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Leonhard F. Seidl (Hrsg.)

Tatort
Bayerischer Wald

10 Kurzkrimis

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Originalausgabe

Erste Auflage Mai 2022

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

eISBN 978-3-7472-0444-3

Inhalt

PASSAU

Martin von ArndtWir sehen uns wieder

CHAM / WUTZSCHLEIFE

Tommie GoerzSchwarzhof

BODENMAIS

Tanja KinkelNeulich in Bodenmais

KAŠPERSKÉ HORY

Tessa KorberGoldmarie

NEUSCHÖNAU

Friederike SchmöeAuf der Himmelsleiter

DEGGENDORF / ZWIESLERWALDHAUS

Leonhard F. SeidlDas Wasser bis zum Hals

STRAUBING

Leonhard Michael SeidlBlind Date

GROSSER ARBERSEE

Roland SprangerPersonalanpassung

KLATOVY

Elmar TannertDer dritte Mann

ZWIESEL

Andreas ThammDas Rufen im Walde, wo keiner spaziert

Die Autorinnen und Autoren

PASSAU

Martin von Arndt

Wir sehen uns wieder

Diese Geschichte basiert auf einem realen Ereignis. Sie schildert das Geschehen aber lediglich so, wie es auch hätte sein können. Entsprechend sind Personen und Handlung der Geschichte frei erfunden und etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig.

1.

Du bist wieder in Passau. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt. Gekräuseltes Wasser, auf dem Sonnenfunken gleißen. Du sitzt auf derselben Bank an der Ortsspitze wie damals mit Thea. Schaust auf den Zusammenfluss von Donau und Inn, die sich hier zum breiten Strom vereinigen. Jetzt, im Mai, wirkt alles friedlich, Enten ziehen ihre Bahnen, die Rufe spielender Kinder.

Alles ist anders als beim letzten Mal. Erinnere dich, Anne. Nimm dein Tagebuch zur Hand, lies und erinnere dich.

Der Inn war wütend. Während er gierig Land in sich hineinschlang, als müsste er sich etwas beweisen, floss die Donau gleichmütig dahin, knapste nur hier und da ein wenig von den Uferstraßen ab. Es war, als würde sie leise in sich hineinlächeln über den Emporkömmling an ihrer Seite. Und doch schien dir, als ob nicht die Donau, sondern der wütende Inn nach Wien, nach Budapest, nach Belgrad flösse. Thea hatte mit ihren acht Jahren noch kein Hochwasser erlebt. Es war ihr unheimlich. Doch als du mit ihr zum Hotel zurückgingst und ihr den Feuerwehrleuten beim routinierten Aufbau der stählernen Stege zusaht, die dafür sorgten, dass Fußgänger trockenen Fußes durch die Altstadt kämen, hörtet ihr die Feuerwehrmänner pfeifen und lachen. Alles wirkte so eingespielt, so normal, dass auch Thea sich zu entspannen begann. »Wir Passauer sind hochwassererprobt, da müsste schon gleichzeitig ein Vulkan ausbrechen, damit wir in Panik geraten«, erzählte euch die Gastgeberin einer spontanen Hochwasserparty in ihrem winzigen Gartengrundstück. Sie hatte eingeladen, als du mit Thea vorübergingst und die Rosen bewundertest. Dann saßt ihr mit den Fremden und trankt alkoholfreien Punsch, während der Fluss bereits den Vorgarten streifte. Es war ein unwirklicher Moment, aber schön – schön, weil die Menschen freundlich waren und weil Thea eine stille Freude ausstrahlte, für kurze Zeit ihre Ängste vergessen hatte.

Lass dich nicht wegtragen von den Erinnerungen, von deinem Schmerz. Bleib fokussiert, Anne! Wie spät ist es?

Zeit, ins Hotel zurückzukehren.

Du gehst am Schaiblingsturm vorbei, über Schwabgäßchen und Schustergasse Richtung Dom. Du liebst die engen Pfade und unerwarteten Durchlässe, die sich zwischen den Häusern auftun. Mit Thea warst du damals stundenlang durch die Altstadt spaziert und hattest jeden Winkel erkundet. Passau, hattest du ihr erzählt, war die Stadt, aus der ihre Oma stammte, und wenn ihr nur genau hinhörtet, gäbe es Geschichten zu erlauschen von der Frau, die zu früh gestorben war.

