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Christian Mörken

Oh, wie schön ist Caracas

Ich heirate eine südamerikanische Familie

© 2008 R. Brockhaus Verlag
im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten
Umschlag: krausswerbeagentur.de
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-417-26241-4 (Print)

ISBN 978-3-417-21015-6 (E-Book)
Best.-Nr. 226.241

Inhalt



1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Epilog

Danksagung

Agradecimiento

1. Kapitel



Kennen Sie diese Momente, in denen Sie zu einer längst durchgelesenen Zeitschrift greifen? In denen Sie durch die Seiten blättern, nur um festzustellen, dass Sie alles, was Sie interessieren könnte, schon gelesen haben? Trotzdem suchen Sie weiter nach Lesbarem. Meistens geht es mir so, wenn ich stundenlang im Wartezimmer eines Arztes hocke, auf irgendeinem Flughafen festhänge oder in einem hoffnungslos verspäteten Zug sitze. In solchen Momenten entwickele ich dann auf einmal Interessen für die seltsamsten Dinge. Zum Beispiel für Artikel über quantenphysikalische Forschungseinrichtungen in Kasachstan. Natürlich im Wissenschaftsteil. Liest überhaupt jemand den Wissenschaftsteil in Magazinen? Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen Leserbrief zum Wissenschaftsteil gelesen zu haben.

Wissenschaftsredakteure haben es schwer. Ich bin der festen Überzeugung, dass es wesentlich dankbarer ist, Lokalredakteur einer Kleinstadtpostille zu sein und über die Eröffnung einer Schlachterei oder das Sommerfest der freiwilligen Feuerwehr zu schreiben, als Wissenschaftsredakteur eines großen Magazins zu sein. Wissenschaftsberichte sind meist Artikel, die mit der Spannungskurve eines Testbildes daherkommen.

Aber es gibt ja die erwähnten Momente der Verzweiflung, in denen man eben diese Artikel liest. Und in diesem Moment erahne ich instinktiv, dass mich eine solche Verzweiflung in Kürze ereilen könnte. Also klemme ich mir die durchgelesene Zeitschrift unter den Arm und warte im Gang des Flugzeugs, das mich gerade Tausende Kilometer über den Atlantik gebracht hat. Gemeinsam mit Hunderten anderer Passagiere warte ich auf den Moment, in dem sich die Tür öffnet und ich aus dieser stickigen, feuchtwarmen Röhre entlassen werde.

Dann ist es so weit. Langsam schiebt sich die Passagiermasse wie eine Schnecke durch den schmalen Gang in Richtung Tür. Als auch ich dort ankomme, nickt mir die Flugbegleiterin freundlich zu, und ich betrete erstmals – wie 508 Jahre vor mir Christopher Kolumbus – den amerikanischen Kontinent. Was für ein erhebendes Gefühl! Na gut, Kolumbus und seine Mannen landeten an schneeweißen Stränden, ließen das glasklare Wasser der Karibik ihre Beine umspülen und blickten auf Palmen voller Kokosnüsse, während meine Füße auf dem abgetretenen braunen Veloursteppich eines stickigen Gates landen, an dessen Decke eine Neonröhre flackert. Ich befinde mich in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Genauer gesagt an deren Flughafen Maiquetía.

Venezuela empfängt mich mit einem Schlag ins Gesicht. Einem Hitzeschlag. Kaum setze ich meinen Fuß aus der Flugzeugtür, ändert sich die Temperatur von stickigen 22 Grad auf unerträgliche 38 Grad mit gefühlten 100 Prozent Luftfeuchtigkeit. Richtig, das würde bedeuten, dass ich schwimmen müsste, und so komme ich mir auch vor. Denn von einem Moment auf den anderen klebt meine Kleidung wie eine zweite Haut an mir und Schweißtropfen laufen unablässig über mein käsiges Gesicht. Mühselig hechelnd ziehe ich meinen kleinen Koffer durch den dunkelbraunen Gang, an dessen Wänden Werbeplakate aus einer Zeit hängen, als Prilblumen und Plateausohlen noch Avantgarde waren. Auf einem Poster strahlt mich eine sonnengebräunte junge Schönheit an und heißt mich in Venezuela willkommen. Was für eine nette Geste. Nach dem Alter des Plakates zu urteilen, sitzt diese junge Schönheit mittlerweile umgeben von ihren Enkelkindern im Schaukelstuhl und lässt allabendlich ihre »Dritten« in das Glas auf dem Nachttisch sinken. Dabei ist der Flughafen von Caracas im eigentlichen Sinne nicht alt. Anfang der Achtzigerjahre wurde er eingeweiht. Aber herabhängende Kabel, offene Decken und ein welliger Fußboden – all das steht symbolisch für einen Niedergang, der in Venezuela seit den Siebzigerjahren unablässig vorangeschritten ist. Der Flughafen ist hierbei wie das Einfallstor zum stetigen Verfall. Als wäre es seine Aufgabe, dem Besucher gleich bei der Ankunft deutlich zu machen: Sie befinden sich in einem armen Land der sogenannten »Dritten Welt«! Nichts ist wirklich fertiggestellt worden; was kaputtgegangen ist, bleibt kaputt. Man improvisiert, bessert notdürftig aus und wurstelt sich so durch. Bei den Computern, die ich sehe, frage ich mich zweifelnd, ob man auf denen wohl schon Pacman spielen kann. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Bild, auf dem ein dicker Mann mit rundem Gesicht und einem verschmitzten Lächeln zu sehen ist. Ich gehe hinüber, um es mir genauer anzusehen. Der Mann trägt einen dunklen Anzug und hat die Fahne Venezuelas als Schärpe um die Schulter gehängt. Unter dem Bild steht: »Hugo Chávez Frias, Presidente de la Republica Bolivariana de Venezuela«. Der Präsident, denke ich. Irgendwie ist er mir auf Anhieb unsympathisch.



