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Titelseite

 

Für Clarki

Schön, dass es dich gibt

PROLOG

Ich habe es getan. Sie versenkt in die Unergründlichkeit des Moores.

Ich gehe schneller, der Gedanke an ihren toten, bleichen Körper verfolgt mich. Ich zittere. Ihr verächtliches Lachen hallt in meinen Ohren.

Hastig laufe ich los. Es ist dunkel und ich erkenne den Weg nicht mehr, höre nur ihr grausames Lachen. Hahaha … Schau dich an, du Witzfigur … stehst hier und weißt nicht, was du tun sollst … Hahaha …

Wo bin ich? Zurückgelaufen? Im Kreis gegangen? Alles sieht gleich aus im Strahl der Taschenlampe. Blätter, Äste, Morast. Dunkelheit. Ich muss aufpassen, wo ich hintrete. Das Moor ist tückisch.

Ich bleibe stehen. Schließe meine Augen. Alles um mich herum dreht sich. Wie ein Echo ihre Stimme, die einfach nicht verstummen will. Ich halte mir die Ohren zu, doch das Lachen steckt in meinem Kopf fest.

»Was willst du?«, brülle ich in die Nacht. »Du bist selbst schuld!«

Das Lachen verstummt. Erst bin ich erleichtert, doch ein paar Herzschläge später halte ich die plötzliche Stille nicht mehr aus.

»Du hättest nicht sterben müssen«, flüstere ich und Tränen laufen über mein Gesicht. »Du bist selber schuld.«

Der Schrei eines Käuzchens schreckt mich auf. Ich öffne die Augen. Du musst klar denken, konzentrier dich! Das Einzige, was jetzt zählt, ist, die Situation im Griff zu behalten. Keine weiteren Fehler zu machen. Mit dem Ärmel meiner Jeansjacke wische ich mir die Tränen vom Gesicht. Der raue Stoff schabt über meine Haut und sofort ist das schreckliche Bild zurück. Die weit aufgerissenen Augen. Das Entsetzen darin. Ich versuche, die Bilder zu verdrängen, blicke konzentriert in den dunklen Wald. Doch ihre Augen starren mich noch immer an, sie scheinen überall zu sein. Anklagend. Ungläubig.

Wieder höre ich ihre Stimme. Zischend und leise wie eine Viper. »Mörder«, raunt sie.

»Ich bin kein Mörder! Du bist selbst schuld!«, rufe ich in die nächtliche Stille, wiederhole es wie ein Mantra. »Es ist deine eigene Schuld! Hörst du? Du ganz allein bist schuld daran!« Ich spüre die Wut, die in mir brodelt wie Lava, kurz bevor der Vulkan sein Innerstes ausspuckt.

Was, wenn man sie findet? Wenn ihre Spuren zu mir führen? Wenn man mich vor Gericht stellt? Verurteilt. Wegsperrt wie einen Verbrecher.

Dann hätte sie gewonnen.

Mein Leben wäre zerstört. Wieder zerstört.

Endgültig, dieses Mal. So endgültig wie ihr Tod.

Mit aller Kraft trete ich gegen einen Baum, stöhne auf, als der Schmerz durch mein Bein schießt. Dann wird mir schlecht. Ich muss mich übergeben. Erschöpft sinke ich auf den Waldboden und gönne mir eine Pause. Atme stoßweise die würzige Waldluft ein. Spüre die Erde unter meinen Händen. Sehe die Sterne über mir. Und mit einem Mal bin ich ganz ruhig.

Sie wird nicht gewinnen, weil ich sie nicht gewinnen lasse.

Dieses Leben gehört mir.

Ich werde es mir von ihr nicht mehr kaputt machen lassen. Und ich werde alles dafür tun, dass das Grab im Moor immer unser Geheimnis bleiben wird.

Es ist spät. Ich muss aufstehen und weiterlaufen. Schwankend komme ich auf die Beine und versuche, mich an den Sternen zu orientieren – Osten, ich muss Richtung Osten gehen. Wenn ich erst auf der Straße bin, wird alles gut. Ich zähle meine Schritte und immer, wenn ich bei fünfzig bin, überprüfe ich die Himmelsrichtung.

Es ist mühsam, im Dunkeln den Weg durch Morast und Dickicht zu finden. Endlich stolpere ich auf die Straße, weit entfernt vom Auto, aber das stört mich nicht. Es läuft sich leicht auf Asphalt.

DONNERSTAG, 3. MÄRZ

Das Stimmengewirr in der überfüllten Cantina legte sich wie ein Vlies über das Schweigen, das sich in den letzten Minuten zwischen den Freundinnen ausgebreitet hatte. Jana sah, wie es in Ella arbeitete. Woran sie wohl dachte? Überlegte sie, ob sie später noch in einen der Klubs gehen sollte oder war sie in Gedanken schon wieder bei ihrem Theaterstück? Auf jeden Fall hatte sie bisher nicht gefragt, wie es Jana ging, jetzt, hier, bei ihrem ersten Besuch in der Cantina seit Marco … seit letztem Sommer. Dabei musste Ella ihre Nervosität genau gespürt haben, die verstohlenen Blicke, mit denen sie sich im Eingangsbereich umgesehen hatte – unsicher, wie sie reagieren sollte, falls sie ihn hier zufällig traf.

So vieles hatte sich verändert, seit sie das letzte Mal gemeinsam durch die Kultfabrik gezogen waren. Nicht die vibrierenden Bässe und rhythmischen Beats, die aus den Klubs von Europas größter Partyzone dröhnten; nein, die waren gleich geblieben und doch … Es war anders. Alles fühlte sich anders an, seit sie seinen Arm nicht mehr auf ihrer Schulter oder seine Hand an ihrer Hüfte spürte. Sie hatten an diesem Tisch gesessen. Jana erinnerte sich, als sei es gestern gewesen. Hungrig und vom Tanzen verschwitzt, waren sie die Stufen zur Cantina hochgestürmt, hatten sich auf die robuste Holzbank fallen lassen und begeistert festgestellt, dass Pasta-Abend war. Tortellini mit Käsesoße. Ella und sie hatten sich eine Portion geteilt, wie immer, wenn sie vor dem Heimweg noch einen Abstecher in die Cantina einlegten.

Eine Bedienung trug ein Tablett mit mehreren Tellern an ihr vorbei, der intensive Duft nach Käsesoße stieg ihr in die Nase. Lustlos tauchte sie den Löffel in ihre Tomatensuppe und verteilte den hellen Sahneklecks sternförmig über den Teller. Dann träufelte sie die Flüssigkeit auf eine dünne Weißbrotscheibe und beobachtete, wie das helle Brot sich vollsog, die weißen Fasern sich rot verfärbten und schließlich der Mittelteil aus der Scheibe brach, in den Suppenteller plumpste und dort versank.