Zu früh, um für dich und Thea da zu sein.

Du gehst durch die immer dunkle Innbrückgasse und den Innbrückbogen, dann überquerst du auf der Marienbrücke den Fluss. Du gehst schneller, dein Hotel ist noch eine Viertelstunde entfernt.

Erinnere dich, Anne: Du warst unmittelbar nach Abschluss deines Pharmaziestudiums schwanger geworden. Du wolltest das Kind behalten, auch wenn Tom, der sich für Ärzte ohne Grenzen beworben hatte, dir klarzumachen versuchte, dass es mit einem Kleinkind schwierig würde, nach Afrika zu gehen. Ihr habt euch mehr als einmal darüber gestritten, wart euch uneins bis zu dieser Nacht im November. Der Nacht, in der Tom auf dem Heimweg von einem Konzert, das er mit Freunden besucht hatte, die Streckenverhältnisse falsch eingeschätzt, das Lenkrad verrissen hatte und mit seinem Auto gegen einen entgegenkommenden Wagen geknallt war. Nun war es keine Frage mehr, ob du Thea behalten würdest. Sie war das Einzige, was dir von Tom geblieben war. Du musstest sie allein großziehen, deine Eltern waren lange tot, und von Toms Eltern war nichts zu erwarten – schließlich wart ihr nicht einmal verheiratet gewesen.

Du bist zurück in deinem Hotel in der Innstadt. Ein Hotel, das größtmögliche Anonymität verspricht. Du hast unter falschem Namen eingecheckt, dein Auto steht auf einem öffentlichen Parkplatz. Du gehst ins Bad, in dem eine schwache Neonröhre funzelt, und nimmst die blonde Perücke ab, die falschen Augenbrauen und die angeklebten Wimpern. Während du dich abschminkst, blickst du in den Spiegel und siehst eine fremde Frau: kahlköpfig, mit abgemagertem Gesicht und eingefallenen Wangen. Wer bist du?, fragst du dich. Und gibst dir selbst zur Antwort: Ich bin die Frau, die heute Nacht drei Menschen töten wird.

2.

Als Thea sechs Jahre alt war, hatten die Ängste begonnen. Die Albträume, die sie und dich nicht mehr als zwei Stunden am Stück schlafen ließen. Du dachtest, dass es mit der Schule zusammenhing, dass es vorübergehen würde, wenn sie erst einmal Freundinnen gefunden hätte. Doch dann nässte sie ein, und du gingst mit ihr zu einem Kinderpsychologen. Er diagnostizierte eine Angststörung und Sozialphobie in ungewöhnlicher Ausprägung für dieses Alter. Mit kurzen Unterbrechungen blieb Thea bis zu ihrem Abitur in Therapie. Immer, wenn du dachtest, ihre psychische Situation hätte sich gebessert, geschah wieder etwas, das sie zurückwarf und euch nach neuen Therapiemethoden suchen ließ. Erst, als sie sich mit Frida aus der Nachbarklasse angefreundet hatte und die beiden jede freie Minute miteinander verbrachten, wurde es besser. So warst du nicht überrascht, als dir die zwei eröffneten, zum Studium in eine entfernte Universitätsstadt gehen und miteinander wohnen zu wollen. »Bist du dir sicher, dass du das packst?«, hattest du Thea gefragt, und sie hatte gestrahlt und geantwortet: »So sicher, wie ich mir nur sein kann, Mom.«

Du hattest Frida immer gemocht. Sie war freundlich, aufmerksam, empathisch, wäre für Thea durchs Feuer gegangen. Du warst dir sicher, dass sie auf dein Mädchen achtgeben würde.

Ein Semester lang schien das auch der Fall zu sein. Dann kam Thea in den Weihnachtsferien nach Hause, und du nahmst sofort wahr, dass sich etwas verändert hatte. Sie war abweisend und schroff, zog sich sofort in ihr Zimmer zurück und kam nur daraus hervor, wenn sie auf der Jagd nach Essen war. Als du sie darauf ansprachst, blieb sie einsilbig. Also gingst du zu Frida, die erzählte, dass sie sich neu erfinden wollten. Sie hatten sich endlich einem Freundeskreis angeschlossen, besuchten Mittelaltermärkte und trafen sich zu Rollenspielabenden. Auch wenn dir diese Szene fremd war: Wenn es Theas Weg wäre, würdest du ihn respektieren.

