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Zum Buch

Ein neues Lebensgefühl, ein Fieber erfasst 1968 eine ganze Generation. Von Berkeley, Paris, Berlin, Rom und Mailand aus bis in die Kleinstadt-Hinterhöfe von Bozen, Meran und Bruneck hinein wird die Bewegung zum Schwungrad, auch im engen Land der Berge für Freiheit, Recht und Gerechtigkeit einzutreten.

Einige zerbrechen daran, verfallen in Depressionen, andere gleiten ab in terroristische Gewalt, wieder andere melden sich ganz und für immer ab vom gesellschaftlichen Engagement.

In einer Collage aus subjektivem Erzählen, Tatsachenbericht und Dokumentation schildert der Autor das Aufschäumen und Zusammenbrechen dieses 68er-Zeitgeistes.

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Abteilung Deutsche Kultur und Familie der Südtiroler Landesregierung über Literatur Lana und durch die Region Trentino-Südtirol.

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© Edition Raetia, 2014

Umschlagfoto: Daniel Cohn-Bendit bei einer Demonstration 1968, Paris /
Archiv RCS

ISBN E-Book: 978-88-7283-493-0

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Inhalt

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… mi ha insegnato che non siamo personaggi, siamo storie. … Ci fermiamo all’idea di essere un personaggio impegnato in chissà quale avventura … ma quel che dovremmo capire è che noi siamo tutta la storia, non solo quel personaggio. Siamo il bosco dove cammina, il cattivo che lo frega, il casino che c’è attorno, tutta la gente che passa, il colore delle cose, i rumori.

Alessandro Baricco, Mr Gwyn

… dies hat mich gelehrt, dass wir nicht Protagonisten, sondern Geschichten sind. … Wir verharren in der Überzeugung, dass wir in weiß Gott welche Abenteuer verstrickte Figuren sind … was wir aber verstehen sollten, ist, dass wir die ganze Geschichte sind, nicht nur diese einzelne Gestalt. Wir sind der Wald, in dem diese Gestalt wandert, wir sind der Böse, der sie beschwindelt, das Durcheinander rundum, alle die Leute, die da vorübergehen, die Farbe der Dinge, die Geräusche.

Alessandro Baricco, Mr Gwyn

1

Zwischen den Ereignissen und dem, was davon erzählt und aufgeschrieben wird, liegen vier, bald fünf Jahrzehnte. Manches wiegt schwerer aus dieser Distanz, manches leichter, verdunstet in dem, was nachher kam, oder dem, was jetzt ist. Über ehedem grell Belichtetes sind Schatten gefallen, in denen wir nicht mehr finden, was wir sonst so rasch bei der Hand hatten und was wir jetzt noch glauben retten zu müssen. Verschwunden sind die Aufzüge und Maskeraden, die wir veranstalteten, und die Sicherheiten, die wir herausschrien. Aus dem Heute erzählt und hingeschrieben sind Gedanken und Empfindungen nicht überprüfbar, denn: Die einzigen Zeugen, unsere damaligen Ichs, sind verwittert oder haben sich in uns aufgelöst. Wir zögern, wir zweifeln, ob wir noch sein wollen, wer zu sein wir damals glaubten oder wer zu sein uns zugeschrieben wurde. Mit dem Erzählen aber und mit dem Schreiben schaffen wir uns ein zweites, ein eingebildetes Leben, in dem vieles eine Deutlichkeit vorspiegelt, was ehedem verschwommen und unbestimmbar war. Einiges könnte so gewesen sein, ich bestehe nicht darauf.

Auch Max würde nicht darauf schwören wollen, dass das der Anfang war, obwohl wir uns Bilder gemacht haben, die zäh sind und bleiben.

