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TITUS MÜLLER

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Das kleine Buch für Lebenskünstler

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Titus Müller, Jahrgang 1977, geboren in Leipzig. Studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift Federwelt.

Titus Müller lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde für seine Romane u. a. mit dem C. S. Lewis-Preis und dem Sir-Walter-Scott-Preis ausgezeichnet. Im Herbst 2016 erhielt er den Homer-Preis.

Die beiden Titus-Müller-Bücher „Vom Glück zu leben“ und „Das kleine Buch für Lebenskünstler“ sind vom Autor für diese Neu-Gesamt-Ausgabe (7. Auflage) mit Liebe zum Detail überarbeitet worden – 82 Geschichten zum Staunen und Glück-Entdecken.

INHALT

Zu diesem Buch

Heimlich verbündet

Kleine bunte Zettel

Kopfrechnen und Schuhe zubinden

Der Flügelschlag einer Mücke

Gedichte, Mühlen und verlassene Bahnwärterhäuser

Was Robinson Crusoe glücklich machte

Die zauberhafte Schönheit des Morgens

Dem Einerlei entkommen

Zeitreise

Mahnungen am Kühlschrank

Du hast Zeit

Vom Glück zu leben

Raumstationen und Freizeitparks

Vom Fernwehschrei einer Lokomotive

Besser eine Hand voll mit Ruhe

Glasmurmeln

Manchmal genügt ein Bahnhofsdach

Geschlossene Augen

Warum hat der Mann einen Hut auf?

Minuten trinken

Ein Kompliment an die Nase

Der Käfig ist offen

Der Rat der Sonnenuhr

Freiheit

Zeitpuffer

Freiwillig Französisch

Mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne schauen

Durch die Stadt laufen

Die Faszination des Lebens

Respektlose Biber

Vom Schlafen und Träumen

Ein König, ein Löwe und ein Kind

Dringendes und Wichtiges

Klettern nur bis zwölf Jahre?

Tun Sie mal wieder etwas Sinnloses!

Die Zeit vergessen

Warum uns 4 x 7 gefällt

Wir und der Rest der Welt

Bin ich liebenswert?

Alte Briefe und ein Fußbad

Freude an neuen Ideen

Eine zerrissene Jacke gibt Freiheit

Positive Vorurteile

Der Duft von Sonnencreme

Der „Ich-koste-alles-pur“-Tag

Unerfüllte Wünsche

Wolkentage

Ein Leben, das Danke sagt

Regen in London

Banksy verblüfft die Welt

Herr S.

Privilegien

Manager

Quakenbrück und Goldene Klinke

Gut von sich denken

Jubeljahre

Mit anderen lächeln

Gott spielt im Dunkeln Gitarre für mich

Ein Nest mitten im Weltraum

Warnungen im Kopf

Wie Gott uns berührt

Wir dürfen nicht blind werden

Alte Leute mit Humor

Adventskalender

Mann, Frau, Leistung

Mein außerirdischer Freund

Gras, Luft, Licht

„Schuhe kaputt?“

Charlie Chaplin

Hören wir noch zu?

Heute lebe ich!

Mehr wäre möglich

Barfuß im Schnee

Picknick im Reichstag

Das Bild im Kopf

Auf den zweiten Blick

Theaterprobe

Ein funkelnagelneues Fahrrad

Verspielt durch den Alltag

Die Wunde

Wir sind alle mal Tölpel

Keine Angelhaken schlucken

ZU DIESEM BUCH

Wer legt sich heute noch auf eine Wiese und schaut den Wolken nach? Wer kennt noch Dämmerstündchen mit gegenseitigem Geschichtenerzählen? Wir rattern durch den Tag wie kleine Aufziehpuppen, ständig überdreht. Abzuschalten fällt uns schwer.

Mir jedenfalls ging es so, und deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Ich wollte herausfinden, wie man die kleinen Wunder des Lebens wieder aufspürt.

Titus Müller

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HEIMLICH VERBÜNDET

Ich lächele einen Fremden an und das Lächeln wird erwidert. Augenblicklich fühle ich mich mit der ganzen Welt verbunden. Die Fugen sind gekittet, die Sorgen gegenstandslos. Das Lächeln ist ein Geschenk, das ich den ganzen Tag mit mir herumtrage. Es leuchtet, es funkelt. Andere können es von meinem Gesicht ablesen, dass ich mit einem fremden Menschen ein Lächeln ausgetauscht habe.