Dann blieben ihre Anrufe ganz aus. Zu Beginn ihres Studiums hattet ihr verabredet, jeden zweiten Abend miteinander zu telefonieren. Daraus war ein wöchentlicher, schließlich ein monatlicher Anruf geworden, der von Mal zu Mal kürzer ausfiel. Dir fehlte der Kontakt, du wolltest die Stimme deines Mädchens hören – aber gut, auch das solltest du akzeptieren. Vielleicht hatten deine Freundinnen recht, wenn sie sagten: »Du bist overprotective, Anne. Lass dem Mädchen seinen Freiraum. Dafür ist so ein Studium ja da!«

Es kam der Tag, an dem du diese eigenartige Nachricht von Thea auf deiner Mailbox fandest. Sie hatte sie nachts um drei Uhr aufgesprochen, mit nüchterner, aber doch irgendwie entrückter Stimme:

Mom, wir sehen uns wieder, das weiß ich sicher.

Du versuchtest den ganzen Tag, sie zu erreichen, aber du hörtest immer nur die metallisch klingende Ansage: The person you’ve called is temporarily not available. Auch Frida war nicht zu erreichen. Als du beschlossen hattest, die Apotheke zu schließen, um nach Thea zu sehen, als du gepackt hattest und endlich reisebereit warst, klingelten die beiden Kripoleute bei dir.

Der Körper deines kleinen Mädchens war nicht freigegeben. Thea und Frida hatten sich in der Nacht vergiftet.

3.

Du warst wie unter Wasser gezogen. Die Worte der anderen drangen nicht zu dir durch, klangen gedämpft, du hattest Mühe, ihren Sinn zu erfassen. Sie sagten: Du musst die Beerdigung organisieren, Anne. Musst nach dir selbst sehen, Anne. Lernen, damit zu leben, Anne.

Du wolltest die Beerdigung nicht organisieren. Wolltest nicht nach dir selbst sehen. Nicht lernen, damit zu leben.

Die Stimmen sagten, das sei völlig normal, eine normale Trauerreaktion. Dass es nicht besser, aber anders werde, und dass dies schon eine Erleichterung sei. Dass du dir aber, wenn es auch nicht anders werde, Hilfe holen müsstest.

Erinnere dich, Anne: Du wolltest verstehen, was geschehen war. Du bist zu den beiden Kripoleuten gegangen, die dir die Todesnachricht überbracht hatten. Der eine wies dich ab, doch der andere hatte selbst eine Tochter in Theas Alter, und er traf sich mit dir. Heimlich. Erzählte, er dürfe das nach Aktenlage eigentlich nicht sagen, weil Theas vollendeter und Fridas versuchter Selbstmord eindeutig als Suizide gewertet wurden. Aber da sei noch etwas … die Kollegen in der Unistadt gingen davon aus, dass diese Selbstmorde Teil eines Kultes seien.

Du hattest Mühe, dich zu beherrschen. »Was denn für ein Kult?«, fragtest du.

Der Kripomann senkte den Kopf, sprach zum Tisch hin. Dass Thea in einer religiösen Gemeinschaft gewesen sei. In deren Mittelpunkt stehe ein Psychologe mit zwei seiner Lieblingsfrauen. Sie suchten Mädchen mit auffälliger Psychostruktur – vielleicht gehe es dabei auch um sexuelle Beziehungen, aber das wisse man nicht genau. Jedenfalls glaubten sie an Reinkarnation und ihre daran geknüpfte Mission als Auserwählte, sähen sich als Weltenerneuerer. Die Toten verließen ihr jetziges Dasein, um an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit eine neue Welt zu erschaffen.

»Thea soll einen solchen Blödsinn geglaubt haben? Wollen Sie mir damit sagen, dass jemand meiner Tochter befohlen hat, sich umzubringen?«, fragtest du.

