London Calling

 

von Anja Marschall

 

 

 

 


Impressum

1. Auflage 2014
© Goldfinch Verlag
Herausgeber: Goldfinch Verlag, Frankfurt am Main

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Herstellung: Goldfinch Verlag, Frankfurt am Main
Lektorat: Kristina Frenzel, Berlin
Korrektorat: Birgit Rentz, Itzehoe
Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de) unter Verwendung eines Motives von Bikeworldtravel (Shutterstock)
Vignetten: © xiver / © Nicemonkey / © alehnia - Fotolia.com

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

 

ISBN: 978-3-940258-34-2
www.goldfinchverlag.de



danksagung

Mein Dank geht an KHK Brackert und KHK Lindhorst der Itzehoer Kriminalpolizei, die mir mit unerschütterlichem Duchhaltevermögen beste Kontakte zu ihren Kollegen von der City of London Police und Metropolitain Police verschafften. Ebenso seien Sonja und Sarah Tente von Beautiful Britain genannt, die meine sehr spezielle Recherchereise für dieses Buch nach London organisierten und aufpassten, dass die Autorin im Weltstadtgetümmel nicht verloren ging. Lisa Finch gab ihr Bestes, um mir Insiderkontakte und gutes Essen zu besorgen und war mit beidem sehr erfolgreich. Für die Informationen zum NHS waren Cecilia Pollock und ihr Mann mir eine große Hilfe. Besonders aber möchte ich Derren danken, der mich in die Geheimnisse des Londoner Börsenparketts einführte und mich mit der menschlichen Seite des Brokerlebens und den Folgen der Finanzkrise vertraut machte. Meinen unermüdlichen Erstlesern Jürgen, Frauke, Heike und Sonja sei hier ebenfalls für konstruktive Kritik und Ermutigung gedankt. DANKE.

Kate & Lunas erster Fall: „Das Erbe von Tanston Hall“

 


 

Goldfinch Verlag, E-Book, ISBN 978-3-940258-12-0

 

Vor drei Jahren verschwand Kates Bruder spurlos. Gerade als sie glaubt, mit dem Verlust leben zu können, erhält sie einen anonymen Anruf. Ihr Bruder soll in einem kleinen Dorf in Cornwall gesehen worden sein und in großen Schwierigkeiten stecken. Kate bricht sofort auf – doch im idyllischen Cawsand erwarten sie perfide Intrigen und ein tödliches Familiengeheimnis.

 

 

Zum Weiterlesen: "Mord am Lord – ein Krimi der feinen englischen Art"

 


 

Goldfinch Verlag, E-Book, ISBN 978-3-940258-30-4

 

„Der Tote in der Bibliothek“. Theo starrte auf den Schriftzug, der in großen Buchstaben über dem Eingang stand.

Dann endlich öffneten sich die Flügeltüren. Drei Dutzend Journalisten drängten hindurch, so weit nach vorn, wie es das Absperrseil erlaubte. Josefine hüpfte hoch, um einen Blick zu erhaschen, doch ein Kameramann der BBC versperrte ihr die Sicht.

„Josie, das Podium ist leer“, flüsterte Theo ihr auf Deutsch ins Ohr. Mit seinen fast zwei Metern Größe ­verfügte er über einen guten Überblick. „Wenn was ­passiert, sag ich Bescheid.“

Die Reporter reckten die Hälse, traten sich auf die Füße, entschuldigten sich halbherzig und tauschten dürftige Informationen aus.

Ein nachtblaues Tuch fiel und enthüllte ein weiteres ­Banner. „Agatha-Christina Sotheby – Queen of Crime“. Wieder sprang Josie hoch, um über die Schulter des ­Vordermannes zu blicken, aber vergeblich.

Theo seufzte. Josie würde nicht auf ihn hören. Das hatte sie noch nie getan. Nicht an ihrem allerersten gemein­samen Schultag, als er ihr versichert hatte, die farbige Kreide gehöre der Lehrerin und sei nicht zum Bemalen der Josies Meinung nach langweiligen weißen Wände gedacht. Und auch nicht heute, fünfundzwanzig Jahre später. Wie hatte er sie angefleht, sie möge ihm ihre Absicht ­hinter ­dieser Englandreise verraten. Aber sie war stur und stumm geblieben!

Regen prasselte laut gegen die Fenster. Eine Frau Mitte vierzig in Pumps und Tweedkostüm betrat den Raum durch eine Seitentür. Sie ignorierte die Blitzlichter und Zurufe der Reporter und stieg auf das Podium.

„Jetzt geht’s los.“ Josie zwirbelte eine Strähne ihrer ­braunen Locken zwischen ihren Fingern. „Ich kann einfach nicht glauben, dass wir wirklich hier sind. Unfassbar!“

„Ich fass es auch nicht.“ Theo hasste Urlaube. Dazu noch der Regen. Seit ihrer Landung nicht eine trockene Minute. Und dann noch der englische Kaffee!

Die Frau auf dem Podium räusperte sich. Dann bat sie in nasalem Englisch die Anwesenden Platz zu nehmen. ­Später bestehe noch ausreichend Zeit für Fotos.

Beeindruckt beobachtete Theo, wie die kleine, ­zierliche Josie sich durch den Einsatz ihrer Ellenbogen vor­drängelte und für sie zwei Klappstühle in der ersten Reihe ­ergatterte. Sie rückte ihr Namensschild zurecht, das sie als ­Journalistin von Wohn & Stil auswies, und schlug ihr knallbuntes Notizbuch von Pip Studio auf. In der Hand hielt sie einen Kuli, der wie eine Margerite geformt und lackiert war.

Bei diesem Anblick ballte Theo die Faust in der Einschubtasche seines Armee-Parkas. Wie hatte er gestern auf sie eingeredet, ihr Geld nicht für einen derart ­miserabel entwickelten Unsinn auszugeben. Selbst ein blinder Nicht-Fachmann musste doch die Fehlkonstruktion erkennen.

Der BBC-Kameramann postierte sich links vom Podium, während sein Kollege von ITV-News zur rechten Seite ging. Die Vertreter der Printmedien besetzten die Stuhl­reihen in der Mitte.

