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150 Jahre Wiener Ringstraße

1865,
2015.

150 Jahre Wiener Ringstraße

Dreizehn Betrachtungen

Metroverlag

© 2014 Metroverlag
Verlagsbüro W. GmbH
www.metroverlag.at
Alle Rechte vorbehalten
Printed in the EU
ISBN 978-3-99300-175-9

Inhalt

Vorwort von Norbert Kettner

Durch Entgrenzung zur Verdichtung:
Die Essenz einer Stadt auf einer Straße

Sibylle Berg

Wegen Sonntag

Timothy Bonyhady

Das Haus Adolf Gallias

The Adolf Gallia House

György Dalos

Meine beiden Ringstraßen

Az én két körútom

J. Sydney Jones

Mauern wurden zu Fenstern

Walls Became Windows

Mitsuyo Kakuta

Jedem sein Wien

Radek Knapp

Wie klein die Welt in Wien ist

Jaki świat jest mały w Wiedniu

Nicola Lecca

The Ring of the Lords (deutsch)

The Ring of the Lords (italienisch)

Eva Menasse

Der zerbrochene Ring

Vivien Shotwell

Eduards Augen

Eduard’s Eyes

Vladimir Sorokin

Cocktail

коктейль

Michael Stavarič

Brhawahpuppp

Hdnaklkkk

Marlene Streeruwitz

Das Schönste an der Ringstraße

Vladimir Vertlib

Gebrochene Schönheit

Разрушенная красота

Anhang

Vorwort

Durch Entgrenzung zur Verdichtung:
Die Essenz einer Stadt auf einer Straße

Gleich in mehrfacher Hinsicht ist die Wiener Ringstraße ein beeindruckendes Symbol für die Überwindung von Grenzen: Auf Wunsch von Kaiser Franz Joseph erbaut und 1865 feierlich eröffnet, hat sie Wiens ehemalige Stadtgrenzen geöffnet und durch die Einbindung der umliegenden „Dörfer“ in eine erweiterte urbane Einheit die Grundlage zur Entstehung einer Großstadt geschaffen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der großen kulturellen und wirtschaftlichen Metropolen Europas entwickelte. Besiedelt von Repräsentationsbauten des Kaiserhofes, der Aristokratie und des Großbürgertums, aber ebenso von den Institutionen der demokratisch-bürgerlichen Gesellschaft, hat die Ringstraße auch soziale Grenzen augenfällig aufgebrochen. Ihre Verbindung von bewusst nebeneinander platzierten öffentlichen und privaten Bauten stellt ein bis heute in Europa einzigartiges städteplanerisches Konzept dar. Zur topographischen und gesellschaftlichen „Entgrenzung“ tritt auch die künstlerische bei der architektonischen Ausführung. Diese ist geprägt durch einen von Anfang an beabsichtigten Stilpluralismus, der verschiedenste Architekturformen vergangener Epochen aufgreift – eine spezielle Variante des Historismus, die als „Ringstraßenstil“ in die Kunstgeschichte einging.

Das städteplanerische Großprojekt „Ringstraße“ zog künstlerisches Talent aus dem In- und Ausland an. Baumeister wie Theophil von Hansen, Friedrich von Schmidt, Gottfried Semper, Heinrich von Ferstel oder Karl Freiherr von Hasenauer schufen für die Ringstraße Werke vom Neoklassizismus bis zur flämischen Gotik, von der Neogotik über die Neorenaissance bis zum Neobarock, zu denen sich im Laufe der Zeit Jugendstil-Architektur, etwa von Otto Wagner, sowie Bauten der Moderne und der Gegenwart gesellten.