Bei einem freundlichen Blickwechsel mit Fremden hängen wir nicht von Konventionen ab oder von Verwandtschaft. Wir denken nicht an berufliches Vorankommen und daran, dass später mit gleicher Münze erstattet werden wird. Wir schenken und werden beschenkt, einfach so. Es ist selten geworden, das Gute, das man einfach so erlebt und weitergibt.

Auf meinem Schulweg grüßte ich jeden Morgen einen Mann, ohne ihn zu kennen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns damit anfing, in jedem Fall war es bald eine Gewohnheit, ein guter Brauch. Wohin er ging, habe ich nie erfahren. Unsere Wege kreuzten sich zur immer gleichen Uhrzeit am immer gleichen Ort. Wir haben kein Wort gewechselt, nur gelächelt haben wir, weil dieses Zusammentreffen ein Geheimnis war, das wir teilten: Das kurze Heben der Hände machte uns zu Vertrauten. Bald freute ich mich darauf und hielt ich nach ihm Ausschau, wenn ich in die Nähe unseres Treffpunktes kam. Was wird er über mich gedacht haben, das Schulkind, das ihn jeden Morgen anlächelte? Ich erinnere mich an seinen roten Bart, die vom Wind zerzausten Haare, den Großvaterblick. Morgen für Morgen gaben wir uns ein Signal: Du bist ein Mensch. Schön, dich wiederzusehen.

Wenn ich heute mit wildfremden Leuten einen freundlichen Blick austausche, erinnert es mich an damals. Der Mann am Postschalter, die unbekannte Frau am Bahnhof, die es stört, dass der Zug Verspätung hat, der Glatzköpfige, der mir auf dem Gehweg entgegenkommt. Unsere Zivilisation lehrt uns, anderen Menschen emotionslos und mit nur kurzem, geschäftsmäßigem Gruß – wenn nicht gleich ganz ohne Gruß – zu begegnen. Der Freudensprung, den mein Herz macht, wenn ich menschliche Wärme mit Unbekannten austauschen darf, lässt mich glauben, dass es anders besser wäre.

Es gibt eine Art von Lächeln, die entwaffnet, entwirrt, Freude macht und daran erinnert, dass wir alle Geschöpfe des Großen Künstlers sind. Nicht Rivalen, die um ein paar Euro kämpfen oder um die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen, sondern Gefährten, die sich an ähnlichen Dingen erfreuen.

Vor einem Bewerbungsgespräch hört man von seinen Freunden den Rat, man soll sich den Personalchef vorstellen, wie er gerade die Toilette aufsucht, damit einem klar wird, dass auch er ein gewöhnlicher Mensch ist. Ich stelle mir lieber etwas anderes vor. Im Seminar für mittelalterliche Geschichte bemerke ich einen Ring am Finger meines Professors. Er ist verheiratet?, denke ich. Womöglich hat er Kinder? Ich male mir aus, wie zwei kleine Jungen an seinen Beinen heraufspringen, wie er seiner Frau einen Begrüßungskuss gibt und das Jackett auf einen Stuhl wirft. Was denken sie von ihrem Vater, der so viel über das Mittelalter weiß? Ist seine Frau stolz auf ihn? Vielleicht haben sie geheiratet, als er noch Student war, und nun ist er Professor.

Im Zug sehe ich jemanden weinen. Ich frage mich: Musste sie gerade Abschied nehmen von ihrem Freund? Oder für lange Zeit von zu Hause fortgehen? Wenn ein Kind quengelt, schiebe ich den Ärger beiseite und denke stattdessen darüber nach, wo Mutter und Kind wohl eingestiegen sind, wie lange sie schon fahren und wie sehr sich die Mutter auf die erlösende Ankunft freut. Sie hat vielleicht noch einen Apfel in der Tasche, der das Kind beschäftigen würde, hebt ihn aber für die letzte Stunde auf. Es ist ihr unangenehm, dass ihr Sprössling so laut ist, sie weiß, dass das Geschrei den anderen Reisenden auf die Nerven fällt. Ihre Körpersprache verrät, dass sie sich schämt. Ich lächele ihr zu, um zu sagen: Es ist alles in Ordnung. Sie Arme! Und schon sind wir heimlich verbündet. Wie ein Vertreter der anderen Reisenden sage ich ihr durch das Lächeln: Wir halten Sie nicht für eine schlechte Mutter und Ihr Kind nicht für eine verzogene Göre. Ist doch alles verständlich bei einer so langen Zugfahrt. Sie schlagen sich tapfer.