Ich stehe in der Schlange zur Passkontrolle und warte. Mit mir warten noch circa sechshundert andere Passagiere. Von den fünfzehn Schaltern sind zwei geöffnet. An einem telefoniert die Schalterbeamtin gerade lautstark auf ihrem Handy, während direkt vor dem Schalter eine alte Dame steht, die sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Das interessiert die emsig telefonierende »Schnatterbeamtin« aber nicht. Ihr krächzendes Lachen hallt durch den ganzen Empfangsbereich, während das arme Mütterchen vor ihrem Schalterhäuschen Zentimeter um Zentimeter in die Knie geht. Dass sie nicht schon längst unter den Schalter gefallen ist, kommt einem Wunder gleich. An meinem Schalter sitzt ein Mann, der sich, wollte er eine Kontaktanzeige aufgeben, wohl als »untersetzt« bezeichnen würde – obwohl ich nicht weiß, ob Venezolaner bei Kontaktanzeigen bezüglich ihrer körperlichen Nachteile ähnlich stark untertreiben wie wir Deutschen. Würde er aber in Deutschland eine Kontaktanzeige aufgeben, würde er sich als »untersetzt« bezeichnen. Eigentlich ist er überaus dick. Ja sogar so dick, dass ich mich ernsthaft frage, wie er es geschafft hat, in das kleine Schalterhäuschen zu kommen. Und wie soll er wieder herauskommen? Sein Doppelkinn reicht ihm bis zur Brust und unter seiner flachen Nase prangt ein klobiger Schnauzbart. Mit tellergroßen Händen greift er nach dem dargereichten Pass und beugt sich dann über das Schriftstück, wobei es den Anschein erweckt, als verfiele er in tiefe Meditation. Denn die eingehende Prüfung der Unterlagen durch diesen offensichtlichen Fachmann dauert bei jedem Passagier gut und gerne vier bis fünf Minuten. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich mich vielleicht gleich wieder an den Ausreiseschalter stellen sollte, denn wenn das hier in dem Tempo weitergeht, ist mein Urlaub vorbei, bevor ich an der Reihe bin. Etwas in mir beschließt zu bleiben und den Einreiseprozess aufmerksam zu verfolgen. Mehrfach werden die Seiten im Reisepass durch den Schalterbeamten hin und her geblättert, wird jeder Stempel genau betrachtet und das Foto mit dem tatsächlichen Aussehen des Passinhabers verglichen, bevor er mit lustvollem Schwung den Einreisestempel in den Pass knallt und ein beiläufiges Durchwinken dem Ankömmling signalisiert, dass Venezuela ihm nun offensteht.

Endlich bestehe auch ich die Formalitäten und eile zügig zum Gepäckband, um meine Koffer abzuholen. Das Gepäckband steht still. Kein Koffer weit und breit. Na gut, das wäre jetzt auch zu einfach gewesen. Ich kämpfe mich also durch die wartende Menge direkt an das Band – und warte. Und warte. Und warte. Nach einer Zeitspanne, die sich anfühlt, als hätte ich gerade zweimal hintereinander »Vom Winde verweht« und »Doktor Schiwago« gesehen, beginnt das Gepäckband endlich sich zu bewegen. Es tauchen die ersten Koffer auf. Mein Koffer ist dunkelblau. Alle anderen auch. So fährt mein Koffer erst zweimal um das ganze Band herum, bis ich ihn endlich als meinen erkenne.

Nun muss ich mich wirklich beeilen, denn ich möchte noch einen Anschlussflug nach Maracaibo bekommen, der zweitgrößten Stadt Venezuelas und dem eigentlichen Ziel meiner Reise. Also eile ich mit meinem Gepäck dem Ausgang entgegen, bis sich plötzlich alles staut. Die Passagiere vor mir kramen die kleinen Bordkartenschnipsel aus ihren Taschen, die man für das Einsteigen in das Flugzeug benötigt. Diese müssen beim Verlassen des Passagierbereichs einem Sicherheitsbeamten vorgezeigt werden, um zu beweisen, dass die mitgeführten Koffer auch die eigenen sind. Mein Gott, denke ich, wo habe ich bloß diesen Schnipsel hingesteckt? Ich krame in meinen Taschen, kann ihn aber nicht finden. Da fällt es mir endlich ein: Er steckt sicher in der Sitztasche im Flugzeug. Na super! Was mache ich nun? Nichts an meinem Koffer verrät, dass es mein Gepäckstück ist. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten und mir den Kopf zu zermartern, was ich dem Sicherheitsbeamten erzählen könnte, um zu beweisen, dass dies mein Koffer ist.

