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Peter Bernhardt

Die Stasi-Akte

Oper und Spionage: Eine tödliche Kombination





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Die Stasi-Akte

 

 

 

 

 

 

 

DIE

STASI

-AKTE

 

 

Oper und Spionage:

Eine Tödliche Kombination

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Peter Bernhardt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Stasi-Akte―Oper und Spionage: Eine Tödliche Kombination

Copyright ©2013 Peter Bernhardt

 

Titel der englischen Originalausgabe: The Stasi FileOpera and Espionage: A Deadly Combination

Finalist für das Buch des Jahres und Bestseller auf YouWriteOn,

ehemalige Kritikseite gesponsert vom British Arts Council

Viertelfinalist Amazon Breakthrough Novel Award 2011

Copyright ©2009 Peter Bernhardt

 

Alle Figuren, Organisationen und Vorgänge in diesem Roman sind entweder ein Produkt der lebhaften Fantasie des Autors oder fiktional verwendet.

 

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk darf weder in Teilen noch im Ganzen ohne die vorherige schriftliche Zustimmung des Autors genutzt oder reproduziert werden, abgesehen von kurzen Auszügen, die in Besprechungen oder Literaturkritik zitiert werden.

 

 

https://sedonauthor.com

 

 

ISBN-13: 978-1494228231

ISBN-10: 1494228238

 

1. Auflage 2013

 

Übersetzung ins Deutsche

von Edith Parzefall,

Autorin von Die Streuner von Rio

Korrektorat: Kathrin Brückmann

 

 

 

 

 

 

Besprechungen und Leserkommentare zur englischen Ausgabe:

 

»Dieses Buch werden Sie nicht aus der Hand legen können. Eine atemberaubende Achterbahnfahrt.«

 

»Spannung, Drama und Schauplatz. Dieses Buch bietet all das.«

 

»Gratuliere zu einem umwerfenden Buch.«

 

»Ein extrem gut geschriebenes Werk, das mich von Anfang bis Ende faszinierte. Es enthält eine Spur von Robert Ludlum und John Grisham.«

 

»Hervorragende Geschichte. Von den ersten Absätzen an war ich in ihren Bann geschlagen.«

 

»Die Stasi-Akte ist einer der fesselndsten Spionageromane, die ich je gelesen habe. Dies ist eine intelligente, komplexe, glaubwürdige und dicht geschriebene Geschichte mit gut entwickelten Charakteren. Bei der Hälfte der Lektüre wollte ein Stromausfall meinen Lesespaß unterbrechen, aber ich setzte mir eine Stirnlampe auf und machte weiter. Bereiten Sie sich darauf vor, die ganze Nacht durchzulesen.«

 

»Bernhardt hat meine Aufmerksamkeit schon am Anfang geweckt und mich bis zum Ende bei der Stange gehalten.«

 

»Alle in unserem Buchklub fanden, dass dies ein herausragender Spionageroman ist. Die Figuren entwickeln sich großartig. Die ganze Zeit ist man am Rätseln. Eine tolle Lektüre!«

 

»Dieser Roman ist wirklich packend. Sehr gut geschrieben, mit überraschenden Wendungen und Auflösungen, die der Leser nicht erwartet; bis zum allerletzten Kapitel versucht man zu erraten, wie es ausgeht.«

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Marilyn

 

 

 

 

 

 

 

Ich möchte mich herzlich bei den Mitgliedern der Sedona Writers Critique Group, des Internet Writing Workshops und von YouWriteOn.com für ihre konstruktive Kritik bedanken, die diesen Roman ungemein verbesserte.

 

Kerry Taliaferro, ehemaliger Korrepetitor der Oper Stuttgart, unterstützte mich mit seinem unschätzbaren Expertenwissen. Auch die Leitung der Oper Stuttgart und die Theaterschule scheuten weder Zeit noch Mühe. Dank der Sopranistin Theresa Plut erlangte ich tiefere Einsichten in die Herausforderungen, denen sich eine aufstrebende Operndiva stellen muss.

 

Besonders bedanken möchte ich mich bei den Lesern meiner frühen Entwürfe für ihre wertvollen Meinungsbekundungen. Helma Boeck und Karl Ganter teilten mit mir ihre Erinnerungen an die Atmosphäre in Berlin, als die Mauer fiel. Claudia Käsbohrer ermöglichte es mir, die Szene in der Kongresshalle in Garmisch-Partenkirchen authentisch zu beschreiben.

 

Viele andere trugen wesentlich zu diesem Werk bei, aber sie sind zu zahlreich, um alle namentlich zu erwähnen. Dennoch möchte ich abschließend meine tiefe Wertschätzung für ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen. Meine Helfer wissen, wer gemeint ist.

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

Sylvia Mazzoni trat aus dem Bühneneingang des Großen Hauses, wie die Einheimischen das Stuttgarter Opernhaus nannten. In Bluejeans und Sweatshirt gekleidet sah sie eher wie ein Mitglied der Putzkolonne aus als wie eine Sopranistin, die eine Probe verließ, die eigens für sie anberaumt worden war. Sie atmete mehrmals tief durch, um die nachklingende Anspannung zu überwinden.

