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Die Autorinnen

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Prof. Dr. Elisabeth Bubolz-Lutz, Lehrbefugnis für das Fach Geragogik an der Universität Duisburg-Essen; bis 2021 Direktorin des Forschungsinstitut Geragogik, Witten. Seit 1976 mit den Grundlegungen zur Bildung im Alter befasst und Mitglied des Fachbeirates »Digitalisierung und Bildung älterer Menschen« beim BMFSFJ.

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Prof. Dr. Stefanie Engler ist Professorin für »Wissenschaft Soziale Arbeit« und Prorektorin für Lehre an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Bis 2020 war sie Forschungskoordinatorin an der Katholischen Hochschule Freiburg und ist aktuell Sprecherin des AK Geragogik (Arbeitskreis in der DGGG).

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Prof. Dr. Cornelia Kricheldorff, Dipl. Sozialgerontologin und Dipl. Sozialpädagogin, lehrt und forscht seit vielen Jahren zum Thema Geragogik. Gründungsmitglied des AK Geragogik in der DGGG. Professorin für Soziale Gerontologie und Prorektorin an der Katholischen Hochschule Freiburg bis September 2020.

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Prof. Dr. Renate Schramek ist Professorin für Gesundheitsdidaktik, Bildungs- u. Lernprozesse an der HS Gesundheit in Bochum. Sie ist Gründungsmitglied und Sprecherin des AK Geragogik im Wissenschaftlichen Beirat des ZAWiW (Universität Ulm) und im Vorstand der Interdisziplinären Fachgesellschaft für Didaktik Gesundheit e. V. (IFDG).