Die Frau begrüßte die Anwesenden herzlich zur Eröffnung des Sotheby-Museums. Josie setzte sich so gerade auf, als sei sie ganz persönlich angesprochen worden. Sie wollte den Namen der Kuratorin notieren, doch ihr Kuli streikte. Süffisant zog Theo eine Braue hoch. „Was kann man auch erwarten von einer Firma, die sich ‚Desaster Design‘ nennt“, flüsterte er ihr zu.

„Das waren die anderen. Die mit den Lederwaren“, sagte Josie.

Seufzend kramte er in der linken unteren Innentasche seines Parkas und fischte ein Schraubenzieher-Set, eine Rolle Kupferdraht, eine Minitube Silikon, ein Päckchen Kabelbinder und schließlich auch einen Bleistift hervor.

Die Kuratorin dankte all den Unterstützern und Sponsoren, die geholfen hatten, das Museum ins Leben zu rufen. Besonders glücklich sei man, dass Sothebys letzte Wohn- und Arbeitsstätte als Heimat für das Museum gestiftet worden sei. Das Projekt habe begonnen, als in Sothebys Nachlass fast zweihundert Notizbücher gefunden worden seien, in denen sie die Ideen für ihre ausgefeilten Krimi­plots entwickelt habe.

Einer der Journalisten hob die Hand, doch die Frau ignorierte ihn.

Die Auswertung und Katalogisierung der Notizbücher habe mehrere Jahre in Anspruch genommen und man sei stolz, ihnen zwei Exponate hier direkt vorstellen zu können. Die Kuratorin wies auf die Schaukästen mit den Unterlagen zu „Tod auf dem Amazonas“ und „Zehn kleine Eingeborene“.

„Der letztgenannte Roman ist aus Rücksichtnahme auf moderne politische Sensibilitäten unter diesem Titel natürlich nicht mehr im Buchhandel erhältlich.“ Sie lächelte dünnlippig.

Richtig. Theo hatte fast vergessen, was für eine reaktionäre Kuh Josies Krimiidol gewesen war. Und dafür schleifte sie ihn nach England. Wieso hatte sie nicht ihren Freund mitgenommen? Sollte der sich doch hier ein­regnen lassen! Josie führte definitiv etwas im Schilde. Warum hatte er auch nur mit ihr gewettet?

Eine zweite Hand in der Zuhörermenge hob sich, doch die Kuratorin sprach unbeirrt weiter. Sie erzählte von den Millionen Fans, die „unsere Agatha-Christina“ auf der ganzen Welt habe und die sehnsüchtig auf den heutigen Tag gewartet hätten.

Josies schokoladenbraune Augen leuchteten. Sie hing an den Lippen der Sprecherin und Theos Stift war ihr ­entglitten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Er fragte sich, wie sie ohne Notizen den Artikel für Wohn & Stil ­schreiben wollte. Und das nach all der Mühe, mit der sie ihre ­Chefin bearbeitet hatte, um eine Akkreditierung für diese ­Veranstaltung zu bekommen. Irgendetwas war hier faul.

Wie immer, wenn er nervös war, rezitierte Theo Quadratzahlen still vor sich hin. 1, 4, 9, 16, 25, 36 ... Wenigstens ein paar Dinge blieben beständig und zuverlässig im Chaos des menschlichen Daseins.

Inzwischen hob sich bereits eine dritte Hand, doch die Kuratorin sprach unbeeindruckt weiter. Sie berichtete von einem schweren Autounfall, den Sotheby 1926 erlitten habe. Dadurch sei eine Amnesie ausgelöst worden und die Autorin, die sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnert habe, sei für elf lange Tage verschwunden geblieben.

„Böse Zungen behaupteten damals, sie hätte das alles nur fingiert, um ihren untreuen Ehemann zu bestrafen, der tatsächlich für eine Weile unter Mordverdacht geriet. Manche Zeitungen unterstellten ihr sogar, sie habe mit dieser Aktion nur Publicity gesucht.“

Die Kuratorin blickte die Journalisten an, als mache sie sie persönlich verantwortlich für das Verhalten ihrer ­Kollegen vor über achtzig Jahren.

„Sagen Sie uns doch, ob die Gerüchte stimmen“, verlangte eine ungeduldige Männerstimme.

Theo runzelte die Stirn. Welche Gerüchte? Er stieß Josie an, aber sie wich seinem Blick aus.

Unbeirrt von der Unterbrechung sprach die Frau davon, wie „unsere Agatha-Christina“ ihr restliches Leben unter diesen ungerechtfertigten Anschuldigungen gelitten habe. Darum freue man sich im Museum besonders, dass es nun gelungen sei, den eindeutigen Beweis für ihre Unschuld zu erbringen.

Theo grübelte. Josie hatte ihn reingelegt. Wie hatte er nur so dumm sein und wetten können, dass er ihr Türschloss in weniger als fünf Minuten knacken würde? Er baute ­Tresore, sammelte alte Schlösser, aber er war schließlich kein Einbrecher. Zumal sechs Minuten, dreißig ­Sekunden auch keine schlechte Zeit war. Aber statt dass sie sich nun von ihm ein Sicherheitsschloss einbauen ließ, hatte er ­seinen Wetteinsatz einlösen und mit ihr ins Geburtsland des Regenschirms fahren müssen.

Dabei wusste Josie, wie er es verabscheute, nicht in ­seinem eigenen Bett zu schlafen. Er brauchte kein Ausland, ein Sonntagsausflug in den Bayerischen Wald war ihm Exotik genug.

„Theo, wir fahren nach London!“, hatte sie grinsend gejohlt. Und seit ihrer Ankunft wartete er nun sorgenvoll, dass sie ihm den Rest ihres Planes enthüllte. 49, 64, 81, 100, 121 ...

„Sind die Gerüchte, die man sich über den Fund des Manuskripts erzählt, wahr?“, rief ein Mann mit schottischem Akzent.

Diesmal errötete die Kuratorin, fing sich aber gleich wieder. „Der Tote in der Bibliothek“ sei der Forschung nur von einigen vagen Hinweisen aus den Notizbüchern der frühen zwanziger Jahre bekannt. „Wir wissen, dass ­Agatha-Christina in den Wochen vor ihrem Unfall an ­diesem Projekt arbeitete. Das Manuskript selbst galt bisher als verschollen.“

Fünf Hände schossen gleichzeitig in die Luft. Besorgt beobachte Theo die Reporter. Offenbar ahnten die etwas, das ihm bisher entgangen war.