Novemberböen peitschten die Bäume, sodass ihre Schatten im dämmrigen Schlossgarten einen wütenden Fechtkampf austrugen. Schaudernd zog sie einen langen Wollschal aus ihrer Schultertasche und wickelte ihn in Pavarotti-Manier um ihren Hals, da sie um jeden Preis ihre Stimme schützen musste. Sie löste die Haarspange und ließ ihre schweren, dunklen Haare auf ihre Schultern fallen.

Der Musikdirektor hatte sie für zwei Aufführungen von Carmen als Micaёla gebucht, nachdem er sie in dieser Rolle an der Ulmer Oper gesehen hatte. Der heutige Abend war gut gelaufen, aber würde sie auch die morgige Feuerprobe bestehen? Ihr Debüt an der renommierten Stuttgarter Oper konnte ihren Durchbruch bedeuten oder sie wieder in der Versenkung verschwinden lassen. Falls ihr Auftritt morgen nicht beeindruckte, müsste sie wieder Nebenrollen auf Kleinstadtbühnen übernehmen. Das durfte sie nicht zulassen. Sie hatte zu hart und zu lange gearbeitet, um jetzt zu versagen.

Der Park, der an das Theater grenzte und tagsüber vor Leben überschäumte, lag jetzt verlassen da. Sylvia überlegte, ob sie auf einen Kollegen warten sollte, der sie begleiten würde, aber sie wollte die nächste Straßenbahn erwischen. Also ignorierte sie ihr Unbehagen und betrat die gepflasterte Promenade am See. Die Lichter der Stadt drangen durch die entlaubten Äste riesiger Eichen und Ahornbäume. Schummrige Lampen am Weg warfen lange, krumme Finger über das dunkle Wasser. Um das bedrohliche Bild abzuschütteln, hielt sie Ausschau nach sanften Kräuselungen auf der Oberfläche, die schwimmende Enten und Schwäne ankündigten, aber selbst für Wasservögel war es schon spät.

Sie blickte den dunklen Pfad entlang. Ein paar Meter vor ihr raschelten die vertrockneten Blätter einer riesigen Pappel in der Nachtluft. Von hier aus brauchte sie nur noch ein paar Minuten bis zur Einkaufspassage und der Straßenbahnhaltestelle. Sie eilte weiter.

Ein stämmiger Mann kam um die Wegbiegung. Sylvia erschrak und spürte einen Adrenalinstoß. Sie umklammerte ihren Regenschirm fester und wich an den rechten Rand des Pfads, um Abstand zu halten, während er sie passierte. Seine rechte Hand steckte vorne in seiner Lederjacke. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine hastige Bewegung in ihre Richtung wahr. Sie wirbelte herum. Glänzendes Metall schnitt durch ihr Sweatshirt und schlitzte ihren linken Oberarm auf. Der Schmerz ließ sie zusammenzucken, mobilisierte aber auch ihre Reflexe. Sie stieß die Metallspitze ihres Regenschirms mit aller Kraft in die Brust ihres Angreifers. Er stöhnte und krümmte sich zusammen. Ihr wurde schwindlig. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen, und ihre Finger erschlafften. Der Schirm fiel klappernd auf den Boden. Warme Flüssigkeit lief ihren Arm hinab. Sylvia torkelte auf den Rasen. Sie rang um Gleichgewicht, rutschte aus und schlug hart auf.

Entsetzt blickte sie sich nach dem Regenschirm um, aber er war den Pfad entlanggekullert, außer Reichweite. Steh auf, befahl sie sich selbst in Panik, aber es war zu spät. Die hohe Gestalt kam auf sie zu. Mit wild klopfendem Herzen rutschte sie auf dem Rücken über das feuchte Gras – weg von ihm. Sie hörte sich schreien: »Hilfe, Hilfe … helft mir!«

Der Mann holte mit dem Messer aus, um nochmals auf sie einzustechen. Sie rollte herum. Ihr Gesicht drückte sich in den nassen Boden. Sie zerrte die Strähnen ihres zerzausten Haares beiseite und sah das Messer an der Stelle bis zum Griff in die Erde eindringen, an der sie vor einer Sekunde noch gelegen hatte.

»Verfluchte Verräterin!«

Die gutturale Stimme hatte sie schon einmal gehört. Sie hob den Kopf, drehte sich und starrte in hasserfüllte Augen. War es möglich …? Bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, warf er sich mit seinem massigen Körper auf sie und quetschte ihr die Luft aus den Lungen. Sie öffnete den Mund, um erneut um Hilfe zu rufen, konnte aber nur Gras ausspucken. Kalte Finger gruben sich unter ihren Schal und legten sich um ihren Hals. Seine muskulösen Schenkel fixierten ihre Hüften. Gegenwehr war aussichtslos. Mit ihren Händen versuchte sie, seinen Griff zu lockern, aber er drückte umso fester zu.

»Bit …« Der Rest ihres Flehens endete in einem Gurgeln, als ihre Luftröhre erbarmungslos zugequetscht wurde. Blut rauschte in ihren Ohren. Das Gesicht des Mannes wurde zu einem verschwommenen Klecks. Panisch rang sie um Atem. Ihre Glieder wurden kraftlos. Dunkelheit umhüllte sie.

Dann durchbrach ein scharfer Knall die Nachtluft und holte sie aus ihrer Benommenheit. Eine reglose Last landete auf ihrer Brust. Der Schraubstock um ihren Hals lockerte sich.