Elisabeth Bubolz-Lutz
Stefanie Engler
Cornelia Kricheldorff
Renate Schramek

Geragogik

Bildung und Lernen im Prozess des Alterns

Das Lehrbuch

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040692-6

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-040693-3

epub:        ISBN 978-3-17-040694-0

Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. 1   Geragogik – begriffliche Klärungen
  3. 1.1   Zum Begriff Geragogik
  4. 1.1.1   Geragogik – Wege zum Verständnis des Begriffs
  5. 1.1.2   Geragogik – wissenschaftliche Disziplin und Praxis
  6. 1.1.3   Zugrundeliegende Wertorientierung
  7. 1.1.4   Geragogik – Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis
  8. 1.1.5   Geragogische Denkprinzipien und Arbeitsweisen
  9. 1.2   Zu den Begriffen Lernen und Bildung
  10. 1.2.1   Geragogischer Diskurs zum Lernen – Lernen als Grundlage für Bildung
  11. 1.2.2   Bildung im Alter – ein Verständnismodell
  12. 1.3   Zu den Begriffen Alter und Altern
  13. 1.3.1   Alter(n) hat viele Gesichter – das Dritte, Vierte und Fünfte Alter
  14. 1.3.2   Theoretische Zugänge zum Altern
  15. 1.3.3   Merkmale des Alterns und ihre Bedeutung für die Geragogik
  16. 1.4   Gegenstandsbereich der Geragogik
  17. 2   Historische Entwicklung der Geragogik
  18. 2.1   Geschichte der Geragogik in Deutschland
  19. 2.2   Geschichte international: Europa und USA
  20. 3   Verortung der Geragogik
  21. 3.1   Zum Selbstverständnis der Geragogik als Profession
  22. 3.2   Zur Verortung der Geragogik innerhalb der Wissenschaften
  23. 3.3   Zum Wissenschaftsverständnis der Geragogik
  24. 3.4   Zur Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses
  25. 3.5   Merkmale der Geragogik als wissenschaftliche Disziplin
  26. 4   Grundlagen der Geragogik
  27. 4.1   Das Menschenbild – geragogische Grundorientierungen
  28. 4.1.1   Der Mensch als biologisches Wesen
  29. 4.1.2   Der Mensch als einzigartiges psychisches und geistiges Wesen
  30. 4.1.3   Der Mensch als soziales und kulturelles Wesen
  31. 4.1.4   Der Mensch als ökologisches Wesen
  32. 4.1.5   Menschliche Entwicklung im Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
  33. 4.2   Begründungszusammenhänge und theoretische Grundlagen
  34. 4.2.1   Der sozialgerontologische Ansatz
  35. 4.2.2   Der kompetenzorientierte Ansatz
  36. 4.2.3   Der biografische Ansatz
  37. 4.2.4   Der gesellschaftspolitische Ansatz. Altersbildung im Kontext Lebenslangen Lernens
  38. 5   Die Geragogik in der aktuellen Forschung: Forschungsfelder und Forschungsmethoden
  39. 5.1   Forschungsfelder
  40. 5.2   Forschungsmethoden
  41. 5.2.1   Empirische Forschungsmethodik
  42. 5.2.2   Geisteswissenschaftliche Forschungsmethodik
  43. 5.3   Methodenkritische Anmerkungen
  44. 6   Forschungsergebnisse zu Bildungs- und Lernprozessen in der zweiten Lebenshälfte
  45. 6.1   Voraussetzungen und Bedingungen des Lernens im Alter – Ergebnisse der psychogerontologischen Forschung
  46. 6.1.1   Die Entwicklung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter
  47. 6.1.2   Veränderungskapazität im Alter – Ergebnisse der Interventionsforschung
  48. 6.1.3   Lernmotivation und Lernwiderstände – Ergebnisse der psychologischen Lernforschung
  49. 6.2   Bildungsbeteiligung und Bildungsaktivität in unterschiedlichen Kontexten
  50. 6.2.1   Berufliche Weiterbildung
  51. 6.2.2   Allgemeine Weiterbildung
  52. 6.2.3   Informelle Lernkontexte
  53. 6.3   Einflussfaktoren auf die Bildungsbeteiligung
  54. 6.3.1   Soziodemografische Faktoren und Faktoren des beruflichen und privaten Lernumfelds
  55. 6.3.2   Motive für die Teilnahme und Teilnahmebarrieren
  56. 6.3.3   Institutionelle Rahmenbedingungen
  57. 6.4   Inklusion und Exklusion im Zusammenhang mit Bildung
  58. 6.4.1   Verständniszugänge und Begrifflichkeiten
  59. 6.4.2   Von Exklusion bedroht: Menschen mit Migrationserfahrung, Personen im hohen Alter, gesundheitlich Beeinträchtigte, Demenzerkrankte und pflegende Angehörige
  60. 6.5   Bildungseffekte – Ergebnisse, Forderungen und Empfehlungen
  61. 7   Aktuelle didaktische Prinzipien und Beispiele für ihre methodische Umsetzung
  62. 7.1   Differenzialität – zentrales Merkmal einer Didaktik in Bezug auf die zweite Lebenshälfte
  63. 7.2   Didaktische Prinzipien und methodische Zugänge
  64. 7.2.1   Verknüpfung von Reflexion und Handeln
  65. 7.2.2   Anregung zum Erfahrungsaustausch
  66. 7.2.3   Thematisierung der Lernbiografie
  67. 7.2.4   Förderung der Selbst- und Mitbestimmung
  68. 7.2.5   Ermöglichung von Kontakt und Zugehörigkeit
  69. 7.2.6   Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen
  70. 7.2.7   Einbindung in Lebenszusammenhänge, den Sozialraum und Netzwerke
  71. 7.2.8   Schaffung von anregenden Lernumgebungen
  72. 7.2.9   Weiterführung – Lernmotivationen als Ausgangspunkt für didaktisches Handeln
  73. 7.3   Zum Konzept der Ermöglichungsdidaktik
  74. 7.3.1   Zum Konzept
  75. 7.3.2   Zu Effekten, Grenzen und Begründungen des Ansatzes
  76. 7.3.3   Auf- und Ausbau von Ermöglichungsstrukturen – ein Zukunftsprojekt
  77. 7.4   Geragogische Aufgaben, Haltungen und Kompetenzen in der Praxis
  78. 7.4.1   Geragogisches Aufgabenspektrum
  79. 7.4.2   Geragogisch-didaktische Kompetenzen
  80. 7.4.3   Zur Qualifizierung von Geragog*innen
  81. 8   Bildungsthemen
  82. 8.1   Biografie und Identität
  83. 8.1.1   Begriffsklärungen im Zusammenhang mit Biografie und Identität
  84. 8.1.2   Biografiearbeit und Identitätsentwicklung im Alter
  85. 8.1.3   Formen und Konzepte der Biografiearbeit
  86. 8.2   Sinn und Spiritualität
  87. 8.2.1   Begriffsklärungen: Lebenssinn, Religiosität und Spiritualität
  88. 8.2.2   Geragogische Ansätze zur Begleitung bei Sinnsuche und Sinnfindung
  89. 8.3   Kreative Lebensgestaltung
  90. 8.3.1   Begriffsbestimmung: Kreativität
  91. 8.3.2   Bildungsanliegen Kreativität
  92. 8.3.3   Kulturelle Bildung
  93. 8.3.4   Kreative Lebensgestaltung und mitverantwortliche Lebensführung im Alter
  94. 8.4   Ökologie und Nachhaltigkeit
  95. 8.4.1   Zum Begriff »nachhaltige Entwicklung«
  96. 8.4.2   Das Konzept der Nachhaltigkeit in der Altersbildung
  97. 8.4.3   Entwicklung von Nachhaltigkeitskompetenzen als geragogisches Ziel
  98. 8.4.4   Praxisbeispiel »Klimawandel« – Projekte und Formate
  99. 8.4.5   Nachhaltige Bildung – Beispiel für die Zukunftsorientierung der Geragogik
  100. 8.5   Gesundheit, Krankheit, Behinderung
  101. 8.5.1   Gesundheit, Krankheit und Behinderung: Begriffe und Konzepte
  102. 8.5.2   Gesundheitsförderung und Gesundheitsbildung
  103. 8.6   Generationendialog
  104. 8.6.1   Unterschiedliche Generationenbegriffe
  105. 8.6.2   Generationenbeziehungen im privaten und außerfamilialen Bereich
  106. 8.6.3   Aktuelle Entwicklungen in Bezug auf Generationenverhältnisse
  107. 8.6.4   Intergenerationelle Bildung
  108. 8.7   Digitale Medien, Technik, Informations- und Kommunikationstechnologien
  109. 8.7.1   Zur Bedeutung von digitalen Medien, Technik und neuen Technologien für ältere Menschen
  110. 8.7.2   Medienbildung und Technikkompetenz im Alter
  111. 8.7.3   Formate der Technikbildung im Alter
  112. 8.7.4   Strukturen für Technikkompetenz
  113. 8.7.5   Ethische Überlegungen
  114. 8.8   Freiwilliges und bürgerschaftliches Engagement Älterer
  115. 8.8.1   Begriffliche Klärungen und Einordnungen
  116. 8.8.2   Engagementfelder und -formen im Alter
  117. 8.8.3   Effekte des Engagements
  118. 8.8.4   Lernarrangements im Kontext von Bürgerengagement
  119. 9   Geragogische Handlungsfelder
  120. 9.1   Bildungsbereiche: Traditionelle, informelle und intermediäre Lernorte
  121. 9.1.1   Traditionelle Orte der Bildung im Alter
  122. 9.1.2   Informelle Lernorte
  123. 9.1.3   Intermediäre Lernorte
  124. 9.2   Altenhilfe und Pflege: Zielgruppen und Aufgabenstellungen
  125. 9.2.1   Alleinlebende Menschen mit Pflegebedarf in Privathaushalten
  126. 9.2.2   Pflegende Angehörige und Familien
  127. 9.2.3   Bewohner*innen der stationären Langzeitpflege und Menschen mit Demenz
  128. 9.2.4   Förderung ehrenamtlicher, pflegeunterstützender Dienste und der Selbsthilfe
  129. 9.2.5   Professionelle Kräfte in Altenhilfe und Pflege – komplexe Aufgaben
  130. 9.3   Arbeitswelt und Betrieb
  131. 9.4   Gesundheitswesen
  132. 9.5   Neue Handlungsfelder in Kommune und Quartier
  133. 10 Qualitätsentwicklung
  134. 10.1 Hintergrund, Begriff, Stand der Forschung und Bedeutung von Qualitätsentwicklung
  135. 10.2 Qualitätsziele in der Altersbildung – ein Beispiel
  136. 11 Ausblick: Geragogik als Bildung für eine Gesellschaft des langen Lebens
  137. 11.1 Zur Förderung von Altersbildung in der Praxis
  138. 11.2 Zur Förderung von Reflexion und Handeln
  139. 11.3 Strategieentwicklung zu Kooperation und Koproduktion
  140. 11.4 Zum Auf- und Ausbau geragogischer Strukturen
  141. 11.5 Geragogik als Wegbereiterin für die Zukunft
  142. Literatur
  143. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Das Leben im Alter ist zunehmend geprägt von globalen und gesellschaftlichen Veränderungen, von Individualisierungsprozessen und einem Verlust an Traditionen, aber auch von Megatrends wie der Digitalisierung. Immer mehr Menschen werden immer älter – bis 2050 soll sich in Europa ihre Anzahl mehr als verdoppeln. Eine wachsende Zahl von ihnen lebt alleine. Die Gestaltung und Bewältigung der eigenen Lebensbedingungen orientiert sich einerseits an gesellschaftlicher Teilhabe und einer als sinnvoll erlebten Form der Ausgestaltung dieser langen Phase sowie dem Tätigsein in einer biografischen Kontinuität. Andererseits geht es aber auch um den Umgang mit veränderten körperlichen Bedingungen und Einschränkungen bei Krankheit, Hilfe- und Pflegebedarf. Altern wird damit zu einem Prozess ständiger Bemühungen um eine immer wieder neu notwendig werdende Balance und Neuorientierung. Es bietet Chancen und Risiken gleichermaßen, verlangt ständig neue Anpassungsleistungen und stellt wachsende Anforderungen an die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft. Vom einzelnen Menschen her betrachtet erfüllt Bildungsarbeit beim Übergang ins höhere und hohe Alter eine wichtige Funktion in Bezug auf die individuelle Lebensgestaltung. Aus gesellschaftlicher Perspektive braucht eine funktionierende demokratische Gesellschaft die Beteiligung aller Generationen, denn die Entwicklung gesellschaftlicher Bedingungen und Möglichkeiten hängt davon ab, dass sich auch die Älteren beteiligen, ihre Erfahrungen, ihr Engagement und ihre Kompetenzen einbringen und bis ins hohe Alter ihr Interesse und ihre Neugier bewahren.