Hinter mir steht eine Großfamilie mit fünf Kindern, die – wie ich vermute – aus Venezuela stammt und ihren Urlaub in Europa verbracht hat. Der Vater, der in seinen sieben Koffern anscheinend den gesamten Hausrat mitführt, bemüht sich angestrengt, alle Koffer und den riesigen Karton, der aussieht, als enthalte er einen Fernseher, auf dem Gepäcktrolley zu halten. Als ich endlich an der Reihe bin, lächle ich freundlich und setze an dem Beamten auf Englisch zu erklären, warum es mir bedauerlicherweise unmöglich sei, den Bordkartenschnipsel zu präsentieren, aber dass dies natürlich mein Koffer sei und ich ihn gerne öffnen könne, wenn dies denn notwendig sei – als das Wunder geschieht. Der Wachmann winkt mich durch. Ich muss nicht einmal so tun, als würde ich den Schnipsel aufgeregt suchen. Ich kann einfach passieren. Es fällt mir schwer, dieses Hochgefühl der Erleichterung gebührend zu beschreiben.

Ich habe es tatsächlich geschafft. Die erste Stufe der venezolanischen Bürokratie ist überwunden. Der Familienvater mit Frau und Kindern ist von der offensichtlichen Mitmenschlichkeit des Wachmanns ähnlich angetan und will gerade mit Schwung an dem Mann vorbeigehen, als dieser ihn rüde anhält und umgehend signalisiert, dass er sich die ganzen Koffer und Taschen und den Karton nun aber einmal ganz genau ansehen werde. Als ich weitergehe, sehe ich aus dem Augenwinkel den verzweifelten Vater, wie er jeden Koffer vom Gepäcktrolley hebt, während seine Frau das nun schreiende Baby zu beruhigen versucht. Es ist das erste Mal, dass ich mit dieser Form von offensichtlicher Benachteiligung Einheimischer konfrontiert werde. Ich gelte als blond und weiß. Obwohl ich ungefähr so blond bin, wie Halle Berry schwarz ist, bin ich eben ein Weißer. Und ebensolche scheinen schon genetisch gar nicht in der Lage zu sein, die Koffer anderer Passagiere an sich zu nehmen. Sie sind quasi chronisch ehrlich und tugendhaft und müssen somit nicht kontrolliert werden. Dass es in der Regel weiße US-Amerikaner waren, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Venezuela kamen, um die riesigen Ölvorräte des Landes für die US-Ölmagnaten auszubeuten, ohne Venezuela auch nur halbwegs angemessen an den Profiten zu beteiligen, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.

Bevor ich nun aber zu sehr ins Nachdenken darüber komme und vielleicht sogar Gefallen an den mit meinem Aussehen verbundenen Vorteilen finde, werde ich umstellt. Unzählige Herren mit lokker sitzenden Hawaii- oder Seidenhemden, auf deren Brustbeinen schwere Goldketten liegen und die entweder auf Zahnstochern oder Zigarettenstumpen herumkauen, haben mich als Opfer auserkoren. Ich kenne diese Männer bereits. Sie stehen an fast allen Airports der Welt und besonders an denen von Entwicklungsländern.

»Need Taxi, Sir?«

»Senor, Taxi, cheap, cheap – name of hotel? Need hotel?«

Ich setze zur Flucht an. Das fällt mir allerdings mit meinem schweren Koffer und meiner sperrigen Tasche nicht besonders leicht, sodass mein Fluchtversuch eher dem unbeholfenen Stolpern eines frisch geborenen Giraffenjungen ähnelt. Angestrengt versuche ich, die immer größer anwachsende Gruppe von »hilfsbereiten« Taxifahrern loszuwerden. Nachdem ich etwas verwirrt durch die Empfangshalle getaumelt bin und die Taxifahrerhorde langsam das Interesse an diesem komischen Gringo zu verlieren scheint, habe ich endlich die Ausgangstür gefunden. Doch zu früh gefreut. Plötzlich taucht ein kleiner, schmächtiger Mann in Hawaiihemd mit seinem Gepäckwagen genau vor mir auf.

»Americano, Senior?«

»No, aléman«, antworte ich hechelnd, wobei ich schon meine gesamten Spanischkenntnisse bemühen muss, um diese Aussage zusammenzubekommen.

»Ah, aléman … Si, si, Senor, Mercedes, Beckenbauer«, entgegnet er mir mit breitem Grinsen, wobei seine Goldzähne aufblitzen.

Ja, genau aus dem Deutschland, denke ich, leicht amüsiert darüber, dass Franz Beckenbauer es selbst bis hierhin geschafft hat. Mein Gesichtsausdruck ist wohl für einen Moment so freundlich, dass mein ungebetener Helfer dies als Aufforderung auffasst, meine Koffer zu greifen und auf seinen Gepäckwagen zu hieven. Noch bevor ich ihn zurückhalten kann, setzt er an, zum Taxistand aufzubrechen.

»No Taxi, aeropuerto national!«, rufe ich meinem »Helfer« und meinen Koffern hinterher und ergänze: »Maracaibo.«

»Ah, Maracaibo«, wiederholt er und verzieht dann seine Miene. Ich weiß nicht so recht, was mir diese Geste sagen soll. Ich versuche, etwas aus seinem Ausdruck zu lesen, kann es aber nicht deuten. Er wendet sich zu einem Kollegen und ruft ihm irgendetwas zu, was ich nicht im Geringsten entschlüsseln kann. Dann blickt er wieder zu mir und sagt etwas auf Spanisch. Ich zucke mit den Schultern.

»My friend, you need aeropuerto national«, verstehe ich – oder meine ich zu verstehen.

»Si, aeropuerto national«, stimme ich zu.

