Lehrberufe im Wandel der Zeit

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Mehr Informationen unter: www.ict-berufsbildung.ch.

  2. Mehr Informationen unter: www.carrosseriesuisse.ch.

  3. Mehr Informationen unter: www.metiers-horlogerie.ch.

  4. Die Konstruktion von Lernaufgaben ist im Buch «Ausbilden nach 4K – Ein Bildungsschritt in die Zukunft» (Sterel, Pfiffner & Caduff 2018, Bern: hep Verlag) beschrieben.

  5. Um die Jahre miteinander zu vergleichen, wurden die Zahlen aus mehreren Jahrgängen der Broschüre «Berufsbildung in der Schweiz, Fakten und Zahlen» des SBFI entnommen.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser

Vor rund zehn Jahren begegnete ich in den Vereinigten Staaten einem erfolgreichen Bäcker. Er hatte in der Schweiz eine Berufslehre inklusive Meisterprüfung absolviert und wanderte danach in die USA aus. Inzwischen beschäftigte er in seinem Unternehmen circa hundert Angestellte und ich durfte den Betrieb besichtigen. Er produziert ein grosses Sortiment an Backwaren für mehrere eigene Verkaufsläden und Restaurants. Stolz führte er mich durch seinen Betrieb und erklärte mir die einzelnen Fertigungsschritte. Am Ende des Rundgangs fragt ich ihn, wie er seine Fachkräfte rekrutiere. Er erklärte mir, dass es ein College gebe für Backwaren und dass sein Personal in der Regel von dort komme. Da musste ich ihn selbstverständlich fragen, ob er denke, dass es einen Unterschied gebe zwischen den amerikanischen Absolventinnen und Absolventen des Backwaren-Colleges und den Schweizer Lehrabsolventen und -absolventinnen. Fachlich bestehe kein merklicher Unterschied, antwortete der Bäckermeister, aber kulturell sei der Graben gross. Ich hakte nach und er erklärte: «Wenn in der Schweiz eine Kollegin oder ein Kollege sieht, dass ein Arbeitsschritt besser, einfacher oder schneller erledigt werden kann, dann spricht man das an und das Gegenüber nimmt den Rat normalerweise problemlos an. In den USA funktioniert das nicht. Da muss eine Sitzung einberufen werden und Schritt für Schritt müssen alle zusammen zu der Überzeugung kommen, dass dieser Arbeitsschritt auch anders ausgeführt werden könnte. Alle müssen ihr Gesicht wahren können, alle müssen involviert sein.»

Dieses Beispiel zeigt für mich exemplarisch den Vorteil einer Berufslehre gegenüber einer rein schulischen Fachausbildung. In der Lehre lernt man von den erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, nimmt Ratschläge an, beobachtet und stellt Fragen. So bauen Lernende sehr früh in ihrer Laufbahn wertvolle praktische Fähigkeiten auf, welche Absolventinnen und Absolventen rein schulischer Ausbildungen erst nach dem Berufseinstieg erwerben.

Eine Meisterlehre trägt nicht umsonst diesen Titel. Man lernt das Metier vom Meister, der Meisterin, von Experten, Expertinnen ihres Fachs – und wird schliesslich selbst zum Meister, zur Meisterin. Damit verbunden ist ein Stolz auf das eigene Handwerk, auf das eigene Können und die Fähigkeit, sich richtig einzuschätzen. Die schulischen Noten treten in den Hintergrund – das (Hand-)Werk spricht für sich.

Ich selbst habe ebenfalls eine Berufslehre absolviert. Maschinenmechaniker hiess mein Lehrberuf damals, heute entspricht das in etwa dem Polymechaniker, der Polymechanikerin. Ich hatte genug von der Schule und war heilfroh, dass ich dreieinhalb Tage die Woche in der Werkstatt verbringen konnte. Ich habe es geliebt, dass nun zu dem kognitiven Wissen aus der Berufsschule in der Werkstatt praktisches Wissen und Fertigkeiten hinzukamen. Fertigkeit, die ich nicht aus Büchern, sondern nur durch die tägliche Praxis lernen konnte. Mit sechzehn Jahren wäre ich in der Schule definitiv am falschen Platz gewesen. Deshalb bin ich überzeugt, dass die vier Jahre Lehrzeit entscheidend waren für meine persönliche Entwicklung und meinen beruflichen Erfolg. In diesen vier Jahren lernte ich, was es heisst, zuverlässig zu sein, vereinbarte Termine einzuhalten und im Team zu arbeiten. Erst viele Jahre später hörte und lernte ich dann die Theorie dazu.