Die Geragogik befasst sich als relativ junge Wissenschaftsdisziplin mit den für Bildung im Alter notwendigen konzeptionellen Voraussetzungen und ermöglichenden Bedingungen. Sie hat eine erziehungs- und bildungswissenschaftliche Prägung und ist mittlerweile auch im Lehrangebot an Universitäten und Hochschulen verankert. Als Teildisziplin der Gerontologie nimmt sie eine immer wichtiger werdende Rolle ein. Zudem hat sie eine besondere Nähe zur Sozialen Arbeit. Fakt ist: Sie wird als wissenschaftliche Disziplin zunehmend wichtiger. Vor allem im Kontext der aktuellen Debatte um die Potenziale und das Erfahrungswissen älterer Menschen bekommt Bildung im Alter eine neue Aktualität: Lernen und Bildung werden als Anliegen des gesamten Lebens angesehen, in dem im intergenerationellen Austausch die Entwicklung einer humanen »Gesellschaft des langen Lebens« Gestalt annehmen kann. Bildung trägt zur Integration in die Gesellschaft bei, da sie zur Teilhabe und Partizipation am gesellschaftlichen Leben befähigt. Dadurch wirkt sie sinn- und identitätsstiftend und hat in mehrfacher Hinsicht eine gesundheitsfördernde Komponente. Aus diesem Grund gibt es sowohl ein gesellschaftliches Interesse an der Bildungsfähigkeit und -bereitschaft älterer Menschen als auch wichtige auf den Einzelnen bezogene Begründungen zur Ermöglichung und Förderung von Bildung.

Das vorliegende Lehrbuch Geragogik greift die mit Bildung und Alter(n) verbundenen Fragen auf und bietet eine theoretische Fundierung für die Bildungsarbeit im Kontext von Alter und Altern. Neben theoretischen und begriffssystematischen Grundlegungen werden die sich ausdifferenzierenden thematischen Orientierungen und Handlungsfelder, konzeptionelle Ansätze, notwendige Rahmenbedingungen und Forschungsergebnisse sowie Herausforderungen an die Qualitätssicherung in den Blick genommen. Als Lehrbuch angelegt, werden hier auch jeweils wichtige Aspekte der konkreten Umsetzung in die Praxis aufgeführt, verbunden mit Fragen der Methodik und Didaktik. Zur Auseinandersetzung mit den speziellen Bedingungen, Ursachen und Wirkungen des demografischen Wandels sei auf den Forschungsstand anderer Disziplinen, besonders auf Demografieforschung und Gerontologie, verwiesen. Im vorliegenden Buch geht es speziell um eine geragogische Positionierung und die Entfaltung eines geragogischen Zugangs. Angesichts eines sehr weit gefassten Verständnisses von Altersbildung als einer Disziplin, die sowohl Bildung im Alter als auch Bildung für das Alter(n) und den Umgang mit dem Älterwerden und alten Menschen umfasst, wird die grundlegende Intention von Geragogik systematisch entwickelt und dargestellt. Diese besteht darin, Bildungskonzepte für die Herausforderungen der jeweils höchst unterschiedlichen und sehr individuellen Lebenssituationen im Prozess des Älterwerdens zu entwickeln und zu erproben. Dabei orientiert sie sich nicht am kalendarischen Alter, sondern an den sozialen Alterskategorien des Dritten, Vierten und Fünften Alters, die für die Spezifik typischer sozialer Bedingungen in der langen Lebensphase Alter stehen und mit den jeweils damit verbundenen Entwicklungs- und Bildungsherausforderungen verknüpft werden. Damit wird deutlich, wie ältere und alte Menschen, befähigt und ermutigt durch Lern- und Bildungsprozesse, den demografischen Wandel konstruktiv mitgestalten können. Benannt wird zudem, welche Bedingungen bereitgestellt werden können, damit Älterwerden gelingen kann.

In der vorliegenden zweiten erweiterten und überarbeiteten Auflage wird auf aktuelle Entwicklungen Bezug genommen, etwa auf die Digitalisierung des Alltags, auf gesellschaftliche Anliegen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, auf Lernen und Bildung im Kontext von Sozialraumorientierung, Quartiersentwicklung und Bürgerengagement – jeweils auch im intergenerationellen und interdisziplinären Zusammenspiel.

Das Autorinnenteam hat sich aufgrund des Ausscheidens von Eva Gösken, der an dieser Stelle für die jahrelange konstruktive Zusammenarbeit gedankt wird, neu formiert – Stefanie Engler ist hinzugekommen. Die Autorinnen bringen unterschiedliche Professionslogiken ein, die auf der Schnittstelle von Bildungs- und Erziehungswissenschaft, Gerontologie, Gesundheitswissenschaften und Sozialer Arbeit verortet sind. Diese interdisziplinäre Perspektive entspricht der Realität der Geragogik in Theorie und Praxis, in Forschung und Lehre: Geragog*innen repräsentieren also unterschiedliche Disziplinen, deren verbindender Gegenstand die Beschäftigung mit Fragen der Bildung im Alter und über das Altern ist.1

In umfangreichen Recherchen und in der Diskussion mit Fachkolleg*innen entstand so ein gemeinsam verantwortetes Fachbuch, das bewusst kein Herausgeberband ist. Es versteht sich als Beitrag zur Theoriebildung in der Geragogik und ist gleichzeitig ein Übersichtswerk über den aktuellen Stand und die verschiedenen in der Entwicklung befindlichen Ansätze. Die aktuellen fachlichen Diskussionen in der Deutschen Fachgesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), hier vor allem im »Arbeitskreis Geragogik«, aber auch in der Fachgruppe »Soziale Arbeit in Kontexten des Alter(n)s« der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) und die Diskurse im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) und dort mit Kolleg*innen aus der Erwachsenenbildung und Weiterbildung haben uns viele Anregungen und Hinweise geliefert, die in die vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage des Buches eingeflossen sind. Zu seinem Gelingen haben somit viele verschiedene Fachvertreter*innen mit ihrer Expertise beigetragen, unter anderem auch unsere verstorbenen Kollegen Matthias Pfaff und Detlef Knopf. Ihnen allen gilt an dieser Stelle unser besonderer Dank.