»Okay, friend, I help. I good friend!« Jetzt lächelt er mich an, und ich weiß, dass das nichts Gutes zu bedeuten hat. Wenn man nämlich an internationalen Flughäfen – vornehmlich in Ländern, die man zu den Entwicklungsländern zählt – von wildfremden Menschen als »Freund« angesprochen wird, heißt das im Normalfall nichts anderes als: »Wenn wir hier fertig sind, erwarte ich von dir eine saftige Belohnung!«

»Okay, okay«, sage ich leicht genervt und mahne an, dass wir nun endlich losgehen sollten, denn mein Flug gehe in etwas mehr als einer Stunde. Mein neuer »Freund« greift seinen Gepäckwagen und marschiert los. Wir gehen ein paar Meter am Flughafengebäude entlang und treten dann auf einen sonnigen Platz hinaus. Rechts schlängeln sich auf Serpentinen die Taxis zu den Luxushotels an der Küste, und links steht ein weißer Fahnenmast, an dem eine gigantische venezolanische Flagge leicht im Wind spielt. Dann sehe ich es: das Meer. Ruhig liegt es da. Die Karibik. Urplötzlich erklingen in meinem Kopf Maracas, höre ich Salsa und denke an Palmen, die sich über schneeweiße Sandstrände beugen. Leuchtend weiß spiegelt sich das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche und nur vereinzelt kann ich kleine Boote ausmachen. Für einen Moment vergesse ich die gleißende Hitze, die bereits nach wenigen Metern dafür gesorgt hat, dass meine Jeans mir an den Beinen kleben, mein Hemd fast transparent ist und mir permanent Schweißtropfen in die Augen laufen. Auch wenn ich jetzt mein Gepäck nicht schleppen muss, hat mein Körper arge Umstellungsprobleme. Dann sehe ich wieder nach vorne und entdecke maximal hundert Meter vor mir ein Gebäude, auf dem mit großen Buchstaben steht: »Caracas National Airport«. Ich blicke mich um und stelle ebenso fest, dass wir gerade ungefähr fünfzig Meter hinter uns gebracht haben.

»Is that the national airport?«, frage ich meinen »Freund«. Er blickt mich erst erstaunt an, lächelt dann und antwortet: »Si, si, aeropuerto national.«

»That’s not very far«, erwidere ich, um vorsichtig meinen Unmut darüber anzudeuten, dass er mir vor nicht einmal drei Minuten gesagt hatte, der nationale Flughafen sei sehr weit weg. Doch er lächelt nur noch breiter und wiederholt: »No, not very far, my friend.«

Ich gebe auf.

Wir betreten den nationalen Flughafen, der im Grunde genauso aussieht wie der internationale auch, nur dass hier eben die Schilder der großen Fluglinien fehlen. Mein »Freund« sieht mich kurz an und fragt nach der Fluglinie, mit der ich nach Maracaibo möchte.

Ich hole meine Unterlagen hervor und sehe nach. »Aeropostal« steht auf meinem Ticket. »Luftpost«, denke ich amüsiert. Vielleicht ende ich ja zwischen ein paar Hühnern und Paketen in einem Frachtflugzeug? Hätte ich hier schon geahnt, womit ich wirklich fliegen sollte, ich hätte das Frachtflugzeug genommen.

Aeropostal befindet sich ganz am Ende der Halle. Wir schieben uns durch Hunderte von Menschen, die entweder auf ihren Abflug warten oder Verwandte abholen wollen. Ich stelle mich mit meinem Begleiter ans Ende einer Schlange vor den Aeropostal-Schaltern. Langsam werde ich nervös. Ich habe nicht mehr allzu viel Zeit und vor mir stehen noch mindestens zwanzig Fluggäste, die nicht den Anschein erwecken, als hätten sie es im Geringsten eilig. Sie scheinen sich gar nicht von dem Prozedere aus der Ruhe bringen zu lassen, das sich gerade vorne am Schalter abspielt: Ein Mann versucht mit seiner Kreditkarte zu bezahlen, aber das Lesegerät am Schalter erkennt die Karte nicht – das ist zumindest das, was ich denke. Immer wieder schiebt der Mann seine Karte dem Check-in-Angestellten zu, der sie ihm – inzwischen heftig gestikulierend – zurückschiebt.

Der Check-in-Mitarbeiter hat mittlerweile seinen Vorgesetzten geholt, um den sturen Passagier loszuwerden, der immer noch nicht bereit ist einzusehen, dass seine Kreditkarte nicht funktioniert. Zu dritt reden sie nun auf den Mann ein, wobei ich irgendwann nicht mehr erkennen kann, welche Arme eigentlich zu wem gehören, so wild fliegen sie durcheinander. Endlich, denke ich erleichtert, als sich die Schalterbeamten dazu entschließen, den Mann nun durch Einsatz von Muskelkraft vom Schalter wegzubewegen. Doch meine Freude verfliegt umgehend, als sich herausstellt, dass der nächste Herr in der Schlange gedenkt, seinen diesjährigen Jahresurlaub hier am Schalter zu planen. Nein, er habe noch keine Idee, wo er hinfliegen wolle, vielleicht könne ihn der Angestellte ja beraten?

Ich stehe kurz davor zu platzen. Hektisch sehe ich mich um, ob es nicht irgendwo eine kürzere Schlange gibt. Aber es scheint hoffnungslos. Soweit ich sehen kann, herrscht überall das gleiche Chaos. Ich blicke meinen Begleiter an, tippe – mittlerweile an der Schwelle zur Hysterie – auf das Glas meiner Armbanduhr, um ihm den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Er zuckt mit den Schultern, beschließt dann aber, doch einmal die Reihen abzugehen, um vielleicht eine kürzere Schlange zu finden. Nervös verlagere ich mein Gewicht vom rechten aufs linke Bein und wieder zurück. Sekündlich fliegt mein Blick zur Anzeigentafel.