Es hatte wegen eines Vergehens während einer mehrtägigen Klassenfahrt eine – wie uns schien, sehr harte, weil auf das Ergebnis der Reifeprüfung sich auswirkende – Bestrafung für Schüler der achten Klasse gegeben, weshalb wir Schüler der siebten als eine eher spontane Aktion gegen das, was wir als Willkür und Unterdrückung empfanden, einen Streik in Szene setzten, den ersten und wohl für lange Zeit letzten in unserer Kleinstadt. Es gab in der Folge regelrechte Verhandlungen, ein richtiges Kräftemessen zwischen einer Schülerdelegation auf der einen, dem Direktor und der Lehrerschaft auf der anderen Seite. Diese Bestrafung und der darauf folgende Streik, an dessen Vorbereitung ich mich – wie Goethes Werther: ohne länger darüber nachgedacht zu haben – beteiligte, hatten unmittelbare Auswirkungen auf mein weiteres Denken und Handeln. Ich hatte das Gefühl, in ganz wenigen Tagen viel gelernt zu haben von dem, was auf keinem Lehrplan stand.

Es ging um Freiheit, ganz einfach und ohne Anführungszeichen: um die Freiheit, sich zu kleiden, zu kämmen, den Tag einzuteilen, wie man wollte, um die Freiheit, da- oder dorthin zu gehen und sich mit anderen zu treffen, ohne um Erlaubnis fragen oder sich rechtfertigen zu müssen; es ging darum, zu essen und zu lernen, was, wann und wo man wollte, besonders auch darum zu sagen, was man dachte, ohne dafür bestraft zu werden; es ging um den Widerstand gegen die als Knebelung und Unterdrückung erlittene Ordnung der Eltern und Lehrer, und gegen das alle und alles umspannende Gebot des Gehorsams gegenüber Autoritätspersonen oder sogenannten. Wir wollten Verantwortung – für uns selbst.

Auf einem Laufzettel – von einem Flugblatt konnte noch nicht die Rede sein – hatten wir folgende Zeichnung herumgereicht:

In einem kleinen, mit „1. Klasse“ beschrifteten, gläsernen Kubus steht ein Männchen aufrecht da, rundum und über ihm ist noch freier Platz. Daneben steht ein zweiter, ebenso kleiner, gläserner Kubus, mit „2. Klasse“ beschriftet, den das Männchen, inzwischen gewachsen und etwas fülliger geworden, jetzt so ausfüllt, dass der Kopf an den Deckel gepresst wird. Im dritten Glaskubus, mit „3. Klasse“ überschrieben, berührt das Männchen bereits mit seinem Hintern die Deckelwand oben und hat Kopf und Oberkörper, damit diese irgendwie Platz finden, ganz nach unten und zwischen die Beine gequetscht, sodass es nunmehr zu einem ganz und gar verkrüppelten Wesen geworden ist.

Dieser Laufzettel war die Geburtsstunde der ersten Schülerzeitung im Land in den Bergen, zugleich auch der Funke, aus dem die Schülerbewegung entstand.

Das ganze Geschehen hat mein Denken und meine Wahrnehmung in Gang gesetzt, meine Gefühle für das, was ich als gerecht und korrekt empfand, geweckt und mir einen Maßstab vermittelt dafür, was auch einem Jungendlichen wie mir gegenüber als respektvoller Umgang gelten sollte. Wir erlitten, wofür wir zunächst kaum ein Wort hatten: Enge, und wir verspürten ein Bedürfnis nach frischer Luft, nach Öffnung und Weite, nach selbst gestaltetem Leben.

Aber so formulieren wir erst heute. Denn zunächst forderten wir nur die Behandlung von Stoffen und Themen in der Schule, die das Leben klären und unsere Fragen beantworten sollten, jenseits der ewig gleichbleibenden, welche die Lehrer aus vergilbten, offenbar gleich nach dem Krieg verfassten und nie mehr erneuerten Vorbereitungsheften – Diktaten gleich – abspulten. Der Slogan der ersten studentischen Protestmärsche „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ bildete unseren Lernalltag der Wirklichkeit getreu ab.

