufs, Krebs oder Magen-Darm-Erkrankungen zu sterben.

Menschen sind eben Gemeinschaftswesen. Nicolas A. Christakis und James H. Fowler, zwei Harvard-Kollegen von Lisa Berkman, haben in zahlreichen Untersuchungen die Bedeutung sozialer Einbindungen untersucht. In ihrem 2009 erschienenen Buch «Connected» haben sie verblüffende Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Gefühlen und Verhaltensmustern Einzelner und ihren sozialen Netzwerken nachgewiesen. Um einsame Menschen zu verstehen, müssen ihre Beziehungen genauer betrachtet werden. Christakis und Fowler zeigten, «dass unsere sozialen Beziehungen tatsächlich Auswirkungen darauf haben, ob wir uns einsam fühlen oder nicht». So fühlen sich Menschen mit einem größeren Freundeskreis weniger einsam. Das klingt trivial, aber interessant dabei ist, dass sich das Gefühl der Einsamkeit in viel stärkerem Maße «auf Freunde als auf Verwandte bezieht». Die Anzahl der Familienmitglieder – anders als die Anzahl der Freunde – beeinflusst das subjektive Gefühl der Einsamkeit deutlich weniger. Einsamkeit hat also eher mit Wahl- als mit Blutsverwandtschaften, vor allem mehr mit der Qualität als mit der Quantität der Beziehungen zu tun.

John T. Cacioppo und William H. Patrick veranschaulichen diese Zusammenhänge eindrucksvoll am Beispiel eines «Manns im Abseits», den sie Mr. Diamantides nennen. Er hatte auf sie zunächst «wie das Musterbeispiel für die Kraft positiven Denkens und eine bestimmte Art von sozialem Können» gewirkt. Mr. Diamantides war Grieche, er hatte keine Kinder, aber eben eine große Familie – «jede Menge Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen: ‹Die Familie mag dich so, wie du bist. Das ist eine großartige Unterstützung.›» Im Gespräch betonte der familiär so gut vernetzte griechische Geschäftsmann überzeugend, dass er allein und trotzdem glücklich lebe. Die Forscher waren versucht, ihm zu glauben. Nach eingehender Untersuchung ergab sich allerdings ein ganz anderes Bild. Seine schlechten physiologischen Parameter wie Schlafqualität, Blutdruck und morgendlicher Stresshormonspiegel bestätigten, was schon das Ergebnis seiner Verortung auf der Einsamkeitsskala der University of California war: Mr. Diamantides hatte einen der höchsten Einsamkeitswerte, der den Forschern «je bei einem Studienteilnehmer untergekommen war». Eine große Familie allein schützt also nicht vor Einsamkeit.

Christakis und Fowler erklären diesen Befund unter anderem damit, dass «sich Angehörige größerer Familien nur einem kleinen Kern wirklich nahe fühlen, was den Einfluss weiterer Beziehungen schwächt». Gleichzeitig ist Mr. Diamantides ein Beispiel dafür, wie Menschen die schmerzhafte Erfahrung ihres Isoliertseins vor anderen und besonders vor sich selbst verbergen und durch eine heitere Fassade erträglicher zu machen versuchen – aus Scham. Ein solcher «Missbrauch der Kognitionskraft» – schlicht gesagt: Selbstbetrug – verschärft jedoch ihre schwierige Lage häufig erheblich. Die Scham darüber, einsam zu sein, wird zu einem fatalen Motiv dafür, die Einsamkeit zu vertiefen und zu verfestigen.

Entscheidend für das Lebensgefühl ist also die Qualität der sozialen Einbindung und nicht die Quantität der Beziehungen. Das haben auch die Analysten von Facebook schnell erkannt. Mark Zuckerberg hat 2017 für die Weiterentwicklung des Mission-Statements des amerikanischen Internetriesen, der monatlich zwei Billionen Nutzer erreicht, eine neue Ausrichtung seines Unternehmens gefordert: «Wir haben eine Verantwortung, mehr zu tun, um nicht nur die Welt zu verbinden, sondern um die Welt näher zusammenzuführen.» Denn ob allein die Anzahl der Freundinnen und Freunde auf Facebook oder Instagram der eigenen Einsamkeit entgegenwirken kann, scheint im Licht der Forschungen von Cacioppo und Patrick, Christakis und Fowler fraglich. Hier wartet eine große Aufgabe besonders für gemeinwohlorientierte Organisationen, wie Sportvereine, Schulen, Glaubensgemeinschaften oder Kultureinrichtungen und Einrichtungen der freien Wohlfahrt, die reale, verbindliche und belastbare Beziehungen dort stiften und fördern, wo Menschen tatsächlich wohnen und ihr alltägliches Leben gestalten.