Diese Werte geben wir in der Noser Gruppe auch unseren Lernenden weiter. Ich bin stolz, dass wir heute mehr als hundert Lernende aus den eigenen Betrieben und aus Partnerfirmen ausbilden. Mit Noser Young führen wir die Lehrlingsausbildung in einem Unternehmen, das sich in den letzten zehn Jahren zu einem der wichtigsten Informatikausbildnern in Zürich und Bern entwickelt hat. Die Lernenden werden bei uns nicht nur ausgebildet, sondern lernen auch, unternehmerisch zu handeln, indem sie eigene Kundenprojekte akquirieren und umsetzen.

Die Berufslehre hat nicht ausgedient – im Gegenteil. Auch heute, in der digitalisierten Welt, ist es meines Erachtens der beste Weg, sein Metier direkt vom Meister oder von der Meisterin zu lernen. Die Lehre ist nach wie vor die Ausgangslage für viele erfolgreiche Berufskarrieren. Dies zeigen auch die Beispiele von Führungskräften an der Spitze erfolgreicher Schweizer Unternehmen, die ihre Karriere auf einer Berufslehre aufgebaut haben.

Ich halte die Berufslehre für eine äusserst wichtige Institution in unserer Wirtschaft. In der Schweiz sind die Lernenden Teil des Teams, tragen zum Erfolg bei und werden ernst genommen. Denn hierzulande zählt, was du kannst, und nicht, welche Schule du besucht hast. Und gerade darauf beruht der Erfolg der Schweizer Wirtschaft.

 

Ruedi Noser, Ständerat Kanton Zürich

Alleinaktionär und Mitglied des Verwaltungsrats von Noser Management AG, Muttergesellschaft der Unternehmen der Noser Gruppe

1. Einleitung – Lehrberufe im Wandel der Zeit

Die Arbeitswelt ist in einem rasanten Wandel begriffen. Er basiert in erster Linie auf der fortschreitenden Technologisierung und Digitalisierung (Sterel, Pfiffner & Caduff 2018, S. 23). So gibt es heute Berufsausbildungen, die man vor wenigen Jahren noch gar nicht kannte, zum Beispiel Betriebsinformatiker/-in EFZ[1] (ab 2021), Carrosseriereparateur/-in EFZ[2] (ab 2021) oder Qualitätsfachfrau/-mann Mikrotechnik EFZ[3] (seit 2020). Berufsbilder verändern sich rasch, neue Berufe entstehen und traditionelle Berufe verschwinden.

Das vorliegende Buch entstand im Nachgang an die Lernaufgabe[4] «Zukunft der Berufe» im Modul «Berufspädagogik». Dieser Kompetenznachweis schreibt Kompetenzen aus den jeweiligen Handlungsfeldern für die Ausbildung von Lehrpersonen in der Berufsbildung vor (PHZH 2021). Die Aufgabe für die Studierenden, die bei dieser Aufgabenstellung in Trios arbeiteten, bestand darin, einen Beruf, der in der beruflichen Grundbildung erlernt werden kann, zu analysieren. Dies einerseits hinsichtlich der Haupttätigkeiten dieses Lehrberufs und der Veränderungen, die sich in den letzten circa zwanzig Jahren ereignet haben. Andererseits ging es darum, zwanzig Jahre in die Zukunft zu blicken und zu skizzieren, wie sich dieser Beruf möglicherweise verändern wird. Dabei sollten verschiedene Bereiche beleuchtet werden, beispielsweise wie bestimmte Arbeitsformen verschwinden beziehungsweise ersetzt und welche Abschlüsse künftig notwendig werden könnten. Ebenso sollten Analysen erfolgen, welche Handlungskompetenzen (Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen) in den Fokus rücken und welche wahrscheinlich eher in den Hintergrund treten. Zudem sollten «Gewinnerinnen und Gewinner» sowie «Verliererinnen und Verlierer» in diesem Berufsfeld beschrieben werden.

