Inhalt

Titel

Über die Autorin

Impressum

KAPITEL EINS: in dem Kommissar Otto Kappe an einer Razzia teilnimmt und Probleme bekommt

KAPITEL ZWEI: in dem Hermann Kappe von seinem Neffen um Hilfe gebeten wird

KAPITEL DREI: in dem eine Frau verzweifelt nach ihrer Nichte sucht

KAPITEL VIER: in dem zwei Kappes heimlich eine Wohnung aufsuchen und nicht nur einen Toten finden

KAPITEL FÜNF: in dem Otto Kappe Zeitung liest und den Namen einer Unbekannten erfährt

KAPITEL SECHS: in dem ein Mädchen sich aufmacht, ein Geheimnis zu ergründen

KAPITEL SIEBEN: in dem zwei Männer über zwei weibliche Wesen reden

KAPITEL ACHT: in dem Otto Kappe die Kollegen und Ida Berkowitz einen alten Flakturm aufsucht

KAPITEL NEUN: in dem Hermann Kappe eine Menge über einen Nachrichtenhändler erfährt

KAPITEL ZEHN: in dem Hermann Kappe keinen Morgenkaffee bekommt

KAPITEL ELF: in dem zwei Kappes einem Mädchen zu Hilfe eilen

KAPITEL ZWÖLF: in dem ein Einbruch misslingt und ein Erpresser verhaftet wird

KAPITEL DREIZEHN: in dem Otto Kappe rehabilitiert wird und seinem Chef ein Geständnis machen muss

KAPITEL VIERZEHN: in dem Klara Kappe einen Brief unterschlägt und ihr Mann seinen Sohn trifft

KAPITEL FÜNFZEHN: in dem Otto Kappe und seinen Kollegen ein Verdächtiger abhandenkommt

KAPITEL SECHZEHN: in dem Lenchen im Kranzler schlemmt und verschwindet

KAPITEL SIEBZEHN: in dem Ida Berkowitz auspackt und Otto Kappe eine Überraschung erlebt

KAPITEL ACHTZEHN: in dem Kappe endgültig die Nase voll hat und sich ein Genosse erinnert

KAPITEL NEUNZEHN: in dem Lenchen gefunden wird und einen Mord schildert

KAPITEL ZWANZIG: in dem sich zwei Frauen kennenlernen und ein Anschlag misslingt

NACHWORT

Es geschah in Berlin 

cover

Petra Gabriel

Kaltfront

Der 24. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Petra Gabriel,geboren in Stuttgart, ist gelernte Hotelkauffrau, Dolmetscherin und Journalistin. Sie lebt als freiberufliche Autorin in Laufenburg und Berlin. 2001 wurde ihr erster Roman «Zeit des Lavendels» veröffentlicht. Neben historischen Romanen schreibt sie Kurzgeschichten und Krimis. 2004 gründete sie das Internet-Magazin 3land.info. 2010 erschien ihr Mystery-Roman «Der Klang des Regenbogens», 2011 ihr sechster historischer Roman, «Die Köchin und der König». Zur Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug sie bereits die Bände «Beutezug» (2012) und «Operation Gold» (2013) bei. (www.petra-gabriel.de)

Originalausgabe

1. Auflage 2014

© 2014 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 9783955520236

KAPITEL EINS

in dem Kommissar Otto Kappe an einer Razzia teilnimmt und Probleme bekommt

DIE ERSTEN GRÜNEN SPITZEN der Krokusse und Tulpen hatten schon im Januar 1956 die Hoffnung auf Frühling genährt. Doch dann waren die Temperaturen in den Keller gerauscht. Anfang Februar herrschte sibirische Kälte in Berlin. Im Urbanhafen saßen Schiffe im Eis fest. Auf dem Landwehrkanal verdichteten sich die Eisschollen zu einer festen Decke, krachten aufeinander oder rieben sich knisternd aneinander. Und bei der Grünen Woche kämpfte das Grün gegen arktische Verhältnisse.

Das Haus am Fraenkelufer lag zwischen Urbanhafen und Admiralsbrücke. Dort war um 6.30 Uhr morgens noch alles ruhig. Hinter den Fenstern herrschte Dunkelheit. Die Sonne würde erst in knapp einer Stunde aufgehen. Vermummte Männer huschten wie Geister durch die frostklirrende Kreuzberger Nacht und nahmen die vereinbarten Positionen ein.

Kriminalkommissar Otto Kappe nickte zufrieden, obwohl er trotz der russischen Pelzmütze mit den Ohrenklappen, die ihm seine Frau Gertrud aufgenötigt hatte, erbärmlich fror. Lippen und Nase fühlten sich bereits taub an. Nur ein Gedanke wärmte ihn ein wenig: Heute würden sie den Laden plattmachen.

Sie hatten seit Monaten von einer Fälscherwerkstatt gewusst – aber nicht, wo sie lag. Dort wurden falsche BRD-Ausweise, West-Führerscheine, und, was die Polizei am meisten wurmte, West-Berliner Polizeiausweise hergestellt. Die Leute verstanden ihr Handwerk, wie die Ermittler zähneknirschend eingestehen mussten. Die Fälschungen sahen täuschend echt aus.

Dann hatten sie zu nachtschlafender Zeit einen anonymen Tipp bekommen, dass sich die Fälscher im Erdgeschoss des Hauses am Fraenkelufer aufhielten. Dass drei Schüsse gefallen seien und es womöglich einen Toten gebe. Der KkvD, der Kriminalkommissar vom Dauerdienst, hatte sofort alle Kollegen zusammengetrommelt, die auf die Schnelle erreichbar gewesen waren, inklusive des Pressesprechers. Denn das versprach eine Aktion zu werden, für die sich die Presse interessierte. Den Dauerdienst gab es seit 1954, und er hatte sich in den ersten beiden Jahren bereits bewährt.