Mehr oder weniger oder gleich viel?

Wer Einsamkeit in einer Gesellschaft messen möchte, steht vor gravierenden methodischen Problemen. Selbstverständlich kann man Menschen befragen, ob sie sich einsam fühlen, und versuchen, dies nach einem Mehr und Weniger zu sortieren. Da aber Einsamkeit etwas höchst Subjektives ist, lässt es sich kaum nach objektiven Kriterien beurteilen, beziffern und vergleichen. Zudem stellen sich viele Abgrenzungsfragen. Ab wann ist ein Mensch wirklich einsam und bis wann nur allein? Welche Formen von Einsamkeit gehören zu einem normalen Lebensweg, und wann ist ein Übermaß erreicht? Das wird jeder Mensch unterschiedlich beantworten – je nachdem, wie er persönlich veranlagt ist und in welcher Kultur und Epoche er lebt. Hier wird das geschichtswissenschaftliche Problem sichtbar: Es gibt keine überzeugende Methode, die Einsamkeiten von heute mit denen von früher zu vergleichen. Es mag spontan einleuchten, dass in der spätmodernen Gegenwart Menschen einsamer sind als in vergangenen Zeiten, in denen sie stärker eingebunden waren. Aber empirisch belegen lässt sich diese Einschätzung nicht.

Der bekannteste Einsamkeitstest ist die «UCLA Loneliness Scale» (vgl. Seite 46 f.). Aber auch er wirft methodische Fragen auf. Entwickelt wurde er nämlich nur für eine bestimmte Zielgruppe: US-amerikanische Studentinnen und Studenten. Zudem sind viele Fragen auffällig unbestimmt. So eignet sich dieser Test nur für eine erste Selbsteinschätzung und grobe Skalierung. Ob er wissenschaftliche, verallgemeinerbare Aussagen über die Einsamkeit breiter Bevölkerungsgruppen oder gar der Gesellschaft im Ganzen erlaubt, muss man bezweifeln.

«Einsam, aber resilient. – Die Menschen haben den Lockdown besser verkraftet als vermutet.» So lautete der Titel einer nach dem ersten Corona-Lockdown erschienenen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Sie hatte danach gefragt, ob die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus die Deutschen signifikant einsamer gemacht hätten. Dieser Veröffentlichung liegen Daten einer Langzeitbefragung zugrunde, die das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) gesammelt und ausgewertet hat. Seit 1984 befragt das SOEP jedes Jahr Haushalte zu ihrer familiären und beruflichen Situation und Lebenszufriedenheit. Ziel dieser ersten Corona-Einsamkeitsstudie war «die Beschreibung der psychischen Gesundheit im April 2020». Als weitere Basis der Studie dienten zwei telefonisch durchgeführte Befragungen von 3615 Personen. Die Befragten wurden gebeten, drei Fragen zu ihrer Einsamkeit auf einer fünfstufigen Skala (nie = 0, sehr oft = 4) zu beantworten. Die Fragen lauteten:

  1. Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Gesellschaft anderer fehlt?

  2. Wie oft haben Sie das Gefühl, außen vor zu sein?

  3. Wie oft haben Sie das Gefühl, sozial isoliert zu sein?

Auch hier hängt viel von der subjektiven Einschätzung ab, aber da die gesammelten Antworten mit den Ergebnissen der Langzeitbefragung ins Verhältnis gesetzt werden konnten, besitzen sie eine gewisse Aussagekraft. Das Ergebnis der Studie insgesamt ist wenig überraschend:

Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens sowie die Kontaktbeschränkungen, die im April 2020 galten, haben der Umfrage zufolge zu einem auffälligen Anstieg der subjektiven Einsamkeit der Menschen in Deutschland geführt. Während die in Deutschland lebenden Menschen im Jahr 2017 im Mittel relativ wenig einsam waren, zeigt sich während der Corona-Krise ein deutlicher Anstieg der Einsamkeit – was in etwa bedeutet, dass eine Person, die im April 2020 durchschnittlich einsam ist, vor Corona im Jahr 2017 zu den 15 Prozent der einsamsten Menschen in Deutschland gezählt hätte.