Die Frau trat einen Schritt vom Pult zurück. Besänftigend hob sie die Hand.

„Bitte. Gleich ist noch ausreichend Zeit für Ihre Fragen.“

Sie räusperte sich. Die Forschung habe zwei ­Theorien entwickelt. Entweder sei Sotheby durch die ganze ­Publi­city, die ihr Unfall nach sich gezogen hatte, so ­traumatisiert gewesen, dass sie das Projekt fallen ließ, weil die Erinnerungen zu schmerzhaft waren. Die ­Kuratorin warf den Journalisten als Stellvertreter ihrer Zunft einen vorwurfsvollen Blick zu. Oder die zeitweise Amnesie habe dazu geführt, dass Sotheby die Lösung ihres eigenen Romans vergaß.

Josie krallte ihre Finger in Theos Oberarm. „Ein Rätsel, so kompliziert, dass sie selbst es nicht mehr lösen konnte.“

„Was für die Forschung ein großes Problem darstellt, ist zugleich für uns eine große Freude ...“ Auch ohne ­Mikrofon hätte man die Stimme der Frau bis in die ­hinterste Ecke des Raumes gehört. „Wir haben tatsächlich das letzte ­bisher unbekannte Werk von Agatha-Christina Sotheby entdeckt.“

Ein Dutzend Hände wurden in die in die Luft gerissen.

„Was ist mit Miss Rutherford? Ist sie Teil der Handlung?“, rief jemand aus der zweiten Reihe.

Die Kuratorin lächelte. „Ja, es ist in der Tat ein Miss-Rutherford-Krimi.“ Stolz strich sie über ihre Tweedjacke. „Und um Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: Auch Mr Stringer steht ihr bei dem Fall zur Seite.“

Josie war aufgesprungen und presste vor Aufregung ihre Hände gegen die Brust. Peinlich berührt zog Theo sie zurück auf ihren Sitz.

Die Kuratorin wartete, bis der Lärm abebbte.

„Der Krimi ist vollständig erhalten – jedoch das Ende fehlt.“

 

Mehr in B.a. Robins „Mord am Lord“

 

http://www.goldfinchverlag.de/mord-am-lord/

eins

Er hatte sich in den letzten Tagen oft gefragt, wie es sein würde abzudrücken. Jetzt stand er da, den Finger am Abzug. Mit der anderen Hand hielt er den Lauf der Flinte und zielte auf sein bettelndes, winselndes Gegenüber. Er zögerte, jedoch nicht, weil er Hemmungen hatte zu töten. Nein, er wollte dieses einmalige Gefühl in seinem ganzen Körper spüren. Nicht der geringste Anflug von Zweifel oder gar Panik sollte ihm diesen Moment ruinieren. Er war sich der Einmaligkeit dieser Sekunden bewusst.

Langsam krümmte er den Zeigefinger seiner rechten Hand. Die Muskeln in seinem Oberarm spannten sich. Seine Haut schien zu vibrieren; er nahm alles intensiver wahr, als er es jemals zuvor getan hatte. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er den Kerl im Armani-Anzug, der in den Lauf der Schrotflinte starrte. Den Rücken an die Wand gedrückt, stand der Mann zitternd da. Unverständliche Worte kamen aus seinem Mund. Die Hosenbeine waren nass.

Aus dem Augenwinkel beobachtete der Schütze sich selbst im dunklen Glas der hohen Fensterscheiben, hinter denen das glitzernde London im Halbschlaf lag: St Paul’s Cathedral, das London Eye, die Lichter der City of London. Der mit der Waffe war nicht er. Es war ein anderer, ein Film.

Als er sicher war, dass er alles gefühlt hatte, was man in einem solchen Moment nur fühlen konnte, drückte er ab. Im Spiegel des Fensters glaubte er, das Schrot aus dem Lauf herausschießen zu sehen. Er sah, wie der Mann vor der Wand zusammensackte. Der beißende Pulverdampf reizte seine Schleimhäute, während er dem Schuss nachhorchte.

Dann war er vorbei, der eine, große Moment.

Mit einem tiefen Seufzer betrachtete er die Szenerie. Halb liegend lehnte der Tote zu seinen Füßen. Neben ihm lag eine unförmige Skulptur, die einen Bullen und einen Bären im Kampf darstellte. Dem Bullen fehlte ein Auge.

Er ging ins Bad, nahm die bereitgelegte Kleidung vom Wannenrand und zog sich um. Seine mit Blut bespritzten Sachen würde er in einem Müllcontainer nahe dem Mansion House entsorgen, von dem er wusste, dass er in zwei Stunden geleert werden würde. Die Schrotflinte würde er in die Themse werfen.

Ein letztes Mal ließ er seinen Blick prüfend durch die Wohnung im neunundzwanzigsten Stock des Heron gleiten.

zwei

Kate Cole sah, wie der Bus der Linie 187 langsam durch den Regen die Wellington Road hochkroch. Es war in dieser Nacht der letzte von St John’s Wood in Richtung Chippenham Road, und sie musste ihn erwischen, wollte sie nicht zu Fuß nach Hause gehen. Also umklammerte sie den Riemen ihres Lederbeutels, den sie sich über die Schulter geworfen hatte, und rannte los.

Zeitgleich mit dem roten Doppeldecker kam sie an der Haltestelle an, als die Türen auch schon aufgingen. Mit einem Satz war sie drin. Sie ließ sich am Fenster auf eine Bank fallen. Mit einem Ruck fuhr der Bus los.

Kate hatte eine Doppelschicht im Krankenhaus hinter sich, was eigentlich nicht erlaubt war. Aber die Grippewelle in diesem nassen Frühling hatte auch vor dem Personal des St John and St Elizabeth Hospital nicht Halt gemacht. Kates Füße schmerzten und ihr Rücken tat weh. Sie griff zu ihrem Lederbeutel und fischte eine Tüte Pfefferminzbonbons heraus. Als Kind hatte sie diese Bonbons bekommen, wenn sie artig gewesen war. Und auch als erwachsene Frau blieb sie der Tradition treu, sich damit zu belohnen. Sie nahm zwei aus der Tüte und steckte sie sich in den Mund. Dann schloss sie für ein paar Minuten die Augen und versuchte, sich auf ihren soeben beginnenden Urlaub zu freuen.

Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass ihre Station kam. Sie sprang auf und drückte den Knopf. Der Bus hielt und sie trat auf die nächtliche Shirland Road, die um diese Zeit fast ausgestorben war. Die Lichter der Straßenlampen glänzten auf dem regennassen Asphalt. Langsam ging sie an Fenstern vorbei, hinter denen Fernseher flackerten. Es fiel ihr immer schwerer, die müden Beine zu bewegen, doch zum Glück war es nicht mehr weit bis zu ihrer Souterrainwohnung in der Lanhill Road.

Eigentlich müsste ich mich freuen, überlegte sie erschöpft, als sie an dem Haus vorüberging, an dessen Wand ein Schild eindringlich vor Kindern warnte und Disneyfiguren sowie goldene Buddhas einen Fenstersims schmückten. Zwei Wochen lang würde sie nun keine Spritzen mehr setzen, keine übellaunigen Ärzte, keine überforderten Schwestern, keine Listen, keine bunten Pillen und keine jammernden Patienten ertragen müssen. Da sie keine Familie hatte, die sie besuchen konnte, und das Geld für einen richtigen Urlaub nicht reichte, würde sie ihre freien Tage in der kleinen Kellerwohnung verbringen. Sie würde sich aufs Bett lümmeln und alle Folgen ihrer Lieblingsserie gucken. Sie würde nur essen, worauf sie Lust hatte. Und nur, wenn es wirklich sein musste, würde sie vor die Tür gehen – um den Kühlschrank zu füllen, ins Kino zu gehen oder einen kleinen Spaziergang im Park zu machen.

Kate stieg die schmalen Stufen zu ihrer Wohnung hinunter und schloss die Tür auf. Modrig-feuchte Luft schlug ihr entgegen. Sie knipste das Licht an, ging zum vergitterten Fenster und zog die Vorhänge zu. Dann hängte sie ihren Lederbeutel an die Garderobe, stellte ihre Schnürschuhe, die sie sich vor Jahren für einen Wanderurlaub in den Highlands gekauft hatte, davor und ging ins Bad, um heiß zu duschen. Sie hoffte, dass die Heizung nicht schon wieder ausgefallen war. Irgendwie fühlte es sich an diesem Abend besonders kalt in ihrer Wohnung an.

Die Abflussrohre, die in einer Ecke ihres Badezimmers von der niedrigen Decke bis zum Boden verliefen, begrüßten Kate mit einem Gurgeln und Blubbern, als sie sich einen Schwall Wasser ins Gesicht spritzte. An dieses Geräusch, das in ihrer ganzen Wohnung zu hören war, sobald jemand oben im Haus auf die Toilette ging, das Wasser aus der Badewanne ließ oder duschte, hatte Kate sich noch immer nicht gewöhnen können. Ihr Vermieter meinte, das sei bei so alten Häusern normal und kein Grund, die Miete zu mindern.

Kate wusste, dass sie nicht zu anspruchsvoll sein durfte. Diese klamme Behausung war die einzige bezahlbare Unterkunft in der Nähe des Krankenhauses, wollte sie sich nicht mit drei oder vier Kolleginnen eine kleine Wohnung im Schwesternheim teilen – eine Option, die für Kate absolut nicht in Frage kam.

Sie schlang sich ein Handtuch um ihre nassen Haare und ging in die kleine, fensterlose Küche, wo sie ihren Lieblingsbecher vom Regal nahm und einen Teebeutel hineinfallen ließ. Dann griff sie zum Kessel, hielt ihn unter den Wasserhahn und drehte das Wasser auf. Das übliche Gurgelkonzert in der Wand begann. Sie zählte bis fünf, dann schoss das Nass in einem heftigen Strahl aus dem Hahn.

Nachdem sie ihr Nachtshirt angezogen und das Bett aufgebaut hatte – tagsüber diente es als Couch –, ließ Kate sich mit dem Tee auf der Decke nieder. Andere tranken Bier oder Wein zum Entspannen, sie jedoch pflegte ihre Liebe zum Tee.

Über sich hörte sie Mrs Erwing in Richtung Toilette schlurfen. Es war also ein Uhr. Kate lauschte, bis sie kurz darauf die Spülung hörte. Dann kam Leben ins Fallrohr. Es gurgelte, es rauschte, schließlich herrschte Stille. Durch diese Leitung fielen die Abwässer aller Mietparteien im Haus der Londoner Kanalisation entgegen. Verärgert nahm Kate sich vor, noch einmal mit dem Vermieter zu reden. So ging es nicht weiter.

drei

Gerade noch tief in ihrem Traum gefangen, schreckte Kate plötzlich hoch. Sie hörte ein lautes Hupen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Der Lärm kam von draußen. Tatsächlich, jemand hupte da auf der Straße! Ein weiteres „Tut!“ ließ die Scheibe hinter den Vorhängen scheppern.

„Was soll denn das?“, rief Kate, knipste die Nachttischlampe an, warf schwungvoll die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Sie riss den Vorhang auf und sah aus dem Fenster. Am Zaun zur Straße hoch bemerkte sie zwei lange Beine mit Cowboystiefeln an einem Ende und einer Art Kilt am anderen.

„Noch mal!“, rief die Person und das Hupen begann von Neuem.

Kate riss das Fenster auf. „Sind Sie wahnsinnig?!“, schrie sie zu den Beinen hoch. „Sie wecken die ganze Nachbarschaft!“ Jetzt war sie wach! „Es gibt Leute, die müssen morgen arbeiten!“ Okay, sie selbst nicht, aber das musste die Person da oben ja nicht wissen.

In dem Moment ging diese in die Knie. „Hey! Was machst du denn da unten? Ich denke, Keller sind nur was für Mäuse und Dienstboten.“

Kate kannte diese rauchige Stimme. Sie versuchte, sich weiter aus dem offenen Fenster hinauszulehnen, um die dazugehörige Person besser sehen zu können.