Sie kämpfte gegen den Ballast an, der sie zu zermalmen drohte, und schnappte nach Luft, sog einen kleinen Atemzug in ihre Lungen, dann noch einen. Sie öffnete die Augen. Der Kopf des Angreifers lag in einem unnatürlichen Winkel auf ihrer Brust. Blut tröpfelte aus dem schlaffen Mund des Mannes. Angewidert schob sie sein stoppeliges Gesicht weg und mühte sich, den Körper beiseitezuschieben. Die Leiche kippte leicht, rollte dann aber zurück, zurück auf Sylvia. Sie schauderte. Sie nahm einige weitere hastige Atemzüge und sammelte ihre Kräfte, aber bevor sie einen neuen Versuch unternehmen konnte, hievte jemand den Körper von ihr herunter. Ihre Lungenflügel schienen sich in ihrer Brust erleichtert aufzublähen.

»Frau Mazzoni, sind Sie in Ordnung?«

Verwirrt musterte sie den Mann an, dann erkannte sie Nachrichtenoffizier Dieter Schmidt.

»Herr Schmidt. Was machen –?«

»Sie sind jetzt in Sicherheit.« Er fasste ihren rechten Arm, um ihr aufzuhelfen, dann deutete er auf den linken, blutgetränkten Ärmel. »Können Sie Ihren Arm bewegen?«

Behutsam hob Sylvia den verletzten Arm. Der Schmerz war zu ertragen. Der feuchte Stoff des Sweatshirts klebte an der Wunde und hemmte die Blutung. »Ja, scheint nicht so schlimm zu sein.«

»Gut.« Er zeigte zum leblosen Körper im Gras neben ihr. »Kennen Sie ihn?«

Sie zwang sich hinzusehen. »Er ist bei …« Sie atmete tief durch. »Er war bei der RAF. Manfred Klau, ein Freund von Horst.« Sie fröstelte. Jahrelang hatte sie ständig über ihre Schulter geblickt und erwartet, dass Terroristen der Roten Armee Fraktion sie erwischten. Es war nicht passiert. Warum jetzt, nach zwölf Jahren? Sie hatte gerade angefangen, sich vor ihrer Rache sicher zu fühlen.

Schmidt nickte. »Das habe ich befürchtet.«

Er bückte sich und fühlte nach einem Puls. Ein paar Sekunden später sagte er: »Seine Terroristentage sind vorüber.«

Sylvia starrte Schmidt an. »Haben Sie ihn erschossen?«

Er half ihr auf die Beine. »Darüber reden wir später. Sie müssen jetzt erst mal hier verschwinden – bevor die Polizei auftaucht.«

Er betrachtete eindringlich ihr Gesicht. »Schaffen Sie es allein bis zum Hotel?«

Benommen nickte sie.

»Ich muss mich hier um ein paar Dinge kümmern, aber ich werde so bald wie möglich nach Ihnen sehen.« Er sammelte ihre Tasche und den Schirm auf und drückte ihr beides in die Arme. »Kein Wort zu irgendwem, Frau Mazzoni. Gehen Sie. Jetzt!«

Sylvia stolperte in Richtung Einkaufspassage davon.

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

Rolf Keller war in Gedanken schon bei dem Antrag auf ein summarisches Urteil, den er heute fertigstellen musste, daher murmelte er seiner Sekretärin nur ein hastiges ›Guten Morgen‹ zu. Bevor er sein Büro jedoch betreten konnte, hob sie die Hand. Überrascht blieb er stehen. Sein Freitag würde nicht wie geplant verlaufen.

Mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Neugier und Sorge schwankte, sagte Betty: »Steins Sekretärin hat bereits zweimal angerufen. Ich soll dich hochschicken, sobald du eintriffst.«

Betty Crandall konnte auf abwechslungsreiche zwanzig Jahre bei Stein & Weston zurückblicken. Anfangs hatte sie für Seniorpartner gearbeitet, war dann Juniorpartnern zugewiesen worden und schließlich angestellten Anwälten.

Als Rolf 1982 angefangen hatte, wurde Betty seine Sekretärin, ohne dass man ihm eine Wahl gelassen hätte. Man hielt sie für seltsam; sie war Mitte vierzig und unverheiratet. Sich lichtendes rotes Haar umrahmte ihre hohe Stirn und die eingefallenen Wangen. Eine spitze Nase ragte über kaum sichtbare, dünne Lippen. Sie verfehlte die Eins-achtzig um nur ein paar Zentimeter und war damit fast so groß wie Rolf. Ihre Kleidung musste noch aus den Sechziger Jahren stammen und passte problemlos, da sich ihr schlaksiger, spindeldürrer Körper zu weigern schien, mit fortschreitendem Alter Fett anzusetzen. Rolf konnte nicht entscheiden, ob Sparsamkeit oder Mangel an Geschmack ihre Aufmachung bestimmten.

Ihm war schnell klar geworden, warum die anderen Anwälte sie nicht mochten. Sie sprach unverblümt und wagte es, Wortwahl und Grammatik in rechtlichen Dokumenten infrage zu stellen. Gelegentlich beging sie sogar die unverzeihliche Sünde, auf einen inhaltlichen Fehler aufmerksam zu machen. Die aufgeblasenen Egos der meisten Anwälte konnten dieses Verhalten nicht ertragen, empfanden es als Anmaßung von Untergebenen. Rolf mochte ihre Direktheit. Deshalb war sie auch nach sieben Jahren noch seine Sekretärin.

Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Sie werden doch nicht in Schwierigkeiten stecken, Herr Anwalt?«

Rolf wusste die Stichelei zu schätzen. Im Gegensatz zur äußerst förmlichen Firmenkultur redeten sich Betty und Rolf seit Jahren mit Vornamen an und wichen davon nur in professionellem Umfeld ab, oder um einander aufzuziehen.

Harry Stein, der Gründer der Kanzlei, ließ einfache Anwälte gewöhnlich nicht bei sich antreten. Natürlich wusste Rolf, wo sich sein Büro befand – in der südöstlichen Ecke des zwölften Stocks – doch in den letzten sieben Jahren hatte er es nur zweimal betreten. Stein regierte die Firma mit autokratischer Hand durch seine Partner. Außer auf der Weihnachtsfeier mischte er sich nicht unter das einfache Volk.

»Hast du eine Ahnung, was er will, Betty?«

Sie zuckte die Schultern. »Nicht die blasseste.«

Rolf erblickte den Notizblock neben dem Posteingangskorb auf seinem Schreibtisch, nahm ihn jedoch nicht an sich. Stattdessen spähte er zum Kleiderständer, wo Hemd, Jackett und Krawatte für Gerichtstermine oder andere Anlässe mit Anzugpflicht bereit hingen.

»Ziehst du dich für den großen Boss etwa um?«

Rolf hörte die Herausforderung in ihrer Frage. »Anzug und Krawatte wären wohl übertrieben, oder?«

Einer weiteren ihrer satirischen Bemerkungen entfloh er in den Flur, wo er an den Schreibtischen der Assistenten und den Büros der Anwälte vorbeilief. Er erreichte die interne Wendeltreppe, welche die drei Stockwerke verband, die Stein & Weston im Bürogebäude im Zentrum von Washington belegten, und zögerte. Dann entschied er sich, den Aufzug zu nehmen. Natürlich fragte er sich, warum er antreten sollte. Ab seinem achten Jahr bei der Kanzlei würde man ihn für eine Partnerschaft in Erwägung ziehen und deshalb unter genauer Beobachtung halten. Das ungeschriebene Gesetz für eine Partnerschaft besagte, dass man sie spätestens im zehnten Jahr angeboten bekam – oder gar nicht. In letzterem Falle wurde erwartet, dass man die Firma von selbst verließ.

Auf der Fahrt nach oben erinnerte sich Rolf an Geschichten, die Betty ihm erzählt hatte. Mitarbeiter, die blieben, obwohl ihnen keine Partnerschaft angeboten wurde, hatten wieder Anfängeraufgaben wie Bibliotheksrecherche zu übernehmen und wurden von Partnern und Nichtpartnern gleichermaßen gemieden. Das Getuschel wurde dann allmählich so laut, dass es selbst die arglosesten oder stursten Anwälte kapieren mussten.

Das durfte ihm nicht passieren. Eine Partnerschaft in der Kanzlei bedeutete nicht nur Prestige und einen Wettbewerbsvorteil, sondern vor allem finanzielle Anreize – ein entscheidender Faktor. Von seinem Gehalt könnte er nicht mehr lange den Unterhalt für sein Kind, Alimente und die Miete für seine Wohnung zahlen sowie die Hypothek aufs Haus abstottern. Er musste Partner werden – lange vor seinem zehnten Jahr.

Als Rolf im zwölften Stock aus dem Aufzug in den holzgetäfelten Korridor trat, fragte er sich, ob Stein ihn gerufen hatte, um ihm die Partnerschaft anzubieten. Er hatte gute Arbeit geleistet, aber gut genug, um schon nach sieben Jahren Partner zu werden? Unwahrscheinlich.

Die großzügigen Räumlichkeiten der Partnerbüros betonten, dass nicht alle Anwälte gleich waren, nicht in den Augen von Stein & Weston. Als er sich zur südöstlichen Ecke geschlängelt hatte, erkannte Rolf das Namensschild aus Messing, in das ›Harold Stein, Seniorpartner‹ graviert war. Darunter prangte ein Zweites mit der Inschrift ›Mildred Reid, Sekretariat‹. Die dunkle Holztür stand offen.

Rolf spähte hinein und klopfte halbherzig an die Täfelung. Alle Wege zu Stein führen über seine Sekretärin, dachte er. Dem Blick zufolge, den ihm Mildred zuwarf, waren die Wege manchmal steinig. Innerhalb einer Nanosekunde ermittelte die Frau in den Fünfzigern mit der stiernackigen Statur eines Linebackers seinen Status innerhalb der Firma und deutete ein Nicken an, womit sie ihm wohl zu verstehen geben wollte, seine Anwesenheit werde toleriert.

»Setzen Sie sich, Mr. Keller. Ich werde Mr. Stein Bescheid geben, dass Sie hier sind.«

Ihr Ton klang eher nach einem Befehl als einer Einladung. Während er sich auf den Rand des schwarzen Lederstuhls gegenüber ihrem Kirschholztisch sinken ließ, fragte er sich, was wohl passieren würde, falls er nicht gehorchte. In ihrer Stellenbeschreibung stand bestimmt nichts von freundlichem Umgang mit angestellten Anwälten.

Kaum hatte sie ihn am Telefon angekündigt, sagte sie auch schon: »Mr. Stein empfängt Sie jetzt.« Sie öffnete die hohe Tür hinter ihrem Schreibtisch und bedeutete ihm, einzutreten.