»Kannst du mal aufhören damit?« Ella verzog ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. »So was hab ich mit fünf gemacht …«

»Das ist Kunst.« Jana fischte mit dem Löffel nach dem Brotklumpen und ließ ihn in ihrem Mund verschwinden. »Die Wandlungsfähigkeit eines Objekts in seiner abstrakten Form.«

Wieder schüttelte Ella den Kopf. »Also manchmal …«

»So lautet das Thema meiner Facharbeit. Die ist so blöd, die Sänger, findest du nicht? Du hattest sie doch auch mal. Wenn ich gewusst hätte, dass die den Leistungskurs nimmt …« Jana seufzte. »Montag nach den Ferien ist Abgabetermin. Und ich hab noch immer keine Ahnung, über was ich schreiben soll.«

»Glaub mir, die Lösung findest du nicht in der Tomatenpampe da.« Ella nahm einen Schluck von ihrem Bier. Niemand konnte so vornehm aus der Flasche trinken wie Ella. So natürlich vornehm. Alles an ihr wirkte natürlich vornehm: ihr Auftreten, ihre Sprache, ihre Kleidung. Wenn Ella zerrissene Jeans und ein verwaschenes T-Shirt trug, wirkte es wie der letzte Schrei aus einem Designerladen. Bei ihr selbst hingegen …

Jana beobachtete ihre Freundin und bemerkte, wie angespannt Ella war. Jetzt drehte sie bereits mindestens zum zehnten Mal ihren Kopf zur Tür, als warte sie auf jemanden. Ob sie ihr überhaupt zuhörte? Ärger begann in ihr aufzusteigen. Wenn Ella noch einmal den Kopf drehte, würde sie sie darauf ansprechen. Und diesmal würde sie sich nicht einfach so abspeisen lassen.

Jana verzichtete auf eine Wiederholung des Experiments und schob den Teller über den Tisch. »Fällt dir nichts ein? Irgendwas voll Absurdes oder so.«

Ella zog den Teller zu sich heran, nahm einen Löffel aus dem Bierkrug mit Besteck und fing an zu essen. »Für mich ist Kunstleistungskurs an und für sich absurd genug.«

Jana ignorierte Ellas Bemerkung. Sie wusste, dass ihre Freundin ihr Zeichentalent ebenso bewunderte wie sie Ellas Fähigkeit, auf einer Bühne in jede Rolle schlüpfen zu können. »Wenn du dir vorstellst, die Suppe wäre frisches Blut und das Brot … also das Brot wäre … zum Beispiel … ein Betttuch!« Jana tippte sich an die Stirn. »Jungfräuliches Blut und ein Betttuch! Die Verwandlung von Reinheit in …«

Ella legte den Löffel zur Seite und schob den Teller mit der Spitze ihres Zeigefingers zurück zu Jana. »Guten Appetit.«

Jana runzelte die Stirn. »Kennst du den Typ dahinten?« Sie neigte ihren Kopf nach rechts, um unauffällig auf einen Mann am Tresen zu deuten.

»Nein«, sagte Ella, ohne hinzusehen.

»Er scheint dich aber zu kennen …«

Ella folgte ihrer Bewegung. Der blonde Mann winkte ihr zu. Nein, er winkte Ella zu sich heran. Dabei zog er seine Augenbrauen in die Höhe, als wollte er ihr sagen, sie solle sich beeilen.

»Flüchtig.« Ella stand auf. »Ich schau kurz, was er will.«

Jana beobachtete, wie Ella an den einfachen Holztischen vorbei zu der mit farbigen Strahlern beleuchteten Bar aus Edelstahl ging und erst den Blonden und dann seine Freunde begrüßte, bevor sie sich locker an den Tresen lehnte. Ella war größer und mit ihren blonden Locken und dem ebenmäßig geschnittenen Gesicht hübscher als die anderen Frauen an der Theke. Wie so oft empfand Jana ein Gefühl von Stolz auf ihre beste Freundin.

Sie schätzte den Typen, mit dem Ella sprach, auf Ende zwanzig; die kurzen Haare waren sorgfältig gestylt und seine Klamotten verrieten, dass er Wert auf ein trendiges Aussehen legte. Automatisch fuhr sie mit dem Löffelstiel über die Tischdecke und skizzierte seine Gesichtszüge. Sie waren hart, wie die eines Menschen, der es gewohnt ist, anderen Befehle zu geben. Er schnippte mit den Fingern in Richtung Barkeeper und rief ihm etwas zu. Nur Augenblicke später hielt Ella eine Flasche in der Hand. Sie prostete den anderen zu und trank. Dann zog der Typ sie etwas zur Seite und redete auf sie ein. Ella nickte mehrmals und lachte dann laut, bevor sie antwortete. Ihr Gesprächspartner klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.

Verstohlen beobachtete Jana die Vertrautheit, die in dieser Geste lag, als wären die beiden seit Langem befreundet. Jana fühlte einen leichten Stich. Nachdenklich kaute sie an ihrer Unterlippe, während sie weiterhin ihre Freundin aus den Augenwinkeln musterte. Verheimlichte Ella etwas vor ihr? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Vielleicht war dieser Typ ja der neue Nachbar, bei dem sie vor ein paar Wochen die halbe Nacht Wodka-Cola getrunken hatte – mit der Folge, dass sie am nächsten Tag die Geschichtsklausur vermasselte, wegen der sie zum zweiten Mal in dem Fach unter die Fünf-Punkte-Hürde gerutscht war.

Jana seufzte und spielte mit dem Rest der kalten Tomatensuppe. Die Wandlungsfähigkeit eines Objektes … Was für ein Blödsinn! Die Sänger schaffte es noch, ihr den Spaß am Zeichnen zu verderben. Dabei war sie gut darin, besser als alle anderen in ihrem Kurs, das gab sogar die Sänger zu, obwohl die nicht einmal wusste, dass Jana nie ohne ihren Zeichenblock das Haus verließ.

Wieder blickte sie zu Ella. Sie schien sie völlig vergessen zu haben. Angeregt unterhielt sie sich inzwischen mit mehreren Leuten und trank dabei ihr Bier in kleinen Schlucken.

 Jana schüttelte verärgert den Kopf. Wie lange saß sie jetzt schon allein hier am Tisch? Fünf Minuten? Zehn? Würde sie Ella einfach so links liegen lassen? Wie ein altes Brötchen, das zum Knödelmachen noch gut genug ist, aber nicht für die Nutella zum Frühstück? Sie knallte den Löffel auf den Tisch, dass die Suppenreste darauf nach allen Seiten spritzten.

»Super«, murmelte sie und betrachtete die kleinen roten Sprenkel auf ihrem blau-weiß gestreiften Pullover. Sie tauchte die Spitze der Serviette in den letzten Rest ihres Mineralwassers und rieb hektisch über die Flecken, die sich jedoch nur vergrößerten.

»Tomatenflecken? Autsch.« Ellas Stimme schreckte sie auf.

Jana ließ die Serviette sinken. »Wer war das?«

Ella winkte ab. »Ach, niemand.« Sie nahm ihr die Serviette aus der Hand. »So wird das nichts. Du brauchst mehr Wasser.«

Dann ging sie zum Nebentisch. »Darf ich? Notfall.« Ohne auf eine Antwort zu warten, versenkte sie die Serviette im Mineralwasser eines unbekannten Typen. Jana schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Wie peinlich war das denn? Ella kniete sich neben sie und presste die Serviette auf Janas Pullover.

»Niemand?« Jana spürte das kühle Nass auf ihrer Haut, als Ella die Flecken bearbeitete. Endlich legte Ella die Serviette auf den Tisch und setzte sich auf ihren Stuhl.

»Niemand Wichtiges.« Sie prüfte den Inhalt ihrer Bierflasche und nahm einen Schluck. »Und, was machst du in den Ferien?«

Jana zupfte den feuchten Pullover von ihrer Haut und hielt ihn ein paar Zentimeter auf Abstand. »Ich fliege zu meinem Vater. Bis Dienstag.« Bei dem Gedanken an die bevorstehenden Tage in Berlin lächelte sie unwillkürlich.