Endlich hat der Herr mit dem »Jahresurlaub« seine Entscheidung getroffen, und wenig später stehe ich selbst am Schalter. Während ich versuche mich zu beruhigen, lege ich meine Reiseunterlagen zuversichtlich auf den Tresen. In meinem besten Englisch erkläre ich, dass mein Reisebüro in Deutschland einen Flug für mich von Caracas nach Maracaibo gebucht habe, dass ich diesen jetzt gerne bezahlen würde und hier alle meine Unterlagen seien. Mein Gegenüber zeigt keinerlei Reaktion. Ich warte. Er sieht mich noch immer gänzlich unbewegt an. Also beginne ich meine Ausführungen erneut. Plötzlich unterbricht mich ein rüdes »No English!«. Er schiebt mir meine Unterlagen wieder zurück. Na großartig! In weniger als einer Stunde geht mein Flug, ich habe noch kein Ticket und der Check-in-Angestellte spricht kein Wort Englisch. Hektisch drehe ich mich um, auf der eiligen Suche nach meinem »Freund«. Er taucht neben mir auf: »Problem, my friend? I help.« Das erste Mal freue ich mich über die Anwesenheit meines Begleiters. Er spricht mit dem Check-in-Angestellten, der nun – für meinen nervlichen Zustand erschreckend langsam – anfängt, etwas in seinen PC zu tippen. Mein »Freund« übersetzt alles, was der Angestellte fragt, und ich antworte wahrheitsgemäß. Doch schon mein Name bereitet Probleme, und der Angestellte wendet sich mir nach einigen vergeblichen Versuchen, mich in seinem PC zu finden, zu und eröffnet mir, dass ich wohl keinen Flug gebucht hätte. Doch ich lasse mich nicht beirren und tippe hektisch auf meinen Unterlagen herum. Schließlich habe Aeropostal meine Buchung doch bestätigt. Ich ziehe das entsprechende Schreiben aus den unsortierten Papieren hervor. Der Angestellte sieht mit zusammengekniffenen Augen auf die Unterlagen und wendet sich erneut seinem Computer zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit taucht mein Name urplötzlich auf seinem Bildschirm auf, was den Angestellten in solche Begeisterung versetzt, dass er sich berufen fühlt, den gesamten Hergang seiner Suche noch einmal minutiös zu erklären. Mein »Freund« klopft mir auf die Schulter und zwinkert: »You see, my friend, I help. I got you ticket.« Er lächelt, und mir ist, als könnte ich gerade in seinen Augen Dollarzeichen aufblinken sehen. Der Preis für seine Hilfe ist soeben ins Unermessliche gestiegen. Ich sehe mich genötigt zu protestieren und weise darauf hin, dass mein Reisebüro in Deutschland dieses Ticket bereits für mich gebucht habe.

»No ticket, my friend. Now ticket because of me«, wiederholt mein Freund und will damit sicherstellen, dass ich mir auch ja bewusst bin, dass er es war, der mir zu meinem Flug nach Maracaibo verholfen hat. Ich gebe auf und danke ihm artig für seine Hilfe, wobei sich mir innerlich der Magen bei dieser offensichtlichen Aufschneiderei dieses Zigarette kauenden Koffer-Gigolos umdreht.

Noch vierzig Minuten bis zum Abflug, und ich bin immer noch nicht im Besitz meines Tickets. Im Zweifingersystem werden meine Daten in den PC getippt, und nach weiteren fünf Minuten ertönt der symphonische Klang des Neunnadeldruckers, der meinem Ticket endlich zu physischer Existenz verhilft. Ich wähne mich am Ende dieses Dramas, und eine warme Welle der Entspannung durchströmt meinen Körper. Erstmals, seit ich vor zwei Stunden hier in diesem mir so fremden Land angekommen bin, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Der Check-in-Mitarbeiter sammelt alle Ticketbestandteile zusammen, legt sie vor mir auf den Tresen und beginnt mir zu erklären, zu welchem Gate ich gehen soll und dass ich mich dort bitte eine Stunde vor Abflug einfinden möge. Ungläubig sehe ich ihn an. Mein Flug geht in fünfunddreißig Minuten. Das scheint ihn aber keineswegs aus der Ruhe zu bringen.