Besonders betroffen sind übrigens Frauen und junge Menschen. Allerdings stellte die Studie auch die These auf, dass «Lebenszufriedenheit, emotionales Wohlbefinden und Depressions- und Angstsymptome» zumindest während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 weitgehend unverändert geblieben sind.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass Einsamkeit in epochalen Ausnahmesituationen – einer Pandemie, einer Weltwirtschaftskrise oder einem Krieg – steigen. Doch dass sie auch im Laufe einer «normalen» Modernisierung der Gesellschaft zunimmt, wie manche Alarmisten behaupten, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Selbstverständlich führt die Veränderung von Lebensumständen – mehr Mobilität, andere Wohnformen, kürzere Paarbeziehungen, demographischer Wandel – dazu, dass Menschen ihr Leben anders führen und empfinden, dass sie häufiger dem Risiko ausgesetzt sind, in Einsamkeit zu geraten. Aber dass sie sich tatsächlich in einem dramatischen Ausmaß einsamer fühlen als Menschen früher, lässt sich daraus nicht folgern, denn es ist nicht nur ein quantitatives «Weniger» an Beziehungen, das einem das Gefühl gibt, isoliert zu sein, sondern auch die mangelnde Qualität bestehender Beziehungen: eine unglückliche Ehe, eine zerstrittene Familie, eine unfreundliche Nachbarschaft, ein dysfunktionales Team von Kolleginnen und Kollegen. Gleiches gilt für «Groß-Beziehungen»: Als Mitglied einer Nation, einer Religionsgemeinschaft oder sozialen Schicht kann man sehr einsam sein, wenn man sich abgehängt fühlt oder keine Möglichkeiten der Beteiligung sieht. Entsprechend kommt der Soziologe Janosch Schobin zu diesem Ergebnis:

Auf Basis von länder- und zeitvergleichenden Daten ist kein Trend zur Zunahme von Vereinsamung weder in Deutschland noch in Europa, noch in einem globalen Vergleich zu verzeichnen. Eher ist das Gegenteil der Fall: Je weiter die Gleichstellung der Frauen voranschreitet, umso weniger ist von einer Zunahme der Einsamkeit auszugehen.

Es gibt allerdings eine bedeutsame Verbindung zwischen Einsamkeit und Vertrauen, die die gemessenen Unterschiede in Europa und in angrenzenden Ländern erklären könnte. Länder mit stärkeren «Vertrauenskulturen» – mit einem verlässlichen Rechtssystem, sozialer Sicherheit und demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten – weisen deutlich niedrigere Einsamkeitswerte auf als Länder mit ausgesprochener Misstrauenskultur. So sind die Einsamkeitswerte in skandinavischen Ländern vergleichsweise niedrig, in Ländern wie der Türkei oder Russland aber relativ hoch. Auch das ist also ein Argument mehr für eine offene Gesellschaft, wie der norwegische Philosoph Lars Svendsen erklärt: «Im Hinblick auf Vertrauen und zwischenmenschliche Beziehungen gibt es nachweisbare Unterschiede zwischen Demokratien und totalitären oder autoritären Gesellschaften.» Einsamkeit ist – das wusste schon der ägyptische Hiob zweitausend Jahre vor Christus (vgl. Seite 131) – ein anderes Wort für Misstrauen und darum auch eine politische Angelegenheit.

Chronischer Stress und Schmerz

Die Psychiatrische Ambulanz der Fliedner-Stiftung liegt an einem der bekanntesten und schönsten Plätze Berlins. Der Blick aus dem Zimmer des Chefarztes, Psychiaters und Stressforschers Mazda Adli fällt geradewegs auf den Gendarmenmarkt, wo jeden Tag Tausende sehr unterschiedliche Menschen aus aller Welt ihre Wege kreuzen: Geschäftsreisende, Politikerinnen, Touristen und Flaneure. «Generell ist Anonymität ja nichts Negatives. Sie ist für viele ein Grund, in die Großstadt zu ziehen. Aber sie birgt auch ein größeres Einsamkeitsrisiko. Und Einsamkeit erzeugt sozialen Stress, der krank machen kann», sagt Adli. Der Gründer des Interdisziplinären Forums für Neurourbanistik macht zuallererst den sozialen Stress, den ein sich über lange Zeit hinziehendes oder dauerhaftes ungewolltes Alleinsein auslöst, für schwerwiegende gesundheitliche Folgen der Einsamkeit verantwortlich. Ungewollte soziale Isolation verursacht das Auftreten und beeinflusst in negativer Weise den Verlauf chronischer körperlicher Erkrankungen wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen. Darüber hinaus kann sie psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depression auslösen oder verstärken, wie zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen.