»Cool. Du warst seit Weihnachten nicht mehr dort, oder?«

Jana nickte. »Seit Neujahr.«

Sie sah Ella an und bemerkte den Anflug von Traurigkeit in ihrem Blick. Ob sie ihre Eltern vermisste? Sie waren jetzt seit vier Monaten auf Weltreise und Ella hatte sich in der Zeit verändert. Sie war ernster geworden. Irgendwie erwachsener. Hatte die Unbekümmertheit verloren, mit der sie früher jedes Problem vom Tisch fegte. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, sie nach Berlin einzuladen.

»Und du? Was sind deine Pläne? Möchtest du …?«

»Büffeln. Chemie …« Ella schnitt eine Grimasse. »Scheißwahl für einen Leistungskurs, echt, sei froh, dass du dich nicht mit Elektronen rumärgern musst, die in jedem bekloppten Benzolring woanders hinklappen … Und meine Rolle sitzt noch nicht. Am Sonntag treffe ich vor der Probe Roman, er hat sich bereit erklärt, mit mir zu üben. Ich hinke total hinterher und in drei Wochen ist Premiere, das weißt du doch.«

Jana nickte stumm. Ja, das wusste sie. Wahrscheinlich wusste das jeder, der Ella kannte.

Schon von Weitem sah Jana aus dem einzigen über und über mit Efeu bewachsenen Reihenhaus Licht schimmern. Die kleinen identischen Häuser waren alle baugleich geschnitten und unterschieden sich nur in der Wandfarbe. Jana liebte das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester lebte. Gerade wegen des Efeus und weil es klein und verwinkelt war, mit einem winzigen Garten, dessen überwucherte Rosenbogen und außer Kontrolle geratenen Büsche etwas Verwunschenes hatten, als gehörten sie zu Dornröschens Schlossgarten.

Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. Fünf nach elf. Fünf Minuten zu spät. Sie beschleunigte ihren Schritt. Ob Miriam schon zurück war? Oder war ihre Mutter noch auf? Sie nahm die drei Stufen zur Haustür auf einmal und sperrte sie auf.

Kaum hatte Jana den Flur betreten, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Jana?«

Hoffentlich machte ihre Mutter wegen der fünf Minuten kein Theater. Lustlos steckte Jana den Kopf durch die Küchentür. Ihre Mutter fischte mit einem Löffel den Teebeutel aus einer dampfenden Tasse, wickelte die Schnur um den Beutel und drückte ihn aus.

»Warum bist du noch auf?«, fragte Jana und sog den vertrauten Geruch der Küche ein, einen Mix aus Gewürzen, altem Holz und Spülmittel mit Zitrusaroma. »Ich dachte, du hast Frühschicht?«

Die Mutter lächelte sie an. »Trinkst du eine Tasse Tee mit mir?«

Jana nickte erleichtert. Offensichtlich war sie nicht sauer. Und die Momente, in denen sie ihre Mutter ganz allein für sich hatte, waren rar. Jana setzte sich auf die knarzende Eckbank. Die Küche war alt, vor allem die Holzschränke hatten unzählige Kratzer und Verfärbungen und dennoch liebte Jana diesen Raum, das Herzstück des Hauses und Zeuge aller wichtigen Familienratssitzungen.

»Und, wie war dein Abend?« Die Mutter stellte Jana eine Tasse Tee hin und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder. Sie sah müde aus. Das Blau ihrer Augen wirkte stumpf, ihre blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Dutt zusammengefasst und mit einer Klammer am Hinterkopf befestigt.

»Ganz okay.«

»Geht’s dir gut?« Der Blick ihrer Mutter war prüfend, fast besorgt.

»Ja sicher, warum soll es mir nicht gut gehen?« Was hatte ihre Mutter nun schon wieder?

»Ich frage nur. Hat Ella mit dir über Marco gesprochen?«

»Mama!«, stöhnte Jana auf. »Ich war mit Ella in der Kultfabrik und wir hatten Spaß. Okay?«

Der Blick ihrer Mutter sagte ihr, dass sie ihr nicht glaubte.

»Das mit Marco ist fast ein Dreivierteljahr her«, versuchte Jana abzuwiegeln, auch wenn das nagende Gefühl in ihrer Magengrube etwas anderes behauptete. »Er ist Geschichte.«

Schweigen breitete sich aus. Jana rührte einen Löffel Zucker in ihren Tee. Ärgerlich musste sie sich eingestehen, dass ihre Mutter ins Schwarze getroffen hatte. Ella hatte Marco nicht mit einer Silbe erwähnt. Nicht ein einziges Mal. Dabei hätte ein Scherz auf seine Kosten gereicht, um Jana zu zeigen, dass sie wusste, wie schwer es für sie war, an diesen Ort zurückzugehen, der so aufgeladen war mit Erinnerungen; die erste Umarmung, der erste Kuss …

»Wie lange seid Ella und du jetzt befreundet?«

»Vierzehn Jahre. Seit dem ersten Tag im Kindergarten, das weißt du doch.«

Die Mutter nickte bedächtig. »Ja. Ich erinnere mich. Sie hat dich mit Sandkuchen gefüttert, weil du so geweint hast. Du hattest noch Tage später Sandkörner zwischen den Zähnen.«

»Oje, wie schrecklich!« Unwillkürlich entfuhr Jana ein Kichern. »Wenn nicht irgendwann die Kindergärtnerin eingeschritten wäre, hätte ich den gesamten Sandkasten leer gegessen.« Nie würde sie ihre erste Begegnung mit Ella vergessen. Sie heulend, allein inmitten der fremden Gesichter, Ella strahlend, mit langen blonden Haaren und einem rosa Kleidchen mit weißen Rüschen. Es war Ella gewesen, die sie an der Hand genommen und zum Sandkasten geführt hatte, um ihr dort Sandkuchen zu backen. Es war eine ihrer ersten Erinnerungen.

»Du hast sie gern, nicht wahr?«

»Was ist denn das für eine Frage? Sie ist meine beste Freundin.« Jana kam das Gespräch auf einmal merkwürdig vor. Ihre Mutter wusste doch, dass Ella für sie wie eine zweite Schwester war. Sie hatten so viel Zeit gemeinsam verbracht, dass Ella quasi zur Familie gehörte.

»So etwas kann sich ändern«, antwortete die Mutter. »Und das ist auch in Ordnung so. Die wenigsten Kindergartenfreunde behält man ein Leben lang. Beste Freundinnen kommen und gehen.«

»Mag sein, aber nicht Ella …« Jana trank einen Schluck Tee. Nicht Ella, wiederholte sie in Gedanken. Es wäre unvorstellbar, sie nicht mehr zur Freundin zu haben. Es gab kaum etwas in ihrem Leben, das sie nicht mit Ella geteilt hatte, selbst den Schmerz, als die Eltern sich hatten scheiden lassen. »Wunderst du dich, weil sie in letzter Zeit so selten bei uns ist?«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Ich würde mich wundern, wenn sie noch immer so oft hier wäre. Schließlich hat sie jetzt eine eigene Wohnung.«

»Was soll das Gerede dann?« Jana schob genervt die Teetasse von sich. Im selben Moment tat ihr der gereizte Tonfall leid. Was konnte ihre Mutter dafür, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte? Jana hatte in letzter Zeit tatsächlich den Eindruck, dass Ella sich immer mehr abkapselte, so wie heute Abend in der Cantina, als sie Jana einfach hatte sitzen lassen, während sie mit einem Typen Bier trank, von dem sie Jana nicht einmal sagen wollte, wer er war.