Es waren unsere existenziellen Fragen, die beantwortet, unsere inneren Verengungen, die geweitet, unsere Verrenkungen, die aufgelöst werden wollten. Viele, auch nicht mit dem Verdienstkreuz der Revolte Ausgezeichnete, gestanden Jahre später, dass sie mit Neugier und Spannung auf den Unterricht in Philosophie gewartet hatten: Dieser würde den Sinn des Lebens, unseres Lebens, zu ergründen helfen. Stattdessen mussten wir uns drei Sätze von Anaximander wie Nummern aus dem Telefonbuch merken; stattdessen gab es Repression: Wurde einer am Nachmittag in den Straßen der Stadt oder vor einer Bar stehend erwischt, konnte er mit großer Sicherheit davon ausgehen, tags darauf einer Prüfung auf Herz und Nieren unterzogen zu werden und dass sich diese Sonderbehandlung über mehrere aufeinanderfolgende Tage hinziehen würde. Da waren offenbar noch lange nach der Nazizeit Bildung und Erziehung als ein biologischer Prozess der Aufzucht und Auslese verstanden worden.

Wir wollten wachsen, wollten ausprobieren, wir selbst zu sein, zu werden. Dafür mussten wir die Zwinger sprengen, mussten die kleinen, gläsernen Kuben, in denen wir an uns selbst zu ersticken drohten, zu Zimmern, Hallen, Werkstätten ausweiten. Eigentlich hätten die Lehrer nur ihre eigenen humanistischen Bildungsideale, anhand derer sie ausgebildet worden waren und denen sie folgten oder zu folgen vorgaben, ernst zu nehmen brauchen, um gemeinsam mit uns Schülern ein Stück dessen umzusetzen, was sie selbst bei Thukydides in der „Rede des Perikles über Demokratie“ gefunden hatten; doch mussten sie sich diese in einem Akt der Selbstverstümmelung aus Herz und Hirn gerissen und sich selbst nicht zugemutet haben, weshalb sie diese dann auch ihren Schülern vorenthielten:

Das Wesen (unserer Volksherrschaft) ist, dass nach den Gesetzen zwar alle persönlichen Vorzüge niemandem ein Vorrecht verleihen, dass aber hinsichtlich seiner wirklichen Geltung jeder, sofern er sich in etwas auszeichnet, im Staatsdienst seine volle Anerkennung findet: eine Anerkennung, die nicht auf Parteizugehörigkeit, sondern auf wirklichem Verdienst beruht. Mag daher jemand arm sein, so ist ihm doch, sofern er dem Vaterland Nutzen zu stiften imstande ist, durch keine Niedrigkeit der Geburt der Weg zur Auszeichnung verschlossen. … Wir betrachten unseren Mitbürger nicht mit Ärger, wenn er frei seiner Neigung folgt. … Wir enthalten uns in unserem öffentlichen Leben vornehmlich aus sittlicher Scheu jeder Übertretung der Gesetze und hören willig auf die jeweilige Obrigkeit und auf die Gesetze, und vornehmlich auf die, die zum Schutze der Unterdrückten bestimmt sind. … Wir öffnen allen den Zutritt zu unserer Stadt und suchen nicht gelegentlich durch Ausweisung von Fremden jemanden daran zu hindern, etwas zu lernen oder zu sehen, wovon … einer unserer Feinde Nutzen ziehen könnte; … denn wir vertrauen weniger auf Vorbereitungen und Heimlichkeiten als auf unsern eigenen, tatenfrohen Mut.

Solche Botschaften aus dem Reich des Schönen, Wahren und Guten waren den Schülern mit der Einforderung von Übersetzungen vertrackter lateinischer und griechischer Verse oder Satzperioden allerdings nicht vermittelbar – umso weniger, als diese in einsamer Hausarbeit mühsam und zeitraubend erarbeitet werden mussten und mit Prüfungsangst und Notendruck besetzt waren. Zugleich gab es Lehrer, die ihre Geringschätzung für die Schüler als Personen in Worten und Gesten und mit ungerecht empfundenen oder ganz und gar frei erfundenen Bewertungen unmissverständlich kundtaten. Sollte der Mensch nicht edel sein, hilfreich und gut?