Doch die war schon wieder aufgestanden und schrie zur Straße hinüber: „Das reicht! Sie wohnt im Keller.“

Jetzt war Kate sich sicher: Da oben stand die verrückte Luna. Sie sah, wie ihr nächtlicher Gast koboldgleich die schmalen Stufen heruntersprang.

Luna hatte ihre roten Haare zu unzähligen Zöpfen geflochten und diese mit Schleifen aller Art versehen. Sie strahlte Kate durch das Fenster an. „Hi!“ war alles, was sie sagte. In ihrem Gesicht leuchteten die Sommersprossen mit ihrem Lächeln um die Wette.

Kate hatte Luna seit über einem Jahr nicht gesehen. Ab und zu las sie etwas über die reiche Erbin in den Klatschblättern. Doch ihre Leben waren zu unterschiedlich geworden, um noch Gemeinsamkeiten zu haben. Als Luna noch im Pub The King’s Men gearbeitet und kein Geld gehabt hatte, da hatten sie sich täglich gesehen. Man könnte sogar sagen, dass die beiden so unterschiedlichen Frauen irgendwie Freundinnen gewesen waren. Inzwischen aber verkehrten sie in absolut verschiedenen Kreisen.

„Willst du mich nicht reinbitten, Kate Cole?“

Kate war verwirrt. Sicherlich waren alle Nachbarn von dem Gehupe wach geworden. Bestimmt standen sie nun hinter den Fenstern und sahen, dass eine unmögliche Person mit roten Zöpfen ausgerechnet die nette Krankenschwester im Keller besuchte. Und dann noch um diese Zeit! Sie würde sich bei den Nachbarn entschuldigen müssen. Wie lange ging das mit dem Hupen eigentlich schon? Wahrscheinlich war die Polizei bereits unterwegs.

„Entschuldige bitte“, stotterte Kate und eilte zur Tür. „Komm schnell rein! Was machst du überhaupt hier?“

Luna trat ein, warf ihren Umhang vor der Garderobe auf den Boden und sah sich neugierig in der kleinen Wohnung um. „Kannst du das Taxi bezahlen?“

„Taxi?“

Da erschien ein junger Pakistani im Türrahmen.

„Das ist Raju“, stellte Luna den Fahrer vor. „Ihm gehört das Taxi.“

Kate blickte zwischen ihrem nächtlichen Gast und dem Taxifahrer hin und her.

„Dreiundzwanzig fünfzig“, sagte Raju und hielt Kate die offene Hand hin.

„Warum zahlst du dein Taxi nicht selbst, Luna?“ Ein vertrautes Gefühl überkam Kate. Es war die Gewissheit, dass Luna es immer schaffte, sie Dinge tun zu lassen, die sie eigentlich nicht tun wollte.

Luna, die mittlerweile Kates CD-Sammlung zu bewundern schien, meinte nur beiläufig: „Ich gebe es dir morgen wieder. Habe mein Portemonnaie mit den Kreditkarten im Hotel vergessen.“

Kate seufzte und bezahlte.

vier

Es war vier Uhr fünfzehn, als sich die Tür des Fahrstuhls im neunundzwanzigsten Stockwerk öffnete. Anjali, eine Reinigungskraft der Firma Cleansy Enterprise, kam mit ihrem Putzwagen heraus, um den Marmorboden sowie die Messingintarsien mit dem Logo des neuen Heron-Appartementhauses zu putzen und Staub zu wischen.

Schweigend schob sie den Wagen vor sich her, für dessen Nutzung ihr der Chef fünfzehn Pfund im Monat vom Lohn abzog. Sie hatte für jedes Stockwerk genau zwanzig Minuten Zeit. Da in der neunundzwanzigsten Etage nur ein Appartement bewohnt war, schaffte sie diese in knapp der Hälfte.

Seufzend nahm sie den Besen aus seiner Halterung und ging den Gang entlang, um mit dem Fegen zu beginnen. Sie würde danach auch noch die Türknäufe polieren müssen. Das hatte sie am Vortag nicht getan, weil sie den zwölften bis siebzehnten Stock von ihrer Schwägerin Nileema hatte übernehmen müssen, deren jüngster Sohn mit hohem Fieber im Bett lag.

Als Anjali am Appartement 2909 vorbeigehen wollte, bemerkte sie die offene Tür. Kopfschüttelnd fragte sie sich, warum die Leute nur so nachlässig waren. London war eine sehr gefährliche Stadt. Sie wusste das – schließlich lebte sie in Islington.

Während sie den Besen in der einen Hand hielt, klopfte sie mit der anderen an die Tür. „Hallo?“, rief sie in die Wohnung hinein und wartete.

Kurz darauf ging ein Notruf bei der Polizeizentrale ein.

fünf

Kate saß auf ihrem Bett und schaute zu Luna hinüber, die im Kühlschrank nach etwas Trinkbarem suchte.

„Ich könnte jetzt einen Wodka vertragen“, murmelte die Rothaarige den Eiern, dem Joghurt und der Erdbeermarmelade entgegen. „Aber ein paar Baked Beans tun es auch.“ Sie drehte sich um. In der Hand hielt sie einen Topf mit weißen Bohnen in Tomatensoße, den sie aus dem oberen Fach gezogen hatte. Tief tauchte sie einen Finger in die Soße und steckte ihn in den Mund. „Hm, lecker.“

„Wodka habe ich nicht“, meinte Kate entschuldigend. „Möchtest du Rotwein?“ Ohne die Antwort abzuwarten, stand sie auf und ging zu einem Schrank, um zwei Gläser zu holen.

Als die beiden kurz darauf mit dem Rücken an der Wand auf dem Bett saßen, spürte Kate, wie ihr Gast zitterte. Es schien nicht von der Feuchtigkeit zu kommen, die in den Wänden ihrer Wohnung steckte. Nein, das Zittern musste eine andere Ursache haben. Schweigend schaute Kate ihrer Freundin dabei zu, wie diese die letzten Reste der kalten Bohnen verschlang. Immerhin hatte sie sich einen Löffel genommen.

Plötzlich war ein Rumoren aus der Wand zu hören.

„Ey!“, rief Luna erschrocken aus und riss den Kopf hoch. „Was ist das?“ Sie blickte sich um.