Auch staatsgeschichtliche Epochen fließen auf der Wiener Ringstraße symbolträchtig ineinander: Sie repräsentiert den Abgesang des imperialen Österreich und gleichzeitig den Anbruch einer Ära wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen in Europa. Die Städte als Ballungsräume wurden dabei zu Zentren von Innovation – ein Prozess, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Neue Ideen, neue Produktionsformen, neue gesellschaftliche Konzepte, neue politische Kräfteverteilungen … Die Wiener Ringstraße vollzog alle Entwicklungen mit – zu jeder Zeit, auch heute. Auf ihr sind 150 Jahre Stadtgeschichte verdichtet, und dadurch manifestiert sich in ihr die Essenz von Wien, gleichsam die DNA der Stadt. Am „Ring“, wie die Wienerinnen und Wiener ihren Prachtboulevard nennen, erleben daher auch Gäste der Stadt alles, wofür die Destination Wien in der internationalen Wahrnehmung steht: Die imperiale Vergangenheit begegnet ihnen mit der einstigen Kaiserresidenz Hofburg, die Musik- und Kunstmetropole unter anderem mit der Staatsoper oder dem Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museum. Das kulinarische Wien ist mit mehreren traditionsreichen Kaffeehäusern vertreten, und sechs Parks stellen die immer wieder gewürdigte Balance zwischen städtischer Infrastruktur und Grünraum eindrucksvoll unter Beweis. Nicht zuletzt gibt am „Ring“ auch ein knappes Dutzend Hotels Besucherinnen und Besuchern Gelegenheit, mitten in der „Essenz von Wien“ zu residieren.

Dem Facettenreichtum der Wiener Ringstraße widmen sich im vorliegenden Band 13 Autorinnen und Autoren aus zwölf Ländern in einer inspirierten Mischung aus persönlicher Perspektive und Außensicht, wofür ich ihnen herzlich danke. Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, wünsche ich anregende Unterhaltung bei der Lektüre.

Norbert Kettner,

Wiener Tourismusdirektor

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Sibylle Berg

Wegen Sonntag

Es war das Grauen der Jugend.

Die Achtzigerjahre.

Abgesehen von der Neuen Deutschen Welle, Punk, dem drogenumnebelten Phlegma vor dem Ausbruch der Gier, Partys und drolligen Frisuren, die das kollektive Gedächtnis mit den Achtzigern verbindet, ein seltsam gelbes Jahrzehnt. Es schien immer ein wenig zu ziehen, Kaffee war Plörre aus Glaskannen, Restaurants schlossen um zehn, und Menschen hatten Dauerwellen, im Westen Deutschlands, in den ich aus der noch öderen Diktatur, vor den noch schlechteren Frisuren aus dem Osten geflohen war. Sehr schnell merkte ich: Deutschland interessierte mich nicht, es gab im Osten und Westen nur Deutsche, für Amerika fehlte der Mut, aber von Wien hatte ich fantastische Bilder. Von gut genährten Menschen, die freundlich in Cafés sitzen, jeder ein Dichter oder Kommerzienrat. Der Österreicher, wurde mir gesagt, hatte keine autoaggressive Schuldstörung wegen seiner Rolle im Holocaust am Laufen. Man hatte sich des Problems elegant mit dem Export von Hitler entledigt, und Haider legte erst langsam los. Ein Paradies. Ich stellte mir Wien klein vor, grün und an dem eleganten Fluss gelegen, der durch die Stadt fließt und an dem Heurigen stattfinden. Ich träumte von Menschen, die Hrdlicka hießen und Kellner waren. Unklar, was mich an Wien so erregte, der runde Name vielleicht oder mein Hang zur Nekrophilie.

Irgendein Sonderangebot war es gewesen, für 100 Euro, die damals noch anders hießen, drei Tage Wien, und ich dachte mir, in drei Tagen würde ich die Kleinstadt begreifen. Ich kannte aus dem Ostblock vornehmlich Städte, in denen man Menschen traf, die einen bei sich übernachten ließen und mit zu Hochzeiten schleppten. Ich glaubte daran, dass sich Sachen ergäben, so wie ich damals auch noch daran glaubte, dass sich das Leben zum Guten wenden würde, ohne persönliches Zutun.