 

Prof. Dr. Elisabeth Bubolz-Lutz

Monheim

Prof. Dr. Stefanie Engler

Freiburg

Prof. Dr. Cornelia Kricheldorff

Freiburg

Prof. Dr. Renate Schramek

Bochum

1     Auch der Umgang mit Sprache hat sich in den vergangenen zehn Jahren deutlich verändert. Aus diesem Grunde hat sich das Autorinnenteam für die Verwendung gendersensibler und -gerechter Formulierungen entschieden. Der Genderstern ist dabei Ausdruck der Berücksichtigung und Anerkennung von Genderdiversität.

1          Geragogik – begriffliche Klärungen

 

 

Die Geragogik hat sich als Wissenschaftsdisziplin inzwischen in den einschlägigen Fachdiskursen zum Thema »Bildung und Alter« gut etabliert. Sie wird in speziellen Studienprogrammen und -modulen gelehrt und hat in Fachveröffentlichungen zunehmend Verbreitung gefunden. Geragogik versteht sich als interdisziplinär ausgerichtet und ist, auch über die Altersphase hinaus, als intergenerationelle Bildungsarbeit in vielen Kontexten mittlerweile verankert. Obwohl sich auch immer noch eine Diversität parallel verwendeter Fachtermini findet, wie Altenbildung, Altenpädagogik, Gerontagogik, Gerontologische Bildungsarbeit, Lebenslanges Lernen, Weiterbildung im Alter, also ein gewisser Dissens der Begrifflichkeiten besteht, hat sich die Bezeichnung Geragogik doch in Theorie und Praxis immer stärker durchgesetzt. Bedingt durch die sprachliche Nähe zur Pädagogik einerseits und zur Gerontologie andererseits hat die Bezeichnung » Geragogik « eine deutliche Aussagekraft hinsichtlich ihrer Orientierung und Ausrichtung.

1.1       Zum Begriff Geragogik

1.1.1     Geragogik – Wege zum Verständnis des Begriffs

Der Begriff »Geragogik« kommt aus dem Altgriechischen. Er setzt sich zusammen aus den Worten »Geraios/Geraros« in der Bedeutung von »alt« beziehungsweise »der Alte« und aus dem Wort »Ago«, was im engeren Wortsinn »ich führe hin, ich geleite, ich zeige den Weg« bedeutet. In der deutschsprachigen Fachliteratur findet sich der Begriff seit den 1960er Jahren häufiger (vgl. Petzold, 1965). 1971 definierte der Erziehungswissenschaftler Hans Mieskes die Geragogik als »Pädagogik des alternden und alten Menschen« – sie sei die Wissenschaft von den pädagogischen Bedingungen, Begleiterscheinungen beziehungsweise Folgen des Alterungsprozesses (vgl. Mieskes, 1971).

1.1.2     Geragogik – wissenschaftliche Disziplin und Praxis

Die Geragogik hat sich in den vergangenen 50 Jahren sowohl als wissenschaftliche Disziplin als auch als einschlägige Praxis zunehmend etabliert (vgl. Schramek, Kricheldorff, Schmidt-Hertha & Steinfort-Diedenhofen, 2018; Bubolz-Lutz, Gösken, Kricheldorff & Schramek, 2010). Dass es wichtig ist, den Prozess des Alterns in Zusammenhang mit Lern- und Bildungsherausforderungen zu sehen, liegt auf der Hand: Der rasche gesellschaftliche Wandel fordert jeden Einzelnen bis ins hohe Alter zu »lebenslangem Lernen« auf. Aber auch umgekehrt ist die Ausgestaltung einer »Gesellschaft des langen Lebens« nur durch Lern- und Bildungsprozesse im Alter, im Hinblick auf gelingendes Altern und zum Umgang mit Älteren denkbar. So wird Bildung zum konstituierenden Faktor für die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Gestaltung der langen Lebensphase »Alter« und des demografischen Wandels.

Geragogik umfasst – in Analogie zur Pädagogik – sowohl die Praxis als auch Wissenschaft und Lehre. Ihr Gegenstandsbereich ist die Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen im Alter. In der Auseinandersetzung über die Gestaltung von Lernprozessen für die zweite Lebenshälfte werden zwei Perspektiven wirksam: die Perspektive der Älteren selbst und die derjenigen, die mit älteren Personen leben, lernen und arbeiten. Dies können professionelle, bürgerschaftlich engagierte oder andere Kontaktpersonen sein. So geht es der Geragogik um beides: durch Lernen und Bildung das eigene Altern reflektierend zu gestalten, wie auch darum, Lern- und Bildungsprozesse gezielt zu ermöglichen, d. h. zu initiieren und zu begleiten.

1.1.3     Zugrundeliegende Wertorientierung

Die Geragogik versteht sich nicht nur als eine empirisch arbeitende Wissenschaft, sondern orientiert sich sowohl an der Tradition der geisteswissenschaftlichen als auch der emanzipatorischen Pädagogik. Sie vertritt ein Menschenbild, das sich an personaler Würde und Autonomie orientiert und bezieht sich auf ein Gesellschaftsverständnis, das allen Menschen, in allen Lebensphasen, ein Recht auf Bildung und damit auch auf Teilhabe an öffentlich organisierten Lernangeboten zugesteht. Selbst wenn einzelne Richtungen der Geragogik unterschiedliche Schwerpunkte setzen, herrscht Übereinstimmung im Hinblick auf die Wahl eines mehrperspektivischen Ansatzes: Demnach erforscht die Geragogik nicht nur die individuellen Lerninteressen und in diesem Zusammenhang auch die Lebenslagen und Lebensstile im Alter. Sie reflektiert vielmehr auch – und das vor allem auf der Basis von Forschungsarbeiten im Kontext der Sozialen Gerontologie und der Sozialen Arbeit – die strukturellen Gefährdungen der menschlichen Entwicklung durch Faktoren sozialer Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte (Kricheldorff & Klott, 2017). Als anwendungsbezogene Disziplin zielt Geragogik auf die Entwicklung von Möglichkeiten der Einflussnahme und Partizipation Älterer. Die von ihr vertretene »Ermöglichungsdidaktik« intendiert die Bereitstellung lernförderlicher Bedingungen, die ältere und sehr alte Menschen anregen sollen, als »Experten in eigener Sache« ihre Lebens- und Lernpotenziale zu entdecken (Kricheldorff, 2020b). Unterstützt werden sollen damit Identitätsentwicklung, Selbstbildung und verantwortliches gesellschaftsbezogenes Handeln (Steinfort, 2010; Bubolz-Lutz & Steinfort, 2006).