Ich gehe davon aus, dass die Leute in der U-Bahn und die Wartenden an der Supermarktkasse ähnliche Probleme haben wie ich. Jeder Mensch ist anders, aber Menschen sind wir alle. Wesen, denen ein Lächeln heilsame Medizin sein kann.

KLEINE BUNTE ZETTEL

Wofür strampele ich mich vom Morgen bis zum Abend ab? Es ist lachhaft. Für kleine Zettel, vierzehn mal acht Zentimeter groß, in hässlichen Farben bedruckt. Kleine bunte Zettel, die ich in meinem Portemonnaie sammele, Papierfetzen, die ich nachzähle und der Bank zum Hüten gebe.

Natürlich, diese Papierfetzen kann man gegen eine Menge eintauschen: ein neues Auto, einen Flug dahin, wo es warm ist, einen Hamburger Royal TS bei McDonald’s. Und es ist nichts einzuwenden gegen ein neues Auto, eine Reise oder einen Hamburger Royal TS. Gefährlich wird es, wenn wir uns von diesen bunten Zetteln niederdrücken lassen. An manchen Tagen wiegt uns ein solcher Zettel nur wenige Gramm. An anderen wiegt er etliche Kilogramm, mitunter sogar Tonnen. Wird das Portemonnaie gestohlen, vergießen wir mehr Tränen als über einen traurigen Brief. Kostet das Benzin einige Cent mehr, reden wir inbrünstiger und häufiger darüber als ein Frischverliebter von seiner neuen Verehrten. Die bunten Zettel kleben an uns wie Blutsauger. Sie verstopfen uns die Ohren, die Augen und den Mund.

Aber ich bin nicht wertvoll, weil ich viel oder wenig habe, sondern weil ich selbst – ob in Lumpen oder im Nadelstreifenanzug – ein kostbares Wesen bin. Ich wünsche mir ein Gefühl der Freiheit. Das Geld soll mich nicht beherrschen.

In der U-Bahn bettelt ein Mann. Meist gebe ich nichts, aber heute zücke ich einen Geldschein. Als ich ihm den Schein gebe, bleibt er stehen und starrt mich an. Fassungslosigkeit im Gesicht. „Das ist ein Wort“, sagt er, will weitergehen, bleibt dann noch einmal stehen und schaut. Es verwirrt ihn offensichtlich. Mir ist es peinlich. Dann, als ich aussteige und durch die Stadt laufe, fühle ich mich frei, als könnte ich fliegen.

John D. Rockefeller führte jahrzehntelang Buch über seine Ausgaben wie ein Schatzhüter. (Die 118 Dollar, die er für den Verlobungsring seiner zukünftigen Frau ausgab, verbuchte er in der Rubrik „Diverse Ausgaben“.) Ihm, dem damals reichsten Mann der Welt, fiel es schwer, Geschenke zu machen. Er schrieb einmal an einen Mitarbeiter: „Ich stecke in Schwierigkeiten, Mr Gates. Der Druck dieser Anfragen um Geschenke ist zu groß geworden, um ihn ertragen zu können. Ich bin so gebaut, dass ich unfähig bin, Geld wegzugeben, bis ich nicht genauestens festgestellt habe, ob der Zweck es wert ist. Diese Untersuchungen kosten mich inzwischen mehr Zeit und Kraft als Standard Oil selbst.“