Und dann stand ich in Wien. Der Ring, von dem ich gelesen hatte, war keine kleine gemütliche Straße, durch die Miniaturstraßenbahnen fuhren, sondern eine gefühlt zwölfspurige Autobahn, über die nicht einmal Strohballen wehten. Es standen keine Wiener am Straßenrand, um mir zuzujubeln, denn es war leer, vielleicht war Sonntag. So enttäuscht wie als junger Mensch, wenn die bunten Fantasien, die man sich von Orten gemacht hat, nicht mit der Realität übereinstimmen, kann man später nie mehr werden. Aber das half mir im Moment nicht, denn ich wusste nichts vom Alter. Ich war zwanzig und unendlich.

Die Bäume waren kahl, obgleich es Frühling hätte sein sollen, ein scharfer Ostwind fegte über die Prärie, die aus grauen Palästen bestand, die eigentlich die Post waren. Oder Wasserwerke. Oder Museen. Wo wohnten die Menschen hier? Das Hotel, das in meinem Sonderangebot inkludiert war, hieß „Hotel am Schubertring“. Wo es sich befand, liegt auf der Hand. Im fünften Stock eines dieser Wasserwerk-/Postgebäude. Der kleinste Lift der Welt fuhr in die Etage, wo sich Zimmer befanden, in denen niemand zu hören war. Mein Zimmer hatte ein Bett. Keine Pointe. Eine Stehlampe grinste mich an und versuchte, mir etwas mitzuteilen. Aus dem Fenster meines kleinen Raumes sah man über regennasse Dächer, immerhin gab es ein Fenster. Die Stadt wirkte von oben postmortal manipuliert. Ich wurde sofort müde wie noch nie in meinem Leben. Nichts rief nach mir, und widerwillig mit einer enormen Anstrengung verließ ich das Zimmer, um offen zu sein für die Wunder meiner neuen Heimat. Am Ring betrat ich das erste Kaffeehaus. Da saßen diverse japanische Reisegruppen und wollten Literaten besichtigen. Ein Kellner, vielleicht war es aber auch ein Pfleger aus einer Irrenanstalt, redete in einer unverständlichen Sprache. Ich trank einen Kaffee. Er sagte mir nichts. Ich verabschiedete mich, keiner reagierte. Den Ring entlang, den kalten Wind im Gesicht, suchte ich nach Wundern und gelangte zum „Hotel Imperial“. Ich fühlte mich wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern und sah durch den Regen, den es nicht gab, in dieses Hotel, das nur aus einem Kronleuchter zu bestehen schien. Alte Frauen und Männer glitten auf Rollen zwischen Fauteuils und goldenen Beistelltischen, und dieses Hotel war von mir so weit entfernt wie der Mars. Ich hätte zwar nicht gewusst, was ich darin getan hätte, spürte aber ein leises Aufflackern von Sozialneid, zu dem das Wort damals noch nicht existierte. Ich ging weiter die nie endende Ringstraße, ich dachte, wenn ich die Stadt einmal umrunden würde, käme Gevatter Zufall und würde mich an seinem Knochenarm in das pralle Wiener Leben ziehen. Das Burgtheater. Hätte es damals schon den heutigen Gazprom-Mitarbeiter und früheren Kanzler Schröder gegeben, hätte ich an den Gittern des Theaters gerüttelt und geschrien: Ich will hier rein! Damals wollte ich da nicht rein. Ich wollte Bildungsbürgern nicht gefallen, nur ein bisschen Kontakt hätte ich gerne gehabt, aber mit wem nur? Vielleicht lag es an meiner Jugend, dass mir die wenigen Passanten hundertjährig erschienen. Sie musterten mich grimmig, aber das bildet man sich als junger Mensch ja gerne ein, dass einen alle grimmig mustern, dabei ist man den Menschen und der Welt so egal wie nicht stattfindender Regen.

Ich suchte etwas zu essen, fand nur Fleisch, für das der Wiener tausend Worte zu kennen scheint, suchte nach jungen Menschen und fand nur Asiaten und Rentner. Im „Sacher-Hotel“, in dem saßen chinesische Touristen und verdrückten Schokoladeklumpen. Die Kellner hießen Hrdlicka. Und ich wurde traurig.

Es war wie ein Blind Date, auf das man romantische Hoffnungen gesetzt hatte.

Dann kam eine Dämmerung, die die Stadt mit einer Milde überzog. Absurd riesige Atelierfenster wirkten wie Schiffe Außerirdischer, Wohnungen wurden erleuchtet, sie waren groß wie Fußballstadien. Die Wiener schienen sich nicht nur in teuren Hotels auf Rollen fortzubewegen. Wie gerne hätte ich in einer dieser Wohnungen Freunde gehabt. Aber die hatte ich damals nirgends, weil ich nicht wusste, wie man das macht, das Verrückte: Freunde haben. Je später es wurde, je kälter mir war, umso stärker wuchs die Befremdlichkeit der Stadt. Sie schien mich definitiv zu nichts einzuladen. In behaglicher Wärme saßen rotwangige rauchende, trinkende Menschen, die mir komplett wesensfremd schienen. Sie soffen und redeten in ihrer Eingeborenensprache, sie hatten gute Laune oder schlechte, ich hatte keine Ahnung. Ich verstand sie nicht. In meiner Einsamkeit begann ich, Kneipen zu zählen. Bei 123 hörte ich auf. Ich ging den Ring zurück zu meinem Hotel und stellte mir Sommer vor. Laub an den Bäumen. Menschen in leichter Kleidung, die mich grüßten, mit mir in die Kaffeehäuser meiner Fantasie gingen und in geheime Clubs, wo wienerische Exilpoeten Gedichte vorgetragen hätten. Ich gönnte mir ein Abendbrot. Es bestand aus heißer Milch, ich hatte für zwei Tage Wien nicht mehr viel Geld übrig. Vielleicht 18 Euro, die damals noch anders hießen, wie ich schon erwähnte. Es erschien ein Lohndiener. Er sah aus wie Nosferatu. Die Stehlampe kicherte. Der Regen schlug gegen die Fenster und führte kein Wasser. Ich dachte, ich sei allein auf der Welt und keiner fände mich, würde ich einen Unfall hier haben. Ausbluten zum Beispiel. Es stirbt sich nicht so leicht, mit zwanzig. Leider erwachte ich und zog am nächsten Morgen wieder in den Krieg. Ich hatte mich warm angezogen und lief den Ring in die andere Richtung, um zu dem kleinen Fluss zu gelangen, den ich mir ausgemalt hatte. An jenem Tag war wieder keiner auf der Straße, vielleicht war eine Warnung ausgegeben worden. Oder es war Sonntag. Es war mir schon klar, dass der kleine Fluss entweder zubetoniert oder ein unwirtlicher Strom sein musste. Ich stand an einem betonierten Flussbett und blickte dumpf in ein graues Meer. Ein Mann sprach mich an, mein Herz schlug schneller. Endlich, da war er. Mein Wiener Freund. Ich hätte den Mann fast umarmt, wenn er nicht so furchtbar gerochen hätte, vermutlich einer dieser Menschen, die jeden Morgen eine Flasche 67 Whiskey über sich entleeren, einfach weil sie es können. Der Mann bat mich um finanzielle Zuwendung, und ich war so glücklich über Gesellschaft, dass ich ihm mein verbliebenes Geld überließ. Der Mann entfernte sich ohne Dank. Die restliche Zeit verbrachte ich dann in meinem Hotelzimmer auf dem Fensterbrett. Vielleicht aß ich die Plastikblumen, ich habe es vergessen. Es schien mir, als würde sich mein Lebenszirkel schließen, und ich war wirklich überrascht, dass ich irgendwann die Stadt verlassen durfte. Ich hatte damit gerechnet, dass sie den Bahnhof geschlossen hatten, wegen Sonntag.

Das war mein erster Kontakt mit Wien, mit der Ringstraße, ein Trauma, das mich für Jahre prägen sollte.