Jana musterte ihre Mutter und plötzlich glaubte sie zu wissen, was ihr eigentlich auf der Seele lag. Vielleicht hatte es sie gekränkt, als sie ihr heute früh von dem Wochenende vorgeschwärmt hatte, das Vater und Berit mit ihr planten? Jana zögerte einen Moment, dann gab sie sich einen Ruck. »Denkst du an Berit?«

»Ich hätte für Berit meine Hand ins Feuer gelegt.«

Jana biss sich auf die Unterlippe. Verletzte es ihre Mutter noch immer, dass sie gern dort Zeit verbrachte? War sie noch immer eifersüchtig auf Berit? Die ehemals beste Freundin, bis diese sich in Vater und Vater sich in sie verliebte und die heile Familie zerbarst wie eine Glaskugel, die in einem unachtsamen Augenblick über die Kante eines Tisches rollt und auf dem Boden zerschellt.

»Hast du ihr noch immer nicht verziehen? Das ist jetzt acht Jahre her! Papa und sie sind echt happy zusammen. Ich habe sie jedenfalls noch nie streiten hören, im Gegensatz zu …«

»… zu deinem Vater und mir. Ja, ich weiß.« Die Mutter griff nach Janas Hand. »Aber darum geht es nicht. Ich wollte nur sagen, wenn eine Freundschaft mal zerbricht, dann ist das nur das Ende der Freundschaft, nicht das Ende der Welt.«

Die Worte ihrer Mutter trafen sie wie ein Schlag. So weit würde sie es nicht kommen lassen. Nicht bei ihr und Ella, das würde sie verhindern. Sie trank einen letzten Schluck Tee und stand auf.

»Ich weiß, Mama«, murmelte sie und küsste sie flüchtig auf die Wange. »Gute Nacht.«

Nachdenklich stieg sie die Treppen nach oben. War ihre Enttäuschung über Ellas Verhalten so offensichtlich, dass ihre Mutter es ihr angemerkt hatte? Sie ballte die Fäuste. Nein! Auch wenn es in letzter Zeit zwischen ihr und Ella anders war als sonst, würde ihre Freundschaft nicht in die Brüche gehen – weil sie darum kämpfen würde.

DIENSTAG, 8. MÄRZ

»Ihr Handy ist aus.« Die Akustik des leeren Gemeindesaals verlieh Janas Worten einen unheimlichen Hall. Sie stieß sich mit den Händen von dem Tisch ab, den sie in die Mitte des Raumes gestellt hatte, um einen perfekten Blick zu haben. Jana ging zur Bühne und blieb dort stehen. »Und bei ihr zu Hause geht nur der Anrufbeantworter ran.«

Sie blickte von Fabian zu Roman und wieder zu Fabian, der die Mütze, die er meist auf seinen hellbraunen Stoppelhaaren trug, lässig um einen Finger kreisen ließ. Fabian war ganz in den Text des Stückes vertieft, das sie mit Ella proben sollten. Wie immer verbreitete er eine Aura der Gelassenheit, als stünde die Welt auf seinen Befehl jederzeit still, damit man alles, was man zu erledigen vergessen hatte, in aller Ruhe nachholen konnte, bevor es zu spät war. Es war diese Ruhe, die sie von Anfang an bewundert hatte und die sich inzwischen sogar auf sie übertrug, wenn sie hektisch wurde, weil ihr bei einer Klausur oder im Bus beim Hausaufgabenmachen die Zeit zwischen den Fingern zerrann.

Roman dagegen saß unbeteiligt am Rand der kleinen Bühne und baumelte gelangweilt mit den Beinen. Sein Gesicht war wie gemeißelt. Eine perfekte Büste mit völlig ebenmäßigen Zügen, geheimnisvollen braunen Augen, einer geraden Nase und einem sinnlichen Mund, das Ganze umrahmt von dunkelbraunen Engelslocken. Er sah aus, als hätten seine Eltern bei seinen Erbanlagen getrickst, um sich für ihr Kind das Abbild eines raffaelischen Engels zu erkaufen. Kein Wunder, dass Ella sich in der Schauspielschule sofort mit ihm angefreundet hatte.

»Meint ihr, sie hatte einen Unfall?«, fragte Jana.

»Mit der U-Bahn?« Fabian zog eine Augenbraue hoch, als wollte er andeuten, dass Janas Frage völlig absurd sei.

Jana zog ihren Pullover ein Stück zurück und sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist zwanzig vor acht.«

Um neun mussten sie den Schlüssel für den Gemeindesaal abgeben. Bis dahin konnten sie die Bühne nutzen. Falls Ella kam. Jana merkte, wie sie langsam ungeduldig wurde, schließlich waren sie wegen Ella hier. Natürlich auch wegen Roman, der gemeinsam mit Ella in dem Theaterstück auftrat. Aber Roman hätte Fabian und sie nie gebeten, mit ihm zu üben, im Gegensatz zu Ella, die sie alle hierher bestellt hatte und jetzt wie eine Diva auf sich warten ließ. »Sie ist schon über eine halbe Stunde zu spät. Ich schlage vor, wir warten noch fünf Minuten, dann gehen wir.«

Jana stieg die Treppe zur Bühne hoch und stolperte auf der letzten Stufe. An der Bühnenkante schlug sie sich ihr Schienbein an und fiel der Länge nach auf die staubigen Holzbohlen. Fluchend rappelte sie sich auf und sah sich verstohlen nach Fabian und Roman um. Fabian rollte mit den Augen und verzog das Gesicht zu seiner Nicht-schon-wieder-Grimasse, während Roman ihren Sturz anscheinend gar nicht bemerkt hatte. Sie streckte Fabian die Zunge heraus und humpelte zu dem Spiegel, der an der Seite der Bühne hing. Dort zog sie einen Haargummi aus ihrer Hosentasche und flocht ihre rote Mähne zu einem lockeren Zopf.

Früher hatte sie Ella um ihre blonden Haare beneidet, doch inzwischen sah sie ein, dass die roten Haare viel besser zu ihren grünen Augen und den Sommersprossen passten. Wenn nur ihre Lippen etwas voller wären und ihre Nase größer. Im Hintergrund hörte sie, wie Fabian den Theatertext laut rezitierte. Ella trieb es wirklich auf die Spitze. Jana nahm ihr Handy und rief Ellas letzte Mitteilung auf: Vergiss nicht, morgen um 7, Gemeindesaal. Muss dir was erzählen. Ella

Sieben Uhr. Gemeindesaal. Jana spürte, wie ihre Ungeduld in Ärger umschlug. Sie bückte sich und rieb ihr schmerzendes Schienbein. Wenn Ella dachte, sie würden hier ewig warten, hatte sie sich getäuscht. Jana drehte sich abrupt um und ging zu Roman, der noch immer wortlos auf der Bühnenkante saß. Seine langen Beine schlenkerten knapp über dem Boden, seine Schultern hingen nach unten. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, doch es war ausdruckslos, die braunen Augen blickten starr auf seine Füße, der Mund bewegte sich gleichmäßig. Marco hatte auch immer einen Kaugummi im Mund gehabt. Jana trat einen Schritt näher an Roman heran. Ganz leicht nahm sie den frischen Duft nach Minze wahr und wünschte sich, Marco säße hier und würde sie gleich in seine Arme schließen und seinen leicht geöffneten Mund auf ihre Lippen pressen. Der Gedanke erzeugte in ihr ein wohliges Schaudern, dabei wusste sie, dass dies nie wieder passieren würde. Sie verscheuchte ihre Erinnerungen an Marco, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt, und tippte Roman auf die Schulter.