Schließlich, mit 53 Jahren, war Rockefeller so krank, dass die Ärzte bezweifelten, dass er seinen 54. Geburtstag noch erleben würde. Er litt unter Nervenzusammenbrüchen, verlor alles Haar, selbst die Augenbrauen, und konnte weder richtig essen noch schlafen. Er entschied sich, anders mit seinem Geld umzugehen. Er gründete die Universität von Chicago, baute Kirchen, spendete an zahlreiche Organisationen. Er rief die Rockefeller-Stiftung ins Leben, der wir die Entdeckung des Penizillins verdanken. Bald ging es mit seiner Gesundheit bergauf. Rockefeller wurde 98 Jahre alt. Von seinem Reichtum, der auf dem Höhepunkt 900 Millionen Dollar umfasst hatte, gab er bis 1929 allein an die Rockefeller-Stiftung 235 Millionen Dollar ab. Als er 1937 starb, besaß er nur noch 26.410.837 Dollar. Er hatte seine Lektion gelernt.

Ist mein Weg nicht kürzer als seiner?

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KOPFRECHNEN UND SCHUHE ZUBINDEN

Am Abend bin ich oft unzufrieden. Ich bin enttäuscht über mich selbst. Warum habe ich nicht mehr geschafft? Warum bin ich den Meinen so viel Liebe schuldig geblieben? Ich hätte für manches mehr Zeit haben müssen, anderes hätte ich kürzer abhandeln können. Der Tag kommt mir im Rückblick vergeudet vor, ich habe ihn nicht ausgekostet und nicht ergiebig genug genutzt.

Dann hilft mir der alte Wanderertrick: Wird man auf einer Wanderung müde und ist frustriert über das zu geringe Vorankommen, dann blickt man zurück. So viel ist schon geschafft! So weit ist man schon gelaufen.

Manchmal ist es an der Zeit, dass man sich über das bereits Erreichte freut – und so neues Vertrauen in die eigenen Kräfte gewinnt. Diesen Blick zurück will ich nicht verlernen, die Zufriedenheit nicht vergessen, die mich dabei durchströmt. Dafür muss der Blick weit in den Raum greifen, der einzelne Tag, der mich frustriert hat, fügt sich ein in eine Woche, einen Monat, ein Jahr. Zuerst ist es für mich als modernen Menschen befremdlich, mich von meinen Zielen abzuwenden und rückwärts zu schauen. Meine schwächlichen Rettungsversuche lauten sonst: Das wird schon wieder. Nur nach vorn schauen. Dabei liegt die Lösung oft hinter mir, da nämlich, wo die eigene Kraft eine sichtbare Spur hinterlassen hat.

Für jeden von uns gibt es viel, auf das wir stolz sein können, wenn wir unsere Vergangenheit betrachten. Wir sind aufgewachsen, haben gelernt und geübt, Fähigkeiten hinzugewonnen. Die wundersamsten davon erscheinen uns ganz alltäglich, obwohl sie es nicht sind. Ich erinnere mich daran, wie es war, als ich noch nicht lesen konnte. Ich drehte als Kind eine Flasche Shampoo in den Händen und bestaunte die seltsamen Muster darauf. Das war Schrift, ein Geheimnis, von dem ich glaubte, es niemals lösen zu können. Heute sitze ich am Computer und füge die geheimnisvollen Schriftzeichen in rasender Geschwindigkeit aneinander, fast so schnell, wie ich spreche. Ich forme Wörter damit, eine Satzmelodie, ich transportiere Gedanken mithilfe dieser Zeichen.

Wundern Sie sich über sich selbst. Das tun wir viel zu selten. Ihre Augen wandern über diese Seite und Sie entschlüsseln ihren Sinn. Es ist erstaunlich, dass Sie das beherrschen. Wussten Sie, dass Sie nicht die einzelnen Buchstaben lesen? Dass Sie vielmehr den Anfang und das Ende eines Wortes im Vorbeirasen ertasten und den Rest mit einer äußerst guten Trefferquote erraten? Probieren Sie es aus:

Selsbt wnen die Bcuhasteban drcehuienndaerergaten, knöenn Sie ncoh eknenren, um wlehces Wrot es scih hnadelt.

Sie haben auch anderes gemeistert: Kopfrechnen, die Bedeutung der Verkehrszeichen zu verstehen, die Schuhe zu binden, Höflichkeit, die Uhr zu lesen. Würde man alles aufzählen, was Sie seit Kindheitstagen gelernt haben, ergäbe das eine unglaubliche Liste. Sie können stolz sein auf das, was Sie bisher geleistet haben. Staunen Sie ruhig darüber. Und haben Sie Selbstvertrauen. Sie werden auch in der Zukunft vieles lernen und bezwingen.