Leidvoll zu beklagen ist: Wir haben aus den alten Literaturen nur kleinste Bruchstücke mühevoll übersetzt, die eigene Übersetzung nicht verstanden und den Rest nicht gelesen. So haben wir uns, die wir uns doch als glückliche Angehörige einer am Humanismus aufgerichteten Welt verstanden, im privaten und öffentlichen und politischen Handeln von den Maximen des Perikles entfernt. Die Mindestvoraussetzung zu deren Verständnis wäre gewesen, die Geduld zu erlernen, einen Text genau zu lesen, folgerichtig zu denken und entsprechend zu argumentieren. Allein die folgenden Aussagen des großen Griechen böten reichlich Stoff für zwei, drei gute Bildungsjahre:

… und es ist für keinen eine Schande, seine Armut einzugestehen, vielmehr ist es eine Schande, ihr nicht durch Tätigkeit zu entrinnen. Und so sind unsere Staatsmänner geschickt, ihre eigenen Interessen ebenso wie die des Staates wahrzunehmen, während es anderen, die sich dem gewerblichen Leben zugewandt haben, gleichwohl nicht an Einsicht für die Angelegenheiten des Staates fehlt. Denn wir halten denjenigen, der an diesen gar keinen Anteil nimmt, nicht für einen stillen und ruhigen, sondern für einen unbrauchbaren Bürger. … Und wir sehen in vielfältiger Überlegung keinen Nachteil für das Handeln, wohl aber darin, dass man sich nicht lieber vorher durch reifliche Prüfung unterrichtet, ehe man, wo es nötig ist, zum Handeln schreitet.

In der Tageszeitung „Dolomiten“, die das Meinungsmonopol innerhalb des deutschen Bevölkerungsanteils des Landes innehatte, fand sich in diesen Tagen folgende Leserzuschrift:

Drei Dinge sind im ganzen Land bekannt, nur will die „Dolomiten“ sie nicht wahrhaben: Es gibt eine Opposition in Südtirol … man könnte sie außerparlamentarisch nennen, wenn wir im Land ein Parlament hätten, wo das freie Wort zu Gehör käme. Das haben wir aber leider nicht. Was den „Dolomiten“ nicht passt, existiert nicht. Das wird einfach nicht abgedruckt. Eine Pluralität der Meinungen kennt man nicht. In der Öffentlichkeit über geistige, kulturelle, moralische Fragen diskutieren kann man hier nicht.

Wir haben ein Theater, das horrende Summen kostete, man nennt es „Kulturhaus“, aber dort gibt es kein Podium für einen Redner oder für eine Gemeinschaft, die nicht zur alles dominierenden Partei gehört. … Die Bauernjugend verbringt ihre Zeit in den Bars, in den Wirtshäusern, in den Nachtlokalen. Die Stadtjugend bringt ihre Freizeit hinter sich, wie es eben geht. Jungendräume, Diskussionsräume, die sonntags oder sonst abends geöffnet wären, wo sind die?

Und so kommt es, dass wir, weil uns das Forum für das freie Wort fehlt, immer öfter das „Deutsche Blatt“ der italienischen lokalen Presse in Anspruch nehmen müssen. … So geht auch hier eine Kopie dieses Leserbriefes an das „Blatt für deutsche Leser“ der Tageszeitung „Alto Adige“, denn bei den „Dolomiten“ wird er vielleicht im Papierkorb landen.

Und genau dieses eine Mal druckt die Zeitung diese Leserzuschrift ab. Die Leserbriefschreiberin sollte damit Lügen gestraft werden.