„Die Abwasserleitungen. Jemand war wohl gerade auf Toilette.“

„Klingt ja grauselig.“ Luna widmete sich wieder dem Topf auf ihrem Schoß. Als auch das letzte bisschen ausgelöffelt war, griff sie zum Weinglas neben dem Bett und nahm einen kräftigen Schluck.

Jetzt sah Kate, dass Lunas Hand zitterte. „Alles okay?“

Die Rothaarige strahlte sie an, wobei ihre Mundwinkel zu zucken schienen. „Klar, was sollte sein?“ Mit dem Glas in der Hand sprang sie aus dem Bett, griff sich die Rotweinflasche vom Couchtisch und goss noch einmal großzügig nach. „War nur ein stressiger Tag irgendwie.“ Sie leerte das Glas in einem Zug. „Sicher, dass du keinen Wodka hast?“

Skeptisch musterte Kate ihre Freundin, die sie noch nie so unruhig gesehen hatte. Okay, hektisch war Luna schon immer gewesen. Ständig hatte man den Eindruck, sie müsse gerade die Welt aus den Angeln heben, etwas ganz Irres tun oder die Menschheit mit einer ihrer verrückten Ideen beglücken. Luna, die Künstlerin, stand nie still, doch bei all dem war sie ein Mensch, dem die anderen nicht egal waren. Ihre Sicht auf die Welt war oft ungewöhnlich, aber immer konnte man darin eine gewisse faszinierende Logik erkennen, die einen Kreis zum Rechteck machte und aus Schwarz Pink. Sie war eine glühende Verehrerin des schlechtesten Footballclubs von ganz Großbritannien und hatte ihre eigene Meinung darüber, warum Verlierer die eigentlichen Gewinner auf der Welt waren. Doch heute stimmte etwas nicht mit ihr.

Als Luna sich ein weiteres Glas Rotwein eingießen wollte, stand Kate auf und nahm ihr die Flasche aus der Hand. „Schluss jetzt! Was ist los?“

Wütend blickte Luna auf. „Ey, gib den Wein her!“

Kate schüttelte den Kopf und versteckte die Flasche hinter ihrem Rücken. „Ich höre.“ Sie klang, als wäre sie im Dienst.

„Ist sowieso kein guter Wein.“

In Luna kämpften Wut und Angst miteinander, das konnte Kate an ihren Augen sehen.

Während es in der Wand blubberte, suchte die Rothaarige nach Worten, fand aber keine. „Wegen der Rohrleitungen – da musst du aber etwas unternehmen. Klingt irgendwie eigenartig“, murmelte sie schließlich. Dann begann sie, in dem kleinen Raum hin und her zu laufen. Drei Schritte bis zum Fenster, drei bis zur Küche. Wieder blubberte es in der Wand. Luna hämmerte mit der Faust dagegen. „Kann man das nicht abstellen?“, rief sie und beäugte wütend die Tapete, die an einigen Stellen vergilbt war.

Kate schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Damit müsse ich leben, hat der Vermieter gesagt. – Also, was ist?“

Luna begann wieder, auf und ab zu gehen. „Das ist nicht so einfach“, murmelte sie.

„So schlimm wird es schon nicht sein.“ Aufmunternd lächelte Kate ihr zu. „Hast doch keinen umgebracht.“

Luna fuhr herum. Die Angst in ihren Augen erschreckte Kate.

„Vielleicht lebt er ja noch.“ Luna ließ sich aufs Bett fallen. „Sah aber irgendwie nicht so aus. Zu viel Blut überall.“

Nach dem ersten Schreck holte Kate tief Luft. Langsam stellte sie die Flasche auf den Boden und setzte sich neben Luna auf die Bettkante. Als Krankenschwester war sie Notfälle gewohnt. Das erste Gebot war immer, Ruhe zu bewahren.

Ausgerechnet in diesem Moment meinte die stets schlaflose Mrs Brent im zweiten Stock, duschen zu müssen. Wild strömte das Wasser durch die Leitung in der Wand, hinunter in die Tiefen der Londoner Kanalisation.

Kate begann, ihre Freundin vorsichtig auszufragen: Wer war tot? Woher wusste sie das? Was hatte es mit ihr zu tun?

Doch leider antwortete Luna nicht auf ihre vernünftigen Fragen, sondern plapperte einfach drauflos: „Ich bin so ein dämliches Huhn! Das ist vollkommen und absolut unglaublich!“ Sie schlug auf das Kissen neben sich ein. „Ich habe dem Kerl echt vertraut, und nun?“

Aha, dachte Kate, eine Liebesangelegenheit. Aber was war das für eine Sache mit der angeblichen Leiche, zu der sich Luna bisher nicht weiter geäußert hatte?

„Er hat gesagt, dass es das Weltproblem Nummer eins lösen würde. Energieversorgung, CO2 und so."

Kate runzelte die Stirn. Ein Ökoaktivist also.

„Am Anfang klappte es auch gut. Ich habe ihm alles, was ich hatte, gegeben ...“

Hm, nicht gut, überlegte Kate. Männer, die alles wollen, sind am Ende meistens nicht zufrieden, wenn sie es bekommen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie zum Thema Männer nicht wirklich umfangreiche Erfahrungen vorzuweisen hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht wusste, wie sie sich zurechtmachen sollte, oder an ihrer Unbeholfenheit, wenn ihr ein Mann gefiel. Sie wusste es nicht, aber sei es drum. Im Moment musste sie erst einmal ihrer Freundin weiter zuhören.

„Zwölf Prozent Zinsen! Das ist heutzutage doch nicht schlecht, oder?“ Mit großen, tränenfeuchten Augen sah Luna sie an. „Oder?“

Mrs Erwings Toilettenspülung war zu hören, dann das Gurgeln und Glucksen im Rohr. Kate wartete, bis der Lärm vorbei war.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Also doch keine Liebe zu einem Ökoaktivisten. Es schien um Geld zu gehen.

„Und dann die Sauerei an der Wand! Dabei war der Ausblick so schön.“

Kate gab auf. „Es tut mir leid, Luna, ich verstehe kein Wort.“

Ihre Freundin sprang auf. „Ich bin ein Huhn, ein ganz, ganz, ganz dummes und blödes Huhn!“ Sie zerrte an ihren Zöpfen. Eine Glitzerschleife löste sich und segelte wie ein Blatt zu Boden.