Aber können das nicht alle?, fragen wir uns. Die Leistungsgesellschaft hat uns beigebracht, dass wir überlegen zu sein haben, um auf uns stolz sein zu können. Dass es nicht genügt, in Ordnung zu sein.

Stellen wir uns Europa als ein Dorf vor. Der Bäcker backt die Brote, weil er das besser kann als jeder andere im Ort. Der Schuhmacher näht die Schuhe. Der Busfahrer bringt die Leute zum Bahnhof, und die Lehrerin bringt den Kindern Englisch bei. Jeder wird gebraucht, denn der Bäcker will Schuhe anziehen, der Schuhmacher Brot essen, die Lehrerin zum Bahnhof fahren und der Busfahrer seine Kinder unterrichten lassen. Jeder tut das, was er am besten kann. Das ist das Bild, das man uns eingeprägt hat. Ein zweiter Bauer soll sich gefälligst spezialisieren, eine zweite Lehrerin kann ja Mathe unterrichten. Einen Landstreicher brauchen wir überhaupt nicht.

Aber der Busfahrer ist nicht weniger wert, wenn er im Alter erblindet und nicht mehr hinter dem Steuer sitzen darf. Der Landstreicher hilft den anderen, das Teilen zu lernen. Glauben wir wirklich, nur dann kostbar zu sein, wenn die Gesellschaft uns im Augenblick gut gebrauchen kann? Glauben wir wirklich, unser Wert würde mit unserer Leistung steigen?

Wir sind es gewohnt, uns mit anderen zu vergleichen und so unseren Wert zu bestimmen. Am besten macht man etwas, das kaum ein anderer tut, dann steht man besser da. Ich zum Beispiel schreibe Bücher. Das tut in meiner Nachbarschaft niemand. Ein Blick in die Buchhandlung genügt allerdings, um mir die Flausen wieder aus dem Kopf zu treiben.

Also gar nicht vergleichen? Wie sollen wir da Erfolgserlebnisse feiern? Der Vergleich mit anderen, die schon weitergekommen sind, ist ein Fehler, den uns die Leistungsgesellschaft antrainiert hat. Gesund ist der Vergleich mit uns selbst – wo wir vor einem Jahr waren, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren. Wer würde da nicht lächeln und mutig weiterwandern?

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DER FLÜGELSCHLAG EINER MÜCKE

Hicham Dequiedt überholte einen Lastwagen, als sein Auto plötzlich selbstständig auf 190 Kilometer pro Stunde beschleunigte. Über eine Stunde raste er daraufhin die Autobahn entlang, benutzte die Lichthupe, wich anderen Fahrzeugen aus. Es war unmöglich, langsamer zu fahren. Die Bremse reagierte nicht, die Zündung ließ sich nicht ausschalten, denn Dequiedts Auto, ein Renault Vel Satis, wird anstelle eines Schlüssels mittels einer Chipkarte gestartet. Über das Mobiltelefon alarmierte der 29-Jährige die Polizei. Die gab im Radio eine Warnung für alle Fahrer durch. „Ich habe die Angst meines Lebens ausgestanden“, sagte Dequiedt der Französischen Tageszeitung Le Parisien.„Ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen.“ Erst 200 Kilometer später konnte er den Wagen zum Halten bringen.

Manchmal fühlt sich mein Leben so an. Es besteht darin, mit Tempo 190 über die Autobahn zu brettern und mühevoll den auftauchenden Gefahren auszuweichen, während ich das Steuer umklammert halte, unfähig, die Augen von der Straße zu nehmen.

Aber so will ich nicht leben. Ein guter Test, ob ich zu schnell fahre, ist die Frage, ob ich noch staunen kann. Staunen ist nur möglich, wenn man von Zeit zu Zeit innehält. Hicham Dequiedt hat sicher weder die Landschaft Mittelfrankreichs wahrgenommen, durch die er fuhr, noch interessante Bauwerke, verreisende Familien, Rehe, ein Sonnenblinzeln durch die Wolkendecke – dafür fuhr er zu schnell.