»Wie lief es denn am Sonntag?«

Roman sah Jana überrascht an. »Sonntag?«

»Da wart ihr doch bei der Probe, oder?« Sie ließ sich neben ihm nieder, schob die Jeans etwas nach oben und betrachtete die Schramme am Schienbein. »Zumindest hatte Ella das vor.«

»Ja … klar, waren wir.« Er richtete sich auf und warf mit einer raschen Kopfbewegung die dunklen Locken aus dem Gesicht. »Lief gut.«

»Sollen wir ohne Ella anfangen? Ich könnte ihre Rolle lesen, wenn du willst. Fabian spielt den Bruder.«

»Ne. Danke. Passt schon.« Romans Rücken wurde wieder rund und er konzentrierte sich erneut auf seine Füße.

»Sicher? Wir machen das gern für dich.«

»Ne, echt, passt schon. Aber danke.« Er hörte einen Moment auf, mit den Beinen zu baumeln, als wollte er aufstehen. »Ihr könnt ja schon gehen, ich warte noch ein paar Minuten.«

»Wie du meinst.« Jana zuckte mit den Schultern, dann zog sie ihr Handy aus der Jackentasche und rief bei sich zu Hause an.

»Miriam Rosenthal.«

»Hi, Miriam, hat Ella bei uns angerufen?«

»Nein, warum?«, fragte Miriam gedehnt.

»Wir warten jetzt schon über eine halbe Stunde auf …«

»Typisch!«, regte Miriam sich auf. »Wenn ich du wäre, würde ich nicht länger auf sie warten. Die hat sicher was Besseres vor und hält es noch nicht mal für nötig, dir Bescheid zu geben.«

»Spinnst du?« Jana sah das Gesicht ihrer Schwester vor sich, die sanften Augen, die vollen Lippen, die meist ein freundliches Lächeln umspielte, wenn sie mit einem sprach. »Welche Laus ist dir denn heute über die Leber gelaufen?«

»Merkst du nicht, dass sie dich ausnützt? Du bist doch nur ihr Depp fürs Grobe. Echt, Jana, es wird Zeit, dass du mal die Augen aufmachst und kapierst, was abgeht.«

»Hab ich irgendwas versäumt? Du redest über meine beste Freundin!« Jana schüttelte den Kopf. Was war nur in ihre Schwester gefahren? »Außerdem lasse ich mich von niemandem zum Deppen machen, danke.«

Sie hörte Miriam seufzen, ihr typisches Deine-große-Schwester-weiß-es-besser-Seufzen. »Wie du meinst, ist eh deine Sache.«

»Richtig«, erwiderte Jana wütend und beendete das Gespräch.

Roman musterte sie neugierig. »Und?«

»Nichts. Keine Nachricht.« Jana versuchte, ihren Ärger über Ella und Miriam hinunterzuschlucken und winkte Fabian zu sich. Er schlenderte mit dem ihm eigenen, betont lässigen Gang zu ihr und setzte sich neben sie. Sofort fühlte Jana sich winzig, wie immer, wenn Fabian direkt neben ihr stand oder saß.

»Kommt sie?«

»Keine Ahnung. Ich habe nicht mit ihr geredet. Das war meine Schwester.«

»Komisch, dass sie nicht anruft.« Fabian schob seine Mütze nach oben und kratzte sich an der Stirn. »Irgendwie passt das nicht zu ihr.«

»Vielleicht ist sie eingeschlafen«, sagte Roman. »Ihr wisst, wie oft sie beim Lernen einfach einpennt.«

Jana sprang von der Bühne und ging zu dem Tisch im Zuschauerraum zurück. Dort packte sie ihren Skizzenblock, riss ein Blatt heraus, schrieb Sind im Dorian darauf und befestigte zwei Streifen Klebeband am oberen Seitenrand. Dann verstaute sie den Block in ihrer Umhängetasche, nahm das Blatt und kehrte zu den anderen zurück.

»Dann kann sie ja nachkommen, wenn sie aufwacht.«

Wortlos liefen Jana und Fabian die hell beleuchtete Straße entlang bis zur Kreuzung. Obwohl es bereits nach elf Uhr war, stauten sich an der Ampel die Autos. Jana sah die Häuserfassaden hoch und fragte sich, ob man hier wohl bei offenem Fenster schlafen konnte. Ihr Blick schweifte weiter nach oben und verweilte bei dem Abendhimmel. Er war sternenklar. Laut Wettervorhersage sollte es die ganze Woche schön bleiben. Jana überlegte, ob sie morgen in den Forstenrieder Park zum Zeichnen gehen sollte. Wenn sie ganz ruhig saß, konnte sie Vögel, Eichhörnchen, Waldmäuse und unzählige Insekten dabei beobachten, wie sie sich bewegten und fraßen. Wenn da nur nicht die Wildschweine wären. Seit Spaziergänger angegriffen und schwer verletzt worden waren, warnten überall im Park große Plakate vor ihnen. Sie erinnerte sich daran, wie viel Angst sie letzte Woche gehabt hatte, als sie beim Joggen zu nah an einer Rotte vorbeigelaufen war und die Aufmerksamkeit der Borstentiere geweckt hatte. Die Ampel schaltete auf Grün und sie gingen weiter.

»Hörst du mir eigentlich zu?« Fabian stupste sie in die Seite. »Ich habe dich was gefragt.«

»Äh, ja, nein. Entschuldige, ich war mit den Gedanken woanders.«

»Hat Ella einen guten Draht zu ihren Eltern?«

»Nicht wirklich. Früher hatte Ella ziemlich viel Stress zu Hause, deshalb war sie auch immer bei uns. Die letzten Jahre war es ein bisschen besser, aber kurz bevor ihre Eltern auf Weltreise sind, haben sie sich so gezofft, dass die Eltern sich nicht mal verabschiedet haben. Sie haben sogar gedroht, sie zu enterben.« Jana sah Fabian an. »Warum fragst du?«

»Du hast vorhin das Haus beschrieben, in dem Ella aufgewachsen ist. Das muss der Hammer sein. Wie war das noch mal? Tiefgarage mit Aufzug, Pool im Keller, vier Meter hohe Galerie, eigenes Badezimmer aus Marmor … Krass. Nichts gegen euer Haus, aber, hey, Swimmingpool im Keller? Warum war sie immer bei euch?«

Jana blieb stehen und kramte in ihrer Tasche. »Wegen ihrer Mutter. Die dachte, Ella sei eine Puppe, die man schön anzieht und dann ausstellt. Und immer diese Tussen zum Kaffeekränzchen – aufgeblasene Münchner Schickeria. Echt ätzend. Und dann musste man schön leise sein und sich gut benehmen.« Jana ahmte die Stimme von Ellas Mutter nach. »Krümel nicht, plansch nicht, lauf nicht barfuß, spring nicht ins Becken …«

Fabian lachte. »Und deine Mutter ist anders drauf?«

»Schon. Die ist ganz okay.« Jana zog ein Päckchen Mentos aus der Tasche und bot Fabian eines an. Gemächlich setzte sie sich wieder in Bewegung. »Außerdem war sie nach der Scheidung oft nicht da und dann konnten wir sowieso tun und lassen, was wir wollten.«

»Sie hat euch allein gelassen?« Fabian schob das Mentos von einer Backe zur anderen.