Beunruhigt stand Kate auf und packte Luna an den Oberarmen. „Was genau ist passiert? Von Anfang an, bitte.“

Dann erfuhr sie, dass Luna ihr gesamtes Erbe – und das waren über drei Millionen Pfund, Luna wusste es nicht so genau – einem Mann namens Norman Bradshaw anvertraut hatte, der das Geld in einem internationalen Öko-Unternehmen angelegt hatte.

„SolConPower – Solarstrom aus der Wüste – sei eine todsichere Anlage, hat er gesagt.“ Luna versteckte ihr Gesicht in den Händen und atmete tief ein. Dann blickte sie wieder hoch. „Ganz Europa könne ohne Öl auskommen. Man müsse nur Leitungen von der Wüste nach Spanien und Italien legen und von da zu uns. Die EU habe schon zugestimmt, hat er gesagt. Mist! Ich habe ihm alles geglaubt!“

„Alles weg?“, flüsterte Kate.

Luna nickte und ließ sich wieder aufs Bett fallen. „Alles weg. Am Anfang habe ich diese Dingsda ...“, sie wedelte mit der Hand, weil ihr das Wort nicht sofort einfiel, „... diese Rendite bekommen. Das war mächtig viel Geld. Habe alles gespendet: dem Footballclub, dem örtlichen Tierheim, einem Ökobauern, der aus Bambus Fahrräder baut. Aber dann kam nichts mehr. Kein Penny. Bradshaw hat gesagt, es gebe Probleme und er müsse nach Dubai, um Einzelheiten mit den Ingenieuren zu klären. Dann war er ein paar Wochen weg. Nicht erreichbar. Und da habe ich es langsam geschnallt. Bin ja nur ...“

„... ein blödes Huhn, ich weiß“, fiel Kate ihr ins Wort. „Habt ihr denn keinen Vertrag gemacht?“

„Doch, aber die Zettel sind nichts wert, hat der Anwalt gesagt. Ich würde vor Gericht nicht gewinnen. Jetzt ist alles futsch. Ich bin pleite. Abgebrannt.“

Kate dachte nach. „Na ja, dann musst du eben wieder im Pub arbeiten, so wie damals in Cawsand.“ Sie legte ihren Arm um Lunas Schultern und spürte, wie sie ihrer Freundin wieder ein wenig näher kam. Jetzt stand nicht mehr das viele Geld zwischen ihnen – Geld, das Luna in eine andere Welt gebeamt und Kate zurückgelassen hatte.

Luna schüttelte den Kopf, dass ihre Zöpfe nur so flogen. „Mir geht es ja gar nicht um das Geld! Wen kümmert das blöde Geld? Der Typ ist tot!“

„Oh.“ Da war also die Leiche, von der sie vorhin gesprochen hatte.

Luna ging vor Kate auf die Knie. „Bitte, Kate, du musst mir helfen, die Leiche loszuwerden. Er liegt in seinem Appartement, im neuen Heron in der Moor Lane.“

„Was muss ich?“

Schon wieder kam ein Schwall Abflusswasser durch die Leitung in der Wand herunter.

„Himmel! Hört das denn überhaupt nicht mehr auf?“, schrie Luna, wandte sich dann wieder zu Kate und jammerte: „Bitte, bitte, Kate! Um der alten Zeiten willen.“

„Hast du ihn umgebracht?“

„Nein! Bestimmt nicht. Ich habe ihn nur gefunden.“

Verärgert sah Kate sie an. „Dann geh gefälligst zur Polizei und melde das!“

Luna blickte zu Boden. „Geht nicht“, flüsterte sie.

Kate rollte mit den Augen. „Warum?“

„Ich habe Bradshaw gedroht, dass ich ihm den Hals umdrehe, wenn er mir mein Geld nicht wiedergibt“, flüsterte Luna weiter.

„Ist das alles?“

„Na ja, ich war da wohl etwas drastisch – die Kratzer an seinem Auto und die Sache im Restaurant mit dem heißen Kaffee auf seiner weißen Hose, genau zwischen die Beine, vor all den Leuten ... Das lief alles nicht so gut.“

Kate verschränkte die Arme vor der Brust. „Was noch?“

Zögernd erzählte Luna von einer etwas größeren Anzeige in der Times.

„Ja, und?“

„Es war eine Todesanzeige, die ich für ihn aufgegeben habe“, flüsterte Luna.

Kate riss die Augen weit auf. „Was hast du?“

Luna sah sie erschrocken an. „Aber da hat er noch gelebt. Ich schwöre!“ Sie hob die linke Hand zum Eid.

sechs

Die Sache ist fraglos kompliziert, überlegte Kate, als sie sich eine Bluse überstreifte und in ihre Jeans stieg. Luna hatte sich offenbar in eine höchst unangenehme Lage gebracht, aus der sie allein nicht wieder herauskam. Also war sie zu ihr gekommen. Doch waren sie wirklich noch Freundinnen? Warum kam Luna nur dann zu ihr, wenn sie Hilfe brauchte? Sollte Freundschaft nicht etwas anderes sein?

Plötzlich hörte Kate ein heftiges Poltern aus dem Badezimmer – so als würde der Schrank über dem Waschbecken zu Boden gehen.

„Alles okay, Luna?“, rief sie durch die geschlossene Badezimmertür.

„Ähm, ja“, kam es gedämpft zurück. „Mir ist nur etwas heruntergefallen. Alles im Griff. Ich mache das schon.“

Davon war Kate weniger überzeugt. Aber sei es drum. Sie ging in die Küche, um sich noch eine Tasse Tee zu machen. Sie wollte endlich einen klaren Kopf bekommen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, versuchte sie sich an die genauen Worte von Luna zu erinnern: Norman Bradshaw, der Finanzmakler, lag tot in seiner Wohnung – oder auch nicht. Luna schien sich da nicht so sicher zu sein.

Nun hatte Kate ihre Freundin in der Vergangenheit als, gelinde gesagt, recht fantasievoll kennengelernt. Das war für eine Künstlerin auch ganz natürlich. Doch manchmal störte es die pragmatische Kate, wenn bei Luna die Fantasie Purzelbäume schlug. Schnell wurde so aus einer Mücke ein Elefant. War es da so abwegig, dass aus einer Beule am Kopf eine Leiche werden konnte? So war Luna nun mal.