Anschliessend ging es darum, festzuhalten, was die Veränderungen im beschriebenen Ausbildungsberuf für Berufsfachschullehrperson (sowohl Berufskunde/Höhere Fachschule wie auch allgemeinbildender Unterricht) bedeuten könnte. Welchen Herausforderungen müssen sich zukünftige Berufsfachschullehrpersonen stellen? Wo fühlen sich die Studierenden bereits vorbereitet und wo sehen sie bei sich noch Kompetenzen, die aufzubauen sind?

Des Weiteren umfasste die Aufgabe im Bereich «Handlungsfeld Digitalisierung» (PHZH 2021) den Auftrag, eine Berufsbildnerin oder einen Berufsbildner respektive eine Expertin oder einen Experten aus dem gewählten Beruf zu interviewen, sie oder ihn kritisch über die «Ausbildung der Zukunft» im beschriebenen Beruf zu befragen (beispielsweise welche konkreten Ansprüche sie oder er in Zukunft an Berufslernende stellt; wo sich Ausbildungsinhalte und -methoden an Berufsfachschulen verändern müssen usw.). Das Interview musste mit einer Kamera aufgezeichnet, geschnitten und mit Vor- sowie Abspann versehen sein.

Bei der Lernaufgabe ging es also darum, sich ein Stück weit mit der Vergangenheit und der Gegenwart, aber primär intensiv mit der Zukunft eines Lehrberufs auseinanderzusetzen. In der Folge findet sich die Präsentation der zehn Lehrberufe. Einerseits wird eine Übersicht des Berufs mit seinen heutigen Ansprüchen gegeben, andererseits finden sich Annahmen, Vermutungen und Meinungen von den Studierenden sowie Expertinnen und Experten dazu, wie sich der analysierte Lehrberuf entwickeln könnte. Die Zukunft wird weisen, welche Annahmen eintreffen werden und welche nicht.

Des Weiteren wurden Lernende der vorgestellten Berufsbilder an ihrem Arbeitsort besucht, interviewt und porträtiert. Diese Lernendenporträts bilden den Einstieg in die folgenden Kapitel, gefolgt von der Auseinandersetzung mit den zehn unterschiedlichen Berufsbildern gestern, heute und morgen.

2. Informatiker/Informatikerin EFZ

2.1 Alles andere als ein Job für Nerds

Ein Beruf mit vielen Möglichkeiten und Zukunftschancen. Lewin Gerber schätzt die vielen positiven Aspekte, die er als Informatiker hat. Nach der Lehre möchte er sich mit einem Fachhochschulstudium spezialisieren.

Lewin Gerber in den Büroräumlichkeiten seines Arbeitgebers Zühlke (Bild: Stephanie Weiss)

Wer die Firmenräumlichkeiten von Zühlke Engineering AG betritt, ist beeindruckt: einladende, offene Arbeitsplätze, loungige Nischen und viele Pflanzen verbreiten eine behagliche Atmosphäre. Hier können die Mitarbeitenden selbst auswählen, wo sie ihre Arbeit verrichten wollen. Lewin Gerber und sein Ausbildner Mario Sabbatella haben sich in einem ruhigen Sitzungszimmer eingerichtet, um über ihre Arbeit zu berichten.

Der 19-jährige Lewin aus Winterthur befindet sich im vierten Lehrjahr zum Informatiker EFZ Applikationsentwicklung und absolviert seit drei Monaten sein Praktikum bei Zühlke. Die ersten drei Jahre seiner Ausbildung besuchte er die Informatikmittelschule (IMS). «Man kann auch das klassische Modell wählen, bei dem man eine vierjährige Berufslehre in einem Lehrbetrieb absolviert und ein bis zwei Tage pro Woche zur Berufs- und Berufsmittelschule geht», erklärt Sabbatella.

Dieser Beruf sei für Lewin auf der Hand gelegen, weil er sich schon immer für Computer interessiert habe: «Ich habe mich früh mit Technologie auseinandergesetzt. Wenn man den Computer noch nicht so versteht, hat es auch etwas Magisches an sich. Davon ein besseres Verständnis zu gewinnen und Dinge selbst programmieren zu können waren meine Motivation für die Berufswahl.»

Seinen Arbeitstag kann er bezüglich Arbeitszeiten und Ort frei gestalten: «Grundsätzlich geht es darum, dass ich mit dem Projektteam zusammenarbeite und die geforderten Resultate liefere. Ich habe immer jemanden zur Seite, den ich um Feedback bitten kann. So bilde ich mich fortlaufend weiter.»