Ich zücke mein Portemonnaie und hole meine Kreditkarte hervor, um das Ticket zu bezahlen. Der Check-in-Mitarbeiter sieht mich bedauernd an. Dann eröffnet er mir, dass man hier keine Kreditkarten annähme. Gut, denke ich, kein Problem, ich sollte genügend US-Dollars bei mir haben, um das Ticket zu bezahlen. Also zücke ich mein Bargeld. Aber auch das zaubert kein Lächeln auf sein Gesicht. Nein, leider nähmen sie auch keine US-Dollar. Nur Bolivares, die venezolanische Währung. Natürlich habe ich keine Bolivares bei mir, da man in Deutschland keine Bolivares einwechseln kann. Man kann nirgendwo auf der Welt – außer natürlich in Venezuela – Bolivares tauschen. Was soll ich jetzt nur machen? In fünfunddreißig Minuten geht mein Flug, und ich kann mein Ticket nicht bezahlen, weil man an dem internationalen Flughafen der Hauptstadt des fünftgrößten Erdöl produzierenden Landes der Welt nicht mit Kreditkarte bezahlen kann. In diesem Moment erfahre ich erstmals, wie es sich anfühlt, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Sämtliche Angstschweißdrüsen meines Körpers arbeiten auf Hochtouren. Die vor wenigen Minuten verspürte Entspannung ist augenblicklich verflogen und hat sich in ihr Gegenteil verwandelt. Hektisch gestikulierend versuche ich meinem »Freund« abzuringen, was ich denn nun machen soll. Noch dreißig Minuten bis zu meinem Abflug und ich habe kein Ticket in meinen Händen. Die Menschen hinter uns sind langsam ebenso ungehalten über diesen Europäer, der hier alles aufzuhalten scheint. Mein »Freund« sieht für einen Moment gedankenverloren zu Boden. Dann macht er einen Vorschlag, den er selber für genial zu halten scheint. Ich könnte doch Geld wechseln, schließlich hätte ich doch so viele Dollar bei mir. Hallo, rufe ich in Gedanken, in dreißig Minuten geht mein Flug! Wo soll ich denn jetzt Geld wechseln? Es gäbe da eine Wechselstube, klärt er mich auf. Ich sehe mich hektisch um, kann aber keine entdecken. Nein, die Wechselstube sei natürlich im internationalen Terminal. Wenn ich mich beeilen würde, könnte ich es ja vielleicht noch schaffen. Es sei ja nicht so weit, ergänzt er mit einem Lächeln.

Als mir schließlich klar wird, wie ausweglos meine Situation ist, ergebe ich mich meinem Schicksal und schlage augenblicklich alle Warnungen seriöser Reiseführer in den Wind, indem ich mein gesamtes Gepäck meinem »Freund« überlasse. Seine Beteuerungen im Ohr, dass er gut darauf aufpassen werde, hechte ich durch die Abfertigungshalle und stelle mir im Laufen vor, wie er mein Gepäck wahrscheinlich schon jetzt zum Ausgang schiebt, es dort in seinen Lieferwagen verfrachtet, um in wenigen Minuten dem nächsten hoffnungslos naiven Touristen seine Dienste anzubieten.

Kurzatmig renne ich hinaus in die grelle Mittagssonne und sprinte über den Platz, die hundertfünfzig Meter hinüber zum internationalen Terminal, durch die Schiebetüren hindurch und vorbei an den netten Herren mit Hawaiihemden und Goldkettchen. Endlich stehe ich nach fast olympischen dreißig Sekunden wieder im internationalen Terminal. Hechelnd drehe ich mich in der Mitte der Halle um die eigene Achse. Mein Blick rast umher auf der Suche nach irgendeinem Schild, das für eine Wechselstube stehen könnte. Dann habe ich die Bank endlich gefunden. Doch in diesem Moment weicht der letzte Rest Hoffnung in mir. Geschätzte dreihundert Leute stehen davor und warten. Es ist aussichtslos. In fünfundzwanzig Minuten geht mein Flieger, ich habe kein Ticket und komme nicht einmal direkt an die Wechselstube. Bis ich hier an der Reihe bin, hat mein Flieger längst die endgültige Reiseflughöhe erreicht – ohne mich.

Dann tue ich etwas, was ich bis heute nicht begreifen kann. In einem Anflug von Draufgängertum und mit dem Mut der Verzweiflung stürze ich auf die Schlange zu, laufe bis ganz nach vorne und beginne in einem Kauderwelsch aus Englisch, Deutsch und – wie ich selber verwundert feststelle – italienischen Brocken, die Dramatik meiner Lage zu erklären – in Verbindung mit der Bitte, vorgelassen zu werden. Ganz vorne in der Schlange steht eine ältere, untersetzte Dame mit einem großen Geldbündel in der Hand, und hinter dem Sicherheitsglas sitzt eine junge Frau im Businesskostüm. Bis heute bin ich überzeugt, dass keine der Damen auch nur ein Wort dessen verstanden hat, was ich wollte. Wahrscheinlicher ist, dass sie mich für einen wild gewordenen, aufs Unangenehmste verschwitzten Psychopathen gehalten haben, der ihnen die wüstesten Drohungen an den Kopf geworfen hat. Auf jeden Fall weicht die ältere Dame nach wenigen Sekunden zur Seite und bedeutet mir in einer Art, die mir wie eine Mischung aus Angst und heilloser Panik vorkommt, doch vorzugehen. Ich versuche ein Lächeln, ziehe mein Geldbündel aus der Hosentasche und schiebe es – um ein halbwegs seriöses Auftreten bemüht – unter dem Sicherheitsglas hindurch. Die junge Dame hinter dem Glas zählt die Scheine, tippt etwas in ihren Taschenrechner und holt dann mehrere riesige Bündel Bolivares hervor, hinter denen sie fast zu verschwinden scheint. Beim Blick auf diese Unmengen an Geldscheinen frage ich mich, wie ich diese halbwegs unauffällig transportieren soll. Zum Glück habe ich meine Umhängetasche dabei. Die Dame schiebt nun die Bündel unter dem Sicherheitsglas hindurch und teilt mir etwas mit, was so klingt, als solle ich die Scheine zählen. Ich lächle nur, stottere ein atemloses »Gracias« in ihre Richtung und wische das gesamte Geld mit meinem Unterarm in meine Tasche. Wenige Sekunden später befinde ich mich im Wettlauf gegen die Zeit auf dem Weg zurück, erneut vorbei an den schon fast altbekannten Gesichtern der Hawaiihemdenträger und durch die Schiebetür in die gleißende Hitze hinaus. Jetzt fehlt nur noch mein 150-Meter-Sprint über den kleinen Vorplatz, hinein in den nationalen Terminal. Hechelnd und schweißtriefend erreiche ich meinen »Freund«, der, wider Erwarten mit meinem Gepäck, lässig an den Schalter gelehnt mit dem Check-in-Mitarbeiter plaudert. Ich zücke ein Geldbündel und knalle es etwas ungeschickt auf den Tresen. Nur noch fünfzehn Minuten bis zum Abflug meines Fliegers, aber die Boarding Time ist laut Anzeigetafel noch nicht abgeschlossen.