John T. Cacioppo und William H. Patrick haben gezeigt, dass der Mensch evolutionär und genetisch bedingt ein durch und durch soziales Wesen ist. Im Laufe seiner Entwicklung hat er «ein soziales Gehirn» ausgebildet, denn er war von Beginn an auf Kooperation und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft angewiesen. Nur in einer Gruppe konnte der Frühmensch unter widrigen Bedingungen überleben oder Gefahren, wie zum Beispiel Raubtieren, trotzen. Diese Ur-Erfahrung hat zu einer genetischen Disposition der menschlichen Spezies geführt und bestimmt ihr Verhalten bis heute: «Wie wohlhabend und technisch fortgeschritten unsere Gesellschaften auch sein mögen, unterhalb der Oberfläche sind wir immer noch dieselben verwundbaren Wesen, die sich schon vor 6000 Jahren aus Angst vor einem Gewitter zusammenkauerten.» Darum verursacht unfreiwillige soziale Isolation bis heute und auch beim modernen Menschen sozialen, körperlichen und seelischen Stress und Schmerz. Dieser lässt sich mithilfe funktionaler Magnetresonanztomografie als Aktivität in der gleichen Hirnregion nachweisen, die «auch emotionale Reaktionen auf körperlichen Schmerz registriert». Diese unmittelbaren Reaktionen auf unfreiwillige soziale Isolierung haben entwicklungsgeschichtlich einen eindeutigen Sinn: Sie bewirken bis heute, dass Menschen solch eine Isolierung möglichst schnell überwinden wollen.

Anhaltende Einsamkeit erzeugt Stress, der im ungünstigen Fall zu einem psychischen und physischen «Verschleißprozess» führen kann. Nach Cacioppo und Patrick kann er in mehrfacher Weise unser Verhalten negativ beeinflussen und unsere Gesundheit nachhaltig schädigen: So neigen Menschen, die das Gefühl haben, dass andere sie nicht wertschätzen, mit größerer Wahrscheinlichkeit zu ungesunden Verhaltensweisen und geben weniger gut auf sich acht. Sie ernähren sich eher fett- und kalorienreich, rauchen und trinken tendenziell mehr. Das mit Einsamkeit einhergehende disfunktionale Selbstschutzverhalten besonders von Älteren führt nachweislich zu mehr Streit in der Ehe oder mit Nachbarn. Vereinsamte empfinden Konflikte zudem als schwerwiegender und bedrohlicher als nichteinsame Menschen. Es fällt ihnen schwerer, hilfreiche Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Manche von ihnen kapitulieren schneller, vermeiden oder erdulden Konflikte. Andere dagegen suchen im Übermaß Streit: Konflikt als Ersatzkontakt.

Das Zusammenspiel solcher Faktoren wirkt oft wie ein Teufelskreis, aus dem Betroffene sich dann selbst kaum mehr befreien können. Einmal so gefangen, leiden Menschen unter erheblichem Stress. Zugleich sind sie immer weniger in der Lage, mit diesem Stress angemessen umzugehen oder ihm etwas entgegenzusetzen, das aus dem Teufelskreis hinausführen könnte. Eine «eindeutig belegbare Folge sozialer Entfremdung und Isolation» ist ein Mangel an Ruhe und Entspannung sowie eine deutlich schlechtere Schlafqualität. Dauerhaft schlechter Schlaf wiederum ist ein nachgewiesener Risikofaktor für viele physische und psychische Erkrankungen. Viele vereinsamende Menschen verfangen sich regelrecht in diesem Spinnennetz der Wechselwirkungen fataler Faktoren. Es gelingt ihnen nicht mehr, ihre durchaus vorhandenen sozialen Fähigkeiten und inneren Bewältigungskräfte angemessen einzusetzen.

Ein dauerhaftes Gefühl von Einsamkeit wirkt sich schließlich auch auf die Qualität von bestehenden Freundschaften aus: Dauerhaft einsame Menschen «verlieren über einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren rund acht Prozent ihrer Freunde… Einsame Menschen schließen nachweisbar weniger neue Freundschaften und nennen auch weniger Menschen ihre Freunde.» Einsamkeit ist also «sowohl eine Folge der Beziehungslosigkeit als auch deren Ursache».

Christakis und Fowler konnten bei ihrer Forschung zu Netzwerken auch einen Ansteckungseffekt von Einsamkeit nachweisen, der eng mit der räumlichen Nähe zu anderen einsamen Menschen zusammenhängt: «Wenn ein in der Nähe wohnender Freund sich an zehn zusätzlichen Tagen einsam fühlt, dann steigt die Zahl unserer einsamen Tage um etwa drei, und wenn diese Person ein guter Freund ist, können es sogar vier Tage sein.» Auch Nachbarn stecken sich gegenseitig mit dem Einsamkeitsgefühl an: «Fühlt sich der Nachbar an zehn zusätzlichen Tagen im Jahr einsam, kommen auf der anderen Seite des Zauns zwei Tage hinzu.» Eine verblüffende, aber für Präventionskonzepte hochinteressante Entdeckung. Aber wie fühlt sich Einsamkeit eigentlich an?