1.1.4     Geragogik – Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis

Ein Kennzeichen der aktuellen Entwicklung in der Geragogik ist die enge Verzahnung von Theorie und Praxis. Ohne die Strukturverschiedenheit beider Bereiche außer Acht zu lassen, zielt die Geragogik darauf, Erkenntnisse zu Bildung und Lernen in Bezug auf das Alter zu gewinnen, die zur Gestaltung von Lernarrangements hilfreich sein können. Die so intendierte Verbindung von Theorie und Praxis ist als kontinuierlicher Diskurs von Forscher*innen und Praktiker*innen gedacht – möglichst unter Einbezug von vielen unterschiedlichen Sichtweisen. So analysiert geragogische Forschung etwa bestehende Bedarfslagen und Bildungsstrukturen (Kolland et. al., 2018; Kricheldorff, 2018b; Kolland, 2005), um darauf aufbauend Lernformate für spezielle Zielgruppen in der Praxis zu entwickeln und zu erproben, wie zum Beispiel Menschen im hohen Alter, Ehrenamtliche oder bildungsungewohnte Ältere (vgl. Klein, Merkle & Molter, 2021). Geragogische Forschungsarbeiten liefern beispielsweise auf der Basis von Interviews mit älteren Menschen und professionellen Akteuren, die mit Älteren arbeiten, also im Rahmen qualitativer Forschungsansätze, auch die Datenbasis für die Identifikation von Qualitätsmerkmalen für eine professionelle Altenarbeit und Altersbildung. Die konsentierten Qualitätsziele können dann eine Orientierungsfunktion für die Bildungsarbeit mit Älteren haben. (vgl. Köster, Schramek & Dorn, 2008).

Die geragogische Praxis verfolgt das Ziel, durch professionell angeregte und begleitete Lernprozesse Ältere dabei zu unterstützen, ihre individuellen Ressourcen und Potenziale zu erkennen und weiterzuentwickeln sowie die eigenen (Lern-)Bedürfnisse zu artikulieren und ihnen verantwortlich Rechnung zu tragen. Vor dem Hintergrund von Erfahrungsmangel und Erfahrungsarmut im Lebensalltag, vor allem bei hochaltrigen Menschen mit eingeschränktem Bewegungsradius, wird darauf hingewirkt, vorhandene Kompetenzen zu erhalten und die Handlungsfähigkeit zu steigern. In Projektkontexten wird immer wieder versucht, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden (vgl. Schramek et. al., 2018; Kricheldorff, 2021).

Die geragogische Forschung knüpft an entwicklungspsychologische Modelle der Lebenslaufforschung an, die die Lern- und Entwicklungsbereitschaft wie auch die Lern- und Entwicklungsfähigkeiten in den jeweiligen Lebensphasen erforschen (vgl. Staudinger & Schindler, 2002; Lehr, 2006, 2007). Da sie die Erkenntnisse gerontopsychologischer und neurobiologischer Forschung in ihre Konzeptentwicklungen mit einbezieht, steht sie präventiv-therapeutischen Ansätzen der Interventionsgerontologie sehr nahe. Dennoch bietet sie einen deutlich weiteren Horizont, in dem sowohl philosophische als auch theologische, weltanschauliche und spirituelle Perspektiven eine Rolle spielen. Die auf Forschungsergebnissen beruhenden Konzeptionen gehen von den Lebensthemen der Älteren selbst aus, die etwa mit der Leitdifferenz Sicherheit/Unsicherheit im Alter konfrontiert sind. Es sind aber auch gesellschaftliche Bedarfslagen, die zur Sprache kommen sollen: Älteren und sehr alten Menschen soll es durch Lernen und Bildung möglich werden, auf wirksame Weise zur Entwicklung einer »Gesellschaft des langen Lebens« beizutragen, in der das Leitbild des menschenwürdigen Alterns als globales und gesellschaftliches, gemeinsames Anliegen aller Generationen verfolgt wird.

Die entsprechende geragogische Lehre findet an Universitäten, Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, Akademien, Volkshochschulen, Einrichtungen der Beruflichen Weiterbildung für Pflegeberufe usw. statt. Innerhalb der Hochschullandschaft hat sich die Geragogik in Deutschland, Österreich und der Schweiz zunehmend etabliert.

1.1.5     Geragogische Denkprinzipien und Arbeitsweisen

In Forschung, Lehre und Praxis arbeitet die Geragogik (image Kap. 3.5)

•  interdisziplinär – da sie sich aufgrund der gemeinsamen Forschung unterschiedlicher Fachrichtungen und der gemeinsamen Praxis zwischen unterschiedlichen Professionen konstituiert,

•  praxeologisch – da sie eine enge Verzahnung und Rückkoppelung von Forschung, Lehre und Praxis praktiziert und hierfür spezielle Strukturen und Arbeitsweisen entwickelt,

•  partizipativ – da sich Ältere aktiv am Forschungsprozess beteiligen und die Entwicklung didaktischer Konzeptionen daran gemessen wird, in welchem Umfang sie Partizipation ermöglicht,

•  lebenslauforientiert – da sie die Lern- und Entwicklungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte in den Kontext des gesamten Lebenslaufs eingebettet sieht. Im Fokus des Forschungsinteresses stehen sowohl intra- als auch intergenerationelle Lernprozesse über den ganzen Lebenslauf hinweg; Geragogik befasst sich auch damit, Auseinandersetzung mit Themen des Alterns in Kindergarten, Schule usw. zu initiieren,

•  wertorientiert – da ein an Würde, Selbstbestimmung und Intersubjektivität orientiertes Menschenbild die Grundlage für Forschung und Praxis bildet. Das einseitig an einer Leistungskultur ausgerichtete Leitbild eines »Aktiven Alters« wird relativiert durch ein Leitbild, in dem »aktiven« und »passiven« Lebensstilen im Alter gleichermaßen Wertschätzung entgegengebracht und in dem »Eigen-Sinn« der Älteren Rechnung getragen wird (Schützendorf, 2008).

Zusammenfassung

Als Geragogik wird die wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, die sich am Leitbild von Menschenwürde und Partizipation im Alter orientiert, Bildungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte erforscht, Bildungskonzepte mit Älteren und für das Alter entwickelt und erprobt und diese in die Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Arbeit mit Älteren einbringt.

1.2       Zu den Begriffen Lernen und Bildung

Um den Gegenstandsbereich der Geragogik zu umschreiben, kommen in der Literatur diverse Begriffe zur Anwendung: auf der einen Seite Lernen im Alter, lebensbegleitendes Lernen, auf der anderen Seite Bildungsarbeit mit alten Menschen, Bildung im Alter. Die zentralen Begriffe »Lernen« und »Bildung« werden in der einschlägigen Literatur zum Teil parallel, zum Teil synonym gebraucht. Manche Autor*innen bezeichnen als »Lernen«, was andere als »Bildung« bezeichnen, sodass sich deutliche Unschärfen und Überschneidungen in den Fachdiskursen ergeben. Zwar folgt die Geragogik klaren begrifflichen Unterscheidungen, dennoch kann die systematisierende Unterscheidung hier nicht durchgängig aufrechterhalten werden – zu unterschiedlich erweist sich der Gebrauch der Begriffe in der gesamten einschlägigen Fachliteratur. Wo auf fachwissenschaftliche Texte Bezug genommen wird, geschieht dies unter Anpassung an den dort jeweils vorgefundenen Begriffsgebrauch.