Die Projektvielfalt seines Arbeitgebers ist gross. Das internationale Dienstleistungsunternehmen mit rund 1400 Mitarbeitenden ist auch in Produktinnovationen involviert, wie beispielsweise das digitale Sparschwein Digipigi der Credit Suisse. Momentan arbeitet Lewin mit anderen Praktikanten an einer Webapplikation für die Verwaltung von Softwarelizenzen. «Die Arbeit an diesem internen Projekt macht mir Spass und ist eine gute Erfahrung, bei der ich viel lerne.» Es sei ein tolles Gefühl, am Ende des Tages ein selbst entwickeltes Ergebnis vorweisen zu können.

In diesem Beruf müsse man selbstständig arbeiten und Eigeninitiative zeigen, sagt Lewin. «Wenn ich im Projektteam arbeite, muss ich meine Ideen einbringen und teilen können.» Um sich den Arbeitstag selbst einzuteilen, müsse man Verantwortung übernehmen und die nötige Motivation aufbringen. «Wenn ein Problem auftaucht, kann ich nicht immer sofort nach Hilfe fragen, sondern muss versuchen, es selbst zu lösen. Diese Selbstständigkeit sagt mir aber auch zu.»

Vielfältige Arbeitsfelder

Lewin kann diesen Beruf allen empfehlen, die schon früh ein Interesse für Computer und Technologie entwickeln und kommunikativ sind. «In der Lehre kann man die Basis lernen und sich nachher spezialisieren.» Das Berufsfeld werde immer breiter, ergänzt Sabbatella. «Als Informatiker oder Informatikerin hat man etliche Möglichkeiten. Viele haben noch das veraltete Bild des nerdigen Programmierers im Kopf, der allein im Kämmerlein arbeitet. Dieser Beruf hat sich aber sehr gewandelt. Heute ist die Teamarbeit zentral.»

Dass es sich um ein Arbeitsfeld handelt, das sich rasant wandelt, schreckt Lewin nicht ab – im Gegenteil. «Wenn man in der Informatik angefangen hat, merkt man, wie viel Wissen man sich hier erarbeiten kann. Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man nie an ein Ende gelangen wird, sondern dass es immer etwas Neues zu entdecken gibt.» Bei Zühlke sei die Palette an Projekten und Bran-chen breit, ergänzt Sabbatella. «Jedes neue Projekt ist fast wie ein Jobwechsel.»

«Wenn man in der Informatik angefangen hat, merkt man, wie viel Wissen man sich hier erarbeiten kann.» (LEWIN GERBER)

Lewin Gerber, Lernender Informatik EFZ Applikationsentwicklung (Bild: Stephanie Weiss)

Nach Lehrabschluss will sich Lewin mit einem Fachhochschulstudium weiter spezialisieren. «Mich interessieren Data Science oder Machine Learning, also Bereiche, in denen man mit Daten arbeitet.» Zühlke hat grosses Interesse daran, Praktikantinnen und Praktikanten weiter zu beschäftigen, berichtet Sabbatella. Viele von ihnen absolvieren nach Lehrabschluss ein Studium. «Nach dem Bachelorstudium kann man auch in spannenden Bereichen rund um die Softwareentwicklung arbeiten, wie beispielsweise Cyber Security, Data Science, Artificial Intelligence und vielen anderen.»

Trotz den vielen Vorzügen dieses Berufs entscheiden sich kaum Frauen für diese Ausbildung. «Pro Klasse haben wir höchstens eine bis zwei Frauen», berichtet Sabbatella, der an der IMS Rapperswil unterrichtet. «Wir würden das gerne fördern, aber vielleicht wirkt das alte Nerd-Image auf Frauen immer noch abschreckend. Das ist schade.» Einer Informatikerin oder einem Informatiker mit Bachelorabschluss stehen viele Türen offen. «Man muss nicht das ganze Leben lang Software programmieren, sondern kann als Projektleiterin, Business Analyst, Softwarearchitekt, Coach oder Trainerin arbeiten – es gibt unzählige Varianten.» Zudem kann dieser Beruf auch von zu Hause aus oder in Teilzeit ausgeübt werden. Last but not least seien die Jobchancen und das Salär gut, schliesst Sabbatella die Liste der Pluspunkte ab, die gleichermassen für männliche sowie weibliche Engineers gelten.