Der Check-in-Mitarbeiter nimmt das Geld, zählt den Betrag ab und reicht die Tickets über den Schalter. Hastig stopfe ich diese in meine Tasche und greife mein Handgepäck, während mein »Freund« sich einen Weg mit dem leeren Gepäckwagen durch die wartenden Massen bahnt. Wenige Sekunden später haben wir das Gate erreicht. Hier nun trennt sich unser gemeinsamer Weg. Wissend, dass gute »Freundschaft« gepflegt werden will, hole ich ein wenig Geld aus meiner Tasche und reiche es meinem »Freund«. Er nimmt das Geld, sieht es an und macht ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade ein benutztes Taschentuch in die Hand gedrückt. Mit leidensverzerrtem Gesicht lässt er mich wissen, dass diese »Almosen« ja wohl kaum als angemessene Bezahlung für seine Leistungen angesehen werden könnten. Also lege ich noch etwas drauf, was mir leichtfällt, da ich keinerlei Beziehung zur Landeswährung habe und somit nicht im Geringsten einschätzen kann, wie viel Geld ich ihm gerade schenke. Ich bin auch sonst nicht besonders gut im Umgang mit Geld, aber zu einer Währung, die mir vor wenigen Minuten in Quantitäten überreicht wurde, die kaum in einen Umzugskarton passen, habe ich gänzlich kein Verhältnis.

Er ist noch immer nicht zufrieden. Doch wird es mir nun zu bunt und ich weise ihn ab. Wahrscheinlich hätte ich das noch energischer getan, wäre mir in diesem Moment bereits bewusst gewesen, dass ich ihm gerade die Hälfte eines durchschnittlichen venezolanischen Monatslohns in die Hand gedrückt habe. Ohne ein Wort wendet er sich ab und verschwindet. Ich eile nun auf die Sicherheitskontrolle zu. Sportlich fliegt mein Handgepäck auf das Laufband und mein Blick schnellt zur Uhr. Noch zehn Minuten. Eilig greife ich meine Sachen nach der Durchleuchtung und hechte durch die Schiebetür zu den Gates. Ich muss zu Gate 12. Mein Blick rast an den Anzeigetafeln entlang. Da, ich erblicke das Gate. Mit wenigen Schritten bin ich am Gate, sehe mich um – und eine Welle der Enttäuschung durchfährt mich.



2. Kapitel



Ich kann es einfach nicht glauben. Ärgerlich lasse ich meine Sachen fallen und stampfe wütend auf. Das Flugzeug ist weg. Am Schalter steht niemand mehr und alle Sitze sind schon wieder durch Passagiere besetzt, die allem Anschein nach auf den nächsten Flug von diesem Gate warten. Etliche Flüche kreisen in meinem Kopf, und ich verdamme den Tag, an dem ich mir überlegt habe, nach Venezuela zu fliegen. In meiner Verzweiflung gehe ich dennoch auf das Gate zu und blicke auf die Anzeigetafel. Was ich dort sehe, verwirrt mich: »Flug 1205 mit Aeropostal nach Maracaibo«. Mein Flug. Ungläubig wandert mein Blick zwischen Anzeigetafel und Ticket hin und her. Kein Zweifel, das ist mein Flug.

Aus dem Augenwinkel sehe ich zwei Venezulaner in Jeans und T-Shirts, auf denen groß das Logo einer US-amerikanischen Förderfirma fossiler Brennstoffe prangt. In einem Land mit so viel Öl kein Wunder. Was mich in diesem Moment aber weit mehr interessiert, ist die Tatsache, dass die beiden Herren Englisch sprechen. Also wende ich mich an sie und erkundige mich nach dem Flug. Ich erkläre ihnen, dass ich die Anzeigetafel nicht verstehe. Der Flug sei doch sicherlich längst weg. Die beiden sehen erst sich gegenseitig, dann mich an und brechen in schallendes Gelächter aus. Ich bin verwirrt.

Sie fragen mich, ob ich denn wirklich geglaubt habe, dass der Flug jetzt schon ginge? Ich weiß nichts zu erwidern und die beiden brechen erneut in Gelächter aus.

»Das ist Venezuela!«, lässt mich der eine auf Englisch wissen. »Die Zeiten an den Anzeigetafeln sind eher grobe Angaben, wann der Flug abfliegen könnte, nicht, wann er es tatsächlich tut.« Beide lachen erneut. Ich nicke und lasse mich mit meinen Sachen in einen Sitz neben sie sinken. Super, denke ich und sehe an meinem verschwitzten, klebrigen Selbst herunter. Heute bestehe nicht mehr ich, sondern meine Kleidung zu neunzig Prozent aus Wasser. Um nicht noch weiter über mein schreckliches Aussehen zu verzweifeln, entscheide ich mich, meine Konzentration auf anderes zu richten. Ich sehe nach draußen. Flugzeuge passieren unregelmäßig mein Blickfeld. Das Hitzeflimmern überzieht das Vorfeld wie ein Teppich und dahinter erstrecken sich grüne Hügel, die bis zum Meer verlaufen. Das Meer, denke ich und schließe für einen Moment die Augen.