1.2.1     Geragogischer Diskurs zum Lernen – Lernen als Grundlage für Bildung

Bei allen Unterschieden im Verständnis von Lernen besteht dennoch Übereinkunft darüber, dass Lernen ein grundlegender Vorgang und Prozess im Leben des Menschen darstellt. Lernen ermöglicht es, sich an unterschiedliche natürliche wie kulturelle Lebensbedingungen jeweils anzupassen und diese aktiv auch zu gestalten. Die Fähigkeit zu lernen ist deshalb die Grundlage für eine Bildung, die den Aspekt der Reflexivität und der bewussten Mitgestaltung (Co-Kreation) umfasst.

Lernen wird im geragogischen Kontext also ganz grundsätzlich als basale Fähigkeit des Menschen verstanden, die Anpassung an unterschiedliche und sich im Alternsprozess verändernde Lebensbedingungen und -umstände selbst gesteuert zu vollziehen. Die dafür notwendigen Lernprozesse sind in der Mehrzahl informeller Art, sie geschehen oft nebenbei und unbemerkt, und sie sind in den Bezügen des Alltags verankert (Kricheldorff, 2020b und 2021; Bubolz-Lutz et al., 2010). Diese grundlegende Fähigkeit zu lernen stellt gleichzeitig die allgemeine Grundlage für Bildung dar.

Der Lernbegriff in der Tradition der Lernpsychologie

Psychologische Lerntheorien (auch verhaltenswissenschaftliche Lerntheorien genannt) versuchen zu erklären, wie Personen lernen. Sie lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen: die behavioristischen und die kognitivistischen Lerntheorien. Viele Autor*innen unterscheiden innerhalb dieses lerntheoretischen Bezugsrahmens drei Paradigmen des Lernens: das behavioristische Paradigma, das kognitivistische Paradigma und das Paradigma des situierten Lernens.

•  Nach dem behavioristischen Paradigma (bis in die 1960er Jahre) ist Lernen ein durch äußere Wirkfaktoren (Reize, Verstärkungen) gesteuerter Prozess der Verhaltensänderung. Spätere Theorien erweitern das einfache Reiz-Reaktions-Modell um intervenierende Variablen, wie z. B. bisherige individuelle Lernerfahrungen, Werthaltungen, Erwartungen sowie andere kognitive Faktoren (vgl. Schmidt, 1987, S. 631). Definiert wird Lernen in der Tradition der verhaltenswissenschaftlichen Lerntheorien üblicherweise als »die relativ dauerhafte Änderung von Verhalten aufgrund von Erfahrung, d. h. von Interaktionen eines Organismus mit seiner Umwelt. Nicht gemeint sind Verhaltensänderungen aufgrund genetisch programmierter Entwicklungsschritte (Reifung) und aufgrund vorübergehender Zustände wie Ermüdung oder Rausch« (Skowronek, 2001, S. 212). In neueren Definitionen werden neben Verhaltensänderungen auch Änderungen der Verhaltensmöglichkeiten berücksichtigt: »Dies bedeutet, dass der Lerner nach Abschluss des Lernprozesses sich anders verhalten, anders denken, anders wollen, anders handeln kann« (Edelmann, 2000, S. 278).

Beispiel

Der Autofahrer lernt, auf die Bremse zu treten (Reaktion), sobald ein Stoppschild auftaucht (Reiz). ODER: Wer sich einmal verbrannt hat, fasst nicht mehr auf die heiße Herdplatte.

•  In den 1960er Jahren verlor das behavioristische Paradigma durch die sogenannte »kognitive Wende« an Bedeutung. Nach dem kognitivistischen Paradigma wird Lernen im weitesten Sinne als Informationsverarbeitung verstanden. Bei dieser Betrachtungsweise geht es also um die Prozesse, die im lernenden Organismus vor sich gehen, wie z. B. Wahrnehmen, Denken, Verstehen, Erinnern, Problemlösen, Schlussfolgern. Während behavioristische Lerntheorien schwerpunktmäßig die äußeren Bedingungen des Lernens (Auslösung von Reaktionen durch Reize) beschreiben, rückt bei den kognitiven Lerntheorien die innere Repräsentation der Umwelt in den Mittelpunkt des Interesses. Der Konstruktivismus – wenn er als Teilbereich des Kognitivismus verstanden wird (vgl. Plassmann & Schmitt, 2007) – stellt bei den internen Verarbeitungsprozessen besonders die individuelle Wahrnehmung, Interpretation und Konstruktion von Wirklichkeit heraus. Entsprechend steht nicht der Verarbeitungsprozess aufgrund einer Wechselwirkung von Außenreizen und Informationsverarbeitung im Mittelpunkt, sondern die Konstruktion einer individuellen und subjektiven Welt eines Individuums (Plassmann & Schmitt, 2007). Diese subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen beeinflussen dann wiederum die Sichtweisen und Verhaltensweisen des Individuums.

•  Ein drittes Paradigma ist das dessituierten Lernens. Lernen wird hier als jeweils in einer bestimmten Lernumwelt situiertes Geschehen betrachtet. Im deutschen Sprachraum wird diese Theorie meist im Kontext der Konstruktivismusdebatte gesehen. Entsprechend wird Lernen in diesem Paradigma auch als aktiver Konstruktionsprozess verstanden. Der Fokus der Betrachtung liegt jedoch auf den Besonderheiten der materiellen und sozialen Situation, in der das Lernen stattfindet. Als von zentraler Bedeutung wird die Rolle sozialer Interaktion gesehen, weil sie den Lernenden die Möglichkeit gibt, Erfahrungen zu machen und Kompetenzen zu entwickeln. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Gestaltung von Lernumgebungen. Lernen wird laut diesem Ansatz gefördert, wenn Lernende die Möglichkeit haben, sich mit der Lösung authentischer (möglichst persönlich bedeutsamer) Probleme zu befassen.

Der Lernbegriff in der Erwachsenenbildung

Das Lernen von Erwachsenen wurde erst im Zusammenhang mit der Diskussion um das lebenslange Lernen verstärkt in den Blick genommen. Zugleich wurde auch die Frage nach der Lernfähigkeit mit zunehmendem Alter gestellt (image Kap. 6.1). Wenn wir davon ausgehen, dass Lernen ein grundlegender Lebensprozess ist, der von der Geburt bis zum Tode stattfindet, so bedarf es besonderer Klärungen, um einen für das Lernen im Erwachsenenalter und Alter theoretisch angemessenen Lernbegriff zu gewinnen.

Für das Erwachsenenlernen hat sich ein Lernverständnis herausgebildet, das markiert wird durch den Wechsel der wissenschaftlichen Perspektive: weg vom Paradigma des behavioristischen Lernens hin zum konstruktivistischen Paradigma.