Kriminalkommissar Otto Kappe und sein Kollege Jürgen Rückert, zuständig für die Schüsse und den Toten, waren direkt vom Schreibtisch herbeigeeilt. Sie hatten die bisher relativ ruhige Nachtschicht genutzt, um allerlei Papierkram zu erledigen. In den letzten Jahren hatte die Flut der Formulare und der von oben angeordneten Berichte explosionsartig zugenommen. Kappe und Rückert waren unter den Ersten gewesen, die von dem Hinweis erfahren hatten, und sofort zusammen mit Kollegen von den Inspektionen B I (Betrug) sowie B II (Schwindel, Falschspiel, Glücksspiel und Rauschgift) ausgerückt. Diese würden sich mit den Fälschern befassen und waren ebenfalls nächtens bei der Arbeit gewesen, weil sie mit Hochdruck gegen je einen leitenden Beamten der Berliner Finanzverwaltung und des Landesausgleichsamtes ermittelten. Der Vorwurf: Untreue, Betrug und Bestechlichkeit. Die beiden feinen Herren sollten persönlichen Bekannten sogenannte Aufbaudarlehen zugeschanzt haben. Aber nun hatte der Moabiter Haftrichter einen der beiden tatsächlich wieder laufenlassen. Die Kollegen waren auf 180 und nicht gewillt, diese Entscheidung auf sich beruhen zu lassen. Sie ackerten fast rund um die Uhr.

Für die Abteilungen der Mordkommission in der Friesenstraße machte die Tatsache, dass die Fälscher neben allen anderen Dienstausweisen auch die roten der Kriminalpolizei kopierten, die Angelegenheit zur Ehrensache. Derzeit verwendeten sie zwar meist die Kriminaldienstmarken, die es seit 1953 wieder gab, aber das machte die Angelegenheit auch nicht besser. Welcher Normalbürger vermutete schon eine Fälschung, wenn ihm jemand einen roten Dienstausweis unter die Nase hielt? Und Normalbürger bildeten trotz der alarmierenden Kriminalstatistiken immer noch die Mehrheit in den Westsektoren Berlins.

Otto Kappe kroch die Kälte in alle Glieder, er spürte seine Nasenspitze schon nicht mehr, die erzwungene Ruhe trug ihren Teil dazu bei. Sie mussten sich still verhalten, um nicht in letzter Sekunde noch unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hoffentlich kam das vereinbarte Zeichen bald, und sie konnten gemeinsam mit den Kollegen von der Schutzpolizei das Haus stürmen und das Fälschernest ausheben. Doch noch war es nicht so weit. Erst mussten sich alle postiert haben, um jeden möglichen Fluchtweg abzuriegeln.

So harrte Kriminalkommissar Otto Kappe wartend in dem eisigen Frost aus, klapperte mit den Zähnen und verfluchte den plötzlichen Kälteeinbruch. Bis zu minus 30 Grad waren angekündigt. Für ihn fühlte es sich jetzt schon an wie minus 50. Um sich abzulenken, dachte er darüber nach, was sie mittlerweile über die Fälscherwerkstatt wussten. Neben «Schmuggelkönig» Henry Liebermann gehörten mindestens noch drei weitere Personen der Fälscherbande an: der 39-jährige Graphiker Hans Brecht, der 53-jährige Buchdrucker Johannes Neyd und ein Unbekannter, der Pole sein sollte.

Liebermann hatten sie geschnappt. Aber die Freude war nur kurz gewesen, denn er hatte geschwiegen wie ein Grab und war kurz darauf aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit ausgebrochen. Angeblich lebte er jetzt im Sowjetsektor. Das deutete darauf hin, dass der Staatssicherheitsdienst aus der Zone, kurz SSD, die Finger im Spiel hatte. Deshalb kamen sie wahrscheinlich auch nicht an Liebermann heran. Und obwohl die Fahndung auf Hochtouren lief, schafften es die anderen Fälscher, die Arbeit am Laufen zu halten. Die waren frech wie Bolle. Otto Kappe verstand allerdings noch immer nicht, was den SSD dazu bewogen haben könnte, die Fälscherwerkstatt ausgerechnet in einem Haus in einem der drei Westsektoren einzurichten, wo es in der Zone doch viel sicherer gewesen wäre. Vielleicht war es ihnen einfach zu riskant, die gefälschten Papiere in den Westen zu schmuggeln. Der anonyme Hinweis zum Versteck der Bande hatte jedenfalls glaubwürdig geklungen.

«Die Kollegen sind an ihrem Platz, die Haustür ist offen. Können wir?», flüsterte Jürgen Rückert. Seine Stimme klang zusätzlich gedämpft durch den Wollschal, den er sich bis unter die Augen gezogen hatte.

Otto Kappe vertraute Rückert. Sie kannten einander jetzt schon eine ganze Weile, genauer, seit Rückert nach dem Krieg bei der Mordkommission aufgetaucht war. Otto Kappe erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung – und an seine Verblüffung: Rückert hatte mangels einer eigenen Unterkunft im Westen in der vorangegangenen Nacht auf dem Schreibtisch genächtigt. «Gestatten, Jürgen Rückert», hatte er gesagt und gegrinst. Dann war er vom Schreibtisch geklettert und hatte sich die zerknitterten Klamotten zurechtgezupft. Rückert hatte aus der Zone rübergemacht. «Der Liebe wegen – und weil ich mit den Kommunisten nichts am Hut habe. Ich bin in der SPD und wollte die Zwangsvereinigung mit der KPD nicht mitmachen. Meine Verlobte wohnt in Siemensstadt, aber sie ist gerade mit ihren Eltern im Harz, deswegen konnte ich bei ihr nicht schlafen», berichtete er.