Nach einer Stunde dockt endlich Flug 1205 von Caracas nach Maracaibo am Gate an. Wer nun erwartet, dass das Bodenpersonal eiligst anfängt, den Flug für die wartenden Passagiere vorzubereiten, wird schwer enttäuscht. Mit stoischem Gleichmut schlendern die Reinigungskräfte auf dem Vorfeld zum Flugzeug, scherzen mit den Fahrern der Gepäckwagen und warten dann lässig an die Gangway gelehnt, bis sie mühselig schleichend das Flugzeug betreten. Irgendwann erscheint der Tankwagen, dessen Fahrer ebenfalls erst einmal wichtige private Informationen mit den Flugbegleiterinnen austauschen muss, bevor er sich in der Lage wähnt, das Flugzeug zu betanken. Mittlerweile hat der Flug eineinhalb Stunden Verspätung.

Nach fast zwei Stunden werden wir endlich aufgefordert, das Flugzeug zu besteigen. Wie aus dem Nichts tauchen urplötzlich von allen Seiten Venezolaner auf, die unbedingt auf diesen Flug wollen, und ich werde von einer dauertelefonierenden Menschentraube abgedrängt. Wenn man wie ich bis dahin geglaubt hat, dass Italiener das handyverrückteste Volk der Erde seien, dann wird man hier eines Besseren belehrt. Ja, man mag sich sogar fragen, wie es die Venezolaner in den letzten zweihundert Jahren seit der Unabhängigkeit von Spanien überhaupt ohne Handy ausgehalten haben oder wie sich das Land ohne Mobiltelefone entwickeln konnte. Es würde mich nicht wundern, wenn in absehbarer Zeit in Venezuela die ersten Babys direkt mit Handy am Ohr geboren würden. Als eines der kommunikativsten Völker des Erdballs ist das Handy für Venezolaner offensichtlich die größte Erfindung, seit Gott die Erde erschuf. Dabei entwickeln sie geradezu atemberaubende Fähigkeiten, alle Tätigkeiten, zu denen der normalsterbliche Europäer zwei Hände benötigt, mit einer Hand auszuführen, um bloß das Handy nicht zur Seite legen zu müssen. Außerdem wird mit einem atemberaubenden Tempo gesprochen und gelacht. Das typische venezolanische Handygespräch verläuft in etwa so: »Sí, sí, sí, chévere, ah que lindo, sí, sí, sí, nooooooooo, que lindo, sí, chévere«, was übersetzt so viel bedeutet wie: »Ja, ja, ja, großartig, ach, wie süß, ja, ja, ja, nein, wie süß, großartig.« Dabei darf man keinesfalls vergessen, dass man als Reisender seinem Gesprächspartner in jedem zweiten Satz mitteilt, man sei gerade auf Reisen und, ja, man fliege und, nein, man sei nicht etwa mit dem Bus oder dem Auto nach Maracaibo unterwegs, sondern man fliege, ja, fliege. Ja, mit einem Flugzeug und der ganzen Familie.

Wenn man bedenkt, dass sich nur ungefähr vier Prozent der venezolanischen Bevölkerung überhaupt Flug- oder Fernreisen leisten können, beginnt man zumindest zu verstehen, warum das Mitteilen der eigenen Reisetätigkeit von solcher Bedeutung ist. Es ist ein Statussymbol.

Während ich nun mittlerweile hundemüde und aufs Äußerste verschwitzt darauf dränge, das Flugzeug schnell zu betreten, dauert das Einsteigen ewig lange. Das Herauskramen der Bordkarte ist natürlich nicht so einfach, wenn man es unter allen Umständen vermeiden möchte, das gerade im vollen Gange befindliche Telefongespräch zu unterbrechen, und man folglich nur eine Hand frei hat, um in der gefälschten Louis-Vuitton-Handtasche nach den notwendigen Papieren zu suchen.

Irgendwann – ich habe mittlerweile aufgehört, auf die Uhr zu sehen – ist es geschafft und ich stolpere vollkommen ermüdet die Gangway hinunter in das Flugzeug. Allerdings bin ich mir, als ich das Fluggerät betrete, nicht mehr so sicher, ob ich das noch möchte. In dem Jahr, als dieses Flugzeug gebaut wurde, waren Rock Hudson und Doris Day noch das Traumpaar in Hollywood und Elizabeth Taylor erst zum fünften Mal verheiratet. Na toll, denke ich und beruhige mich damit, dass die Piloten ja schließlich auch nicht sterben möchten und ich mich somit in diesem fliegenden Haufen Rost doch sicher fühlen sollte. So lasse ich mich dann in der letzten Reihe neben einen vier Zentner schweren Klops von Mann sinken, der ein ähnliches Problem mit seinen Schweißdrüsen zu haben scheint wie ich heute. Unsere Sitze befinden sich praktischerweise gleich neben der Bordtoilette. Heute ist das aber etwas unpraktisch, da es scheint, dass sich auf der Toilette gerade ein Passagier seines Mittagessens entledigt hat und die Toilettentür alles andere als dicht ist.