Die Tür schloss sich hinter ihm, und sofort überfiel ihn das Gefühl, ein Schuljunge zu sein, der in das Büro des Direktors zitiert worden ist. Seine Schuhe sanken bei jedem seiner Schritte in den dicken, beigefarbenen Teppich. Das geräumige Büro bot neben dem üblichen Schreibtisch mit Besucherstühlen auch noch Platz für einen Konferenztisch mit sechs Lederstühlen und einem übergroßen Schlafsofa, ohne vollgestopft zu wirken.

Dank der wandhohen Fensterreihen an zwei Seiten war es sehr hell. Die Morgensonne drang durch die halb geöffneten Jalousien hinein und warf ein Streifenmuster auf den Boden. Sobald ihn die Strahlen trafen, musste Rolf die Augen zusammenkneifen. Der Seniorpartner wirbelte in seinem Lederstuhl zu Rolf herum und richtete sich aus seiner weit zurückgelehnten Position auf. Ein ungezwungenes Lächeln breitete sich über sein hageres Gesicht, das von einer langen Nase, großen Ohren und einer hohen Stirn akzentuiert wurde. Als er aufstand, um Rolf mit einem festen Händedruck zu begrüßen, wirkte er in seinem maßgeschneiderten Anzug sehr fit, besonders für einen Mann, der auf die Sechzig zuging. Er mochte wohl bei einer Größe von etwa 1,80 m höchstens siebzig Kilo wiegen, schätzte Rolf.

»Schön Sie zu sehen, Rolf. Wie geht es Ihnen?«

Überrascht von der herzlichen Begrüßung stammelte Rolf: »Gut …, Sir.«

»Setzen Sie sich. Kaffee?«

Er würde hier wohl einige Zeit festsitzen, schwante es Rolf. Also antwortete er: »Danke gerne.«

Stein setzte sich wieder hinter seinen riesigen Schreibtisch und drückte den Knopf für die Gegensprechanlage des Telefons. »Mildred, bringen Sie bitte Kaffee.« Ohne auf Antwort zu warten, wandte er sich Rolf zu. »Ich habe es sehr bedauert, zu erfahren, dass Sie und Lynn sich haben scheiden lassen. Es ist nicht einfach, wieder allein zu sein, auch wenn es so am besten ist, oder?«

Fassungslos rang Rolf um eine Antwort. Er hatte nicht erwartet, dass sein Privatleben Gesprächsthema werden könnte. Glücklicherweise wurden sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, und Mildred schob einen kleinen Servierwagen herein. Ihrem Chef reichte sie schwarzen Kaffee, dann schob sie das Wägelchen neben den Besucherstuhl. Rolf schenkte sich aus der Kanne ein und rührte dann Sahne und Zucker in seine Tasse. Er wartete, bis sich die Tür hinter Mildred geschlossen hatte, bevor er Stein antwortete: »Eigentlich habe ich kaum Zeit, darüber nachzudenken.«

Stein nickte. »Ihre abrechenbaren Stunden im letzten Quartal waren unter den höchsten in der Kanzlei. Das gefällt den Partnern natürlich sehr.« Er beugte sich vor und legte seine Arme auf die Mahagonioberfläche des Schreibtisches. »Aber ich wundere mich über den plötzlichen Anstieg.«

Rolf spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Jetzt nur nicht erröten! Er schätzte es gar nicht, sich wie ein Zeuge im Kreuzverhör zu fühlen. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, stellte er die Tasse auf dem Wagen ab. Stein war kein Narr und würde alle Beschwichtigungsversuche durchschauen. Seine Antwort musste eine anständige Portion Wahrheit enthalten. »Um ehrlich zu sein, die letzten paar Monate waren hart. Es gab keinen Grund, nach Hause zu gehen, in eine leere Wohnung, also habe ich mich in die Arbeit vergraben. Und ich dachte mir, jetzt wäre eine gute Zeit, meine in Rechnung stellbaren Stunden zu erhöhen.«

Stein lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als ließe er die Antwort auf sich wirken, und nahm einen Schluck Kaffee. Die Tasse auf die Armlehne gestützt, schwang er seinen Stuhl zum Eckfenster, musterte anscheinend die Bürogebäude, die in der Morgensonne förmlich glühten.

Rolf fragte sich, ob seine fast aufrichtige Antwort seinen Chef zufriedenstellte. Warum sollte er ihm auf die Nase binden, wie sehr er die Partnerschaft brauchte?

Der Senioranwalt schwang zurück und stellte die Tasse auf das Ausziehtablett. »Sie sind von der unabhängigen Sorte, nicht wahr?«

So, wie ihn Stein jetzt musterte, wünschte sich Rolf beinahe, sein Jackett und die Krawatte angezogen zu haben. Hier geht es sicher nicht um das Angebot einer Partnerschaft, dachte er und fühlte sich wie ein Trottel, weil er die Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen hatte.