Komisch, an manche Dinge dachte man lange nicht, und dann fielen sie einem in den unmöglichsten Situationen wieder ein. Inzwischen war Rückert längst verheiratet und Vater.

Der Einsatzleiter nickte ihnen zu. «Wir können.»

Otto Kappe peilte die Lage. «Ich gehe voraus», raunte er seinem Kollegen Rückert zu und zog seine FN-Pistole, Kaliber 7,65, Modell 1910, entworfen von John Moses Browning. FN stand für Fabrique Nationale. Dahinter verbarg sich der belgische Waffenhersteller Fabrique Nationale d’Armes de Guerre. Otto Kappe marschierte los, den anderen nach. Rückert ihm hinterher. Sie schlichen mit der Waffe im Anschlag durch die bereits offene Haustür ins Treppenhaus. Einige Kollegen postierten sich an der Treppe zum ersten Stock.

Der Einsatzleiter klingelte Sturm an der Wohnungstür. Als auch nach dem dritten Versuch niemand öffnete, winkte er den bereits eiligst herbeizitierten Hausmeister heran. Der stand noch immer mit vom Schlaf plissiertem Gesicht in Schlafanzug und Morgenmantel im Hausgang und schlotterte vor sich hin. Auf ein Zeichen hin zückte er seinen großen Schlüsselbund und suchte umständlich einen Schlüssel heraus. Der passte nicht. Er versuchte es mit dem nächsten. Und dann noch einem.

«Nu machen Sie hinne!», flüsterte der Einsatzleiter.

Der Hausmeister nickte und suchte hektisch weiter. Der Schlüsselbund klirrte. In der Wohnung blieb es ruhig. In Otto Kappe machte sich der Verdacht breit, dass sie einer Finte aufgesessen waren. Oder dass, wer auch immer in der Wohnung sein mochte, inzwischen vom Geklingel und Geklapper an der Tür aufgewacht sein musste und längst über alle Berge war, wenn er wirklich Dreck am Stecken hatte.

Erneut ein Fehlversuch. Einer der Männer fluchte. Die Hände des Hausmeisters zitterten. Auch beim fünften Versuch bekam er den Schlüssel nicht ins Schloss. Schließlich aber schaffte er es: Der Schlüssel passte! Alle atmeten erleichtert auf, als die Wohnungstür endlich aufschwang.

Otto Kappe und Rückert gaben sich gegenseitig Deckung, als sie den Flur betraten. Die Kollegen folgten.

Plötzlich hörten sie ein Klappern.

«Hier ist jemand!», brüllte Otto Kappe und rannte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Durchs Küchenfenster, das im böig-scharfen Wind auf und zu schlug, sah Otto eine schwarze, dick vermummte Gestalt in Richtung Admiralsbrücke davoneilen. «Verdammt, warum steht hier niemand unter dem Fenster?» Dann schrie er: «Halt, Polizei! Stehen bleiben!» Und noch einmal: «Stehen bleiben, Polizei! Nehmen Sie die Hände hoch, und bleiben Sie sofort stehen!»

Die Gestalt hielt kurz inne, griff in die Tasche und hastete weiter.

«Stehen bleiben, Hände hoch, lassen Sie die Waffe fallen!», donnerte Otto Kappe, hechtete aus dem Küchenfenster und spurtete hinterher.

Er hörte nicht mehr, wie Kollege Jürgen Rückert sagte: «Hier ist nichts. Keine Druckplatten, kein Papier. Nichts. Die Wohnung ist bis auf die Möbel komplett leer. Auf den ersten Blick wirkt sie, als wäre sie unbewohnt. Keine Photos, keine persönlichen Gegenstände. Der Kohleherd ist allerdings noch lauwarm. Aber schaut mal, kaum noch Glut. Da ist seit gestern Abend nicht mehr nachgelegt worden. Der Kohleeimer ist auch leer. Jemand hat uns aufs Glatteis geführt.»

Rückert blickte sich um. Die Fensterscheiben begannen bereits zu vereisen. In der Küche stand nur das Nötigste. Der Kohleherd, daneben die Spüle. Der Spalt dazwischen war durch ein fünfzig Zentimeter breites grobes Holzbrett abgedeckt, an dem mit Reißzwecken ein nilgrüner löchriger Fetzen Stoff befestigt war. Solche Arrangements hatte Rückert schon öfter gesehen, dahinter befand sich meist der Mülleimer. Auf einem Wandregal über der Spüle standen drei Teller, zwei Unterteller und zwei Tassen sowie vier leere Einmachgläser. Daneben lag Besteck für zwei Personen: Messer, Gabel, Teelöffel. Ein Kochlöffel, ein Schieber, dazu ein Topf und eine Pfanne stapelten sich ebenfalls auf dem Regal. Ein ordentlich gebügeltes Handtuch ergänzte das Stilleben.

Rückert beschloss, sich in den anderen Räumen umzusehen. Er lehnte das Küchenfenster an, damit es in der Wohnung nicht noch kälter wurde. Ganz schließen wollte er es nicht, damit der Kollege Kappe wieder hereinkam.