2

Wir waren ja eine recht kleine Gesellschaft auf der Südseite der Alpen. Die Vereinigung der vorwiegend im deutschsprachigen Ausland studierenden Studenten umfasste etwa 1200 Hochschüler und hatte bereits ab 64 etwa ihre enge Bindung an die volkstums- und kulturpolitische Linie der Partei zu lockern versucht und neue Wege, offenere Haltungen und die Freiheit vom Zwang des Wohlverhaltens gefordert. Nicht zuletzt hingen von solchem Wohlverhalten die Vergabe von Stipendien und andere Formen der Unterstützung für Jugendliche aus unterprivilegierten Verhältnissen ab. Die Mächtigen kannten ihre Untergebenen und deren Verhältnisse und hatten Möglichkeiten zu deren Kontrolle.

Am Vorabend der Eröffnung des „Waltherhauses“, eines neuen Theater- und Kulturhauses, im April 67 hatten 200 Jugendliche und Studenten bei einer Diskussion über „Kulturpolitik in Südtirol – ohne Jugend?“ im Bozner Rathaus ihre Einbindung in gesellschaftliche und kulturelle Prozesse gefordert. Die dort sichtbar gewordenen Positionen markierten den Bruch zwischen der politischen Führung und der jungen Zukunft des Landes. Das „Waltherhaus“ sollte im Selbstverständnis seiner Erbauer ein Tempel der Verschmelzung bäuerlich-ländlicher Volkskultur mit der bürgerlichen Hochkultur sein, zugleich ein Bollwerk gegen kulturelle Einflüsse aus dem italienischen Süden und gegen die gefährliche Moderne überhaupt. Vor diesem Hintergrund hatte die kulturkritische Schauspielgruppe „Kleine Experimentierbühne“ eine Groteske namens „enfants terribles“ zur Aufführung gebracht. Das Stück war ein paradoxer Verschnitt von weltpolitischen und hinterwäldlerisch lokalen Themen und wollte Zeugnis geben vom Nachplappern vorgekauten und anscheinend bewährten Gedankenguts. Die Theaterbühne des „Waltherhauses“ blieb der Theatergruppe verwehrt. Trotz der neuen und modernen Theaterstruktur mussten alle alternativ-kulturellen Initiativen sich um andere Schauplätze umsehen, um an ein Publikum zu gelangen.

Gleich nach Schulbeginn im Herbst hatten dann Oberschüler, Sympathisanten der in Entstehung begriffenen Schülerzeitungen und andere Jugendliche diesen „Tempel“ entweiht. Flugblätter tanzten von der Zuschauertribüne auf das Theaterpublikum im Parkett, in denen das Theater als ein Fossil katholisch-konservativer Weltanschauung und als ein Ort der Ausgrenzung neuer, lebendiger Lebensformen bezeichnet und eine Hinwendung zu mehr Leben, Eigen-Sinn, Selbstentfaltung und Gestaltung, zu mehr sprach- und kulturübergreifendem Dialog gefordert wurde. Das Publikum war aufgebracht, manche wurden ausfällig und schäumten, auch ohne die Blätter gelesen zu haben. Viele warfen sie, sowie sie eines erhaschen konnten, rasch zu Boden oder versteckten sie im Hosensack oder sonst wo, so als würde die Schmach, die sie wegen des Vorfalls verspürten, dadurch kleiner oder das Geschehen wäre gänzlich aus der Welt. Es hatte den Anschein, als wollte niemand mit einem Flugblatt in der Hand oder ein solches lesend erwischt werden.