Deshalb überraschten ihn Steins nächste Worte umso mehr. »Nach allem, was ich über Ihr Auftreten bei Gericht höre, behaupten Sie sich auch gegen tyrannische Bundesrichter. Ihre Schriftsätze sind hervorragend, eingehend recherchiert, gut geschrieben und zeugen von kreativem Denken.«

Jetzt war Rolf völlig verwirrt. Zeichnete sich doch seine Partnerschaft ab?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, fuhr der Senioranwalt fort: »Sie sind jetzt seit sieben Jahren bei uns. Wie Sie wissen, wartet die Kanzlei gewöhnlich zehn Jahre, bevor einem Anwalt die Partnerschaft angeboten wird.«

Rolf wurde das Herz schwer.

»In Ihrem Fall allerdings werde ich eine Ausnahme machen.«

Eine Last fiel von Rolf ab. Er maß der von Stein gewählten Formulierung besondere Bedeutung bei. Dieser hatte von der Kanzleipraxis im Allgemeinen gesprochen, aber sich allein die Entscheidung vorbehalten, von der Norm abzuweichen.

»Einem Anwalt an der Schwelle zur Partnerschaft wird normalerweise ein komplizierter Fall übertragen.« Stein warf ihm einen strengen Blick zu. »Der Auftrag, den Sie übernehmen sollen, ist extrem sensibel. Es handelt sich nicht wirklich um eine rechtliche Angelegenheit, aber sie erfordert außergewöhnliche Fähigkeiten von der Art, die ich bei einem Partner erwarte. Sie sind auf einzigartige Weise dafür qualifiziert. Wenn Sie die Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigen, werden Sie unser neuester Partner.« Er musste nicht aussprechen, was passierte, falls Rolf versagte. Harry Stein schlug einen gewichtigen Ton an. »Bevor ich Ihnen Details gebe, muss ich Sie fragen, wie Ihre Suchttherapie läuft.«

Rolf fiel die Kinnlade herab. Gab es irgendetwas in seinem Privatleben, das diesem Mann nicht bekannt war? Bevor er seinen Ärger unter Kontrolle bekam, brachen die Worte aus ihm heraus: »Die Anonymen Alkoholiker sind genau das, anonym. Ich werde nicht mit Ihnen darüber sprechen.« Sein Körper katapultierte sich aus dem Stuhl hoch.

»Bitte setzten Sie sich. Ich will nicht in Ihrem AA-Programm herumschnüffeln, aber ich muss wissen, ob Sie nüchtern bleiben.«

Wie hatte Stein herausgefunden, dass er zu den Treffen ging? Hatte ihn jemand bei AA verraten? Rolf versuchte, seinen Zorn zu zügeln. Sein Chef wusste Bescheid. Wenn er jetzt aus dem Büro stürmte, änderte das auch nichts. Er rang um Fassung. »Wer die zwölf Schritte befolgt, bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit nüchtern. Wer sich allerdings nicht durchs Programm kämpft, wird meist rückfällig.«

»Ich kenne die Statistiken. Ich frage Sie. Werden Sie nüchtern bleiben?« Stein fixierte ihn mit dem Blick eines Anklägers.

Rolf konnte ihm nicht ausweichen. Er atmete tief durch und ließ sich auf den Stuhl sinken. »Jeder neue Tag ist ein Kampf, den ich gewinnen werde.« Das war die Wahrheit, und der Anwalt hinter dem Schreibtisch schien es ebenfalls zu spüren.

Harry Stein erhob sich, ging zu einer der holzgetäfelten Wände und schob zwei der Paneele auseinander, hinter denen sich ein großer Safe verbarg. Sein Oberkörper schirmte das Kombinationsschloss ab. Nach einer Reihe von Klicks und dem Geräusch sich bewegender Scharniere griff Stein in den offenen Safe. Er schloss ihn wieder, brachte einen Ordner zum Konferenztisch und winkte Rolf heran.

»Wann haben Sie Ihre deutsche Staatsbürgerschaft aufgegeben, um ein Bürger der Vereinigten Staaten zu werden?«

Obwohl Stein die Antwort wahrscheinlich bereits kannte, antwortete er gehorsam: »Das war 1982.«

»Empfinden Sie immer noch Gefolgstreue gegenüber dem Land, in dem Sie geboren und aufgewachsen sind?«

Rolf versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass Stein ihn schon wieder auf dem falschen Fuß erwischt hatte. »Nicht die Art von Loyalität, die ich für die USA hege, aber ich bleibe auf dem Laufenden, was drüben passiert, so wie man mit alten Freunden in Kontakt bleibt, nachdem man weggezogen ist. Seit dem Fall der Mauer wird natürlich viel darüber spekuliert, ob das geteilte Deutschland geeint werden könnte.«

»Was glauben Sie? Wird Deutschland wiedervereinigt?«

»Ich würde sagen, die Chancen stehen gut, wenn die Deutschen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs überzeugen können, dass von einem vereinten Deutschland keine Gefahr ausgehen wird. Dazu wird Kanzler Kohl politisch geschickt lavieren und taktieren müssen.«

»Trauen Sie ihm das zu?«

Steins Frage überraschte Rolf und schmeichelte ihm. Nur, weil er gebürtiger Deutscher war, musste er noch lange kein Experte für deutsche oder globale Politik sein. »Ich weiß nur, was in den Zeitungen steht, und halte Helmut Kohl für einen fähigen Politiker. Wenn es jemand schafft, dann er.«

Harry Stein nickte. »Ja, mein Mandant denkt auch, dass die Wiedervereinigung Deutschlands unmittelbar bevorsteht.«

Steins Verwendung von Wiedervereinigung hörte sich an, als solle Deutschland in den Grenzen von vor dem Zweiten Weltkrieg wieder hergestellt werden, aber das stand völlig außer Frage. Nur die DDR und die Bundesrepublik standen zur Debatte, also sollte man lieber von einer Vereinigung sprechen.

Steins Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Sie müssen heute Abend den Flug nach Frankfurt erwischen und am Morgen nach Stuttgart weiterfliegen.

»Aber dieses Wochenende ist Ashley bei mir … meine Tochter.« Die Klarstellung war vermutlich überflüssig, da sich Stein bestens mit seinen familiären Verhältnissen auskannte.

»Tut mir leid, aber es ist dringend.«

Die Firma würde keine Ablehnung einer Aufgabe akzeptieren, egal wie schwierig sich das Privatleben eines Anwalts gestaltete. Stein hatte offensichtlich alles organisiert, ohne eine Weigerung Rolfs überhaupt in Erwägung zu ziehen. Abgesehen von einer Kündigung gab es keine realistischen Alternativen zu seiner Abreise.

»Sie können doch sicherlich andere Vorkehrungen für Ihre Tochter treffen, oder?«

Rolf lieferte die erwartete Antwort auf die rhetorische Frage. »Ja, Sir.« Dabei graute ihm davor, Ashley zu sagen, dass er ihr gemeinsames Wochenende ausfallen lassen musste. In letzter Zeit hatte sie sich immer mehr von ihm zurückgezogen, und er fragte sich, ob sie ihn für die Trennung verantwortlich machte. Falls es einen Weg gab, einer Siebenjährigen eine Scheidung zu erklären, hatte er ihn noch nicht gefunden. Vielleicht fehlte es ihm an Mut.

Als Stein zu seinem Schreibtisch ging, um seinen Kaffee zu holen, ergriff Rolf die Gelegenheit, einen Blick auf die Akte zu werfen. Er mühte sich, die auf dem Kopf stehenden Druckbuchstaben der Beschriftung zu entziffern, erkannte aber nur, dass es drei waren.

Steins Stimme erfüllte den Raum. »Ich nehme an, Sie wissen, was die Stasi ist?«

Rolf wirbelte herum und stellte erleichtert fest, dass Stein ihm den Rücken zugewandt hatte. Bemüht lässig antwortete er: »Ja, die ostdeutsche Geheimpolizei.«

»Was wissen Sie über die?«

»Sie versuchen, durch Indoktrination, Erpressung und Bestechung Ostdeutsche dazu zu bewegen, dass sie einander ausspionieren und verraten. Paare einander, die Kinder ihre Eltern. Sie lesen die Post und hören Anrufe ab. Sie haben die Methoden der Gestapo weiterentwickelt, von Staatsfeinden Geständnisse zu erzwingen, und auf ein neues Niveau von Raffinesse gehoben. Nicht nur physische, sondern auch psychische Qualen werden bei der Folter angewendet.«

Stein kehrte zum Konferenztisch zurück und stellte seine Tasse und Untertasse neben die Akte. »Ihnen ist klar, dass es sich nicht nur um eine Polizeibehörde handelt?«

Rolf nickte. »Sie spionieren national und international. Vielleicht gehört auch Terrorismus zu ihren Aufgaben.«

»Sie kennen sich ziemlich gut aus.« Steins Miene war die eines Lehrers, dessen Schüler gerade eine Prüfung bestanden hat. »Und jetzt fragen Sie sich bestimmt, was das alles mit Ihrem Auftrag zu tun hat.« Er nahm einen Schluck Kaffee und stellte die leere Tasse mit lautem Klappern auf die Untertasse. Dann legte er seine Hände auf dem geschlossenen Ordner ab. »Es gibt da einen Stasi-Offizier, der zur selben Schlussfolgerung gekommen ist wie wir, was die Wahrscheinlichkeit einer Wiedervereinigung betrifft. Er hat den westdeutschen Bundesnachrichtendienst kontaktiert und Dokumente aus den Stasi-Akten angeboten.«

Rolf wunderte sich, wie ein Partner einer Anwaltsfirma über Angelegenheiten von internationalen Geheimdiensten Bescheid wissen konnte, aber er stellte eine andere Frage: »Was will er im Gegenzug?«

»Ich bin nicht über die Verhandlungen eingeweiht. Ich nehme an, er will sich schützen, falls Deutschland geeint und die sozialistische Regierung mitsamt Stasi aufgelöst wird. Vielleicht versucht er, überzulaufen.«

»Warum wollen die Geheimdienstleute Zivilisten in Spionageaktivitäten involvieren?« Jetzt hatte er es doch noch geschafft, die Frage zu stellen, ohne dass sein Chef sie persönlich nehmen würde.