»Was hätte sie sonst tun sollen? Sie musste schließlich arbeiten. Und als Krankenschwester verdient man nicht so viel, dass man sich ein Kindermädchen leisten kann. Da hätte sie gleich daheimbleiben können. Außerdem hat ja Miriam aufgepasst.«

»Miriam, die Vernünftige«, kommentierte Fabian.

»Du meinst, Miriam, die Spielverderberin«, korrigierte Jana.

»Ansichtssache.« Fabian kickte eine Blechdose über den Gehweg. »Ich muss auch immer auf meine Brüder aufpassen. Du glaubst nicht, wie das nervt. Und wenn was passiert, bin ich der Depp.«

Jana musterte Fabian. War sie ihrer Schwester gegenüber ungerecht? Vielleicht, aber Fabian war mit seinen Brüdern sicher lockerer als Miriam mit ihr, und wenn er der große Aufpasser war, wusste er auch nicht, wie es sich anfühlte, wenn die Mutter sich mit der großen, vernünftigen Schwester verbündete und über einen sprach, als sei man ein kleines Kind, obwohl man gerade mal zwei Jahre jünger war. Komisch, sie hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Fabian zu Hause der große Bruder war, für sie war er immer … ja, was eigentlich? Sie kannten sich ja erst seit September, seit sie die elfte Klasse wiederholte und in Englisch neben ihm saß. Unglaublich, dass sie sich anfangs überlegen gefühlt hatte, irgendwie erwachsener, reifer, dabei waren sie fast gleich alt. Jetzt wusste sie, dass sie weder erwachsener noch reifer, sondern mit Fabian auf einer Wellenlänge war. Sie verstanden sich ohne Worte und verbrachten fast alle Pausen gemeinsam, manchmal mit den anderen, manchmal nur sie beide, so wie früher mit Ella, bevor sie die Schule gewechselt hatte.

»Hast du den Blick von Roman bemerkt, als ich über Ella rumgewitzelt habe?« Fabians Frage riss sie aus ihren Gedanken. »Vor allem die Anspielungen mit dem Lover aus der Filmbranche. Meinst du, die haben was miteinander?«

Jana zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.« Roman und Ella? Vielleicht war Roman in Ella verschossen. Das würde sie nicht wundern, schließlich waren die meisten Jungs in sie verknallt, aber umgekehrt sicher nicht. Das wüsste sie. Das hätte Ella ihr längst anvertraut, so wie sie seit Grundschulzeiten alle ihre Liebesgeheimnisse miteinander teilten. »Mich hat eher gewundert, dass er so cool geblieben ist. Ich meine, immerhin war es auch seine Probe. Und es geht schließlich nicht um irgendeine Schulaufführung, sondern um echtes Theater mit richtigen Profis. Ich weiß noch, wie Ella um die Rolle gekämpft hat.«

»Stimmt. Er war als Einziger nicht verärgert. Entweder Roman ist so cool oder er ist dermaßen verknallt, dass er ihr alles verzeiht.« Fabian blieb stehen. »Wo willst du hin? Zur U-Bahn geht es hier entlang.«

»Komm, lass uns noch schnell bei Ella vorbeischauen. Sie wohnt hier ganz in der Nähe.«

»Wozu?« Fabian blickte sie fragend an.

»Ich hoffe, dass Roman recht hat und sie einfach eingepennt ist. Das ist ihr schon mal passiert. Wir haben sie damals rausgeläutet, erinnerst du dich?«

Fabian nickte. »Aber die Probe ist vorbei, was willst du jetzt noch?«

»Ich möchte wissen, was los ist.« Jana verstummte. Dass Ella sich verändert hatte, war unbestreitbar, aber sie wollte nicht glauben, dass ihre Freundin sie bewusst versetzen würde.

»Na gut, aber wenn sie nicht da ist, klappern wir nicht alle Kneipen nach ihr ab. Versprochen?«

»Versprochen.«

Schweigend liefen sie den Gehweg entlang und bogen in die nächste Seitenstraße ab. Je näher sie Ellas Wohnung kamen, desto stärker wuchs in Jana eine Mischung aus Sorge, Ärger und Hoffnung, die ihre Schritte immer schneller werden ließ.

»Woher kennen sich Ella und Roman eigentlich?«, fragte Fabian.

»Vom Schauspielunterricht. Roman ist dieses Jahr neu in ihre Gruppe gekommen, ich glaube, er ist erst letztes Jahr nach München gezogen.«

Wieder schwiegen sie. Von Weitem konnte Jana das Haus ausmachen, in dem Ella wohnte. Sie zählte die Fenster ab. Brannte in Ellas Wohnzimmer Licht?

»Und, wie findest du Roman?« Fabian fasste sie in der Ellenbogenbeuge. »Renn doch nicht so!«

»Ich renne nicht.« Endlich standen sie vor dem Haus. Etwa die Hälfte der Fenster war erleuchtet, doch die zwei im dritten Stock, die direkt neben dem langen Lichtband des Treppenhauses lagen, waren dunkel. »Kein Licht«, murmelte Jana.

Fabian fuhr mit dem Finger über die Klingelknöpfe und läutete bei Elisabeth Angermaier. Nichts rührte sich. Er läutete wieder und wieder. Jana starrte gebannt auf die zwei Fenster, wünschte sich inbrünstig, dass ein Licht angehen und Ella verschlafen zum Fenster herausschauen würde. Doch es blieb still. Die Hoffnung, die in den letzten Minuten in Jana die Oberhand gewonnen hatte, schwand. Stattdessen breitete sich die Sorge in ihr aus, dass die Schwärze hinter Ellas Fenstern nichts Gutes bedeutete.

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Es war der Schrei des Käuzchens, der sie aufweckte. Sie schlug die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Aber es war dunkel. Stockdunkel. Sie hob ihren Kopf vom Kissen und stöhnte laut auf. Der Schmerz schoss durch ihre Schläfen und explodierte hinter ihrer Stirn. Vorsichtig legte sie den Kopf auf das Kissen zurück und schloss die Augen.

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MITTWOCH, 9. MÄRZ

Mit einem Knall schloss Jana ihr Mathebuch und verstaute es zusammen mit dem Collegeblock in ihrer Schultasche. Für die letzte Aufgabe hatte sie fast zwanzig Minuten gebraucht und sie war sich sicher, dass ihr Ergebnis nicht richtig war. Sie nahm das Telefon und rief Fabian an, er war das Mathegenie der Klasse, er hatte das wahrscheinlich in fünf Minuten ausgerechnet, so nebenbei beim Fernsehen. Seine Mailbox sprang an.