Der Konstruktivismus – als theoretische Basis dieses Modells – untersucht die Art und Weise, wie wir Menschen unsere eigenen Wirklichkeiten erschaffen (vgl. Watzlawick, 1986, S. 115). Er geht davon aus, dass das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann. Allein das, was wir aus unserer Erfahrung machen, bildet die Welt, in der wir bewusst leben (vgl. Glasersfeld, 1998, S. 22).

Grundlegend für ein konstruktivistisches Lernverständnis ist einerseits das Prinzip der Selbstorganisation, demzufolge Lernende und Lehrende als lebende Systeme anzusehen sind, die autonom und selbstreferenziell (selbstbezüglich) handeln. Andererseits ist aber gleichermaßen der Deutungsaspekt grundlegend, demzufolge die Akteure sich ihre subjektive Wirklichkeit in einem oft unbewussten Prozess selbst »konstruieren« und auf der Grundlage dieser Konstruktionen handeln beziehungsweise lehren und lernen (vgl. Arnold & Siebert, 1995, S. 7 f). Lernen wird mithin als ein aktiv-konstruktives Handeln von Lernenden verstanden.

Im Hinblick auf das Lernen Erwachsener bedeutet dies u. a.:

•  Es ist in hohem Maße biografie- und erfahrungsabhängig. Es vollzieht sich immer auf der Folie vorausgegangenen Lernens und früherer Erfahrungen. Anders ausgedrückt: Erwachsenenlernen vollzieht sich immer in der durch die Konstruktionen des Erwachsenen vorgedeuteten Welt (vgl. Siebert, 1996, S. 27) und ist oft selektiv im Hinblick auf das, was in vorhandene, biografisch gewachsene kognitive Strukturen hineinpasst (Bestätigungs- oder Anschlusslernen).

•  Im konstruktivistischen Sinne ist Lernen ein autopoietischer, biografisch und lebensweltlich verankerter Lernprozess, der sich selbstgesteuert, selbstreferenziell und individuell vollzieht (vgl. ebd.).

•  Lernen ist aber nicht nur ein individueller, sondern auch ein sozialer Prozess, insofern sich dieser in sozialen Kontexten vollzieht. Im Austausch mit anderen stoßen Lernende auf Erfahrungen, die von den eigenen abweichen und Anlass zur Reflexion eigener Erfahrungen geben können. Gelernt wird also nicht nur durch Bestätigung, sondern auch durch Differenzerfahrungen. Insofern gilt für Lernangebote: Sie sollten zwar anschlussfähig sein, aber doch die Möglichkeit enthalten, von Vorerfahrungen abzuweichen.

•  Die Lernenden sind für ihre Lernprozesse selbst verantwortlich. Auch Lernwiderstände und Lernverweigerungen können für sie unter Umständen sinnvoll und begründet sein (vgl. Siebert, 2004, S. 61).

•  Der Konstruktivismus betont den Zusammenhang von Erkennen und Handeln; damit wird das alltägliche Erfahrungslernen, das Lernen »en passant« aufgewertet.

Das konstruktivistische Lernverständnis findet seinen Niederschlag in der didaktischen Konzeption des sogenannten selbstgesteuerten oder selbstorganisierten Lernens (image Kap. 7). Hier geht es darum, den Lernprozess so zu gestalten, dass die Lernenden durch einen sicheren Rahmen und gute Lernbedingungen angeregt und ermutigt werden, ihren Lernprozess so weit wie möglich selbst »in die Hand zu nehmen«. Insofern erarbeiten sich die Teilnehmenden nicht nur neue Inhalte in einer ihnen entsprechenden Methodik, sondern sie erwerben die Kompetenz, im Alltag Lernprozesse gezielt selbst zu planen und erfolgreich zu gestalten.

Das Subjekt mit seinen Lebensinteressen im Zentrum

Wenn das Lernen Erwachsener in hohem Maße als aktiv-konstruktiver, selbstgesteuerter Prozess verstanden wird, dann heißt dies, dass das Subjekt selbst mit seinen Lerninteressen im Zentrum des Lernarrangements steht und dass auch dort, wo institutionelle Lernangebote gemacht werden, die didaktische Ausgangsfrage nicht lauten kann »Was soll der Einzelne lernen?«, sondern »Was will der Teilnehmende lernen?«

Klaus Holzkamp (1993) hat einen Lernbegriff entwickelt, der von den Lebensinteressen des Subjekts als Begründungen individuellen Lernens ausgeht und sich daher anbietet als Grundlage für einen erwachsenenbildnerischen Lernbegriff. Das Subjekt wird hier als »Intentionalitätszentrum« verstanden, das sich auf die Welt, auf andere und auf sich selbst bezieht. Subjektorientierung meint bei Holzkamp nie nur den Bezug auf autonome Subjekte, sondern auf Individuen, die immer schon in gesellschaftlichen Bezügen stehen.

Das Subjekt lernt, wenn es entsprechende Gründe dafür hat. Zum Lernen als einem aus den Lebensinteressen des Subjekts heraus begründeten Handeln kommt es, wenn das Subjekt in seinem normalen Handlungsvollzug auf Hindernisse stößt und sich dabei vor einer Handlungsproblematik sieht, die es nur durch Lernen überwinden kann. Gelernt wird also aufgrund von Diskrepanzerfahrungen, wenn das Subjekt durch ein von ihm empfundenes Handlungsproblem eine Irritation erfährt und sich durch Lernen eine erweiterte Handlungsfähigkeit verspricht (vgl. Schäffter, 1997 und 2001). Sind die äußeren Lernbedingungen so, dass sie sich mit seinen Lebens- und Lerninteressen verbinden lassen, kann es zu »expansivem Lernen« kommen, das heißt zu einem Lernen, das sowohl die eigenen als auch die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten des Subjekts erweitert. Ansonsten kommt es zu Formen »defensiven Lernens«, die lediglich der Vermeidung von Sanktionen und der Bedrohungsabwehr dienen.

Holzkamps Lernbegriff zielt vorrangig auf intentionales, d. h. bewusstes und geplantes Lernen, nicht auf Formen inzidentellen Lernens beziehungsweise des Mitlernens »en passant«.

Um dem Lehr-Lern-Kurzschluss zu entkommen, d. h. der Vorstellung, dass in von außen gesetzten Lernarrangements das gelernt wird, was durch das jeweilige Arrangement beabsichtigt ist, müssen nach Holzkamp Arbeitsbedingungen und Kommunikationsformen geschaffen werden, innerhalb derer die wirklichen Lerninteressen der Betroffenen systematisch geäußert und berücksichtigt werden können (image Kap. 7).

Erwachsenenlernen ist mehr als institutionalisiertes und intendiertes Lernen

Im Rahmen der EU-Debatte um das Lebenslange Lernen (vgl. Europäische Kommission, 2001) wurde der Lernbegriff spezifiziert, u. a. nach dem Grad der Intentionalität des Lernens. Es wurden drei grundlegende Kategorien von Lerntätigkeiten unterschieden:

•  Formales Lernen findet in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen statt und führt zu anerkannten Abschlüssen und Qualifikationen. Es ist aus der Sicht der Lernenden zielgerichtet.

•  Nicht-formales Lernen findet außerhalb der Hauptsysteme der allgemeinen und beruflichen Bildung statt. Es führt nicht unbedingt zum Erwerb eines formalen Abschlusses, ist aber nichtsdestotrotz systematisch und zielgerichtet. Es kann stattfinden am Arbeitsplatz, im Rahmen der Aktivitäten von Organisationen wie z. B. Gewerkschaften, politischen Parteien, in Kursveranstaltungen etc.

•  Informelles Lernen ist eine natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens. Es handelt sich beim informellen Lernen nicht notwendigerweise um intentionales Lernen, sondern oft um ein beiläufiges Lernen »en passant«.

Die Begriffe sind insofern irreführend, als nicht das Lernen selbst informell oder mehr oder weniger formal ist, sondern es sind die Kontexte und Situationen, in denen es stattfindet. Zudem wird auch in formalisierten Kontexten beiläufig gelernt. Man sollte deshalb eher von formalen, nicht-formalen und informellen Lernkontexten, Lernorten oder Lernmodalitäten sprechen (vgl. Barthelmes, 2005).

Erwachsenenlernen braucht einen umfassenden Lernbegriff

Die Unterscheidung verschiedener Lernmodalitäten liefert in jedem Fall einen Hinweis darauf, dass das lebensbegleitende Lernen – als Lernen über den gesamten Lebenslauf hinweg – nur mithilfe eines umfassenden Lernbegriffs angemessen erfasst werden kann. Dieser umfasst eine Vielzahl möglicher Lernformen.

Dem entspricht das von dem Erwachsenenbildner Ortfried Schäffter formulierte Verständnis von Lernen als Prozess »kognitiv strukturierender Umweltaneignung«. Lernende Umweltaneignung meint basale, teilweise nicht einmal bewusstseinsfähige Prozesse wie Erlebnisse und Erfahrungen ebenso wie intendiertes Lernen durch Auseinandersetzung mit bestehenden Wissensbeständen. Dieser Prozess vollzieht sich auf mehreren Ebenen, die oft miteinander verknüpft sind. Die Ebenen lernender Umweltaneignung können auch selbst Gegenstand von Lernbemühungen sein.

Unterschieden werden:

•  subjektspezifische Empfindungen auf der Wahrnehmungsebene, aber auch: Erwerb von Empfindsamkeit;

•  Erlebnisse auf einer situativen Ebene, aber auch: Gewinnung von Erlebnisfähigkeit;

•  Erfahrungen auf der Ebene eines Lebensverlaufs, aber auch: Gewinn von Erfahrungsfähigkeit; (Wieder-)Gewinn von Erinnerungsvermögen;

•  Erfahrungswissen: biografisches Lernen, aber auch: Entwicklung (selbst-)reflexiver Kompetenz in Bezug auf neue Erfahrungsmöglichkeiten;

•  objektivierte Wissensbestände: Wissenserwerb, aber auch: Rezeptionsfähigkeit für neues Wissen.

Hilfreich für die Geragogik ist dieser Lernbegriff insofern, als er neben dem Wissenserwerb auch den Erwerb von Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit sowie biografisches und selbstreflexives Lernen umfasst (vgl. Schäffter, 2000, S. 78 ff.).

Lehren und Lernen im Rahmen von Bildungsarbeit ruhen auf einer basalen Schicht von Aneignungsprozessen. Aus der Fülle der Lernmöglichkeiten und -aktivitäten wird im Lebenslauf nur eine geringe Anzahl in speziell dafür geschaffenen Lernarrangements bewusst aufgegriffen.

Lernen als Suchbewegung

Bestimmungsmerkmale für das Erwachsenenlernen ergeben sich auch aus der Analyse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die als Kontextbedingungen des Lernens wirksam werden und auf die mit je besonderen Formen der Lernorganisation geantwortet werden muss.

Schäffter hat modellartig vier Transformationsmuster im Kontext gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und veränderter Altersbilder und den dafür angemessenen Lern- beziehungsweise Lernorganisationsformen herausgearbeitet (vgl. Schäffter, 1998b, S. 24 ff.):

•  Lineare TransformationLernen als Qualifikationsprozess mit klarer Zielvorgabe: Nach diesem Modell wird Lernen verstanden als Weiterbildung, die einen als defizitär erkannten Ausgangszustand durch den Erwerb neuer Kompetenzen auf einen klar definierten Zielzustand hin überwindet. Diese Struktur fand und findet sich vor allem in der beruflichen Weiterbildung im Sinne von Qualifizierungsmaßnahmen.

•  Zielbestimmte TransformationLernen als Prozess der Aufklärung: In diesem Modell wird eine bestimmte Ausgangssituation von den Lernenden als problematisch im Sinne einer diffusen Betroffenheit erlebt und durch Orientierung an einem vorgegebenen Zielzustand zu überwinden versucht. So kann z. B. der Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand als problematische Ausgangssituation erlebt werden, für deren Lösung vonseiten der Bildungsanbieter das Leitbild vom erfolgreichen und produktiven Altern als Orientierungsmodell angeboten wird.

•  Zieloffene TransformationLernen als Suchbewegung: Auch in diesem Modell geht das Lernen von einer als nicht mehr tragfähig erlebten Ausgangssituation aus, die jedoch nicht durch die Orientierung an einem vorgegebenen Leitbild überwunden wird, sondern durch Suchbewegungen, hin in Richtung einer persönlich zu erschließenden Ziel-Situation. So kann z. B. der Übergang in den Ruhestand als Aufbruchssituation erlebt werden, in der die selbstreflexive Frage nach Wünschen und Bedürfnissen für die Gestaltung der nachberuflichen Lebensphase zum Lernanlass wird.

•  Reflexive TransformationLernen als permanente Selbstvergewisserung: In diesem letzten Modell wird Lernen als eine durch Wandlungsprozesse immer wieder herausgeforderte Neuorientierung konzipiert. Sowohl der Ausgangszustand der Lernenden muss im Sinne einer persönlichen Standortbestimmung reflexiv geklärt werden als auch die Richtung der Veränderung, die sie einschlagen wollen. Jede durch das Lernen neu gewonnene Ordnung kann jedoch durch neuerliche Wandlungsprozesse wieder infrage gestellt werden mit der Folge, dass die Permanenz des Wandels durch permanente Selbstvergewisserung und Neuorientierung beantwortet werden muss. Soweit es sich um strukturelle gesellschaftliche Wandlungsprozesse handelt, die vom Einzelnen immer wieder eine Neuanpassung verlangen, sieht Schäffter eine Aufgabe von Lernorganisation auch darin, Distanzierungsmöglichkeiten von einem permanenten Veränderungsdruck zu sichern. Damit erhält auch die Verweigerung von Lernen ihre Berechtigung.

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