»Nun, das möchten sie natürlich nicht, aber dieser Stasi-Informant scheint darauf zu bestehen, dass die Übergabe der Dokumente zu einem bestimmten Zeitpunkt an eine gewisse Person erfolgt.«

»Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.«

»Die Westdeutschen haben anscheinend Informationen, die sie glauben lassen, Sie seien die ideale Person, um den Empfänger der Dokumente im Auge zu behalten.«

»Ich kapierʼs immer noch nicht.« Gereiztheit schwang in Rolfs Stimme mit. »Wozu brauchen sie einen amerikanischen Anwalt, um die Übergabe der Dokumente zu beobachten?«

Stein blieb geduldig. »Ich verstehe Ihre Frustration. Es klingt verrückt, ich weiß. Es wird mehr Sinn ergeben, wenn Sie die Details kennen.«

»Und wann wird das passieren?«

»Ein Herr Schmidt wird in Ihrem Stuttgarter Hotel mit Ihnen Kontakt aufnehmen.«

»Und wen soll ich beobachten?«

»Das wird Schmidt Ihnen sagen.«

»Sie wissen nicht, was in den Stasi-Dokumenten steht?«

»Nein, aber genau darauf müssen Sie sich konzentrieren. Mein Mandant muss es wissen, und Ihr Auftrag ist es, das herauszufinden.«

»Und wie soll ich das schaffen?«

»Sie werden die besonderen Fähigkeiten einsetzen, die von einem Partner erwartet werden.«

»Weiß Schmidt, dass ich mir die Papiere ansehen werde?«

»Nein, in seinen Augen stellen Sie nur sicher, dass ihm der Empfänger die Dokumente übergibt. Es gibt keinen Grund, ihm mehr zu erzählen. Halten Sie sich an seine Anweisungen, aber irgendwann müssen Sie den Inhalt der Dokumente herausfinden und sie sogar kopieren.«

»Warum interessiert sich Ihr Mandant dafür?«

»Das ist vertraulich. Und Schmidt geht es nichts an, dass Sie mehr als nur die Dokumente im Auge behalten.«

Rolf hob eine Hand. »Mr. Stein, haben Sie eine Ahnung, wie rücksichtslos die Stasi vorgeht? Warum sollte ich in der DDR Spion spielen und mein Leben riskieren? Ich würde mir lieber meine Partnerschaftssporen mit einem heiklen Rechtsfall verdienen.«

Stein sah ihn direkt an. »Ich biete Ihnen drei Jahre früher eine Partnerschaft an, das sollte doch wohl das Risiko wert sein.«

Rolf rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich denke drüber nach.«

»Ich brauche Ihre Antwort jetzt.« Steins Stimme wurde weicher. »Schauen Sie, ich weiß, dass Sie unter einigem finanziellen Druck stehen. Nach einer Scheidung ist das ganz normal. Wenn heute Abend das Flugzeug mit Ihnen an Bord in Richtung Frankfurt abhebt, wird ein ansehnlicher Vorschuss auf Ihre Einnahmen als Partner auf Ihr Konto eingezahlt.«

Rolf blickte zur Decke hoch. Er musste nachdenken, aber die Zeit bekam er nicht. Er starrte Stein an. Wenn er schon gekauft wurde, wollte er auch seinen Preis kennen. »Wie viel?«

»Fünfzigtausend ist eine nette, runde Summe.«

»Gut, aber nicht als Vorschuss.«

Stein musterte ihn. Sein Gesichtsausdruck sagte Nein. Dann hellte ein Lächeln seine Miene auf. »Sie sind ein harter Verhandlungspartner. Das weiß ich zu schätzen. Hier ist mein Angebot. Wenn Sie Ihre Aufgabe meinen Erwartungen entsprechend erfüllen, gehört Ihnen das Geld. Wenn nicht, werden Sie es zurückzahlen.«

Mehr würde er aus Stein nicht rausholen können. Rolf nickte. »Einverstanden.«

»Gut, das hätten wir geklärt. Jetzt zu ein paar Grundregeln. Sie berichten direkt an mich und niemandem sonst in der Firma. Ich will umgehend über alle Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden. Sie erreichen mich Tag und Nacht unter einer dieser Nummern.« Stein fischte eine Karte aus seiner Jackentasche und reichte sie Rolf. »Lernen Sie die auswendig. Benutzen Sie die Erste während der Geschäftszeiten, ansonsten die Zweite. Und melden Sie sich täglich, egal, ob es etwas Besonderes zu berichten gibt oder nicht.«

»Woher weiß ich, was ich berichten soll, wenn ich keine Ahnung habe, was ich genau machen soll?«

»Das werden Sie schon herausfinden.«

Stein wollte ihn eindeutig abschrecken, weitere Fragen zu stellen, aber er sondierte trotzdem weiter. »Unter welchem Mandantennamen soll ich meine Arbeitsstunden erfassen?«

»Schicken Sie mir die Aufstellung, dann kümmere ich mich um den Rest.« Stein erhob sich. »Ich halte Sie nicht länger auf. Mildred hat alle nötigen Vorkehrungen getroffen.« Er streckte seinen Arm über den Schreibtisch. »Viel Glück.« Während sie sich die Hände schüttelten, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu: »Rolf, Sie sind sich Ihrer Mission bewusst. Schützen Sie den Empfänger der Dokumente und bringen Sie ihren Inhalt in Erfahrung – jedes kleinste Detail. Egal, mit welchen Mitteln.«

»Jawohl, Sir.« Rolf spürte, wie sich ein enormes Gewicht auf ihn legte. Er zog sich in Richtung Tür zurück. Dabei fühlte sich jeder Schritt an wie Waten durch nassen Sand.

Auf halbem Weg wandte er sich um. »Wie lange werde ich dort bleiben?«

Stein wirkte amüsiert. »Schwer zu sagen. Packen Sie mehr als Freizeitkleidung ein, vielleicht etwas Passendes für einen Opernbesuch. Sie mögen doch Oper, Rolf?«