»Hi, Fabian. Du musst mir unbedingt diese beknackten Integralaufgaben erklären, ich kapier echt überhaupt nichts, und wenn der Kramer nächste Woche eine Kurzarbeit schreibt, kann ich einpacken.«

Sie legte das Telefon auf den Schreibtisch, schnappte sich ihren Zeichenblock und einen weichen Bleistift und ging zum Bett. Es war ihr Lieblingsort, direkt unter dem großen Dachfenster, durch welches sie Tag und Nacht den Himmel beobachten konnte. Die meisten Menschen wussten überhaupt nicht, wie spannend es war, in den Himmel zu starren. Nicht nur in den Nachthimmel, um auf die Sternschnuppe zu warten, die einem den einen, innigsten Wunsch erfüllte – nein, tagsüber den Wolken zuzusehen, wie sie durch die Luft flitzten und dabei beständig ihre Form veränderten, war noch viel faszinierender.

Jana drapierte am Kopfende einen Kissenberg, an den sie sich gemütlich anlehnen konnte, und machte es sich bequem, die Beine angezogen, den Block auf den Oberschenkeln. Dann sah sie sich in ihrem Zimmer um. Durch die vielen Schrägen wirkte es kleiner als Miriams, deren Zimmer im ersten Stock neben dem ihrer Mutter lag, aber Jana hätte um keinen Preis der Welt tauschen wollen. Was waren schon ein paar Quadratzentimeter gegen ihr Dachfenster? Sie ließ ihren Blick über den grellbunt angemalten Schreibtisch wandern, weiter zu dem ebenso farbenfrohen Schrank, dem lila-orange gemusterten Sitzsack, dem selbst gezimmerten Bücherregal, der Staffelei mit dem halb fertigen Porträt ihres Vaters und den zahllosen Zeichnungen, die sie, ihrer eigenen Chaostheorie folgend, teils mit Reißzwecken, teils mit Tesafilm an den Wänden befestigt hatte. Welcher Gegenstand ließ sich für die Kunstarbeit verfremden? Vielleicht könnte sie die Staffelei in einen Menschen verwandeln oder den Schreibtisch in einen …

»Jana!« Die Stimme ihrer Mutter tönte gedämpft durch die geschlossene Tür. »Essen!«

Jana blies die Duftkerze aus, die ihr Zimmer in eine Mandarinenoase verwandelte, bevor sie die zwei Stockwerke nach unten lief. Im Erdgeschoss gab es wie im ersten Stock nur zwei Räume und eine Toilette. Und obwohl die Küche kleiner war als das zum Garten liegende Wohnzimmer, mochte Jana diesen Raum lieber. Vielleicht, weil sie mit der Küche noch immer das Gefühl von Geborgenheit verband, das sie als Kind empfunden hatte, wenn sie mit ihrer Mutter am Küchentisch Plätzchen ausgestochen und, den Mund voller genaschtem Teig, den Weihnachtsgeschichten gelauscht hatte. Miriam saß bereits am Küchentisch und verteilte Wiener Schnitzel.

»Kartoffelbrei?« Miriam tauchte den Löffel in die dampfende gelbliche Masse.

Jana nickte und rutschte an ihren Platz auf der Eckbank. Die Mutter kam mit einer gut gefüllten Schüssel mit grünem Salat an den Tisch.

»Hast du dich jetzt wegen der Studentenjobs umgehört?«

Miriam, an die die Frage gerichtet war, verzog das Gesicht. Jana konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie die Grimasse ihrer Schwester sah.

»Ich weiß nicht, was an meiner Frage so komisch ist«, sagte die Mutter mit einem Seitenblick auf Jana und reichte ihr die Zitrone.

»Nichts.« Jana versuchte ein ernstes Gesicht zu machen. Sie presste ein paar Tropfen Zitronensaft auf das Fleisch und reichte die Zitrone weiter an Miriam, als das Telefon läutete. Blitzschnell sprang sie auf.

»Wir essen, Jana!«, mahnte die Mutter.

»’tschuldigung, ich erwarte einen Rückruf.« Sie angelte das Telefon vom Küchenregal. »Ich mach’s ganz kurz – Hallo?«

»Kann ich mit Jana sprechen?«

»Ich bin Jana. Wer ist bitte dran?« Jana versuchte vergeblich, die Stimme einzuordnen.

»Du kennst mich nicht, aber ich bin eine Freundin von Ella.«

Miriam hielt Jana die nasse Pfanne zum Abtrocknen hin. »Deine Sorge spricht ja für dich, aber ich halte sie trotzdem für unbegründet.«

»Warum denn? Ihre Klassenkameradin eben war auch besorgt, sonst hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, meine Nummer herauszufinden.« Jana polierte die Pfanne, als wollte sie sich darin spiegeln. »Du kennst Ella genauso lange wie ich. Du weißt, dass sie nicht einfach abhauen würde. Uns hat sie gestern versetzt und heute diese Freundin, mit der sie für nächsten Montag ein Referat vorbereiten sollte. Sie sagt, wenn Ella es nicht hält, bekommt sie null Punkte und dann rutscht sie in dem Fach auch noch unter die Fünf-Punkte-Hürde … Ich bin mir fast sicher, dass etwas passiert ist.«

»Und was war damals, als sie einfach von zu Hause weg ist und danach zwei Monate bei uns gewohnt hat? Da hat sie auch niemandem Bescheid gesagt.« Miriam schwenkte den Kochlöffel. »Lass jetzt die Pfanne, hier sind noch andere Sachen zum Abtrocknen.«

»Das war doch was ganz anderes! Sie war fünfzehn und hat sich total mit ihren Eltern gestritten.« Sie verstaute die Pfanne im Schrank und griff nach dem Kochlöffel.

»Und heute hat sie sich mit jemand anderem gestritten und haut wieder vor ihren Problemen ab. So ist sie nun mal. Oh Mann, Jana, Ella hat sich verändert. Und das nicht zu ihrem Besten. Finde dich einfach damit ab, dass Kindergartenfreundschaften nicht ein Leben lang halten.«

Jana riss die Besteckschublade auf und pfefferte den Kochlöffel hinein. Miriam klang genau wie ihre Mutter. Hatte die neulich abends, als Jana aus der Cantina zurückgekommen war, nicht genau dasselbe gesagt?

»Jetzt mach mal halblang! Ich weiß auch, dass Ella sich verändert hat, deshalb kann ich mir ja wohl trotzdem Sorgen machen, wenn sie plötzlich einfach weg ist. Sie hat mich noch nie zuvor versetzt. Und dich übrigens auch nicht. Du hast dich doch selbst immer gut mit ihr verstanden. Was ist hier eigentlich los?« Sie drehte sich zum Tisch, an dem ihre Mutter in die Zeitung vertieft war. »Mama! Sag du doch auch mal was. Oder findest du es nicht seltsam, dass sie einfach wortlos verschwunden ist? Und ihr Handy ist auch aus.«

Die Mutter sah von der Zeitung auf. »Es ist durchaus ungewöhnlich.« Dann vertiefte sie sich wieder in den Artikel.