Der Lehrer für Geschichte und Philosophie am Gymnasium, Alexander Langer, hatte, nachdem er zunächst noch Vorzeigestudent der linkskatholischen Szene gewesen war, bis er durch seine eindeutige politische Feldwahl von seinen ehemaligen Gönnern verfemt, dann verstoßen und in der Folge totgeschwiegen wurde, in der Tageszeitung „Dolomiten“ vom 2. Februar 67 unter dem Titel „Zeitalter der Unsicherheit“ philosophische Überlegungen angestellt und davon geredet, dass „auf neuen Voraussetzungen ein neues Zeitalter zu bauen“ sei:

Wenn die Menschheit sich in existenziellem Denken in ihrer Geschichtlichkeit zurechtfinden soll, muss sie auf neuen Voraussetzungen ein neues Zeitalter bauen, das den neuen Erfordernissen gerecht werde. Dies bedeutet, dass intolerante, dogmatische Positionen revidiert werden müssen, dass es sinnlos ist, geistige oder gar materielle Kriege um „Wahrheiten“ zu führen, deren innerstes Wesen noch nicht erkennbar scheint, dass hingegen „vorläufige Wahrheiten“ in demütigem, gemeinsamem Suchen im Dialog und in Zusammenarbeit gesucht werden müssen. Es bedeutet nicht, dass Überzeugungen aufgegeben werden müssen, doch muss jede moralische und physische Gewalttätigkeit aufgegeben werden. Es bedeutet auch nicht, dass es von nun an keine absolute Wahrheit mehr gibt: Es gibt sie, doch wir dürfen uns nicht allzu leichtfertig anmaßen, sie zu erkennen. Und schon gar nicht dürfen wir beanspruchen, sie zu besitzen. Denn die Wahrheit kennt keinen Besitz, sie ist für alle da.

Im selben Frühjahr begann gerade diese Zeitung sich für die kommenden Jahre einzuschießen auf alle, die das konservative und autoritäre Verständnis von Gesellschaft und Leben mit kritischen Augen zu betrachten begannen.

Die in diesem Frühjahr erschienene Ausgabe des „skolasten“, der von der Kulturabteilung des Landes finanzierten Zeitschrift der deutschsprachigen Hochschüler, hatte sich dem Thema „Geistiger Individualismus – Chance unserer Zeit“ gewidmet. Sofort errichtete die Monopolpresse einen Schutzwall dagegen: Die Kontrolle über gesellschaftliche Prozesse sollte fest in ihrer Hand bleiben.

Es sollte … nicht unter Berufung auf den „Individualismus als Chance“ einzelnen „Individualisten“ die Möglichkeit geboten werden, bewusst oder unbewusst oder mit Berechnung Missbrauch zu treiben, Dinge vorschnell ins Lächerliche zu ziehen, die anderen etwas bedeuten, und eine Generation einfach zu verurteilen, die ihnen aus dem Schatze ihrer Erfahrung mit bestem Wissen und Gewissen gegeben hat und noch gibt.

In einem in humoristischer Absicht geschriebenen Artikel werde „die politische Entwicklung des Südtiroler Volkes“ vom Faschismus bis zur Gegenwart in einer Art dargestellt, die gewiss nicht zum Lachen anrege, am wenigsten jene, die diese Geschichte leidvoll miterlebt und durchgemacht hätten. Lächerlichkeit über diese Dinge auszugießen, zeuge von Geschmacklosigkeit. Es sei schließlich bedauerlich, dass die Verantwortlichen in Politik und Kultur diesem neuen Geist nicht mit der nötigen Entschiedenheit entgegenträten.

Die Buchhandlungen des Verlagshauses „Athesia“ wiesen der Kulturpolitik den Weg: Eine ganze Reihe von Büchern einer ganzen Reihe von Autoren war dort ebenso wenig erhältlich wie gewisse Zeitschriften und Magazine.

Die Landesregierung, insbesondere ihr Chef und der politisch verantwortliche Landesrat für Schule und Kultur waren nicht bereit, sich mit irgendeinem jungen Menschen auseinanderzusetzen, getreu der, wie es hieß, vom Chef selbst stammenden Losung: lange Haare, kurzer Verstand. Dass überhaupt eine Person es wagen würde, ihm ins Wort zu fallen, ihn in seinen, wenn einmal entfesselten, Wortkaskaden zu unterbrechen, war so lange unvorstellbar, bis es dann tatsächlich geschah. Seine Weigerung daraufhin weiterzusprechen gebar zuerst ein lang andauerndes Schweigen und dann ein Zittern, von dem niemand im Saal wusste, ob es Vorbote eines Wutausbruches, eines epileptischen Anfalls oder eines Herzinfarktes war.