Aber alles wächst sich aus. Meine Versöhnung mit Wien, die irgendwann in Liebe umschlagen wird, wenn ich ein Ehrenmal auf dem Zentralfriedhof bekomme, dauerte zwanzig Jahre. In denen sich Europa angenehm veränderte. Es renovierte die äußeren Schäden des Krieges weg, die inneren wuchsen sich aus. Man hasst Andersartigkeit versteckter, an linken und rechten Rändern, die Mitte gibt sich aufgeklärt und gut gekleidet, Österreich ist nicht mehr so sehr Haneke, sondern mehr Seidl, weniger gelb, die Rentner verloren die Vorherrschaft, oder ich näherte mich ihnen an, und mit jedem Wien-Besuch gewöhnte sich die Stadt mehr an mich. Zögerlich begannen die Eingeborenen, mit mir zu reden. Die Wiener wurden jünger, schöner, die Stadt internationaler, wenn das meint, sie wurde zu der universellen Großstadt, die irgendwie war wie alle Großstädte im Westen der Welt. Mit den gleichen Läden, Restaurants, dem gleichen Modegeschmack der jungen Menschen, der gleichen Musik. Doch Wien hat, im Gegensatz zu vielen anderen universellen Städten des Westens, ein kleines moderndes Geheimnis bewahrt. Seltsame leere Fabriken und Kaffeehäuser mit nur einem Kunden, komische verstaubte Läden und verwunschene Innenhöfe gibt es noch, nicht mehr lange, denn die Welt ist zu voll geworden, wer kann sich da schon leere Innenhöfe leisten. Österreich geht es gut. Ich wohnte jüngst im „Hotel Imperial“, trug mich ins goldene Gästebuch ein und dachte kurz an damals, als ich vor der Tür gestanden war, und das war mir dann so symbolisch, dass ich an dieser Stelle gerne abbrechen möchte, denn ich vermute, dass ich unterdessen verstorben bin.

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Timothy Bonyhady

Das Haus Adolf Gallias

Das Gebäude, das sich vom Wiener Stubenring über den Lueger-Platz und weiter entlang der Biberstraße erstreckt, ist seit jeher für das Kaffeehaus im Erdgeschoß bekannt. Als der viel gerühmte Radfahrer Maxime Lurion das Lokal nach der Fertigstellung des Baus 1903 eröffnete, pries ein Poster des Künstlers Emil Ranzenhofer das dort befindliche „Café Grill“, den Clubraum, die Amerikanische Bar, den Frauensalon, die Kegelbahn und die Tanzfläche an, die allesamt – laut dem Neuen Wiener Tagblatt – mit exquisitem Luxus ausgestattet waren. Ab 1905, als Lurion nach London zog und das Lokal zum „Café Prückel“ wurde, wuchs seine Berühmt- und Beliebtheit, vor allem weil viele andere Kaffeehäuser entlang der Ringstraße ihre Pforten schlossen. Doch für mich hat dieses Gebäude gänzlich andere Assoziationen und Bedeutungen: Es war das Zuhause meines Urgroßonkels, Adolf Gallia, und seiner Frau Ida.

Die Verbindung mag weit hergeholt scheinen. Welche Bedeutung könnte ein Haus eines Urgroßonkels haben, das früher im Besitz des zweitältesten Bruders des Vaters der Mutter meiner Mutter war? Die Antwort liegt zum Teil darin, dass Adolf im späten 19. Jahrhundert in Wien spektakulären Erfolg hatte, nachdem er Jus studiert, sich dabei auf geistiges Eigentum spezialisiert hatte und zur Schlüsselfigur in den Gas- und elektrischen Beleuchtungsfirmen des österreichischen Wissenschaftlers Auer von Welsbach wurde. Damit häufte er nicht nur eigenes Vermögen an, sondern prägte das vieler Mitglieder meiner Familie; die Konsequenzen daraus erstrecken sich nicht nur über Generationen, sondern auch über Kontinente. Die Begünstigten seines Erfolges waren sowohl sein jüngerer Bruder Moriz, der mein Urgroßvater war, als auch meine Großmutter Gretl, meine Mutter Anne und in gewissem Ausmaß auch mein Bruder Bruce und ich, die wir beide in den 1950ern in Australien auf die Welt kamen.

Die jährlichen Ausgaben des Wiener Straßenverzeichnisses Lehmann zeugen von Adolfs Erfolg. Sie erzählen von einer Reise, die damit beginnt, dass sich Adolf in immer größere Wohnungen und Rechtsanwaltskanzleien mit nobler werdenden Adressen einmietet. Er beginnt in den frühen 1880ern in der Naglergasse im ersten Bezirk; zieht dann in die Goldschmiedgasse nahe dem Stephansdom; begibt sich als Nächstes in die Dorotheergasse, immer noch im ersten Bezirk; schließlich residiert er am Maximilian und Rooseveltplatz am unteren Ende des neunten Bezirks, zwischen Votivkirche und Schottenring. 1902 kaufen Adolf und seine Frau Ida schließlich den Eckgrund am Stubenring und errichten dort ihr eigenes Haus, das zu einem großen Teil vermietet wird, aber auch Adolfs Kanzlei und die gemeinsame Wohnung des Paares beherbergt. Nachdem sie sich Ende 1903 in diesem Gebäude niedergelassen haben, zur gleichen Zeit, als Maxime Lurion sein Kaffeehaus eröffnet, ziehen die beiden zeitlebens nicht mehr um. Obwohl sie keine Kinder haben, bewohnen Adolf und Ida das renommierteste Apartment im ersten Stock, auch als „Nobelstock“ bekannt, das sich über die gesamte Länge des Gebäudes am Stubenring erstreckt und fast die komplette Länge Richtung Lueger-Platz in Anspruch nimmt.

Das Ausmaß dieses Baus, entworfen vom Wiener Architekten Jakob Gartner, einem erweiterten Familienmitglied der Gallias, erstaunt mich immer wieder aufs Neue. Gartners typische Vorgehensweise bei Aufträgen von Mitgliedern jüdischer Familien, die es wie Adolf unter den Habsburgern zu großem Erfolg gebracht hatten, war es, den neuen Reichtum und das Ansehen seiner Kunden adäquat zu repräsentieren. Er folgte dahingehend dem traditionellen Schema der Palais und gestaltete Fassaden, die so prunkvoll wie möglich waren. Gleichzeitig verwendete Gartner einige Elemente des Secessionismus, um seinen Bauherren den Anschein zu verleihen, dem Fortschritt auf gleiche Weise zugetan zu sein. Diese „gemäßigte Moderne“ zeigt sich auch in den erhaltenen Decken- und Wandgestaltungen in Adolf und Idas Wohnung – vor allem aber in Idas ovalem Boudoir, dem eindrucksvollsten Zimmer der Wohnung, das von seinem eigenen Eckbalkon spektakuläre Blicke auf die Kuppel der Karlskirche und die Turmspitze des Stephansdoms bietet.

Adolfs gewaltiger Reichtum – und die damit einhergehende offenkundige und stolze Freude – war nicht nur mit einer liberalen, wenn nicht sogar sozialistischen politischen Gesinnung verbunden, sondern wurde von ihm mit aktivem politischem Engagement zum Ausdruck gebracht. Dies geschah vor allem durch seine Unterstützung der Wiener Wochenzeitschrift Die Zeit, die Mitte 1902 zu einer Tageszeitung wurde, der er mit zwei Millionen Kronen an Neukapital unter die Arme griff. Dies mit dem Ziel, täglich unabhängige, radikale Sozial- und Politikkommentare zu verbreiten. Wie auch Auer von Welsbach wurde Adolf Miteigentümer und Vorstandsmitglied und fungierte als stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Unternehmens. Die Tagebücher des Kritikers, Essayisten und Dramatikers Hermann Bahr, einem der Redakteure von Die Zeit, zeigen, dass dieser ein Jahr später in regem Kontakt mit Adolf stand und sich in der einen oder anderen Form um Unterstützung bemühte, die Adolf im Juni 1903 jedoch nicht zu geben gewillt war. Es ist dennoch möglich, dass ein Treffen zwischen Bahr, Auer und Adolf im Juli ein anderes Ergebnis brachte, da Adolf und Auer bald darauf „Gerüchten zufolge eine dritte Million an Die Zeit spendeten“.

Dem Gebäude am Stubenring wird in den Tagebüchern meiner Großmutter Gretl Leben eingehaucht. Nachdem sie Puccinis „La Bohème“ zum ersten Mal in der Hofoper gesehen hatte, verbrachte die 18-jährige Gretl Silvester 1913 in der Wohnung und tanzte dort mit ihrer jüngeren Schwester Käthe einen Tango. Nachdem sie sich 1905 mit einem jungen Wiener Architekten namens Norbert Stern verlobt hatte, dessen Mutter eine enge Bekanntschaft zu Ida pflegte, fand in dieser Wohnung auch Gretls äußerst opulente Verlobungsfeier statt, bei der Ida zum ersten Mal ihr kurz davor erworbenes „Flora-Danica“-Set verwendete: das gefeierte handgeformte, handbemalte Porzellan, das mit dänischen Pflanzen dekoriert war und von „Royal Copenhagen“ produziert wurde. Als Gretls Verlobung zu Norbert fast unmittelbar danach platzte, war das „Café Prückel“ der Schauplatz für das Treffen seiner Mutter mit Ida, während Norbert Adolf in seinem Zimmer aufsuchte, um sich dort zu beraten, was nun zu tun sei.

Als Adolf 1925 verstarb, gefolgt von Ida im Jahr 1929, schied das Haus aus dem Familienbesitz aus: Die letzten Erinnerungen an die familiäre Wohnung sind die meiner Mutter Anne, die am meisten von einem weißen Bärenteppich – samt Kopf – unter dem Flügelklavier im Salon beeindruckt war. In ihrem Testament sorgte Ida dafür, dass das Haus verkauft wurde und somit eine Aufteilung ihres Besitzes auf ihre 24 Nichten und Neffen vonstatten ging, wobei meine Großmutter Gretl die Haupterbin war, da sie fast ein Zehntel des Vermögens erhielt. 1932 wurde das Haus von der „Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger“ erworben, die bald ihre Initialen „AKM“ über dem Tor am Stubenring anbrachte. Doch ein Zeichen, dass dieses Gebäude einst das Zuhause der Gallias war, blieb erhalten: Über der Hintertür in der Biberstraße, die als Eingang zu Adolfs Kanzlei diente, prangen nach wie vor seine Initialen „AG“.

Diese Initialen – in ihrem Ursprung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit protzig, sogar prahlerisch – sind für mich das Bedeutendste an diesem Gebäude, das gemeinhin als das Zuhause des „Café Prückel“ bekannt ist. Diese Initialen sind für mich besonders angesichts dessen bedeutsam, was Mitgliedern meiner Familie nach 1938 widerfahren ist. Obwohl manche überlebten, wie zum Beispiel meine Großmutter Gretl, Großtante Käthe und meine Mutter Anne, die sofort nach der Kristallnacht aus Wien flüchteten, konnten sich andere nicht retten, wie Adolfs Neffe Louis, der mit ihm in seiner Anwaltskanzlei am Stubenring arbeitete und der, zum Zeitpunkt des Anschlusses sechzig Jahre alt, kein Visum mehr bekam. Mitte der 1940er gab es keine Angehörigen meines Zweiges der Gallias in Wien mehr, nur Adolfs Initialen harrten aus. Bedeutungslos und uninteressant für fast alle Passanten, sind diese Initialen das eine kleine Zeichen auf den Straßen Wiens dafür, dass diese Stadt einst die Heimat meiner Familie war.

The Adolf Gallia House

Neues Wiener Tagblatt