Man muss gar nicht weit gehen, um etwas Bestaunenswertes zu finden. Ich habe seltsame Knorpel an meinem Kopf, an jeder Seite einen. Sie fangen Geräusche ein, Töne, Worte. Durch einen Tunnel wird der Schall zum Trommelfell geleitet. Es ist unglaublich, was diese Membran alles an die Gehörknöchelchenkette weitergibt! Ich höre den Flügelschlag der Mücke. Wie ein Summen erscheint er mir, weil sie so schnell die Flügelchen bewegt. Im Dunkeln, wenn ich die Mücke nicht sehen kann, höre ich doch, wo sie sich befindet. Das geht nur, weil ich zwei Ohren habe und nicht nur eins.

Ich höre das zarte Streichen eines Pferdehaarbogens auf einer Violinsaite. Ich höre das Zupfen der Basssaite. Ich höre jemanden flüstern. Ich höre Musik – und die Musik macht mich glücklich. Ich höre einen Freund meinen Namen rufen. Ich höre den Wind in den Blättern spielen (mein liebstes Geräusch).

Schnee kann ich hören, am Waldrand, ein feines Klirren, tausendfach: Winzige eisschillernde Schneekristalle rauschen auf Äste, Büsche und Vorjahresgras herunter, treiben übereinander, setzen sich fest. Einige Wochen später, im Frühjahr, kauere ich vor einem Ameisenhaufen und höre das Knistern der vielen Beinchen.

Auf einen Klang warte ich noch. Es gibt Radiomoderatoren, deren Stimme uns beeindruckt; wenn sie reden, laufen uns wohlige Schauer über den Rücken. Aber die Stimme, auf die ich warte, wird viel mehr als das tun. Ich stelle sie mir warm vor, tief und seltsam vertraut. Gottes Stimme.

Vielleicht ist es gar nicht so entscheidend, was Gott mir als Erstes sagt, wenn ich meinen Fuß auf den Boden der neuen Welt setze. Vielleicht ist es einfach der Klang seiner Stimme, der mich weinen machen wird vor Glück.

GEDICHTE, MÜHLEN UND VERLASSENE BAHNWÄRTERHÄUSER

Ich bin ein Mensch, der die Zeit sekundenweise zusammenklaubt. Auf dem Heimweg krame ich den Haustürschlüssel schon im Laufen heraus, um nicht vor der Tür damit Zeit zu vergeuden. Ich überquere die Straße schräg, kürze Ecken ab, um einige Meter einzusparen. Mit pochendem Gewissen gehe ich bei Rot über die Ampel – zuvor ein kurzer Blick, ob Kinder in der Nähe sind –, meine Schritte greifen weit. Mein Gang ist der eines gehetzten Großstädters, gleichgültig, ob es einen Termin einzuhalten gilt oder nicht. Oft verlasse ich das Haus mit einem Honigbrot in der Hand, das ich unterwegs verspeise. Ich knöpfe den Mantel erst auf der Straße zu und haste voran, um einen Bus nicht zu verpassen.

Dabei müsste ich es besser wissen. So oft schon habe ich gelernt: Wege sind herrlich! Sie gehören zu den schönsten Erfahrungen auf dieser Erde. Vergangene Woche beispielsweise war ich in einer dörflichen Gegend unterwegs, und der Bus, der mich zum Zielort bringen sollte, bog anders ab als erwartet. Ich musste aussteigen und den Rest des Weges über die Felder laufen. Passenderweise trug ich im Rucksack zehn schwere Bücher, obendrein ein neues DSL-Modem, mit dessen Hilfe ich, so hatte ich dem Verlag versprochen, am Nachmittag ein Romanmanuskript schicken würde. Aber was half es? Rennen war nicht möglich, voll bepackt, wie ich war.

Ich sah die schönsten Feldwege. Sanft geschwungene Hügel und herbstliche Waldränder machten mich glücklich. Ich atmete frische Landluft. Ich entdeckte einen Apfelbaum und mit ihm saftig-knackige Wegzehrung. Ich schüttete Gott auf friedliche Weise mein Herz aus, etwas, das sonst an diesem Tag – was sage ich, in dieser Woche – nicht stattgefunden hätte.