Darum hatte Kate entschieden, dass sie erst einmal zum neuen Heron fahren sollten, um zu sehen, wie es dem Mann ging. Wahrscheinlich hatte Luna ihm eine deftige Ohrfeige verpasst, er war hingefallen und hatte sich den Kopf aufgeschlagen, der dann geblutet hatte. Luna war in Panik geraten und aus dem Haus gerannt. Und nun befürchtete sie das Schlimmste. Kate vermutete, dass der Mann Anzeige gegen Luna stellen würde – was verständlich wäre. Sie nahm sich vor, vernünftig mit ihm zu reden, sofern das möglich war.

Das Wasser im Kessel fing an zu kochen. Kate goss es auf den Teebeutel in ihrem Becher.

„Hast du zufällig Pfefferminzbonbons im Haus?“

Kate zuckte zusammen, als Luna plötzlich hinter ihr stand. Fast wäre ihr der heiße Kessel entglitten.

„Himmel, hast du mich erschreckt!“

„Sorry, aber hast du?“

Kate wies zu ihrem Lederbeutel an der Garderobe und Luna ging hinüber. Während sie in der Tasche stöberte, fragte sie: „Eine Cola hast du nicht zufällig, oder?“

Doch, Kate hatte, weil die Kinder von Mrs Kenhill in der vorherigen Woche bei ihr zum Fernsehen gewesen waren und außer Cola und salzigem Knabberzeug nichts hatten zu sich nehmen wollen.

„Sie ist aber lauwarm“, sagte sie, als sie die Plastikflasche aus dem Schrank holte.

„Macht nichts.“ Luna nahm sie ihr aus der Hand und ging zurück ins Bad.

Verwirrt blickte Kate ihr nach. „Was willst du damit, Luna?“, rief sie ihr hinterher.

„Du hilfst mir, ich helfe dir. So macht man das unter Freunden, weißt du“, kam es gedämpft durch die geschlossene Tür.

„Was meinst du damit? Luna?“

Hinter der Tür des Badezimmers blieb es still.

„Luna?“

„Vertrau mir, Kate Cole! Vertrau mir!“

Zweifelnd goss Kate etwas Milch in ihren Tee. Da kam wieder ein Poltern aus dem Bad, und diesmal war es länger und lauter.

„Luna! Was tust du da?“

„Uups!“

„Luna?“

„Nichts passiert. Mir geht es gut.“

„Du bist es auch nicht, um die ich mir Sorgen mache.“

Plötzlich hörte Kate ein eigenartiges Blubbern aus der Wand. Es war tiefer als sonst und kam vom Badezimmer her. Langsam rollte es in Richtung Spüle. Erschrocken trat Kate einen Schritt zurück. Sie starrte auf das Spülbecken, wo sie jeden Moment ein haariges Monster erwartete, das aus dem Ausguss krabbeln würde. Doch nichts dergleichen passierte. Das Blubbern ging in ein Gurgeln über und klang nun, als leide ein Dinosaurier an schwerer Flatulenz. Es fehlte nur noch der erlösende Furz. Dann ließ das Geräusch langsam nach und schien in den Tiefen des Rohrsystems zu verschwinden. Kate starrte ihr Abwaschbecken an.

Auf einmal stand Luna neben ihr. „Okay, wir können los. Das mit dem Abfluss ist jetzt erledigt.“

Erstaunt sah Kate sie an. „Danke“, murmelte sie. „Woher kannst du das?“

„Oh, in Tanston Hall waren ständig die Rohre verstopft. Cola und Pfefferminzbonbons waren das Einzige, was da half. Sozusagen eine Darmreinigung für alte Häuser.“ Sie grinste.

sieben

Kate kurbelte das Fenster des Taxis herunter. Sofort strich die kühle Morgenluft über ihr Gesicht. Für einen Moment wurde sie etwas wacher. Die Straßen Londons waren um diese Zeit ungewohnt leer. Nur wenige Autos kamen ihnen entgegen. Ihre Scheinwerfer reflektierten in den Schaufenstern, die die Straße säumten, was zusammen mit dem Licht der Straßenlampen und dem zuckenden Leuchten einiger Reklamewände ein seltsames Bild ergab.

Das Taxi nahm die Strecke an der Baker Street vorbei Richtung Regent’s Park, dessen Gelände Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert zu einem seiner Jagdgründe erklärt hatte. Von dort ging es zügig am teuren Portland Crescent entlang, dessen halbrunde schneeweiße Häuserfront samt Doppelsäulen und schwarz lackierten Türen der Architekt John Nash um 1800 als Verbindung zwischen London und dem Park konzipiert hatte. Dann kreuzten sie die Oxford Street, die um diese Zeit vollkommen menschenleer war. Zum ersten Mal bemerkte Kate, wie hässlich einige der Gebäude waren – architektonische Nachkriegssünden.

Als sie den Piccadilly Circus erreichten, lehnte sich Luna zum Fahrer vor: „Hey, sehen wir aus wie Touristen? Warum fahren Sie nicht den direkten Weg in die City? Das geht schneller und kostet uns nicht so viel Geld.“

Der dunkelhäutige Mann nickte und lächelte breit in den Rückspiegel. „Yes, Ma’m.“

Luna grummelte, dann ließ sie sich auf den Sitz zurückfallen. „Ich bin mir sicher, wenn es ans Bezahlen geht, ist ihm wieder eingefallen, wie unsere Sprache funktioniert.“

Der Fahrer grinste und nickte. „Yes, Ma’m.“

Sie kamen am Theatre Royal Haymarket vorbei, wo wieder einmal eine dieser Schenkelklopfer-Comedy-Shows lief, die Luna so gern mochte, die jedoch die bei Kate gar nicht ankamen. Kurz darauf erreichten sie die berühmte Nationalgalerie mit ihren Löwen, den beiden Brunnen und dem Trafalgar-Denkmal davor.

„Sag ich doch, der fährt mit uns die Touritour“, murmelte Luna, während Kate aus dem Fenster blickte. Sie hatte London noch nie als Touristin entdeckt. Vielleicht wussten die Besucher aus Japan und Australien, Frankreich und der Schweiz mehr über ihre Stadt als sie selbst. Kate seufzte.