Jana schlug die Gabel, die sie gerade abtrocknete, auf die Arbeitsfläche. »Das gibt’s doch nicht! Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn ich von einem Moment auf den anderen weg bin. Seid ihr dann auch so cool?«

Die Zeitung raschelte, als die Mutter sie auf den Tisch legte und Jana anlächelte. »Aber Schatz, was redest du denn? Das ist doch etwas ganz anderes. Du bist siebzehn, Ella ist volljährig und sie wohnt allein. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig.«

»Deshalb kann ihr doch trotzdem etwas passiert sein!«, rief Jana und fuchtelte mit der Gabel durch die Luft. »Ihr könnt meinetwegen denken, was ihr wollt, ich telefoniere jetzt die Krankenhäuser durch.«

Miriam lächelte spöttisch. »Dass du dort keine Auskunft bekommst, wenn du keine Angehörige bist, ist dir schon klar.«

»Aber Mama würden sie es sagen, oder?«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nun auch wieder nicht.«

»Dann gehe ich eben in ihre Wohnung und suche nach der Nummer ihrer Eltern und rufe sie an. Die bekommen Auskunft.«

Die Mutter schob die Zeitung beiseite und suchte Janas Blick. »Das wirst du nicht tun, hörst du? Du hast in Ellas Wohnung nichts verloren, vielleicht ist sie wirklich einfach ein paar Tage weg, schließlich sind Ferien. Du weißt, wie verrückt sie manchmal ist. Wahrscheinlich hat sie jemanden kennengelernt und …«

»Das ist doch Unsinn und das weißt du ganz genau!«, rief Jana. »Und selbst wenn es so wäre, warum ist ihr Handy dann aus? Sie hätte doch wenigstens das Treffen gestern abgesagt.«

»Du weißt nicht, was in Ella vorgeht.« Die Stimme der Mutter hatte an Schärfe zugenommen. »Vielleicht hat sie ihr Handy verloren. Oder das Ladegerät vergessen. Oder es ist kaputt. Spätestens Montag ist sie zurück und dann stellt sich alles als ganz harmlos heraus.«

Jana sah, wie die Mutter mit Miriam einen bedeutungsvollen Blick wechselte.

»Ach, und ihr wisst das so genau, ja?«, fragte Jana schnippisch. »Dann könnt ihr mich ja vielleicht gnädigerweise einweihen.«

»Wir wissen gar nichts«, konterte Miriam sofort. »Nur, dass du mal wieder überreagierst.«

»Ihr geht mir echt so was von auf den Nerv mit eurem überheblichen Getue! Ich reagiere also über? Und ihr? Ihr … Ihr …«

»Jana!« Die Stimme der Mutter durchschnitt die Luft wie ein Peitschenschlag. »Es reicht.«

»Ich habe noch gar nicht angefangen!«

»Und das wirst du auch nicht.«

Jana holte Luft, um zu widersprechen, doch Miriams warnender Blick hielt sie in letzter Sekunde davon ab. Sie ging zur Spüle und nahm sich die nächste Gabel. Wenn ihr Vater hier wäre, würde er ihre Sorge nachvollziehen können. Er würde ihr wahrscheinlich sogar helfen. Wehmütig dachte sie an die wunderschönen Tage in Berlin, während sie schweigend das restliche Besteck abtrocknete und es lautstark aufräumte. Sie musste ihre Mutter nicht sehen, um zu wissen, dass sie bei jedem Zuknallen der Schublade die Augen schloss und um Fassung rang. Sollte sie sie doch vom Küchendienst suspendieren, wenn sie ihr schon den Mund verbat. Endlich war alles abgetrocknet. Sie hängte das Tuch über die Stuhllehne und verließ wortlos die Küche.

»Du wirst nicht in Ellas Wohnung eindringen, hörst du?«, rief die Mutter ihr hinterher. »Wenn ein Nachbar dich sieht und die Polizei holt, bekommst du eine Anzeige wegen Einbruchs. Auch wenn Ella deine Freundin ist.«

Ohne zu antworten, ging Jana weiter, sie wusste, dass dies ihre Mutter wahnsinnig machte.

»Miriam«, hörte sie die Mutter sagen und sprach lautlos den nächsten Satz mit: »Pass auf, dass Jana keine Dummheiten macht, ja?«

DONNERSTAG, 10. MÄRZ

Jana stellte ihren MP3-Player lauter und nickte zu den Klängen von Lady Gagas Paparazzi mit dem Kopf. Die Haltestelle war leer, sie musste den Bus knapp versäumt haben. Wenn Ellas Freundin sie am Telefon nicht so zugetextet hätte, wäre sie rechtzeitig da gewesen. Aber die wollte gar nicht mehr aufhören, über Ella abzulästern, so sauer war sie wegen des dämlichen Referats.

Schon komisch, eigentlich war sie gestern selbst wütend auf Ella gewesen. Nach dem Streit beim Abendessen war ihre Mutter kurz vor Mitternacht noch mal zu ihr ins Zimmer gekommen. Sie hatte doch telefoniert und herausgefunden, dass Ella in keinem der Münchner Krankenhäuser lag. Einerseits war Jana erleichtert gewesen, aber auch enttäuscht. Was dachte Ella sich nur dabei, einfach so zu verschwinden? Aber wer weiß, vielleicht hatte ihre Mutter recht. Ella war unberechenbar. Genau das war ja das Wunderbare an ihr. Man wusste nie, was sie sich als Nächstes einfallen lassen würde. Vielleicht war sie wirklich vor irgendwelchem Ärger geflüchtet und ließ Gras darüber wachsen, während sie sich auf Ibiza bräunte. Im März waren die Flüge sicher spottbillig und Geld hatte Ella genug. Aber das erklärte nicht, wieso ihr Handy abgeschaltet war. Ella schaltete ihr Handy nie aus. Jana rief zum hundertsten Mal Ellas SMS auf.

Vergiss nicht, morgen um 7, Gemeindesaal. Muss dir was erzählen. Ella

Etwas wollte sie ihr mitteilen. Aber was? Dass sie eine Auszeit brauchte? Oder warum sie eine Auszeit brauchte? Weshalb schrieb sie, muss dir was erzählen, und hielt es dann nicht mal für nötig, abzusagen? Das ergab keinen Sinn. Unberechenbarkeit hin oder her. Es gab bestimmte Regeln, die auch Ella einhielt. Zuverlässig einhielt. Und eine davon war, Verabredungen abzusagen, wenn etwas dazwischenkam.

Der Bus kam um die Ecke. Sie stieg ein und setzte sich auf den Fensterplatz an der hinteren Tür. Mit einem Ruck fuhr der Bus los. Sie verdrängte Ella aus ihren Gedanken und versank in der Betrachtung der Häuserfassaden, die an ihr vorbeizogen. An der dritten Haltestelle stand der Bus etwas länger, um einen Rollstuhlfahrer über die Rampe einsteigen zu lassen. Jana beobachtete, wie ein Mann eine Zeitung aus einem Zeitungsständer nahm und sich lesend entfernte. Sie versuchte, die Schlagzeilen zu lesen, obwohl der Kasten etwas zu weit weg war. Sie kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die Buchstaben.

Mann 2 Wochen tot in Wohnung!

Die Zeile darunter konnte sie nicht mehr lesen. Unwillkürlich fiel Jana die Geschichte einer Freundin ein. Der Großvater hatte beim Wechseln der Glühbirne einen Schlag bekommen und über eine Woche in der Wohnung gelegen, bevor man ihn fand – buchstäblich in letzter Minute.

Jana durchfuhr es siedend heiß. Was, wenn Ella sich verletzt hatte? Wenn sie hilflos in ihrer Wohnung lag, unfähig sich zu rühren und verzweifelt auf Hilfe wartend? War Ella gestürzt? Beim Fensterputzen von der Leiter gefallen? Oder weil sie wieder zu viel getrunken hatte? Ohne noch länger zu zögern, sprang Jana gerade in dem Moment aus dem Bus, als der Fahrer die Türen schloss.