Seltsam, dass diese Lektion so schwer zu erlernen ist. Immer wieder muss ich darauf gestoßen werden. In Berlin gab eine S-Bahn den Geist auf, wir mussten entlang der Gleise zur nächsten Station wandern – genau die Ruhepause im hektischen Tagesablauf, die ich brauchte.

Es gibt Menschen, die nicht wie ich falsch abbiegende Landbusse oder defekte S-Bahnen brauchen. Menschen, die wissen, was eine zurückzulegende Strecke an Möglichkeiten bietet. Mein Freund Sören zählt zu ihnen. Sören ist Harfner, wir reisen oft gemeinsam zu Lesungen, die er auf seinem Instrument begleitet. Ich plädiere für die Autobahn, er bleibt stur: „Wir treffen uns zwei Stunden früher und fahren die Landstraße. Und ich bringe noch einen Freund mit, du wirst sehen, es wird gut.“

Es wurde gut. Wir wechselten uns ab damit, Gedichte zu rezitieren, zeigten uns Mühlen und verlassene Bahnwärterhäuser – Sören: „So ein Bahnwärterhaus will ich mir eines Tages kaufen“ –, wir sinnierten, lachten, und am ganzen Lesungsausflug war die Fahrt das Beste.

Was für kurze Wege gilt, gilt für lange Reisen genauso. Der englische Autor Gilbert K. Chesterton schrieb in seinem Buch Ketzer: „Es ist zweifellos ein begeisterndes Gefühl, in einem Motorwagen durch die Welt zu sausen und Arabien als einen Sandwirbel, China als ein vorüberhuschendes Reisfeld zu erleben. Aber Arabien ist kein Sandwirbel, und China ist kein vorüberhuschendes Reisfeld. Beides sind alte Zivilisationen mit eigentümlichen Vorzügen, die wie Schätze in ihnen vergraben liegen. Wenn wir sie verstehen wollen, dann dürfen wir nicht als Touristen oder Ermittler kommen, sondern müssen die Treuherzigkeit von Kindern und die unendliche Geduld von Dichtern mitbringen.“

Geduld für den Weg. Etwas, das wir auch im Zeitalter der Überschallflugzeuge nicht vergessen sollten.

WAS ROBINSON CRUSOE GLÜCKLICH MACHTE

Die Hoffnung, der wissenschaftliche Fortschritt würde alle Probleme der Menschen lösen, ist ins Wanken geraten. Jeder sieht, dass das Schiff „Erde“ gegen die Klippen gefahren ist und nun manövrierunfähig an einem kargen Ufer vor sich hindümpelt. Soll es da unsere Aufgabe sein, auf den leck geschlagenen Bug zu zeigen, auf das zerbrochene Steuerrad, auf die zerfetzten Segel?

In scheingoldenen, trunkenen Zeiten mag das passen. Aber nicht für eine verzweifelte Menschheit. Erinnern wir lieber an den Erbauer dieses Schiffs, das einmal stolz im Wind segelte! Erinnern wir an das Gute und Schöne, das es noch gibt.

Gilbert Keith Chesterton hatte ein Lieblingsbuch: Robinson Crusoe. Er beschreibt in seinem Klassiker Orthodoxie, was den Zauber des Romans ausmacht. Robinson Crusoe ist als Schiffbrüchiger auf einer menschenleeren Insel gelandet. Der Höhepunkt der Geschichte ist die Liste an Dingen, die er vom Schiff gerettet hat. Jedes Werkzeug ist unendlich kostbar, weil es genauso im Meer versunken sein könnte. Chesterton schreibt: „Es ist eine gute Übung in leeren oder unangenehmen Stunden des Tages, sich irgendetwas anzuschauen, den Kohleneimer oder das Bücherregal, und daran zu denken, wie glücklich man sein könnte, sie aus einem sinkenden Schiff auf eine einsame Insel gebracht zu haben.“

Wenn die Erde ein gestrandetes Schiff ist und die Passagiere sich weinend aneinanderklammern, dann ist es unsere Aufgabe, kleine Schätze aus dem Bauch des Wracks hervorzuholen und zu sagen: Seht einmal, könnt ihr euch daran erinnern, wofür ein Hammer gut ist? Und schaut, diese Geige! Hier ist sogar ein Bogen, kann jemand Geige spielen? Ein Buch, wir haben ein Buch! Erinnert ihr euch an Bücher? All das hat uns der Schiffserbauer mitgegeben. Er hat die Musik erfunden, Freundschaft, Liebe, Sonne, Vogelzwitschern, Geschmack, Duft, Flüstern und Lachen. Es mag vieles zerstört sein, aber die Schönheiten sind so groß, dass etliche davon noch heute funkeln.

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DIE ZAUBERHAFTE SCHÖNHEIT DES MORGENS

Warum sind Kinder eigentlich jeden Morgen fröhlich? Wir Erwachsenen wachen mit einem Ächzen auf, torkeln ins Bad wie ein 150-Kilo-Grizzlybär, der zu früh aus dem Winterschlaf geweckt wurde, und werfen unserem Spiegelbild Hassblicke zu.

Denke ich aber an meine Kindheit zurück, war das Schlimme damals der Abend, nicht der Morgen. Die Eltern mussten uns zwingen, ins Bett zu gehen. Wir haben aus Verzweiflung aufgeheult, weil wir ein Spiel unterbrechen mussten, obwohl wir es doch am nächsten Tag fortsetzen konnten. Der nächste Tag war eine unsichere Sache für uns, ein Schwindel. So weit dachten wir als Kinder nicht. Jedes Einschlafen war ein kleiner Tod. Ich hasste es, das Licht auszuschalten. Ich fürchtete mich im Dunkeln.

Aber der Morgen! Welches Glück, aufzuwachen und zu leben! Noch im Schlafanzug fingen wir an zu spielen. Wachte ich als Erster auf, weckte ich meine Geschwister. Manchmal auch die Eltern – unbegreiflich, dass die sich darüber ärgerten, obwohl ich doch diese wunderbare Nachricht für sie hatte, dass ein neuer Tag angebrochen war.

Der Morgen machte dankbar für das Leben. Er gab einem das Gefühl, beschenkt zu sein mit Licht, mit Zeit, mit einer neuen Chance, etwas Gutes zu tun.

Auch für die Tiere wird das Licht an jedem Tag neu geboren. Bäume und Häuser tragen einen roten Schimmer, als würden sie von innen leuchten, sie strecken sich dem Licht hin, dulden es, schmecken es. Die Vögel spüren das Besondere der Morgendämmerung. Sie singen. Sie begrüßen den Tag. Fröhlich schwatzen die Sperlinge, die Stare kreischen wie eine Schulklasse auf dem Ausflug zum See, Amseln flöten ein Gutenmorgenlied. Die Luft ist frisch. Moos und Gras glitzern vom Tau, im Wald zirpen Rotkehlchen, Gelbspötter und Baumpieper.

Wir sind mit neuer Kraft ausgestattet worden, haben durch Träume die Wirrnisse des Vortags verarbeitet und sind bereit für ein weiteres Abenteuer.

Wäre da nicht der Morgenstress! Im Kopf gehen wir einen Termin nach dem anderen durch, verzweifeln, weil wir fürchten, nicht alles schaffen zu können. Wir horchen in uns hinein: Lauert da nicht eine Erkältung? Lähmt nicht Mattigkeit die Glieder?

Oft bin ich zu beschäftigt, um zu bemerken, welche zauberhafte Schönheit der Morgen besitzt. Aber wenn es doch gelingt, bin ich dankbar. Ich schaue aus dem Fenster und freue mich über den Himmel. Ich höre den Vögeln zu. Der neue Tag wird für mich zum Geschenk. Und wer lächelt nicht, wenn er etwas geschenkt bekommt?

DEM EINERLEI ENTKOMMEN

Wenn wir das Gefühl haben, in einer endlosen Abfolge gleicher Tage festzustecken, dieser stumpfen Kette aus Schlafen, Arbeiten, Essen, Schlafen ausgeliefert zu sein, wenn wir uns kaum noch erinnern, was letzte Woche war, und denken, es ist auch völlig gleichgültig – dann können wir dem auf verschiedene Weise beikommen.