Es gab Verbindungen zwischen Schülern aus den Schülerzeitungen und der Redaktion der „brücke“, einer neu gegründeten, politischen Monatszeitschrift mit vielen Mitarbeitern und Helfern, einem winzigen Büro in der Goethestraße, ohne ausreichende finanzielle Mittel und ohne längerfristigen Finanzplan, aber: „die brücke“ war eine deutlich politischere Plattform, als es der „skolast“ war, der letztlich vom Geld der Einheitspartei abhängig war, sie positionierte sich zunächst außerhalb des Kleinkriegs zwischen den lokalen politischen Gruppierungen und wollte ein Medium für alle Oppositionellen im Lande sein.

3

Im Gegensatz zu Max, der aus einer Angestellten- und Beamtenfamilie stammte, hatte Arno den klassisch bürgerlichen Hintergrund einer Unternehmerfamilie.

Eine Klasse wiederholen zu müssen, hatte – im Unterschied zu dir – keine finanzielle Belastung für meine Familie bedeutet. So konnte die Schule, konnten die Lehrer mir auch weniger anhaben als dir. Auch war der Druck der Handelsfamilie auf mich als jüngeren Sohn im Vergleich zu dem auf meinen älteren Bruder wesentlich geringer. Dessen Ausbildung und dessen Haltungen sollten deutlich auf die zukünftige Übernahme der Handelsgeschäfte angelegt sein. So genoss ich doch eine gewisse Narrenfreiheit und die Lockerheit derjenigen Geschwister, denen die älteren bereits ein gutes Stück Weges freigekämpft hatten, sodass sie von den Schneisen profitieren konnten, welche diese in das Dickicht der bestehenden Regeln, Konventionen, Gebote und Verbote geschlagen hatten.

Latein und Griechisch machten mir keine Freude. Daher bin ich über eine Aufnahmeprüfung an die Handelsoberschule gewechselt. Dort gab es zwei, drei junge Lehrer, die mit uns Schülern überhaupt und auch außerhalb der Schule geredet haben. So haben wir einander allmählich in der Schule erkannt und gefunden. Einer von uns ist dann bald von der Schule geflogen, weil er anstatt eines Hausaufsatzes eine Seite aus seinem Tagebuch abgab, in welcher der Beischlaf mit einem Mädchen beschrieben war, und worüber der Lehrer der Schuldirektion Meldung machen zu müssen glaubte.

Viele Oberschüler und Studenten hatten Sommerjobs in- und außerhalb des Landes, die einen, weil sie damit ihr Studium bezahlen konnten, andere ganz einfach auch, um von zu Hause wegzukommen: in Obstgenossenschaften oder – weil sie mehr oder weniger zweisprachig waren – auf Campingplätzen an der Adria, als Kellner in Gastbetrieben und Hotels irgendwo in den Bergen, auch als Reiseleiter oder Zugbegleiter von Touristen deutscher Reiseunternehmen. Die den Zugbegleitern unmittelbar Vorgesetzten waren echte Schlägertypen, welche die Burschen bei der geringsten Unregelmäßigkeit unter Androhung von Prügeln aus dem Dienst warfen. Kein Wunder, dass einige kaum den ersten Jobsommer überlebten und rausflogen. Wer hält auch schon und für wie lange sechs aufeinanderfolgende Arbeitstage mit je etwa drei Stunden Schlaf durch, ohne dass der in den Zugabteilen servierte Frühstückskaffee sich anstatt in die Tasse in den Ausschnitt einer Urlauberin ergießt, ohne dass die Koffer, anstatt in Rijeka zu landen, in Puttgarden auf dem Bahnsteig stehen bleiben, oder dass einer einfach beim falschen Mädchen, am falschen Ort und zur falschen Zeit einschläft. So schreibt Bernhard an Max:

Hamburg, 19. 7.