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Aber Sie vermuten es – und unternehmen nichts …?«

Twens, die einen Selbstmordplan schmieden – das komme öfter vor. Und selbst wenn der Suizid befohlen wurde: Die Polizei könne das nicht beweisen.

Du hast den Kripomann angesehen. Er saß in sich zusammengesunken da und vermied deinen Blick. Er dachte an seine Tochter. Er hatte noch eine Tochter. Und er sorgte sich um sie.

4.

Danach hast du eine Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Gewaltopfern besucht. Während der Treffen ging es dir erstaunlich gut, doch sobald du wieder zu Hause warst, kreisten deine Gedanken wie zuvor. Kreisten um den immer selben Punkt.

Und dann, auf einem der Treffen, sprach es einer aus: »Ich weiß, dass man das hier eigentlich nicht sagen darf – aber wenn es Auge um Auge noch geben würde, würde ich mich besser fühlen. Die Vorstellung, dass dieser Dreckskerl genauso leiden muss wie ich …«

Du bist nach dem Treffen nach Hause gegangen. Dort angekommen, wusstest du: Er hat recht, dir geht es genauso. Rasend vor Wut bist du durch die Wohnung gerannt und hast zerschlagen, was dir in die Finger kam. Hast mit bloßen Händen auf die Küchenschränke eingedroschen und auch nicht aufgehört, als dir bei jedem Schlag dein eigenes Blut entgegenspritzte. Deine Nachbarn riefen die Polizei, die Polizisten den Notarzt, der dir ein Beruhigungsmittel verabreichte, um deine Hände verbinden zu können.

Tags darauf bist du zu Fridas Eltern gefahren. Sie sahen deine bandagierten Hände und haben dich mit mitleidvollen Gesichtern hereingebeten. Du wolltest mit Frida reden, aber sie sagten, sie sei noch immer in der Psychiatrie, wisse nicht, dass Thea tot sei. Sie wollten nicht, dass du mit ihr sprichst, sie hatten Angst, dass sie einen zweiten Versuch unternehmen könnte. Es war auch bei ihr knapp gewesen, sie hatte das Gift nicht bei sich behalten können, der Notarzt, den die Nachbarn gerufen hatten, hatte sie in ihrem eigenen Erbrochenen liegend gefunden.

Du kanntest diese Leute nicht gut – von Elternabenden mit anschließendem Small Talk über die Töchter. Trotzdem hast du sie zum Reden gebracht.

Im Gegensatz zu Thea hatte ihre Freundin noch lange Kontakt gehalten. Hatte ihren Eltern erzählt, dass sie die Kultleute auf einem Mittelaltermarkt kennengelernt hatten, den die Freundinnen miteinander besuchten. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden, wurden zu Treffen eingeladen, bei denen die Stimmung außerordentlich herzlich gewesen sei. Sie hatten sich so aufgehoben, geborgen und sicher gefühlt – und Thea hatte ihre Ängste und Phobien fast vollständig verloren. Dann hatte der Führer von ihnen immer mehr Zugeständnisse verlangt. Sie wurden angehalten, sich von allen loszusagen, die keine Einweihung erhalten hatten und deshalb auch nichts von ihren geistigen Potenzialen wussten, nicht verstanden, wer sie wirklich seien und worum es in diesem Leben gehe. Frida war lange hin und her gerissen, Thea stürzte sich in ihre neue »Familie« und erfüllte alle Bedingungen. Bis hin zur Katastrophe.

Fridas Eltern wussten nicht, wer der Führer war, aber sie kannten den Namen einer Frau aus dem Kult, mit der sich Frida und Thea angefreundet hatten. Sie lebte mit einer anderen Frau irgendwo in Niedersachsen.

Erinnere dich, Anne: Du bist nach Hause gefahren, hast den Computer angeworfen. Binnen Stundenfrist konntest du dem Namen eine Adresse zuordnen. Du hast ein Zimmer in einem Instanthotel in Gifhorn gebucht und fuhrst los.

5.

Das Haus lag in einer Kleinstadt, in einer Siedlung mit neuen Einfamilienhäusern. Das Türschild lautete auf die dir bekannten Namen, doch für dich nanntest du sie nur 1 und 2. Du wolltest ihnen keine Namen zugestehen.

Du hast wiederholt an der Tür geklingelt. Nichts geschah. Bist zurück ins Auto und hast gewartet. Du wolltest die Frau konfrontieren, sobald sie nach Hause käme. Doch nichts geschah. Als die Nachbarn auf dich aufmerksam geworden waren und unter dem Vorwand, den Hund Gassi zu führen, immer wieder an deinem Wagen vorbeikamen, bist du ausgestiegen und hast sie angesprochen. Du seist eine Cousine von 1 und mit ihr verabredet, doch sie öffne nicht. Die Nachbarn sagten, dass sie sich auch wunderten, sie hätten die beiden seit Tagen nicht gesehen. Aber das Auto stehe im Carport, weit könnten sie nicht sein.

Plötzlich dieses Ziehen in deiner Magengrube. Du kennst es, hattest es zum ersten Mal in der Nacht, als Tom starb. Du hast dir den Carport genauer angesehen, im Hotel eingecheckt und gewartet, bis es dunkel war. Dann bist du zurück zum Haus von 1 und 2, in dem kein Licht brannte. Du hast die Tür, die vom Carport direkt in den Keller des Hauses führte, mit Spanner und Tropfendiamant geöffnet. Einfache Schlösser zu knacken, ist keine Herausforderung für dich, man hatte es dir in Afrika beigebracht, als du als Pharmazeutin für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet hast. Du musstest in der Lage sein, Medikamentenvorräte zu öffnen, für die es keine Schlüssel mehr gab – und keinen Schlüsseldienst, der dies übernehmen konnte.

Dann hast du im Keller gestanden und gelauscht. Keinerlei Geräusch. Du musstest dich mithilfe der Taschenlampen-App deines Smartphones orientieren, bist sachte die Kellertreppe nach oben gestiegen, Stufe um Stufe, und hast die Tür zur Wohnung geöffnet. Ein atemraubender Geruch. Du hast dein Taschentuch genommen, es vor die Nase gehalten, und wusstest sofort, was geschehen war.

Die Leichen von 1 und 2 lagen auf der Wohnzimmercouch, sie hatten die gleichen mittelalterlichen Kleider an, die auch Thea und Frida getragen hatten. Auf dem Tisch stand ein offenes Fläschchen mit einer trüben Flüssigkeit. Du hast es mithilfe deines Taschentuchs angehoben und daran gerochen. Eine charakteristische Note, auch ohne Analyse wusstest du, dass es dasselbe Gift war, das deine Tochter getötet hatte.

Du hast dich in der Wohnung umgesehen. Fandest zwei mit unterschiedlichen Handschriften unterschriebene Zettel: Wir sehen uns wieder, das wissen wir sicher.

Dann: ein Laptop. Unverschlüsselt, du konntest ihn ohne Passwort booten und nahmst ihn mit. Auf dem Weg zurück nach Gifhorn dachtest du darüber nach, die Polizei unter falschem Namen zu informieren. Doch du hast den Gedanken verworfen. Du warst unvorsichtig genug, keine Handschuhe zu tragen, hattest Spuren in der Wohnung hinterlassen. Sie würden die Kripo womöglich zu dir führen, bevor du deine Aufgabe erledigt hättest. Außerdem waren die beiden Frauen mitverantwortlich für Theas Tod. Sie hatten es nicht besser verdient. Früher oder später würde man sie finden.

Im Hotel hast du den Computer dann durchsucht, aber die meisten Dateien waren gelöscht. Aktuelle Mails konntest du nicht abrufen, weil du dafür ein Passwort gebraucht hättest, doch im Archiv fandest du eine Mail mit der Adresse des Führers. Und die »Erlaubnis« für den Suizid von 1 und 2.

Du wolltest den Laptop wieder schließen, ihn in den nächsten Fluss werfen, als dein Instinkt dir riet, in den Papierkorb zu sehen. Und da war sie: eine ältere Mail mit der Info, dass der Führer mit seinen beiden Lieblingsfrauen kommendes Wochenende drei Nächte in einer Hotelpension in Passau verbringen würde. Sie wollten während einer Rollenspielmesse neue Leute werben für den Kult, für die Erneuerung der Welt.

Zwei Tage, um dich vorzubereiten, Anne!

6.

Du bist nach Passau gefahren, hast dich in einem mehr oder weniger anonymen Hotel in der Innstadt einquartiert – die Pension, in der die drei Kultleute abgestiegen waren, wäre zu riskant gewesen. Hotelgäste würde die Polizei intensiv befragen, und wenn herauskäme, dass man dich vor dem Haus von 1 und 2 gesehen hatte …

Du hast im Hotel dein Kopfhaar und die Augenbrauen abrasiert. Hast deine Wimpern geschnitten und dich für die blonde Perücke entschieden. Dazu eine Brille, die aus dir eine graue Maus machte. So bist du nachmittags in die Nähe der Pension gefahren. Dein Auto hast du hinter der Triftsperre geparkt.

Als du mit Thea in Passau gewesen warst, hattet ihr Spukgeschichten gehört: der Geist einer Frau sollte hier umgehen. Erinnere dich, Anne: Auch am helllichten Tag war es stockdunkel in diesem grob in den Fels getriebenen Tunnel, ihr brauchtet Taschenlampen, um ihn sicher zu durchqueren. Die Nässe, die Wärmebrücken im Gestein – dir liefen Schauer über den Rücken. Kein Wunder, dass die Menschen hier Geistern zu begegnen glaubten! Doch Thea überraschte dich: Die Angst, die ihr Leben bestimmte, zeigte sich hier nicht, das Mädchen war mutiger als du, wollte den Tunnel nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal passieren. Du hast dich gesperrt, in der Dunkelheit war dies kein Ort für Frauen.

Als du heute durch den Tunnel gingst, spürtest du nichts. Du warst nur fokussiert. Ebenso im Restaurant der Hotelpension, wo du auf jedes Detail geachtet hast. Am Nachbartisch empörten sich Pensionsgäste, dass sie den ganzen Tag nicht duschen konnten, weil es kein warmes Wasser gab. Da viel los war und niemand von dir Notiz nahm, gelang es dir, auf dem Weg zu den Toiletten einen Blick ins Reservierungsbuch zu werfen. Du fandest die Raumnummer, in der 3, 4 und 5 abgestiegen waren: ein Dreibettzimmer. Wollten sie darin ihre perversen Sex- und Psychospiele ungestört ausleben?

Du hast dich im Korridor umgesehen, in dem ihr Zimmer liegt. Hast an der Tür gelauscht. Kein Laut. Vermutlich waren die drei auf der Messe. Du kehrtest, von Gästen und Angestellten unbemerkt, zurück an deinen Tisch, hast bezahlt und bist in die Altstadt gefahren. Hast gelesen in deinem Tagebuch eurer gemeinsamen Passau-Reise.

Nun bist zu zurück in deinem Hotel. Der Rucksack ist gepackt. Du legst dich, in schwarzen Jeans und schwarzem Hoodie, auf das Bett, starrst an die Decke und lässt Erinnerungen an Thea kommen.

Wie du dieses Wesen, klein und blass und verletzlich, ganz unbeholfen zum ersten Mal in den Händen hieltest und Angst hattest, alles falsch zu machen.

Wie sie ihren ersten Milchzahn verlor und weinte.

Wie sie ihre erste Verliebtheit überwand und weinte.

Wie sie in der Aufbahrungshalle lag, klein und blass und verletzlich, nicht eine einzige Falte auf der Stirn, um die Augen, um den Mund.

7.

Du weißt, dass es nicht leicht sein wird, unbeobachtet in die Pension zu kommen. Da es kein anonymer Hotelkomplex ist, kannst du nicht einfach reinmarschieren und behaupten, dass du Freunde besuchst. Du wartest darauf, dass es dunkel wird und die letzten Gäste zurückkehren. Dann ziehst du dir Handschuhe und eine Sturmhaube an und hältst auf die Rückseite des Gebäudes zu. Das Toilettenfenster hast du nachmittags so präpariert, dass es sich nicht mehr versperren, doch von außen mit Druck auf die richtige Stelle aufpressen lässt. Das Warten hat deine Glieder steif gemacht, du brauchst drei Anläufe, bis du dich ins Innere der Toilette gewuchtet hast. Endlich geschafft, steht dir Schweiß auf der Stirn. Er riecht unangenehm metallisch.

Die Tür zu den Toiletten ist abgeschlossen, aber für dich kein Hindernis. Ebenso wenig wie die Tür zum Putzmittelraum auf der Etage, auf der sich das Dreibettzimmer befindet. Du knackst das Schloss und schlüpfst hinein. Ethanol und Zitronengeruch. Es ist enger, als du dachtest. Aber das ist gut, so läufst du nicht Gefahr, müde zu werden. Du wirst Geduld brauchen. Im dunklen Korridor, in den du blickst, siehst du Lichtstreifen unter allen Zimmertüren außer am Dreibettzimmer. Du nutzt einen ruhigen Moment, ziehst aus deinem Rucksack eine Flasche mit teurem Prosecco und stellst sie vor dem Raum von 3, 4 und 5 ab. Sie trägt die Notiz: Aufmerksamkeit des Hauses – als kleine Entschädigung für den Warmwasserausfall.

Du musst in dieser Nacht zuschlagen. Am nächsten Tag wollen 3, 4 und 5 wieder abreisen, nur hier und heute hast du sie alle unter einem Dach.

Du wartest. Konzentrierst dich auf deinen Atem. Zählst die Atemzüge. Bei zehn fängst du von vorn an.

Dann: gedämpfte Stimmen. Du öffnest die Tür einen Spaltbreit. Siehst eine Hand nach dem Prosecco greifen und im Zimmer verschwinden. Du wirst Geduld brauchen. Du zählst und atmest, zählst und atmest, zählst und atmest.

Schließlich sagt dir die innere Stimme, dass es Zeit ist – die K.-o.-Tropfen im Prosecco hätten ihre Arbeit getan. Du blickst auf die Uhr: 2.15 Uhr. Umsichtig ziehst du den fabrikneuen Einwegoverall an, den du von einem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen in einem Ebola-Gebiet mitgebracht hattest, mitsamt Schutzbrille. Bei jedem Schritt auf dem Korridor raschelt der Polypropylen-Anzug ein wenig. Du horchst an der Tür. Dann öffnest du das Türschloss und trittst ein.

8.

Der Mann und eine seiner Frauen liegen wie achtlos hingeworfene Puppen auf dem Bett. Die zweite Frau ist auf einem Sessel eingeschlafen. Nummer 5. Sie würde dein, würde Theas verlängerter Arm werden.

Du holst Theas Armbrust aus dem Rucksack. Sie ist eines der wenigen Stücke, das du beim Ausräumen ihrer Studibude als Andenken mitgenommen hast. Sie hatte sie geliebt, sie war Teil der Ausrüstung ihres Charakters bei Live-Rollenspielen. Fridas Eltern hatten erzählt, dass die Mädchen ein intensives Schießtraining absolviert hatten.

Nun würden 3, 4 und 5 durch Theas Armbrust sterben.

Natürlich wird es Aufsehen erregen, mehr, als wenn du sie einfach vergiftest … doch das bist du Thea schuldig. Deiner Thea, wie sie war, bevor sie von diesen Leuten indoktriniert wurde. Außerdem wird die Polizei bei ihren Ermittlungen feststellen, dass alle in dieser Gruppe Waffennarren waren und selbst Armbrüste besaßen. Im Nachhinein werden sich die Puzzleteile zusammenfügen.

Niemand erwacht. Die K.-o.-Tropfen, die du selbst gemischt hast, erfüllen ihren Zweck. Du tötest den Führer und eine der Frauen vollkommen lautlos mit der Armbrust. Du bist selbst überrascht, wie leicht es dir fällt, auch wenn du mehrmals in Schläfe und Herz schießen musst, um sicherzugehen, dass sie wirklich tot sind. Dann nimmst du die Hände der anderen Frau und verteilst ihre Fingerabdrücke auf der Waffe. Du führst ihren Arm, führst ihn an die Schläfe – bis dir einfällt, dass du etwas vergessen hast. Du nimmst ein Fläschchen und eine Spritze aus deinem Rucksack, ziehst sie auf und rammst sie 5 in die Armbeuge. Das Mittel wird den Nachweis von K.-o.-Tropfen bei der Frau unmöglich machen. Das ist wichtig. Ein sedierter Mensch wäre nicht in der Lage, diese Taten auszuführen.

Du legst den Zeigefinger von 5 auf den Abzug der Armbrust. Sie würde sich selbst nicht in die Schläfe schießen – viel zu riskant, dass es schiefgeht! Also setzt du die Waffe an ihre Halsschlagader und drückst ab. Schließt die Augen. Ein Geräusch wie ein Messer, das durch rohes Fleisch reißt. Als du die Augen wieder öffnest, ist deine Schutzbrille mit Blutspritzern bedeckt. Du lässt den Körper niedergleiten. Wartest. Dann fühlst du 5 den Puls. Doch da ist keiner mehr.

Du wischst über die Schutzbrille, um besser sehen zu können. 2.45 Uhr.

Du achtest darauf, nicht in die Blutlache am Boden zu treten, um keine Fußabdrücke auf dem Teppich zu verteilen. Du nimmst Abschied von Theas Armbrust, die 5 aus der Hand gefallen ist. Stellst das halb leere Fläschchen mit den K.-o.-Tropfen, auf dem du noch Fingerabdrücke des Führers platziert hast, auf den Tisch und steckst dafür die leere Prosecco-Flasche und die von dir geschriebene Notiz in deinen Rucksack. Zum Schluss legst du einen Computerausdruck auf den Boden. Darauf die Worte: Wir sehen uns wieder, das wissen wir sicher.

Du öffnest die Zimmertür, lugst in den leeren, stillen Korridor. Kehrst zur Toilette zurück, steigst durch das Fenster nach draußen und ziehst es sachte wieder zu.

Tötung auf Verlangen, hatte der Kripomann gesagt, sei eine Methode, mit der Selbstmordkulte häufig arbeiteten. Die Volkstempler-Sekte in Guyana, die Sonnentempler in der Schweiz und Kanada – rechtskräftig verurteilt würde selten jemand.

»Tötung auf Verlangen«, hattest du erwidert, »das ist gut.«

9.

Im Wald hinter der Hotelpension ziehst du den Schutzanzug aus und wickelst ihn in einen Müllsack. Du wirst ihn Hunderte von Kilometern entfernt an einer Autobahnraststätte entsorgen.

Nun sitzt du im Wagen. Du fährst ziellos durch die Nacht. Im Osten siehst du erste helle Flecken am Horizont.

Auge um Auge, Zahn um Zahn, Wunde für Wunde. Fühlst du dich nun besser, Anne?

Fühlst du überhaupt etwas? Solltest du nicht etwas fühlen?

Nein, da ist nichts, gar nichts. Auch keine Befriedigung. Nur die Abwesenheit von etwas, aber du könntest nicht sagen, wovon, und ob es eine gute oder eine schmerzliche Abwesenheit ist.

Nur dein Schweiß, das nimmst du im hermetisch abgeriegelten Innenraum wahr, riecht noch strenger nach Metall.

Dann taucht ein Gedanke auf: Vielleicht wäre, was heute Nacht geschehen musste, abschreckend für andere aus dem Kult – denn du ahnst, dass es noch weitere Mitglieder geben muss, vielleicht ganz neue, die 3, 4 und 5 im Laufe des Wochenendes in Passau geworben hatten.

Ein Gedanke. Nicht mehr. Und wenn du ehrlich bist, hat er keinerlei Bedeutung für dich.

Erinnere dich, Anne:

Das Hochwasser sollte seinen maximalen Pegel in der Nacht erreichen. Es war ein ruhiger Abend, trocken und wolkenlos. Von beiden Uferseiten wurde die Passauer Altstadt bedrängt, und ihr standet mit vielen anderen Schaulustigen, Einheimischen wie Touristen, auf dem Rathausplatz, voller Erwartung, auch wenn du nicht hättest sagen können, was du eigentlich erwartest. Du hattest Eis gekauft für euch beide, sahst Thea dabei zu, wie ihre Zunge langsam und gleichmäßig über die Kugeln fuhr. Als sie zu dir aufblickte, lächelte sie. Es war das Lächeln von Tom, bevor er dich in den Arm genommen und lange an sich gedrückt hatte.

»Heute geht es uns gut«, hatte Thea gesagt. »Heute geht es uns gut.«

CHAM / WUTZSCHLEIFE

Tommie Goerz

Schwarzhof

das