Im Flur fanden sich nur einige Kleiderhaken an der Wand. Eigentlich waren es nur lange Nägel. An einem hing ein einsamer Kleiderbügel. Die Stube war ähnlich spartanisch eingerichtet. Ein Tisch mit gelacktem Furnier, vier Stühle, an einem war ein Bein gesplittert und mit Paketschnur unbeholfen wieder zusammengebunden worden. Dazu ein Webteppich, der wohl Wohnlichkeit verbreiten sollte, aber kläglich versagte, weil er nicht viel größer als ein Handtuch war.

Im Schlafzimmer fand Rückert ein unbezogenes Bett. Die Matratze sah fleckig und durchgelegen aus. Der Schrank, Kirsche furniert mit dreitürigem Unterschrank auf dünnen Beinen sowie zwei wuchtigen Türen links und rechts, war ursprünglich wohl eher für ein Wohnzimmer gedacht. Rückert versuchte sich an einer der Türen. Sie klemmte. Er fluchte sehr unvornehm.

Da fiel ein Schuss. Dann noch einer und noch einer.

Rückert rannte zurück in die Küche und schaute aus dem Fenster. Die Kollegen schlossen alarmiert zu ihm auf.

Otto Kappe hatte sich neben eine dunkle, reglos daliegende Gestalt gekniet und wedelte wild mit den Armen.

«Verdammt! Ick jeh Hilfe holn!», rief einer der Schutzpolizisten. Kurz darauf konnte Rückert hören, wie er die Wohnungen im Haus durchklingelte, um einen Fernsprechapparat zu finden. Die anderen Kollegen sahen sich noch einmal um und marschierten dann, ebenfalls fluchend, in Richtung Wohnungstür.

Jürgen Rückert nahm sich nicht die Zeit, den offiziellen Weg durchs Treppenhaus zu gehen, sondern kletterte wie vorhin Otto Kappe aus dem Küchenfenster und rannte zu seinem Kollegen.

Otto Kappe schaute zu ihm auf, in seinen Augen stand Fassungslosigkeit. «Warum ist sie nicht stehen geblieben? Warum ist sie bloß nicht stehen geblieben? Und dann hat sie auch noch eine Waffe aus ihrer Tasche geholt. Was hätte ich denn tun sollen, Rückert? Ich hatte doch keine andere Wahl!»

«Sie sagten ‹sie›?»

«Ja, das ist ’ne Frau.»

«Verfluchte Scheiße, auch das noch!» Jürgen Rückert schaute genauer hin. Tatsächlich, da lag eine Frau. Schmal, bleich, mit geschlossenen Augen und ohne Bewusstsein. Sie hat das Gesicht eines Engels, dachte er. Wie alt sie wohl sein mochte? Es war schwer zu sagen, so um die 35 vielleicht. Wegen der dunklen Wollmütze waren ihre Haare nicht zu erkennen. Unter ihrem Kopf breitete sich eine Blutlache aus.

«Wir müssen was tun, sie verblutet uns!», sagte Otto Kappe verzweifelt. Dann zog er seine Jacke aus und legte sie über die Reglose. «Sie erfriert noch. Warum kommt denn niemand?»

«Verdammter Mist!», knurrte Rückert. Er war froh, dass er nicht in der Haut seines Kollegen steckte. Dessen bleiches Gesicht zeigte, wie sehr ihm die Angelegenheit unter die Haut ging. Rückert schaute sich um. «Ich seh keine Waffe», rutschte es ihm heraus.

«Da muss aber eine sein! Ich hab sie doch genau gesehen», stammelte Otto Kappe.

Rückert legte dem Kollegen beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ist wahrscheinlich weggeschleudert worden, als die Frau fiel. Wir werden sie schon finden.»

Endlich kam der Sanka. Die Sanitäter luden die Frau ein und rasten unter viel Tatütata mit Blaulicht davon. Otto Kappe schaute dem Gefährt mit unglücklichem Blick nach.

«Wird schon. Wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht», versuchte Rückert den Kollegen zu trösten.

Das schmale Mädchen mit den kurzen Haaren und den Klamotten eines Jungen, das sich in den Spalt zwischen dem Kohleherd und der Spüle gekauert hatte, schob den nilgrünen Vorhang zur Seite, schlich sich ans Fenster und spähte vorsichtig hinaus. Es sah zwei Männer, die dem davonjagenden Saniwagen nachschauten, und hatte alle Mühe, ein entsetztes Wimmern zu unterdrücken.

KAPITEL ZWEI

in dem Hermann Kappe von seinem Neffen um Hilfe gebeten wird

«HERMANN, nu komm schon, los, raus! Du kannst doch nicht ewig hier herumsitzen!», drängte Klara Kappe den Angetrauten.

«Doch, ich kann, ich bin Rentner», brummte der. «Wieso willst du ausgerechnet heute auf den Wochenmarkt am Rathaus Steglitz? Bei dieser Saukälte!»

«Hermann, es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt bloß falsche Kleidung. Nu komm schon!»

«Hast du denn nicht Radio gehört? Es soll noch kälter werden!»

«In Steglitz gibt es die besten Bücklinge. Du magst doch Bücklinge. Also komm! Und natürlich hab ich Radio gehört. Auf der Eisbahn an der Ecke Innstraße und Sonnenallee herrscht Hochbetrieb, haben sie in den Nachrichten gesagt. Außerdem hat bei Wertheim in der Schloßstraße der Schlussverkauf angefangen. Da gibt es Preisnachlass. Wir müssen uns beeilen, sonst finden wir nichts mehr, weil die guten Sachen alle schon weg sind. Ich brauche dringend neue Handschuhe und du einen Pullover.»

«Im Radio haben sie aber auch gesagt, dass es wegen der Kälte schon den ersten Verkehrstoten gegeben hat», erwiderte Kappe anklagend. «Einen Pensionär.»

«Einen stinkbesoffenen Pensionär. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Er kam aus Charlottenburg, erinnere ich mich nur.»

«Gustav Kuckulei.»

«Wie bitte?»

«Gustav Kuckulei hieß er.»

«Ach so. Jedenfalls könnte er noch leben, wenn er nicht versucht hätte, in besoffenem Zustand die Kantstraße zu überqueren.»

«Und seine Begleiterin wurde schwer verletzt», ergänzte Kappe. «Meine alten Pullover sind doch noch gut. Und die Marktleute sind bestimmt alle daheimgeblieben bei der Kälte da draußen.»

«Glaub ich nicht. Höchstens die mit den Bananen und Apfelsinen oder den Kartoffeln, weil die kälteempfindlich sind. Komm jetzt, du alter Nieselpriem!», sagte Klara betont fröhlich. Doch in ihrer Stimme war ein Unterton, der Kappe klarmachte, dass sie in dieser Angelegenheit nicht mit sich spaßen ließ.

Er versuchte es dennoch und verwies auf den Wetterbericht des Instituts für Meteorologie der Freien Universität im Telegraf. Die Karte mit den Hochs und Tiefs sowie den Isobaren prangte direkt über der Anzeige von Wertheim zum Winterschlussverkauf: Für unsere Stammkunden die richtige Lösung gefunden.

Kappe ignorierte Wertheim. Er las laut vor: «Unverändert liegt das Zentrum des Kälteblocks Xanthos über Nordskandinavien. Dabei rückt jetzt der Kältepol selbst, der ganz Mittel- und Westrussland mit Extremtemperaturen bis unter minus 40 Grad heimsucht, direkt auf Mitteleuropa vor und wird uns heute oder morgen überqueren. Glücklicherweise wird der sibirischen Luft aber über dem schneefreien Boden in der Umgebung Berlins auch einige Wärme zugeführt, so dass hier die Tiefsttemperaturen nicht diesen Grad erreichen werden

«Na siehste!», sagte Klara. «Außerdem scheint draußen die Sonne.»

«Aber hier, hier steht es», fuhr Kappe in einem letzten verzweifelten Versuch fort, den Gang in die Kälte doch noch abzuwenden. «Vorhersage für Berlin und die weitere Umgebung bis Donnerstag früh: Bei anhaltend stark böigem Ost- bis Nordwind noch fortschreitende Frostverschärfung und in der weiteren Umgebung sogar bis minus 25 Grad und selbst Tagestemperaturen trotz Sonnenscheins nicht viel höher als minus 20 Grad. Weitere Aussichten: Auch nach dem jetzt zu erwartenden Höhepunkt der Kältewelle nur geringe Frostveränderung

«Dann sollten wir schnellstens los und einkaufen, ehe es noch kälter wird. Auf dem Wochenmarkt am Rathaus Steglitz gibt es nun mal einfach die Bücklinge, die du am liebsten magst, Kappe.»

Wenn Klara ihn Kappe nannte statt Hermann, war jeder Widerspruch zwecklos. Das wusste er aus langjähriger Eheerfahrung. Und so fanden sich Hermann und Klara Kappe eine Stunde später bei minus 15 Grad auf dem Wochenmarkt am Steglitzer Rathaus wieder, vermummt wie die Teilnehmer einer Polarexpedition.

Die Eierhändlerin war da und fror ebenso erbärmlich wie Kappe, während Klara das alles nichts auszumachen schien. «Dienst am Kunden», erklärte die Eierfrau auf seine knurrige Nachfrage, warum sie diese ungemütliche Situation auf sich nehme. Klara strahlte sie freundlich an und kaufte zehn Eier.

Auch der Knoblauch- und Majoranspezialist war gekommen. Er wärmte seine Hände an einem unter der Markise baumelnden Konservendosen-Holzkohleöfchen. Kappe sah ihm neidvoll zu. Dann hustete er betont laut. Der Kräutermann hatte auch Hustenbonbons. Klara kaufte ihm welche ab und zog Kappe dann vorbei an den Ständen der Rosinen-, Nudel-, Wollsocken- und Bohnerwachsbranche. Der weiße Käse, das Gewürzgurkenwasser, die Sülze, selbst das Salatöl waren gefroren, sah Kappe und tat sich selbst leid. Die Händler standen bibbernd hinter ihren Tischen, teils in Holz-, teils in Filzschuhen, und trösteten sich über die ausbleibende Kundschaft mit heißem Kaffee aus Thermosflaschen hinweg. Der einzige Stand, der gute Geschäfte machte, war der mit den heißen Würstchen und dem Glühwein.

Doch Klara strebte auch daran vorbei zu ihrem Lieblingsfischstand. «Kann ich zwei Bücklinge mit Rogen haben?»

«Welche hätten Se denn gerne, Jnädige?», nuschelte die Fischfrau hinter ihrem Schal hervor.

Klara Kappe schaute sich alle genau an. «Den da. Und den.»

Die Fischfrau nickte, legte die Fische auf Zeitungspapier, schlug sie aber noch nicht ein, sondern streckte sie Klara entgegen. «Rogen in Hülle und Fülle. Wolln Se mal drückn?»

Klaras prüfender Daumendruck scheiterte am Glatteis auf den Bücklingsbäuchen, die Finger rutschten ab. Sie hatte ein Einsehen. «Ich nehm sie», erklärte sie. Sodann sagte sie in Richtung ihres Ehemanns: «Lass uns heimgehen!»

Kappe war sehr erleichtert und erinnerte sein Eheweib lieber nicht daran, dass sie eigentlich noch zu Wertheim gewollt hatte. Er hasste die Drängelei und das Einkaufen in Kleidergeschäften, erst recht, wenn er so dick vermummelt wie jetzt in die Wärme eines Ladens sollte. Im Schlussverkauf an den Wühltischen war es immer besonders schlimm.

Seine Erleichterung währte nicht lange. Als sie vor dem Haus an der Wartburgstraße ankamen, in dem ihre Wohnung lag, trafen sie Otto vor der Haustür an.

«Was machst du denn hier?», nuschelte Kappe mit halberfrorenen Lippen und schaute seinen Neffen erstaunt an.

«Ich brauch deine Hilfe, Onkel Hermann. Dringend!»

«So, so», meinte Hermann Kappe.

«Das können wir bereden, wenn wir in der Wohnung sind», fuhr Klara dazwischen. «Im Warmen.»

«Ach nee, guck an, jetzt frierst du auch!», konstatierte Kappe nicht ohne eine gewisse Befriedigung. «Dann lass uns mal nach oben gehen.» Oben, das bedeutete dritter Stock rechts.

«Ich bin suspendiert», war das Erste, was Otto sagte, nachdem sie sich aus ihren Winterklamotten geschält hatten und er seinem Onkel in der Stube gegenübersaß. Er auf dem Sofa, Hermann Kappe in seinem Lieblingssessel. Klara werkelte in der Küche. Sie hatte den Männern einen heißen Grog versprochen.

Kappe traute seinen Ohren nicht. «Wie bitte?»

«Du hast richtig gehört: Ich bin suspendiert.»

«Aber um Himmels willen, Junge, was ist denn passiert?»

Hermann Kappe nannte seinen Neffen noch immer Junge, obwohl der inzwischen auch schon Mitte vierzig war. Otto hatte mit 25 Jahren als Kriminalassistent bei der Kriminalpolizei angefangen, damals noch am Alexanderplatz. Dort gab es nun seit 1948 ein Polizeipräsidium Ost: in der Neuen Königstraße 27 bis 37, im ehemaligen Karstadt-Haus. Das Präsidium West war 1951 in einen Gebäudeteil des Flughafens Tempelhof gezogen, die Adresse lautete: Tempelhofer Damm 1 bis 7, Berlin 42. Die Kriminalpolizei war noch in der Friesenstraße geblieben, doch ein Umzug nach Schöneberg stand bevor. In Hermann Kappes letzten Dienstjahren als Kriminaler hatten Onkel und Neffe Kappe zusammengearbeitet.

Hartmut, Hermann Kappes ältester Sohn, tat in der Zone Dienst und war aufgrund seiner guten Arbeit sogar schon zum Major aufgestiegen. Hermann Kappe war sich nicht sicher, ob das nun ein Grund war, stolz auf seinen Ältesten zu sein. Zumindest in dieser einen Hinsicht war er froh, seit nunmehr zwei Jahren pensioniert zu sein: Endlich arbeiteten er und sein Sohn nicht mehr für «feindliche Lager». Die Teilung Berlins hatte Vater und Sohn einander entfremdet. Das schmerzte.

Um sein Verhältnis zu Heinzi, seinem Jüngsten, stand es auch nicht zum Besten. Karl-Heinz würde wohl für immer das Sorgenkind bleiben. Der Junge war nach dem Krieg vollends in ein zwielichtiges Milieu abgerutscht. Eigentlich wusste Kappe gar nicht genau, was sein Heinzi tat, wovon er lebte, und vor allem, was er fühlte. Zwischen ihm und seinem einstigen Liebling hatten die Jahre ebenfalls eine tiefe Kluft entstehen lassen. Zurzeit verkaufte Heinzi, nach außen ganz der seriöse Geschäftsmann, Kies aus seiner Grube am Teufelsberg. Ganz so seriös schien es allerdings bei seinen Kieslieferungen an Mitglieder der Berliner Baumafia nicht zuzugehen. Jedenfalls verdiente er offenbar viel Schotter mit dem Kies. Immerhin konnte Heinzi sich eine schicke Wohnung an der Steglitzer Ahornstraße leisten.

Mit Otto war das anders, der stand ihm näher. Er war so etwas wie sein Nachfolger bei der Kripo geworden. Ja, sein Neffe war ihm in vielerlei Hinsicht vertrauter als seine beiden Söhne, denn dessen Verstand arbeitete ähnlich. Kappe bewunderte Otto sogar hin und wieder für dessen messerscharfe Intelligenz, besonders aber für seine Redegewandtheit und Schlagfertigkeit – wenn es sein musste, mit ätzender Berliner Kodderschnauze. Als einer, der aus dem Fischerdorf Wendisch Rietz stammte, fühlte sich Kappe im Berliner Jargon noch immer nicht so heimisch wie der Neffe, der eine echte Berliner Pflanze war.

Äußerlich waren er und Otto sehr unterschiedlich. Er, Hermann Kappe, war eher kompakt gebaut. Otto hingegen hatte früher die Figur eines Mittelstreckenläufers gehabt: lang, mit sehnigen Beinen, kein Gramm Fett am Leib. Letzteres hatte sich inzwischen geändert. Er war zwar noch immer gut in Schuss, aber seine Sportlerfigur hatte einige Ausbuchtungen bekommen. Dennoch hatte er sich etwas Jungenhaftes bewahrt, trotz des Sumpfes, in dem er aufgrund seines Berufs immer wieder wühlen musste.

Wie alt war Peterchen jetzt, Ottos und Gertruds Sohn? Fünfzehn, rechnete Kappe aus. Herrgott, wie die Zeit verging!

Klara und Gertrud, auch Trudchen genannt, verstanden sich prima. Kappe konnte sich noch gut erinnern: Otto hatte seine Gertrud bei der Aufklärung eines Mordfalls in der Kakao- und Schokoladenfabrik Greiser & Dobritz in Kreuzberg kennengelernt. Anfangs war Hermann Kappe Gertrud gegenüber eher reserviert gewesen. Sie stammte aus einer strenggläubigen Familie, und er hatte befürchtet, sie könne zu jenen Bigotten gehören, die sonntags in die Kirchen rannten und während der Woche über andere herzogen. Doch so eine war Gertrud nicht, wie Klara und er schnell festgestellt hatten. Inzwischen waren die beiden Frauen Freundinnen.

Das alles ging Kappe durch den Kopf, während er auf die Antwort seines Neffen wartete.

Otto druckste herum, und zu seiner Verblüffung sah Kappe, dass dessen Augen wässrig wurden.

«Junge, nun red endlich! Was ist passiert?»

«Ich hab eine Frau angeschossen. Sie liegt im Urban-Krankenhaus.» Er machte eine Pause. Dann brach es aus ihm heraus. «Wir wollten eine Fälscherwerkstatt ausheben, in einer Wohnung am Fraenkelufer. Aber der Tipp, den wir bekommen hatten, war ’ne Ente. Jedenfalls is die Frau aus’m Küchenfenster raus und weggelaufen. Da war aber noch nicht klar, dass in der Wohnung gar keine Fälscherwerkstatt existiert. Ich bin ihr also hinterhergerannt und hab immer wieder gerufen, dass ich von der Polizei bin und sie stehen bleiben solle. Dann hat sie eine Waffe aus der Tasche gezogen …»

«Aber dann hast du doch ganz nach Vorschrift gehandelt. Wo liegt das Problem? Weshalb bist du suspendiert?»

«Die Waffe wurde nicht gefunden», antwortete Otto leise. Dem angespannten Klang seiner Stimme entnahm Kappe, wie sehr ihm die Sache an die Nieren ging.

«O Junge!», sagte Kappe.

«Da ist noch was. Ich hab nur einmal geschossen, ganz sicher. Es sind aber drei Schüsse gefallen. Die Kollegen haben das auch gehört. Sie suchen jetzt alles nach Patronenhülsen ab, aber bisher Fehlanzeige. Da stimmt doch was nicht! Onkel Hermann, kannst du mir helfen? Wenn die Frau es nicht war, die geschossen hat, wer dann? Vielleicht hat es jemand auf die Frau abgesehen und die günstige Gelegenheit der Razzia genutzt. Wenn du mich fragst, dann hieße das doch, ich sitze tief im Schlamassel und sie schwebt in Gefahr.»

«Oder der Tipp war doch keine Ente, und jemand hat auf dich geschossen, Junge.»

«Das glaub ich nicht. Warum sollte das jemand tun?»

«Vielleicht waren die Fälscher doch in der Wohnung und sauer, dass sie wegen euch flüchten mussten. Könnte doch sein.»

«Ach, Onkel Hermann, das ist alles Stochern im Nebel. Jetzt muss ich erst mal meine Unschuld beweisen. Hilfst du mir?»

«Selbstverständlich! Was kann ich tun?»

«Auf jeden Fall ist an der Sache was faul. Ich muss einfach wissen, was dahintersteckt – darf aber vorerst nicht mehr ermitteln. Wie soll ich das denn aushalten? Einfach nur rumsitzen, das kann ich nicht! Ich würde wenigstens gerne zu der Frau ins Urban-Krankenhaus gehen, um mich zu entschuldigen. Falls sie mich überhaupt sehen will. Es ist vielleicht besser, ich hab jemanden dabei, einen Zeugen, zur Sicherheit. Damit nicht noch irgendwer denkt, ich wolle sie beeinflussen oder so. Na ja, und du bist auch ein erfahrener Mann, vielleicht könnest du …»

«Jut, machen wir! Wann willste hin?»

Otto sah ihn flehend an. «Am liebsten gleich. Ich bin unruhig, solange ich nicht weiß, wie es der Frau geht. Außerdem hab ich nichts anderes zu tun.»

«Weiß Trudchen schon davon?»

Otto schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein geprügelter Hund. «Nee, hab meiner Frau noch nix gesagt.»

Kappe nickte. «Dann lass uns gehen!» Er stand auf, stapfte in den Gang und wickelte sich wieder in seine Polarausrüstung, die am Kleiderhaken an der Wohnungstür hing. Otto tat es ihm gleich.

Klara, die noch immer in der Küche herumfuhrwerkte, sie aber offenbar gehört hatte, riss die Tür auf, und ein appetitlicher Geruch von gebratenen Bücklingen strömte ihnen entgegen. «Grog kommt gleich. Otto, willst du mitessen?» Sie stockte. «Nanu, wo wollt ihr denn hin?»

Die beiden Männer sahen sich verlegen an. «Wir haben noch einen Krankenbesuch zu machen, bei einer Bekannten von uns beiden», schwindelte Hermann Kappe. Erst mal hatte Gertrud das Recht, von der misslichen Lage zu erfahren, in der ihr Mann steckte. Klara konnte er das alles später noch erklären.

«Muss das jetzt sein? Ich meine, das Essen ist bald fertig – Bückling, Bratkartoffeln und dicke Bohnen. Kommt ihr bald wieder?»

«Ich bleib nicht lang», versprach Kappe.

Und Otto sagte: «Tut mir leid, Tante Klara! Danke für das Angebot, aber ich ess wohl lieber daheim. Trudchen wartet auf mich.»

Bevor Klara Kappe noch eine weitere Bemerkung machen konnte, waren die Männer aus der Wohnung und zogen die Tür hinter sich zu.

Anfangs wollte ihnen im Urban-Krankenhaus niemand sagen, in welchem Zimmer sich die Frau befand, die an diesem Morgen angeschossen worden war. Also zückte Otto doch seine Dienstmarke. Daraufhin erfuhren sie, dass die Verwundete auf der Inneren lag. Die Stationsschwester erklärte ihnen, dass es ihr gutgehe. Es sei viel weniger schlimm, als anfangs befürchtet. Die stark blutende Wunde am Hinterkopf, wohl durch den Sturz verursacht, sei genäht worden. Die Schussverletzung habe sich als Streifschuss an der rechten Seite entpuppt, der keine größeren Schäden angerichtet habe, vor allem keine inneren Verletzungen.

Kappe konnte an Ottos Gesichtsausdruck sehen, dass dem ein ganzes Gebirge vom Herzen fiel. Obwohl er suspendiert blieb, bis bewiesen war, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Schon sehr viel entspannter, traten sie ins Krankenzimmer der Patientin. Aus drei Betten schauten ihnen Frauengesichter entgegen, die Otto fremd waren Das vierte Bett war leer.

«Wo ist sie?», stammelte Otto.

Eine ältere dicke Frau lächelte milde. Eine andere, wohl mittleren Alters, schnaufte nur und schloss die Augen. Die dritte, um die dreißig vielleicht, fragte: «Sind Sie der Mann von ihr?»

«Kriminalpolizei», sagte Hermann Kappe an Ottos Stelle. «Wo ist Ihre Zimmergenossin? Wir müssen ihr ein paar Fragen stellen.»

«Wech», antwortete die ältere Frau.

«Was heißt wech?», fragte Kappe senior verblüfft.

«Seit wann verstehn die Berliner Kriminaler kein Deutsch mehr? Wech. Wissen Se nich, wat dit heeßt? Ick hätt jetzt jern meine Ruhe. Sie sind hier nämlich innem Krankenzimmer, und mich ham se erst gestern Morgn operiert. Also!» Damit schloss die mittelalte Patientin wieder die Augen.

«Aber sie kann doch nicht einfach so …», hob Otto an.

«Ida hat gesagt, sie müsse dringend weg, hat ihre Sachen gepackt und sich aus dem Zimmer geschlichen. Die Schwestern wissen noch nichts davon. Sie hat uns beschworen zu warten, bis wir was sagen», erwiderte die junge Frau.

«Ida heißt sie also», sagte Hermann Kappe.

«Hat se jesacht», fiel die Dicke ungeduldig ein.

«Und warum wollte sie so dringend weg?»

«Dit hat se nich jesagt», antwortete die am Vortag Operierte. «Also, jehn Se nu?»

«Ja, wir gehen ja schon», sagte Kappe.

Als sie den Stationsarzt endlich aufgetrieben hatten, konnte der ihnen auch nicht mehr sagen. Er wusste noch nicht einmal, wie die verschwundene Patientin mit Nachnamen hieß, und zuckte nur müde mit den Schultern. Es sei zu viel zu tun. Ständig kämen Leute mit Erfrierungen oder Brüchen nach Stürzen auf glatten Bürgersteigen rein. Er komme kaum nach. Aber vielleicht wüssten die Kollegen in der Notaufnahme mehr.

Die junge Krankenschwester, die dort Dienst tat, war geschockt, als sie vom Verschwinden der Frau erfuhr. Papiere habe diese nicht bei sich gehabt. Sie habe sich zudem geweigert, ihren Namen zu nennen. Weil sie sehr verwirrt gewirkt, offenbar unter Schock gestanden und stark aus einer Kopfwunde geblutet habe, sei sie von der Notaufnahme zunächst in die Chirurgie überwiesen worden. Es sei dringender gewesen, das Blut zu stillen und die Schusswunde zu versorgen, als Papiere auszufüllen. Danach sei sie auf die Innere verlegt worden. Eigentlich habe sie demnächst nach ihr schauen wollen.

«Aber nun ist sie weg», sagte Hermann Kappe.

«Ja, nun ist sie weg», wiederholte sein Neffe.

«Und was machen wir nun?», fragte die Krankenschwester.

«Gute Frage», sagte Hermann Kappe. «Ich denke, wer die Rechnung bezahlt, müssen Sie selbst klären. Wir gehen dann.» Damit nickte er der Schwester zu und machte sich mit Otto auf den Weg nach draußen. «Und wir beiden Hübschen, lieber Neffe, sollten herausfinden, wem die fragliche Wohnung eigentlich gehört», fügte er an, während sie durch den Flur marschierten.

Otto nickte. «Ich werd meine Quellen anzapfen. Das solltest du am besten auch tun, Onkel Hermann. Vielleicht kriegn wir denn ’nen Hinweis, woher der Tipp jekommen is.»

«Männerstimme? Frauenstimme?», hakte Kappe nach.

«Wees ick nich.»