Hundemüde. Bin in den vergangenen zehn Tagen rund 14.000 km gefahren. Ich habe heute das Programm der Studientagung der Südtiroler Hochschüler erhalten. Wäre gerne dabei gewesen, muss aber bis etwa zum 20. Oktober hier arbeiten. Sehr vermisse ich hier den guten Tropfen. Heimweh habe ich eigentlich in all den Jahren, die ich von zu Hause weg bin, nicht gehabt. Heuer aber musste ich sehr häufig an die Heimat denken. Besonders häufig ertappe ich mich dabei, wenn ich nachts Wache habe. Da hilft dir dann das Geschwätz mit Kollegen und immer wieder über dasselbe, über die Weiber, die Fahrten, das Trinkgeld, den Suff, auch nicht so recht.

Arbeit kann nicht alles sein. Doch sind auch Gedanken oft unbequeme Gäste. Und mit Alkohol nachhelfen nützt nicht viel. Meine Mutter kann ich auch nicht zurate ziehen, die Umwelt hat einiges dazu beigetragen, dass sie es bis heute nicht geschafft hat, mit sich zurande zu kommen. Genug davon.

Du meintest in unserem Gespräch in Malcesine, du hättest für dich selbst überhaupt keine Zeit. Ich erfahre jetzt: Je mehr einer Zeit für sich, fürs Nachdenken hat, desto schlechter geht’s ihm. Morgen geht’s wieder los: Hamburg–Kufstein, Hamburg–Venedig, Hamburg–Schruns, Hamburg–Imperia und dann wieder Rijeka. Bernhard

P.S.: Wollte noch sagen: Ich freue mich über jede Post, die da ist, immer wenn ich von einer Fahrt zurück bin.

Und Stefan, von unterwegs, ohne Datum:

Mein Magen ist voll, der Kopf schwer, die Welt schlecht, die Arbeit hart, ich bin stuff, „warte nur balde …“ und eine Schwierigkeit habe ich: nach kaum zehnminütigem Gespräch mit einem Mädchen zu schmusen und zu vögeln. Im Wege stehen das Gute, das Wahre, das Schöne und ich. Es bleibt nur der Suff, uff. Stefan

Nochmals Bernhard an Max, diesmal aus Imperia, am 14. 8.:

Überlege dir gut, ob du im nächsten Sommer tatsächlich auf die Züge willst. In Hamburg ist es schön, wenn du nicht Geld sparen musst für den Winter, wo ich an der Uni sein möchte. Sicher ist: Du kehrst mit irgendeinem gesundheitlichen Schaden von dort zurück. Diese Lebensweise hält kein normaler Mensch durch. Gegen Anfang August wurde ich so müde, dass ich den Job um ein Haar an den Nagel gehängt hätte; ich entschloss mich, eine Fahrt zu schwänzen. Ich schaffte es nicht mehr. Mein physisches und psychisches Gleichgewicht waren gestört.

Wie geht es mit deiner Arbeit? Und schreib was für unsere Zeitung. Dank deiner Mutter für die nette Bewirtung damals. Wenn meine Mutter und ich im nächsten Frühjahr eine neue Wohnung bekommen sollten, dann kann ich auch einmal einladen. Bernhard

Und aus Rijeka, am 22. 10.:

Der Ton in deinem Brief lässt vermuten, dass dir wieder einmal jemand die Eier zertreten hat, oder du hast dir einfach zu viel aufgehalst: Studium und Arbeit und politische Ambitionen, auch sexuelle Exkursionen? Ich verstehe nicht, warum der Mensch immer Menschen liebt, die ihn nicht lieben – damit ist wohl alles gesagt.

Bis bald, Bernhard

Max weiß offenbar auch nicht recht, was raten, und antwortet: